Im Herzen des Imperiums - Arkady Martine - E-Book
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Im Herzen des Imperiums E-Book

Arkady Martine

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Beschreibung

Als Mahit Dzmare, die Botschafterin einer kleinen Raumstation, in der riesigen Hauptstadt des Teixcalaanlischen Imperiums ankommt, muss sie feststellen, dass ihr Vorgänger verstorben ist. Obwohl niemand darüber spricht, ist es ein offenes Geheimnis, dass der Botschafter keines natürlichen Todes gestorben ist. Mahit versucht, mehr über die genauen Umstände herauszufinden, doch das ist am politisch und sozial hochkomplexen Hof des Teixcalaanlischen Imperiums ein gefährliches Unterfangen. Und wenn sie nicht ihr eigenes Leben und das Schicksal ihrer Heimat gefährden will, muss sich Mahit jeden Schritt genauestens überlegen ...

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Das Buch

Die autonome Raumstation Lsel sieht sich von den Expansionsgelüsten des teixcalaanischen Imperiums bedroht. Deshalb schickt die Regierung die Botschafterin Mahit Dzmare in das Zentrum des Sternenreiches, auf den Stadtplaneten Teixcalaan. Unterstützt wird Mahit dabei von der unterhalb ihres Stammhirns implantierten Imago-Maschine, in der das Bewusstsein ihres Vorgängers gespeichert ist. Es soll der Diplomatin die Orientierung in dieser hochkomplexen Gesellschaft sowie die Verhandlungen mit dem Imperium erleichtern. Auf Teixcalaan angekommen, muss Mahit jedoch feststellen, dass ihr Vorgänger ermordet wurde. Sie versucht, mehr über die genauen Umstände seines Todes herauszufinden, doch das ist ein gefährliches Unterfangen. Wenn sie nicht ihr eigenes Leben und das Schicksal ihrer Heimat gefährden will, muss sich Mahit jeden Schritt genauestens überlegen …

Die Autorin

Arkady Martine schreibt als Schriftstellerin und unter dem Namen Dr. AnnaLinden Weller als Byzanz-Historikerin und Stadtplanerin über Grenzpolitik, Rhetorik, Propaganda und die Grenzen der Welt. Sie wuchs in New York City auf, verbrachte einige Zeit in der Türkei, Kanada und Schweden. Sie ist verheiratet und lebt in Baltimore. Im Herzen des Imperiums ist ihr Debütroman.

Mehr über Arkady Martine und ihren Roman erfahren Sie auf

www.diezukunft.de

ARKADYMARTINE

IMHERZENDESIMPERIUMS

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Jürgen Langowski

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der OriginalausgabeA MEMORYCALLEDEMPIREDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Deutsche Erstausgabe 12 / 2019Redaktion: Rainer Michael RahnCopyright © 2019 by AnnaLinden WellerCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung einer Illustration von Jamie JonesSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-23670-0V002www.diezukunft.de

Dieses Buch ist allen gewidmet,die sich jemals in eine Kultur verliebt haben,die ihre eigenen Menschen verschlungen hat.(Und außerdem Grigor Pahlavuni und Petros Getadarj,über die Jahrhunderte hinweg.)

Unsere Erinnerung ist eine vollkommenere Welt als das Universum; sie gibt jenen, die nicht mehr existieren, das Leben zurück.

– Guy de Maupassant, »Suicides«

Ich hätte ein Leben mit Kalypso nicht dem Rauch der Schornsteine von Konstantinopel vorgezogen, bin ich doch völlig eingenommen von dem Gedanken an die vielen Quellen der Freude, die es dort allenthalben gibt: die Größe und Schönheit der Kirchen, die langen Kolonnaden und die ausgedehnten Wege, die Häuser und all die anderen Dinge, die unser Bild von Konstantinopel bereichern; auch die Treffen und Gespräche mit Freunden, und das Schönste überhaupt – mein goldener Strom, was heißen soll, dein Mund und dessen Blüten …

– Nikephoros Ouranos, doux von Antiochien, Brief 47

Vorspiel

Zwei Dinge in Teixcalaan sind ständig in Bewegung: die Sternkarten und der Strom der Reisenden.

Über dem Taktikpult des Kriegsschiffs Rote Frucht des Aufstiegs, das derzeit fünf Sprungtore und zwei Wochen Unterlichtflug vom Hauptstadtplaneten entfernt operiert und bald wenden und heimkehren soll, ist der gesamte teixcalaanische Weltraum holografisch dargestellt. Die Abbildung ist ein Ausdruck kartografischer Genugtuung: All diese glitzernden, funkelnden Lichter sind Sonnensysteme, und alle gehören uns. Die Szene – eine Befehlshaberin betrachtet die holografische Darstellung des Imperiums und blickt sogar über den klar definierten Rand der Welt hinaus – wiederholt sich auf vielfältige Weise. Hundert Kapitäne stehen vor hundert holografischen Bildern, suchen sich einen Punkt an der Grenze und wählen eine Speiche des großen Rades, als dessen Nabe sich Teixcalaan sieht. Jede einzelne Kommandantin hat ihre Truppen in ein neues System geführt und die vergifteten Gaben mitgebracht: Handelsabkommen und Dichtkunst, Steuern und die Verheißung von Schutz, Energiewaffen mit schwarzen Mündungen und die atemberaubende Architektur eines neuen Gouverneurspalasts, in dessen Herzen ein offener Tempel mit seinen strahlenförmigen Ausläufern die Sonne repräsentiert. Jede dieser Kommandantinnen wird es jederzeit wieder tun und der Holografie noch ein weiteres System als glitzernden Punkt hinzufügen.

So weit spannt sich diese Zivilisation vor der Schwärze zwischen den Sternen. Ein Trost für das Auge jeder Befehlshaberin, wenn sie in die Leere blickt und hofft, nichts zu entdecken, was von dort zurückstarrt. Auf der Sternkarte ist es leicht, zwischen dem Imperium und dem Draußen zu unterscheiden, zwischen der Welt und der Nicht-Welt.

Die Rote Frucht des Aufstiegs und ihre Kommandantin haben noch einen letzten Zwischenstopp vor sich, ehe sie die Rückreise zum Zentrum ihres Universums antreten. Die Lsel-Station liegt im Parzrawantlak-Sektor: ein zerbrechlicher, rotierender Edelstein, ein Torus von fünfunddreißig Kilometern Durchmesser, der sich um eine Nabe im Zentrum dreht und am Gleichgewichtspunkt zwischen einer angenehmen Sonne und dem nächstgelegenen nützlichen Planeten positioniert ist. Die größte einer Reihe von Bergbaustationen in dieser Region des Weltraums. Ein Sektor, den die greifenden Hände Teixcalaans zwar berührt, aber noch nicht unterworfen haben.

Die Nabe der Station speit einen Shuttle aus, der nach einigen Stunden den goldenen und grauen Metallrumpf des wartenden Kriegsschiffs erreicht und die Fracht abliefert – eine menschliche Frau, etwas Gepäck und verschiedene Anweisungen – , um anschließend unversehrt wieder zurückzukehren. Als er die Station erreicht, hat sich die Rote Frucht des Aufstiegs bereits schwerfällig für die Flugbahn zum Zentrum Teixcalaans ausgerichtet. Noch anderthalb Tage lang wird das Schiff der Unterlichtphysik unterworfen und von Lsel aus sichtbar bleiben, während es langsam zu einem winzigen Lichtpunkt schrumpft und schließlich verschwindet.

Darj Tarats, der Ratsherr der Bergleute auf Lsel, sieht dem sich entfernenden Raumschiff nach. Keineswegs entgeht ihm die gewaltige, verborgene Drohung des Kolosses, der im Sichtfenster des Konferenzraums den halben Himmel verdeckt. Diese übermächtige Präsenz, die sich vor die vertrauten Sterne geschoben hat, ist für ihn nur ein weiterer Beweis für die teixcalaanische Gier nach dem Raum, der bis jetzt noch der Station gehört. Bald wird der Tag kommen, an dem sich ein solches Schiff nicht mehr zurückziehen, sondern das grelle Feuer der Energiewaffen auf die empfindliche Metallhülle richten wird, innerhalb der neben Tarats selbst noch dreißigtausend weitere Menschen leben. Wie die Samen einer zerplatzten Frucht würden sie in die tödliche Kälte des Weltraums hinausgeschleudert werden. Tarats ist der Ansicht, dass ein Imperium, das man nicht im Zaum hält, etwas Unausweichliches an sich hat.

Über dem Konferenztisch des Rates von Lsel strahlt keine holografische Darstellung. Es ist nur eine nackte Metallplatte, blank poliert von unzähligen Ellenbogen. Wieder denkt Tarats darüber nach, wie etwas so Schlichtes wie ein sich entfernendes Schiff eine so starke Drohung verkörpern kann. Dann wendet er sich vom Fenster ab und kehrt zu seinem Platz zurück.

Ein ungezügeltes Imperium mag etwas Unausweichliches sein, doch Darj Tarats ist von einem stillen, aber entschlossenen und zugleich verschlagenen Optimismus erfüllt, weil er ahnt, dass »ungezügelt« schon seit einiger Zeit nicht mehr der einzige Begriff ist, der im Raum steht.

»So, das wäre dann erledigt«, sagt Aknel Amnardbat, die Ratsherrin für das Kulturerbe. »Sie ist fort. Unsere neue Botschafterin im Imperium, angefordert von ebendiesem Imperium, das sie uns hoffentlich nachhaltig vom Leibe hält.«

Darj Tarats weiß es besser. Er hat vor zwanzig Jahren den letzten Botschafter von Lsel nach Teixcalaan geschickt. Damals war er in mittleren Jahren gewesen und mit äußerst riskanten Projekten betraut worden. Es ist beileibe nicht damit getan, eine neue Botschafterin zu entsenden, auch wenn sie längst unwiderruflich im Shuttle sitzt. Er stemmt die Ellenbogen auf den Tisch, wie er es schon seit zwanzig Jahren tut, und stützt das schmale Kinn auf die noch schmaleren Handflächen. »Es wäre für uns und sie besser gewesen, wenn wir sie nicht mit einer fünfzehn Jahre alten Imago geschickt hätten.«

Ratsherrin Amnardbat besitzt eine präzise kalibrierte Imago-Maschine. Das neurologische Implantat erlaubt es ihr, in ihrem Bewusstsein auf die überlieferten Erinnerungen sechs früherer Ratsmitglieder für das Kulturerbe zurückzugreifen. Sie vermag sich nicht vorzustellen, wie es wäre, sich ohne die letzten fünfzehn Jahre an Erfahrung gegenüber jemandem wie Darj Tarats behaupten zu müssen. Wäre sie dem Rat neu beigetreten und hätte lediglich fünfzehn Jahre alte Daten, dann geriete sie furchtbar ins Hintertreffen. Nun aber zuckt sie mit den Achseln und schert sich nicht weiter darum, dass die neue Botschafterin im Imperium über so geringe Ressourcen verfügt. Sie sagt: »Das ist Ihr Problem. Sie haben Botschafter Aghavn entsandt, und er ist in seiner zwanzigjährigen Amtszeit nur ein einziges Mal hergekommen, um uns eine aktuelle Imago-Aufzeichnung zu überlassen. Jetzt haben wir Botschafterin Dzmare mit dem geschickt, was er uns vor fünfzehn Jahren gegeben hat, um ihn zu ersetzen, nur weil Teixcalaan darum gebeten hat …«

»Aghavn hat seine Arbeit gemacht«, unterbricht Ratsherr Tarats. Die Vertreter der Hydroponik und der Piloten am Konferenztisch nicken zustimmend. Botschafter Aghavn hat dafür gesorgt, dass die Lsel-Station und die anderen kleineren Stationen in ihrem Sektor den teixcalaanischen Expansionsgelüsten nicht so schnell zum Opfer fielen, und angesichts dieser Leistung sind sie übereingekommen, seine Unzulänglichkeiten zu übersehen. Nun aber hat Teixcalaan unvermittelt die Entsendung eines neuen Botschafters verlangt, ohne zu erklären, was aus dem alten geworden ist, und die Ratsmitglieder neigen dazu, eine allzu genaue Untersuchung von Aghavns Mängeln zu verschieben, bis sie sicher sind, dass er tot ist oder bestochen wurde. Vielleicht ist er auch einfach nur irgendwelchen inneren politischen Erschütterungen im Imperium zum Opfer gefallen. Darj Tarats hat ihn stets unterstützt, denn Aghavn war sein Protegé. Und Tarats ist als Ratsherr der Bergleute der Erste unter den sechs Gleichen im Rat von Lsel.

»Auch Dzmare wird ihre Arbeit tun«, erklärt Ratsherrin Amnardbat. Sie hat Mahit Dzmare unter den Kandidaten für den Botschafterposten ausgewählt. Ihrer Ansicht nach war die Frau eine perfekte Wahl für die überholte Imago, die sie bekommen sollte. Die gleichen Fähigkeiten, die gleiche Haltung. Die gleiche xenophile Begeisterung für ein kulturelles Erbe, das ganz anders ist als jenes, das Amnardbat hütet. Eine gut dokumentierte Faszination für die teixcalaanische Literatur und Sprache. Eine perfekte Besetzung für den Posten, ausgestattet mit der einzigen Imago-Kopie, die Botschafter Aghavn je erstellt hat. Es war gut, dass Dzmare diese ebenso unzulängliche wie verführerische Imago-Reihe von Lsel entfernt und mitnimmt – vielleicht für immer. Sofern Amnardbat alles richtig gemacht hat.

»Ich bin sicher, dass Dzmare sich bewähren wird«, erklärt Dekakel Onchu, die Vertreterin der Piloten. »Könnten wir uns jetzt dem Problem zuwenden, vor dem der Rat im Moment steht? Nämlich der Frage, wie wir mit der Situation am Anhamemat-Tor umgehen?«

Dekakel Onchu macht sich wegen des Anhamemat-Tors große Sorgen. Es ist das fernere der beiden Sprungtore im Bereich der Lsel-Station und führt in Regionen des Weltraums, die nicht von Teixcalaan beansprucht werden. Unlängst hat sie nicht nur ein Erkundungsschiff verloren – was ein Zufall hätte sein können – , sondern gleich zwei, und beide in derselben Region des Weltraums. Sie hat die Einheiten an etwas verloren, mit dem sie nicht reden kann. Die Mitteilungen, die vor dem Verlust der Schiffe eingingen, waren verzerrt, von Strahlungsausbrüchen gestört und unverständlich. Noch schlimmer, sie hat nicht nur die Piloten der Schiffe verloren, sondern auch die langen Imago-Reihen voller Erinnerungen, die ihre Leute in sich trugen. Die Bewusstseinsinhalte der Piloten und ihre Imago-Reihen können nur extrahiert und neuen Piloten eingepflanzt werden, wenn man die Toten und die Imago-Maschinen birgt, aber es ist alles zerstört. Eine Bergung ist nicht mehr möglich.

Die anderen Ratsmitglieder machen sich derzeit noch keine großen Sorgen, aber am Ende des Treffens, nachdem Onchu ihnen die verstümmelten Aufzeichnungen präsentiert hat, werden sie sehr beunruhigt sein. Alle bis auf Darj Tarats. Darj Tarats hegt eine schreckliche Hoffnung.

Er denkt: Womöglich gibt es am Ende ein größeres Imperium als jenes, das uns Stück für Stück verschlingt. Womöglich klopft es jetzt an unsere Tür. Vielleicht findet nun das Warten ein Ende.

Aber diesen Gedanken behält er für sich.

1

Und hinter der Krümmung des großen Gasplaneten bei den Koordinaten B5682.76R1 erschien die Imperatorin Zwölf Sonneneruption mit ihrem Schiff. Ihr greller Schein griff in die Leere hinaus. Wie die speerähnlichen Speichen ihres Throns sprangen die Strahlen hervor, trafen auf die Metallhüllen, in denen im Sektor B5682 die Menschen lebten, und tauchten sie in helles Licht. Die Sensoren auf dem Schiff der Imperatorin Zwölf Sonneneruption entdeckten zehn solcher Hüllen, die einander sehr ähnlich waren. Diese Zahl erhöhte sich seitdem nicht mehr. Die Männer und Frauen in den Hüllen kannten keine Jahreszeiten, kein Wachstum und keinen Verfall. Unendlich lange lebten sie in der Umlaufbahn und wussten nichts von der Schönheit eines Heims auf einem Planeten. Die größte Hülle nannte sich »Lsel-Station«, was in der Sprache dieser Menschen bedeutete, dass die Station aufmerksam lauschte. Doch die Menschen dort waren seltsam geworden und blieben unter sich, auch wenn sie fähig waren, die Sprache zu lernen, und unverzüglich damit begannen …

– Die Geschichte der Expansion, Buch V, Zeilen 72–87, anonym, jedoch dem Dichter und Historiker Pseudo Dreizehn Fluss zugeschrieben, der zu Zeiten der Herrschaft des teixcalaanischen Imperators Drei Perigäum lebte.

Um Ihre Einreise in das Imperium zu beschleunigen, verlangt Teixcalaan die folgenden Identitätsnachweise: a) einen gentechnischen Nachweis, dass Sie sich im alleinigen Besitz Ihres Genotyps befinden und diesen nicht mit Klongeschwistern teilen, ODER ein beglaubigtes Dokument, aus dem hervorgeht, dass Ihr Genotyp zu mindestens 90 Prozent einzigartig ist, und dass keine andere Person einen rechtmäßigen Anspruch darauf erheben kann; b) eine ausführliche Liste der Waren, Güter, Geldbestände und immateriellen Handelsobjekte, die Sie mitführen wollen; c) eine unterzeichnete und notariell beglaubigte Arbeitserlaubnis von einem zugelassenen Arbeitgeber in einem teixcalaanischen System, aus welcher Entlohnung und Informationen zum Unterhalt hervorgehen ODER den Nachweis überdurchschnittlicher Werte bei den Tests des Teixcalaanischen Imperiums ODER die Einladung einer Person, einer Regierungsbehörde, eines Amtes, eines Ministeriums oder einer sonst wie autorisierten Person, aus der die Einreise- und Ausreisedaten für den Raum des Imperiums hervorgehen ODER den Nachweis von Geldmitteln, die ausreichen, um den Lebensunterhalt aus eigenem Vermögen …

– Formular 721Q, Visumantrag für imperiumsfremde Sektoren, VERSIONFÜRALPHABETSCHRIFTEN, Seite 6

In einem Beiboot, kaum mehr als eine kleine Blase, die gerade ausreichte, um sie und ihr Gepäck aufzunehmen, schoss Mahit aus der Seite des imperialen Kreuzers Rote Frucht des Aufstiegs heraus und sank zur Stadt hinunter, zum Zentralplaneten und dem Hauptort des Teixcalaanischen Imperiums. Beim Sinkflug hinab zum Planeten loderte die Atmosphäre, was ihr die Sicht versperrte. Als sie die Stadt zum ersten Mal mit eigenen Augen und nicht auf einem Infofiche, als Holografie oder als Imago-Erinnerung sah, war alles von weißem Feuer überlagert und strahlte wie ein unendliches, schimmerndes Meer. Ein ganzer, völlig urbanisierter Planetenpalast und eine Wirtschaftsmetropole. Selbst die eingepferchten Überreste von Seen und die dunkleren Stellen, an denen sich alte Städte befunden hatten, die verfielen und noch nicht von Metall überwuchert waren, wirkten dicht bevölkert. Nur die Meere blieben unberührt. Auch sie schimmerten, der Farbton schwankte zwischen Blau und Türkis.

Die Stadt war sehr schön und sehr groß. Mahit hatte schon eine ganze Reihe von Planeten besucht, die nicht weit von der Lsel-Station entfernt und für Menschen nicht völlig lebensfeindlich waren. Dennoch war sie nun von Ehrfurcht erfüllt. Ihr Herz schlug schneller, und die Hände, mit denen sie die Gurte gepackt hatte, wurden feucht. Die Stadt war genauso, wie sie in den teixcalaanischen Dokumenten und Liedern beschrieben wurde: Das Juwel im Herzen des Imperiums. Sogar die Atmosphäre glühte.

<Genau das sollst du auch denken, wenn du sie betrachtest>, sagte ihre Imago. Er war wie ein leichter, aber hartnäckiger Geschmack ganz hinten auf der Zunge, ein rasches Aufscheinen von grünen Augen und sonnengebräunter Haut am Rande des Gesichtsfeldes. Eine Stimme im Hinterkopf, die nicht ihre eigene war. Ungefähr in ihrem Alter, aber männlich, aalglatt, selbstgefällig und genauso aufgeregt wie sie, hier einzutreffen. Ihr Mund folgte der Bewegung, als er lächelte. Sein Lächeln war lebhafter und breiter, als es den Muskeln ihres Gesichts zusagte. Sie kannten einander noch nicht lange. Seine Mimik war ausdrucksvoller als die ihre.

Yskandr, verschwinde aus meinem Nervensystem, dachte sie nicht ohne einen vorwurfsvollen Unterton in seine Richtung. Eine Imago – die implantierten, integrierten Erinnerungen des Vorgängers, beherbergt zur Hälfte in ihrem Nervensystem und zur Hälfte in einer kleinen Maschine aus Keramik und Metall, die an das Stammhirn angeschlossen war – durfte das Nervensystem des Wirts nicht übernehmen, solange dieser nicht eingewilligt hatte. Zu Beginn einer Partnerschaft war der Begriff Einwilligung jedoch noch nicht klar definiert. Die Version Yskandrs, die sie in sich trug, erinnerte sich daran, einen Körper gehabt zu haben, und benutzte manchmal Mahits Körper, als wäre es sein eigener. Sie machte sich deshalb Sorgen. Zwischen ihnen war noch so viel Distanz, obwohl sie doch zu einer einzigen Person verschmelzen sollten.

Dieses Mal zog er sich sofort zurück. Es kribbelte, und er lachte elektrisierend. <Wie du willst. Zeigst du es mir, Mahit? Ich will es noch einmal sehen.>

Als sie wieder auf die Stadt hinunterschaute – sie war jetzt viel näher, der Raumhafen ragte hoch empor und empfing ihr Beiboot wie eine Blüte aus weit gespannten Netzen – , ließ sie die Imago durch ihre Augen blicken und spürte die Erregung, als wäre es ihre eigene.

Was ist dort unten?, fragte sie ihn. Was erwartet dich dort?

<Die Welt>, antwortete ihr Imago-Gast. Zu Lebzeiten, als Yskandr noch kein Bestandteil einer Reihe lebender Erinnerungen gewesen war, hatte er in der Stadt als Botschafter von Lsel gedient. Er hatte Teixcalaanli gesprochen, weil sich dabei eine Tautologie ergab: Das Wort für »Welt« und das Wort für »Stadt« waren identisch und schlossen auch die Bedeutung des Begriffs »Imperium« mit ein. Besonders im gehobenen imperialen Dialekt war es unmöglich, zwischen den Bedeutungsebenen zu unterscheiden. Es kam immer auf den Kontext an.

Yskandrs Kontext war nicht eindeutig, was Mahit allerdings nicht anders erwartet hatte. Sie fand sich damit ab. Obwohl sie die teixcalaanische Sprache und Literatur ausgiebig studiert hatte, klang es bei ihm viel geschmeidiger und flüssiger. So etwas lernte man nur, wenn man lange hier gelebt hatte.

<Die Welt>, wiederholte er, <aber auch die Grenzen der Welt.> Das Imperium, aber auch die Region, wo das Imperium nicht mehr ist.

Mahit passte sich ihm an und antwortete, da sich sonst niemand in der Landekapsel befand, laut in der teixcalaanischen Sprache: »Du hast etwas Bedeutungsloses gesagt.«

<Ja>, stimmte Yskandr zu. <Als Botschafter habe ich mir angewöhnt, alle möglichen bedeutungslosen Dinge zu äußern. Du solltest es auch mal versuchen, es ist sehr unterhaltsam.>

In der Abgeschiedenheit ihres Körpers benutzte Yskandr eine höchst vertrauliche Anrede, als wären er und Mahit Klongeschwister oder Geliebte. Mahit hatte die intime Anrede noch nie laut ausgesprochen. Auf der Lsel-Station hatte sie einen jüngeren Bruder, der ihr fast so nahe stand wie ein Klonbruder, doch er beherrschte nur die Sprache der Stationsbewohner, und ihn mit dem vertraulichen »Du« anzureden, das in der teixcalaanischen Sprache eine intime Nähe ausdrückte, wäre ebenso sinnlos wie unfreundlich gewesen. Sie hätte das Wort bei einigen Menschen benutzen können, die sie in den Sprach- und Literaturkursen kennengelernt hatte. Ihre alte Freundin Shrja Torel zum Beispiel hätte die Geste richtig verstanden, doch Mahit und Shrja hatten keinen Kontakt mehr gehabt, seit Mahit für den Botschafterposten in Teixcalaan ausgewählt worden war und die Imago des Vorgängers in sich trug. Der Grund für den kleinen Bruch zwischen ihnen war ebenso offensichtlich wie kleinlich. Mahit bedauerte es, konnte aber nichts mehr dagegen tun, es sei denn, sie schickte aus dem Zentrum des Imperiums, das sie und Shrja unbedingt hatten besuchen wollen, einen Brief mit einer Entschuldigung. Höchstwahrscheinlich würde er nichts ändern.

Die Planetenstadt kam näher, sie füllte jetzt den ganzen Horizont aus. Eine riesige Krümmung, in die Mahit hineinstürzte. An Yskandr gewandt, dachte sie: Ich bin jetzt die Botschafterin. Ich könnte etwas Bedeutungsvolles sagen, sofern ich es will.

<Du sprichst richtig>, antwortete Yskandr. Es war die Art Kompliment, mit der die Teixcalaaner ein Kleinkind bedachten.

Die Schwerkraft erfasste das Beiboot und kroch durch Mahits Oberschenkel und Unterarme bis in die Knochen. Sie hatte das Gefühl zu rotieren, und ihr wurde schwindlig. Unter ihr spannten sich die Netze des Raumhafens. Einen Moment lang fürchtete sie, sie würde stürzen und auf die Oberfläche des Planeten prallen, um als breiiger Klecks zu enden.

<So habe ich es auch empfunden>, gestand Yskandr in der Sprache der Station, die Mahits Muttersprache war. <Mahit, fürchte dich nicht. Du stürzt nicht. Es ist der Planet.>

Der Raumhafen fing sie mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck ein.

Sie hatte Zeit, sich zu sammeln. Es dauerte eine Weile, bis ihr Beiboot in die lange Warteschlange ähnlicher Fahrzeuge eingereiht war. Sie glitten auf einem riesigen Förderband dahin, wurden identifiziert und einem Flugsteig zugeordnet. Wie eine Studentin im ersten Semester, die sich auf eine mündliche Prüfung vorbereitete, probte Mahit im Kopf, was sie den Bürgern des Imperiums sagen würde. Im Hinterkopf summte aufmerksam die Imago. Hin und wieder bewegte Yskandr ihre linke Hand und tippte mit den Fingern auf die Gurte. Die nervöse Geste einer anderen Person. Mahit wünschte, sie hätten mehr Zeit gehabt, sich aneinander zu gewöhnen.

Leider hatte sie sich bei der Implantation der Imago nicht dem üblichen Verfahren unterziehen, sich nicht unter strenger Überwachung der Psychotherapeuten auf Lsel ein ganzes Jahr oder länger mit einer Integrationstherapie vorbereiten können. Sie und Yskandr waren gerade erst drei Monate zusammen, und jetzt näherten sie sich dem Ort, an dem sie sogar zusammenarbeiten mussten – als eine einzige Person, die aus einer Erinnerungsreihe und einem neuen Wirt bestand.

Eines Tages war die Rote Frucht des Aufstiegs eingetroffen und in einen parallelen Orbit um die Sonne der Lsel-Station eingeschwenkt. Die Kommandantin hatte verlangt, einen neuen Botschafter nach Teixcalaan mitzunehmen, sich jedoch geweigert zu erklären, was mit dem letzten passiert war. Mahit war sicher, dass es im Rat von Lsel ausgiebige Diskussionen darüber gegeben hatte, was und wen man schicken und wie nachdrücklich man Aufklärung verlangen wollte. Eines jedoch wusste sie genau: Sie zählte auf der Station zu dem sehr kleinen Kreis von Menschen, die für diese Aufgabe alt genug waren, zugleich aber auch jung genug, um noch nicht einer Imago-Reihe beigetreten zu sein. Zudem hatte sie, wie nur wenige andere, die passenden Fähigkeiten erworben und die richtige Ausbildung genossen, um als Diplomatin eingesetzt zu werden. In dieser kleinen Gruppe wiederum war Mahit die Beste gewesen. Ihre Noten bei den Imperialen Prüfungen in der teixcalaanischen Sprache und Literatur konnten sich mit denen jedes Bürgers des Imperiums messen, worauf sie stolz gewesen war. Das erste halbe Jahr nach den Prüfungen hatte sie sich vorgestellt, sie würde eines Tages im mittleren Alter, wenn sie ihren Platz gefunden und genug Erfahrung gesammelt hatte, die Stadt erkunden und die Salons aufsuchen, die den Nichtbürgern in der betreffenden Saison gerade zugänglich waren, um Informationen für denjenigen zu sammeln, mit dem sie nach ihrem Tod die Erinnerungen teilen würde.

Nun kam sie früher als erwartet in die Stadt, und wichtiger als alle teixcalaanischen Prüfungen waren ihre Werte beim Imago-Eignungstest, der für diesen besonderen Einsatz grün, grün und nochmals grün gezeigt hatte. Ihre Imago sollte Yskandr Aghavn sein, der vorherige Botschafter in Teixcalaan, der jetzt irgendwie unpassend für dieses Imperium geworden war – tot, in Ungnade gefallen oder, sofern er noch lebte, in Gefangenschaft. Mahit hatte von ihrer Regierung die Anweisung bekommen, genau zu ermitteln, was mit ihm schiefgelaufen war – und als Hilfe trug sie seine Imago in sich. Er – oder wenigstens die letzte verfügbare, fünfzehn Jahre alte Version seiner Persönlichkeit – war der beste Fremdenführer am teixcalaanischen Hof, den Lsel ihr mit auf den Weg geben konnte. Nicht zum ersten Mal fragte Mahit sich, ob ein Yskandr in Fleisch und Blut auf sie wartete, wenn sie ausstieg. Sie war nicht sicher, was einfacher wäre – einem in Ungnade gefallenen Botschafter zu begegnen, einem Konkurrenten, den sie aber vielleicht noch retten konnte, oder niemanden vorzufinden, was bedeutete, dass er gestorben war, ohne einem jüngeren Menschen schenken zu können, was er im Laufe seines Lebens gelernt hatte.

Der Imago-Yskandr in ihrem Kopf war kaum älter als sie selbst. Einerseits half es dabei, Gemeinsamkeiten zu finden, andererseits war es unbehaglich. Die meisten Imagos waren ältere Menschen oder die Opfer vorzeitiger Unfälle. Die letzte Aufzeichnung von Yskandrs Wissen und Erinnerungen war allerdings entstanden, als er, nur fünf Jahre nach der Ankunft in der Stadt, seinen Posten in Teixcalaan vorübergehend verlassen und Urlaub auf Lsel gemacht hatte. Seitdem waren weitere anderthalb Jahrzehnte vergangen.

Also war er so jung wie sie, und die Vorteile, die eine Integration mit sich gebracht hätte, kamen nicht zum Tragen, weil sie erst so kurze Zeit zusammen waren. Zwischen der Ankunft des Kuriers und der Unterrichtung Mahits, dass sie die nächste Botschafterin werden sollte, waren lediglich zwei Wochen vergangen. Anschließend hatten Yskandr und sie noch einmal drei Wochen Zeit bekommen, um unter Aufsicht der Psychotherapeuten auf der Station zu lernen, in dem Körper zusammenzuleben, der früher ihr allein gehört hatte. Danach die lange, langsame Reise auf der Rote Frucht des Aufstiegs, während diese mit Unterlichtgeschwindigkeit die Distanzen zwischen den Sprungtoren durchmaß, die wie seltene Perlen im teixcalaanischen Raum verteilt waren.

Das Beiboot platzte auf wie eine reife Frucht. Mahits Gurte lösten sich. Mit beiden Händen nahm sie das Gepäck und ging zum Durchlass. Nun betrat sie endlich Teixcalaan.

Der Flugsteig des Raumhafens war ebenso großzügig wie praktisch angelegt. Abriebfester Teppich auf dem Boden, unübersehbare Wegweiser zwischen gläsernen und stählernen Wänden. Exakt mitten im Verbindungstunnel stand eine einzelne teixcalaanische Imperiumsbeamtin mit einem perfekt geschneiderten beigefarbenen Kostüm. Sie war zierlich, schmale Schultern und Hüften, und viel kleiner als Mahit. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der über dem linken Revers drapiert war. Die Trompetenärmel waren am Oberarm leuchtend orange verziert. <Die Farben des Informationsministeriums>, ließ Yskandr Mahit wissen. Die dunkelroten Ärmelaufschläge wiesen sie als offizielles Mitglied des Hofes aus. Über dem linken Auge trug sie einen Cloudhook, ein Minidisplay, auf dem unablässig die Daten des imperialen Informationsnetzwerks liefen. Ihr Gerät war elegant und anmutig wie die ganze Person. Die großen dunklen Augen, die fein gezeichneten Wangenknochen und der schmale Mund waren zierlicher, als es auf Teixcalaan Mode war, doch nach Mahits Stationsmaßstäben war die Frau interessant, wenn auch nicht wirklich hübsch. Höflich fügte die Beamtin vor der Brust die Finger zusammen und neigte vor Mahit den Kopf.

Yskandr hob Mahits Hände, um den Gruß zu erwidern. Mit einem peinlichen Knall ließ Mahit die beiden Reisetaschen auf den Boden fallen. Sie erschrak. Seit ihrer ersten gemeinsamen Woche war ihnen kein solcher Fehler unterlaufen.

Verdammt, dachte sie und hörte Yskandr im gleichen Moment sagen: <Verdammt>. Auch die Überschneidung war nicht gerade beruhigend.

Die sorgfältig eingeübte neutrale Miene der Beamtin änderte sich nicht. »Botschafterin, ich bin Drei Seegras, asekreta und Patrizierin Zweiter Klasse. Es ist mir eine Ehre, Sie auf dem Juwel der Welt zu empfangen. Auf Befehl Seiner Imperialen Majestät Sechs Vektor diene ich Ihnen als Kulturreferentin.« Es gab eine lange Pause, bis die Beamtin leise seufzte und fortfuhr: »Benötigen Sie Hilfe mit Ihren Habseligkeiten?«

»Drei Seegras« war ein altmodischer teixcalaanischer Name. Der numerische Teil war niedrig, und das Nomen war der Name einer Pflanze, auch wenn es eine war, von der Mahit noch nie in dieser Form gehört hatte. Die Eigennamen aller Teixcalaaner beruhten auf Pflanzen, Werkzeug oder unbelebten Objekten, aber die meisten Pflanzennamen bezogen sich auf Blumen. »Seegras« war bemerkenswert. Asekreta bedeutete, dass sie nicht nur dem Informationsministerium angehörte, wie schon ihr Anzug verriet, sondern auch eine ranghohe ausgebildete Agentin war. Zudem bekleidete sie den höfischen Titel einer Patrizierin Zweiter Klasse – eine Adlige, aber nicht sehr bedeutend oder wohlhabend.

Mahit beließ die Hände in der Geste, zu der Yskandr sie geformt hatte. So gehörte es sich, ganz egal, wie wütend sie über das Eingreifen ihrer Imago war. Sie verneigte sich. »Botschafterin Mahit Dzmare von der Lsel-Station. Zu Ihren Diensten und denen Seiner Majestät, möge seine Regentschaft einen strahlenden Glanz in die Leere bringen.« Da dies ihr erster offizieller Kontakt mit einer Angehörigen des teixcalaanischen Hofes war, benutzte sie den Ehrentitel, den sie zusammen mit Yskandr und der Regierung auf Lsel sorgfältig eingeübt hatte. Der »strahlende Glanz« war in Die Geschichte der Expansion, zugeschrieben Pseudo Dreizehn Fluss, der Beiname der Imperatorin Zwölf Sonneneruption. Es war der älteste Bericht über das Wirken der Imperatoren im Sektor der Stationen. Indem sie diesen Ehrentitel jetzt benutzte, bezeugte Mahit einerseits ihre umfassende Bildung und ihre Achtung vor Sechs Vektor und dessen Amt, während »die Leere« sorgsam jede Anspielung auf die Möglichkeit umging, Teixcalaan könne Anspruch auf den Raum der Stationen erheben, der ja genau genommen gar kein leerer Weltraum war.

Es war schwer zu erkennen, ob Drei Seegras die Anspielungen erfasste. Sie wartete geduldig, während Mahit ihr Gepäck aufhob, dann sagte sie: »Halten Sie die Sachen gut fest. Sie werden in der Angelegenheit des vorherigen Botschafters dringend im Justizministerium erwartet und müssen möglicherweise unterwegs viele andere Leute begrüßen.«

Schön. Mahit wusste nun, dass sie Drei Seegras’ Fähigkeit, spitze Bemerkungen zu machen, und die Klugheit der Frau nicht unterschätzen durfte. Sie nickte und folgte sofort, als sich die Kulturreferentin abrupt umdrehte und durch den Tunnel vorausging.

<Du darfst keinen von ihnen unterschätzen>, warnte Yskandr sie. <Als Kulturreferentin war sie halb so lange, wie du lebst, am Hof. Sie hat sich den Posten redlich verdient.>

Halte mir keine Vorträge, nachdem du mich gerade wie eine tölpelhafte Barbarin hast aussehen lassen.

<Soll ich mich entschuldigen?>

Tut es dir denn leid?

Mühelos konnte Mahit sich seine Miene vorstellen: hochgezogene Augenbrauen, so gelassen wie ein Teixcalaaner. Seine Impulse, gewöhnt an den üppigen Mund, den sie auf Holografien gesehen hatte, zogen ihr die Lippen hoch und öffneten sie. <Ich möchte nicht, dass du dich meinetwegen wie eine Barbarin fühlst. Das wird dir hier sowieso noch oft genug passieren.>

Es tat ihm nicht leid. Möglicherweise war er ein wenig verlegen, aber falls dem so war, schlug es sich nicht in ihrem endokrinen System nieder.

Yskandr lotste sie durch die nächste halbe Stunde. Mahit konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Er benahm sich genauso, wie sich eine Imago verhalten sollte: als Magazin voller instinktiver und automatischer Reaktionen, die Mahit noch nicht hatte erwerben können. Er wusste, wann man sich ducken musste, um durch Türen zu treten, die für Teixcalaaner und nicht für Stationsbewohner gebaut waren, wann man die Augen von dem zunehmenden Strahlen der Stadt abwenden musste, zu der sie im gläsernen Aufzug außen am Raumhafen hinunterfuhren, wie hoch man den Fuß heben musste, wenn man in Drei Seegras’ Bodenfahrzeug einsteigen wollte. Die höflichen Begrüßungen wickelte er ab wie ein Einheimischer. Nach dem Vorfall mit dem Gepäck achtete er darauf, Mahits Hände nicht im falschen Moment zu bewegen, doch sie überließ es ihm, wie lange er mit wem den Blickkontakt hielt, wie weit er den Kopf zum Gruß neigte, wie er mit vielfältigen kleinen Gesten zeigte, dass sie keineswegs eine Fremde und ganz gewiss keine Barbarin war, sondern durchaus zu dieser Stadt gehörte. Als trüge sie eine Tarnkappe. Sie fügte sich ein, obwohl sie noch nie hier gewesen war. Sie spürte, wie neugierige Blicke über sie hinwegglitten und sich Drei Seegras’ weitaus interessanterer höfischer Bekleidung zuwandten, und fragte sich, ob Yskandr die Stadt sehr geliebt hatte, da er sich so gut in ihr zurechtfand.

Im Bodenfahrzeug fragte Drei Seegras: »Sind Sie schon lange auf der Welt?«

Mahit musste aufhören, in irgendeiner anderen als der teixcalaanischen Sprache zu denken. Was Drei Seegras gesagt hatte, war eine höfliche Floskel mit der Bedeutung: Waren Sie schon einmal in meinem Land? Mahit hatte es zunächst als Frage nach ihrem Alter aufgefasst.

»Nein«, antwortete sie, »aber ich habe schon als kleines Kind die Klassiker gelesen und oft an die Stadt gedacht.«

Diese Antwort schien Drei Seegras zu gefallen. »Ich will Sie nicht langweilen, Botschafterin, aber wenn Sie eine kurze Erklärung der Dinge wünschen, die wir unterwegs sehen, würde ich mich freuen, wenn ich ein passendes Gedicht beisteuern dürfte.« Sie drückte auf einen Knopf auf ihrer Seite des Wagens, worauf die Fenster durchsichtig wurden.

»Ich langweile mich ganz bestimmt nicht«, antwortete Mahit absolut ehrlich. Draußen sauste die Stadt als verschwommenes Band aus Stahl und hellem Stein vorbei, Neonlichter wanderten an den gläsernen Wänden der Wolkenkratzer auf und ab. Sie fuhren auf einer zentralen Ringstraße und näherten sich, in Spiralen zwischen Verwaltungsbauten hindurch, dem Palast, bei dem es sich genau genommen eher um eine Stadt in der Stadt als um ein Gebäude handelte. Der Statistik nach beherbergte er siebenhunderttausend Einwohner, die allesamt irgendeinen geringfügigen Beitrag zum Funktionieren des Imperiums leisteten, von den Gärtnern bis hinauf zu Sechs Vektor selbst. Jeder war mit dem Informationsnetzwerk verbunden, das den Bürgern des Imperiums jederzeit zur Verfügung stand, und jeder schwamm in einer Flut von Daten, die ihm sagte, wo er sein sollte, was er tun sollte, wie sein Tag, die Woche und die Epoche zu verlaufen hatten.

Drei Seegras besaß eine sehr angenehme Stimme. Sie rezitierte Die Bauwerke, ein siebzehntausend Zeilen langes Gedicht, das die Architektur der Stadt beschrieb. Die Version, für die sie sich entschieden hatte, kannte Mahit nicht, aber das konnte durchaus eine Bildungslücke auf Mahits Seite sein. Im teixcalaanischen Kanon hatte sie so viele Dichtungen auswendig gelernt, wie sie nur konnte, um es einem teixcalaanischen Gelehrten gleichzutun und die mündlichen Prüfungen zu bestehen, doch Die Bauwerke hatte sie immer zu langweilig gefunden, um sich intensiv mit ihnen zu befassen. Jetzt sah es ganz anders aus, denn nun hörte sie Drei Seegras die Zeilen rezitieren, die sich auf die Gebäude bezogen, zwischen denen sie entlangfuhren. Die Beamtin sprach sehr flüssig und beherrschte das Versmaß gut genug, um amüsante und durchaus relevante Details einzufügen, wo eine Improvisation angebracht schien. Mahit legte die gefalteten Hände in den Schoß und betrachtete durch die Scheibe des Bodenfahrzeugs die draußen vorbeiziehende Poesie.

Dies war also die Stadt, das Juwel der Welt, das Herz des Imperiums, wo Dichtkunst und reale Wahrnehmung zusammenfielen. Drei Seegras ergänzte aus dem Stegreif Die Bauwerke, wo sich die Gebäude inzwischen verändert hatten. Nach einer gewissen Zeit bemerkte Mahit, dass Yskandr zusammen mit Drei Seegras sprach. Es war nur ein leises Flüstern im Hinterkopf, das sie nach einer Weile sogar beruhigend fand. Er kannte das Gedicht, und deshalb kannte sie es auch, sofern es nötig war, es zu kennen. Genau dazu waren die Imago-Reihen schließlich da: Sie sorgten dafür, dass nützliche Erinnerungen von Generation zu Generation überliefert wurden.

Nach fünfundvierzig Minuten Fahrt und zwei Verkehrsstaus beendete Drei Seegras die Strophe und hielt das Bodenfahrzeug fast im Zentrum des Palastgeländes am Fuß eines Gebäudes an, das spitz wie eine Nadel aufragte. <Das Justizministerium>, erklärte Yskandr.

Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?, fragte Mahit ihn.

<Das kommt ganz darauf an. Ich frage mich, was ich getan habe.>

Etwas Illegales. Komm schon, Yskandr, gib mir einen Überblick über die Möglichkeiten, die sich hier auftun. Was könntest du getan haben, um im Gefängnis zu landen?

Mahit hatte den Eindruck, dass Yskandr seufzte, und entwickelte dabei das unbehagliche Gefühl, das Nervensystem eines anderen Menschen würde ihr einen Adrenalinschub bescheren. <Hm, überwiegend wohl Aufwiegelung.>

Sie war nicht sicher, ob es wirklich ein Scherz war.

Der Turm des Justizministeriums wurde von grau uniformierten Wächtern bewacht, die vor dem Eingang konzentriert waren. Ein Kontrollposten. Die Wächter hatten lange, dünne, graue Stäbe anstelle der Energiewaffen, die von den teixcalaanischen Legionen bevorzugt wurden. Letztere hatte Mahit häufig auf der Rote Frucht des Aufstiegs gesehen. Diese Waffen hier waren ihr neu.

<Schockstäbe>, warf Yskandr ein. <Elektroimpulse zur Massenkontrolle. Die gab es hier noch nicht, als ich das letzte Mal hier war. Das sind Waffen für die Aufruhrbekämpfung. So wurden sie jedenfalls in der Boulevardpresse beschrieben.>

Du bist fünfzehn Jahre im Hintertreffen, erinnerte Mahit ihn. Inzwischen hat sich sicher eine Menge verändert …

<Das hier ist das Zentrum des Palasts. Wenn sie am Justizministerium Angst vor Unruhen haben, dann hat sich nicht irgendetwas verändert, sondern irgendetwas läuft grundlegend falsch. Und jetzt geh rein und finde heraus, was ich angestellt habe.>

Mahit fragte sich, was wohl falsch gelaufen sein mochte, das hier, vor der Tür des Justizministeriums, so ein Sicherheitstheater rechtfertigte. Dabei bekam sie auf dem Rücken und den Armen eine Gänsehaut. Die Nerven in der Armbeuge zuckten unruhig. Während Drei Seegras sie durch die Kontrolle bugsierte, hatte sie allerdings keine Zeit mehr für weitere verstörende Reflexionen. Die Beamtin ließ ihre und Mahits Fingerabdrücke registrieren und wandte höflich die Augen ab, als eine teixcalaanische Wächterin behutsam die Taschen von Mahits Reisejacke und die Hosen abtastete. Das Gepäck stand bereits gut bewacht an der Seite, und man versprach ihr, sie könne es auf dem Rückweg wieder mitnehmen.

Sobald die Wächterin umfassend gegen Mahits Vorstellungen von Privatsphäre verstoßen hatte, riet sie ihr, keinesfalls ohne Begleitung allein umherzulaufen, da ihre Identität weder im Cloudhook registriert noch sonst irgendwie für den Aufenthalt im Justizministerium autorisiert sei. Mit fragend hochgezogener Augenbraue wandte Mahit sich an Drei Seegras.

»Eile war geboten«, erwiderte Drei Seegras und schritt rasch durch mehrere Iristüren voran in das kühle, mit Steinplatten ausgelegte Innere des Gebäudes, wo sie sofort die Aufzüge ansteuerte. »Ihre Registrierung und die Erlaubnis, sich im Palastbezirk zu bewegen, werden so bald wie möglich bearbeitet.«

Darauf entgegnete Mahit: »Wir sind mehr als einen Monat geflogen, und nun ist Eile geboten?«

»Botschafterin, wir haben drei Monate gewartet, seit wir um die Entsendung eines neuen Vertreters der Station gebeten haben.«

<Anscheinend habe ich etwas ausgesprochen Spektakuläres getan>, meinte Yskandr. <Da unten gibt es Geheimgerichte und Verhörräume. Das besagten jedenfalls die Gerüchte im Palast.>

Der Aufzug klingelte in Quarten. »Und nach drei Monaten kommt es jetzt auf eine Stunde mehr oder weniger an?«

Drei Seegras winkte Mahit, als Erste in den Aufzug zu steigen, was wohl als Antwort gelten mochte, wenngleich sie nicht sehr aufschlussreich war.

Sie fuhren abwärts.

Unten betraten sie einen Raum, der eine Gerichtskammer oder ebenso gut ein medizinischer Hörsaal sein konnte: blauer Metallboden, ringsherum erhöhte Sitzbänke wie in einem Amphitheater, im Zentrum ein hoher Tisch, auf dem ein großes, mit Laken bedecktes Objekt lag. Flutlicht. Drei fremde Teixcalaaner, alle breitschultrig und mit kräftigen Wangenknochen. Einer trug einen roten Kittel, einer war wie Drei Seegras in das Orange und Beige des Informationsministeriums gekleidet, der Dritte steckte in einem dunkelgrauen Anzug, der Mahit verdächtig an den metallischen Glanz der Schockstäbe erinnerte. Sie standen am Tisch und unterhielten sich leise und angeregt. Mahit konnte nicht erkennen, was auf dem Tisch lag.

»Ich würde wirklich gern für mein Ministerium selbst eine Untersuchung durchführen, ehe er entfernt wird«, sagte der Höfling vom Informationsministerium gereizt.

»Es gibt absolut keinen Grund, ihn einfach ihnen zu übergeben«, wandte der rot gekleidete Teixcalaaner ein, als wäre die Sache damit entschieden. »Es nützt uns überhaupt nichts und könnte einen Zwischenfall provozieren …«

Der dunkelgraue Anzug war anderer Meinung. »Im Gegensatz zu den Ansichten Ihres Ministeriums, ixplanatl, bin ich absolut sicher, dass jeder Zwischenfall, den sie sich einfallen lassen, nicht schlimmer wäre als ein Insektenstich, und ebenso leicht zu lindern.«

»Oh, verdammt, Sie können sich später noch streiten, wenn Sie wollen«, sagte der Vertreter des Informationsministeriums. »Sie sind da.«

Als hätte er mit ihrer Ankunft gerechnet, drehte sich der Mann in Rot zu ihnen um, sobald sie eintraten. Die Decke des Raums war kuppelförmig, Mahit dachte an eine unter der Erde gefangene Gasblase. Jetzt erst begriff sie, dass eine Leiche auf dem Tisch lag.

Ein dünnes Laken war bis zur Hälfte des nackten Oberkörpers hochgezogen, die Hände lagen auf der Brust, die Fingerspitzen berührten sich, als bereitete sich der Verstorbene auf das Leben nach dem Tod vor. Die Wangen waren eingefallen, die offenen Augen mit einem trüben blauen Film beschlagen. Lippen und Nagelbetten waren auf die gleiche Weise verfärbt. Anscheinend war der Mann schon lange tot. Vielleicht sogar … drei Monate.

Staunend, entsetzt und so klar, als stünde er direkt neben ihr, sagte Yskandr: <Ich bin alt geworden.> Sie zitterte, das hämmernde Herz übertönte sogar die Worte, mit denen Drei Seegras sie vorstellte. Schlagartig wurde ihr schwindlig, es war schlimmer als der Sturz auf den Planeten, unverhofft stieg die Panik aus dem Nichts auf. Es war nicht ihre eigene. Es war Yskandr in ihrer Imago, der sie mit ihren eigenen Stresshormonen überschwemmte. Das Adrenalin schmeckte metallisch. Der Mund des Toten war erschlafft, doch die Lachfältchen in den Mundwinkeln waren noch zu erkennen. Sie spürte im eigenen Mund, wie Yskandrs Muskeln die Lippen im Laufe der Zeit geformt hätten.

»Botschafterin Dzmare, wie Sie sehen, war es nötig, einen neuen Botschafter zu bestellen«, erklärte der Mann in Rot, dessen Namen sie bei der Vorstellung völlig überhört hatte. »Ich muss mich entschuldigen, weil wir ihn auf diese Weise konserviert haben, aber wir wollten nicht gegen die Bestattungsriten verstoßen, die von Ihnen bevorzugt werden.«

Sie kam näher. Der Tote blieb tot, er lag reglos, schlaff und leer vor ihr. <Verdammt>, sagte Yskandr. Es war wie ein statisches Rauschen, das ihr Übelkeit bereitete. Mahit fühlte sich völlig hilflos und war zu ihrem Entsetzen überzeugt, dass sie sich gleich übergeben musste. <Oh verdammt, das ist zu viel für mich.>

Mahit (oder vielleicht war es auch Yskandr, sie hatte Schwierigkeiten, es zu unterscheiden; so sollte die Integration nicht verlaufen, denn sie sollte sich nicht in seinen biochemischen Panikreaktionen verlieren, die ihr eigenes endokrines System überwältigt hatten) dachte daran, dass sich der einzige Ort, an dem Yskandr jetzt noch existierte, in ihrem Kopf befand. Schon als die Teixcalaaner einen neuen Botschafter angefordert hatten, war ihr der Gedanke gekommen, er könne tot sein. Sie hatte auf einer rein intellektuellen Ebene darüber nachgedacht, aber nun stand sie tatsächlich vor seiner Leiche, vor der hohlen, verwesenden Hülle, und geriet in Panik, weil ihre Imago in Panik geriet. Überbordende Emotionen waren ein zuverlässiger Weg, eine noch nicht abgeschlossene Integration zu torpedieren. Starke Gefühle konnten all die winzigen Schaltungen in der Maschine in ihrem Kopf verbrennen. Alles verschwamm ihr vor den Augen, ihr wurde übel.

Yskandr, rief sie innerlich, um einen Trost zu finden, der weit und breit nicht zu entdecken war.

<Geh näher heran>, verlangte er. <Ich muss es sehen. Ich bin nicht sicher …>

Er setzte sie in Bewegung, ehe sie eine Entscheidung treffen konnte. Es war, als fiele sie während der Spanne, die nötig war, um sich der Leiche zu nähern, in Ohnmacht. Auf einmal blinzelte sie und war da. Jetzt ging es wirklich sehr, sehr schief, und sie konnte es nicht verhindern …

»Wir verbrennen die Toten«, erklärte sie. Sie wusste nicht, bei wem sie sich für die Tatsache bedanken sollte, dass sie es in der richtigen Sprache gesagt hatte.

»Ein interessanter Brauch«, erklärte der dunkelgrau gekleidete Höfling. Mahit nahm an, er arbeitete hier im Justizministerium. Wahrscheinlich war es seine Leichenhalle, während der Mann in Rot womöglich der Bestatter war.

Mahit lächelte ihn an. Das Lächeln war zu breit für ihr Gesicht und zu unkontrolliert, um von Yskandr zu stammen. Der Ausdruck musste jeden äußerlich völlig unbewegten Teixcalaaner aus der Fassung bringen. »Danach …«, begann sie und suchte nach den richtigen Vokabeln. Es war schwer, weil immer noch die Adrenalinwellen heranbrandeten. »Danach essen wir die Asche, weil sie uns heilig ist. Zuerst seine Kinder und Erben. Sofern er welche hat.«

Immerhin war der Höfling so anständig zu erbleichen, zeigte sich zugleich aber störrisch und wiederholte die letzte Bemerkung. »Ein interessanter Brauch.«

»Was tun Sie mit Ihren Toten?« Unsicher trat Mahit näher an Yskandrs Leiche heran. Im Moment hatte sie wieder die Kontrolle über den Mund, doch die Füße gehörten Yskandr. »Verzeihen Sie meine Frage. Ich bin ja keine Bürgerin Ihres Landes.«

Als müsste er jeden Tag auf so eine Frage antworten, sagte der Mann in Rot: »Meist beerdigen wir die Toten. Wünschen Sie, den Leichnam zu untersuchen, Botschafterin?«

»Gibt es einen Grund, warum ich es tun sollte?«, entgegnete Mahit. Schon zog sie die Decke herunter. Ihre schweißfeuchten Finger schwitzten, der Stoff glitt ihr beinahe aus den Händen. Die Leiche war nackt, ein Mann von über vierzig Jahren, die ganze Haut war ebenso blau wie die Körperteile, die sie schon gesehen hatte. Offenbar hatte man ihm ein Konservierungsmittel injiziert. Die Einstiche der Nadeln waren deutlich zu erkennen, denn die Löcher waren von Ringen aus bleichem, angeschwollenem Fleisch umgeben: an der Halsschlagader, in den Venen der Ellenbogen. An der Wurzel des rechten Daumens war ein weiterer Einstich, der die Hand verformt hatte. Sie starrte ihn an, abermals schien sie vorübergehend in Ohnmacht zu fallen. Erst hatte sie sein Gesicht betrachtet, jetzt musterte sie sein Handgelenk, als müsste ihr Imago-Gast jede Stelle, an der sich sein ehemaliger Körper verändert hatte, genau untersuchen. Selbst wenn Mahit als seine Nachfolgerin die Asche des Toten für sich beansprucht hätte – sie war nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte – , wäre es sehr unklug gewesen, sich einzuverleiben, was der Mann in Rot der Leiche eingeflößt hatte. Drei Monate ohne Anzeichen von Verwesung. Neben der metallischen endokrinen Flut schmeckte sie etwas Bitteres in der Kehle. Eine Leiche sollte sich zersetzen und recycelt werden.

Doch das Imperium bewahrte alles auf und erzählte immer wieder die gleichen Geschichten. Warum also nicht auch den Körper aufbewahren, statt ihn einer sinnvollen Verwendung zuzuführen?

Sie berührte das Handgelenk, die Imago ließ ihre Fingerspitzen über die Einstiche wandern, dann weiter zur Handfläche. Er betastete eine Art Narbe. Die Haut fühlte sich an wie Gummi oder Plastik. Zu nachgiebig und gleichzeitig unnatürlich zäh. Ihr Yskandr hatte diese Narbe noch nicht gehabt. Ihr Yskandr war noch nicht tot. Abermals überschwemmte sie eine Woge der Übelkeit, an den Rändern ihres Gesichtsfeldes flackerte und blitzte es, und wieder dachte sie: Uns brennen gleich sämtliche Schaltungen durch, hör auf damit …

<Ich kann nicht>, gestand Yskandr. Sie spürte eine gewaltige Negation im Bewusstsein, ein Erlöschen, als wäre ein Funke zu Boden gefallen – und dann war er weg.

Totenstille. Nicht einmal mehr das Gefühl, er würde die Welt durch Mahits Augen beobachten. Sie fühlte sich schwerelos, voller Endorphine, die sie nicht absichtlich produziert hatte, und unendlich allein. Ihre Zunge war träge. Sie schmeckte wie Aluminium.

So etwas hatte sie noch nie erlebt.

»Wie ist er gestorben?«, fragte sie und staunte darüber, dass es völlig normal klang, völlig unbeeindruckt. Im Grunde hatte sie die Frage nur gestellt, um überhaupt irgendetwas zu sagen. Die Teixcalaaner wussten nichts von den Imagos und hätten nicht verstanden, was gerade in ihr vorging.

»Er ist erstickt«, berichtete der rot gekleidete Mann und legte dem Toten zwei Finger in genau bemessenem Abstand auf den Hals. »Seine Kehle war verschlossen. Es war sehr unglücklich, aber die Physiologie der Nichtbürger unterscheidet sich oft sehr von unserer eigenen.«

»Hat er etwas gegessen, gegen das er allergisch war?«, fragte Mahit. Das kam ihr absurd vor. Sie war wie betäubt. Anscheinend war Yskandr an einem anaphylaktischen Schock gestorben, und wenn sie nicht aufpasste, würde sie gleich mit einem hysterischen Lachen herausplatzen.

»Ausgerechnet bei einem Abendessen mit dem Wissenschaftsminister Zehn Perle«, erklärte der Höfling vom Informationsministerium. Er sah aus, als wäre er gerade einem klassischen teixcalaanischen Gemälde entstiegen. Die Gesichtszüge waren unglaublich symmetrisch, ein voller Mund, eine niedrige Stirn, eine perfekt gekrümmte Nase und Augen wie tiefes braunes Wasser. »Botschafterin, Sie hätten die Nachrichten unmittelbar danach sehen sollen. Die ganze Boulevardpresse hat es aufgegriffen.«

»Zwölf Azalee will keineswegs respektlos sein«, warf Drei Seegras ein, die an der Tür stehen geblieben war. »Die Nachricht hat den Palastkomplex nicht verlassen. Das wäre für die breite Bevölkerung nicht angemessen gewesen.«

Mahit zog dem Toten das Laken bis zum Kinn hoch. Es half nicht. Er war immer noch da. »War die Geschichte auch für die Stationen unangemessen?«, fragte sie. »Der Kurier, der mich bat, in der Stadt den Dienst anzutreten, drückte sich unnötigerweise sehr unbestimmt aus.«

Drei Seegras zuckte mit den Achseln, es war kaum mehr als ein winziger Ruck einer Schulter. »Botschafterin, ich bin zwar eine asekreta, aber nicht jede asekreta wird in alle Entscheidungen des Informationsministeriums eingeweiht.«

»Was sollen wir nun mit dem Toten tun?«, fragte der Mann in Rot. Mahit sah ihn an. Für einen Teixcalaaner war er recht groß. Die aufreizend freundlichen grünen Augen befanden sich fast auf gleicher Höhe mit ihr. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit der Leiche tun sollte. Sie hatte noch nie jemanden selbst verbrannt, dazu war sie zu jung. Ihre Eltern lebten noch. Üblicherweise rief man einen Bestatter an, der sich um alles kümmerte, wobei einem am besten ein enger Vertrauter die Hand hielt und den gemeinsamen Verlust beweinte.

Was sie mit diesem Toten tun sollte, wusste sie schon gar nicht. Niemand, nicht einmal sie selbst, würde um Yskandr weinen, und im teixcalaanischen Raum gab es keine Bestatter, die wussten, wie man in so einem Fall vorging.

»Noch nichts«, quetschte sie heraus und schluckte schwer, um die Übelkeit zu überwinden. Ihre Finger fühlten sich an, als wären sie statisch aufgeladen. Es kribbelte, nachdem sie die Haut des Toten berührt hatte. »Natürlich werde ich die entsprechenden Vorkehrungen treffen, sobald ich mich mit den hiesigen Möglichkeiten vertraut gemacht habe. Bis dahin … nun ja, er wird nicht verwesen, oder?«

»Nur sehr langsam«, antwortete der Mann in Rot.

»Mein Herr …« Mahit sah sich Hilfe suchend nach Drei Seegras um. Wenn sie schon die Kulturreferentin war, dann konnte sie wenigstens bei solchen Gesprächen aushelfen …

»Ixplanatl Vier Hebel«, sagte Drei Seegras sofort. »Vom Wissenschaftsministerium.«

»Vier Hebel«, fuhr Mahit fort und unterschlug absichtlich den Titel des Mannes, der so viel wie »Wissenschaftler« bedeutete, worunter hier jedoch ganz allgemein ein bewährter Mitarbeiter zu verstehen war. »Wann wird die Verwesung deutlich sichtbar sein? Wird es vielleicht noch einmal zwei Monate dauern?«

Vier Hebel lächelte breit genug, um ihr durch den kleinen Spalt einen schmalen Streifen Zähne zu zeigen. »Zwei Jahre, Botschafterin.«

»Ausgezeichnet«, entgegnete Mahit. »So haben wir reichlich Zeit.«

Vier Hebel legte die Finger zu einem Dreieck zusammen und verneigte sich, als hätte sie ihm einen Befehl erteilt. Mahit vermutete, dass man im Moment noch nachsichtig mit ihr umging. Das nahm sie gern hin. Ihr blieb sowieso nichts anderes übrig. Sie brauchte Raum, um nachzudenken, und den bekam sie hier nicht, in den Tiefen des Justizministeriums, umgeben von drei Höflingen und einem ixplanatl, der die Leichenhalle beaufsichtigte. Diese Leute warteten doch nur darauf, dass sie einen unverzeihlichen Fehler beging, worauf sie enden würde wie Yskandr.

Vom eigenen Körper im Stich gelassen. Nachdem er zwanzig Jahre in der Stadt gelebt und die gleiche Nahrung wie die Teixcalaaner zu sich genommen hatte. Konnte sie das glauben?

Yskandr, dachte sie in die Richtung des leeren Orts, an dem die Imago sein sollte. Was hast du uns vor deinem Tod nur eingebrockt?

Er antwortete nicht. Als sie in den leeren Ort hineinrief, bekam sie das Gefühl zu stürzen, obwohl sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand.

»Ich würde gern als offizielle Gesandte der Stationen in Teixcalaan registriert werden und mein Gepäck wieder an mich nehmen«, sagte sie. Sie wollte nur noch hinaus. So schnell wie möglich.

»Selbstverständlich, Botschafterin«, stimmte Drei Seegras zu. »Ixplanatl, Zwölf Azalee, Neunundzwanzig Infograf, es war mir wie immer eine Freude, Sie zu sehen.«

»Gleichfalls, Drei Seegras«, erwiderte Zwölf Azalee. »Viel Vergnügen mit der Botschafterin.«

Abermals zeigte Drei Seegras das einseitige Schulterzucken, als könnte nichts, was irgendjemand gesagt hatte, eine höfische asekreta auch nur im Mindesten aus der Fassung bringen. Mahit stellte fest, dass sie die Frau auf einmal gut leiden konnte, erkannte aber auch, dass dieses Gefühl vor allem dem verzweifelten Wunsch entsprang, eine Verbündete zu finden. Ohne den Imago-Gast, mit dem sie jederzeit reden konnte, fühlte sie sich sehr einsam. Er würde sicher bald wieder auftauchen. Sobald er den Schock überwunden hatte. Sobald die starken Emotionen abgeklungen waren. Es ging ihm gut. Ihr ging es gut. Ihr war nicht einmal mehr schwindlig.

»Wollen wir dann?«, sagte sie.

2

Das dürfen Sie nicht verpassen / Neue wichtige Informationen in Kürze / JETZT auf Kanal Acht!

Heute Abend bringen Ihnen Sieben Chrysopras und Vier Platane einen Bericht von Odile-1 im Odile-System, wo sich die Sechsundzwanzigste Legion unter der stellvertretenden yaotlek Drei Sumach darauf vorbereitet, den Orbit zu verlassen, nachdem die Aufstände in der Hauptstadt von Odile-1 niedergeschlagen wurden. Gleich wird sich Vier Platane vom zentralen Platz der Hauptstadt melden und Neun Shuttle, den soeben eingesetzten neuen Gouverneur des Planeten, interviewen. Es wird erwartet, dass der Handel durch das Odile-Tor innerhalb von zwei Wochen wieder den normalen Umfang erreicht …

– Kanal Acht!, Abendnachrichten, gesendet im internen Cloudhook-Netzwerk der Stadt, 245. Tag, 3. Jahr in der 11. Epoche des Imperators Sechs Vektor von ganz Teixcalaan.

BESTIMMUNGENFÜRDIEANNÄHERUNGANDASSPRUNGTOR, SEITE 2 VON 2

… reduzieren Sie die Geschwindigkeit auf 1 / 128 der maximalen Unterlichtgeschwindigkeit Ihrer Einheit, um Ausweichmanöver für den Fall zu ermöglichen, dass das Sprungtor gleichzeitig von Nicht-Stationsschiffen von der anderen Seite aus angeflogen wird.

17. Melden Sie den bevorstehenden Sprung über Funk an.

18. Informieren Sie Crew und Passagiere über den bevorstehenden Sprung.

19. Fliegen Sie mit 1 / 128 der Höchstgeschwindigkeit den Bereich der größten visuellen Verzerrung an …

– Lsel-Station, Handbuch für das Pilotentraining, Seite 235

Die Suite des Botschafters war voll mit Yskandr, während Mahit in sich selbst eine schreckliche Leere spürte. Es war, als hätte man sie auf links gewendet, und als wäre sie nun von den Habseligkeiten ihres Imago-Gasts umgeben, statt dessen Erinnerungen in sich zu tragen. Vor Mahits Ankunft hatte jemand gelüftet – das nahm sie jedenfalls an, als sie die offenen Fenster sah. Der Luftstrom, der hereinwehte und die Vorhänge wallen ließ, hatte den antiseptischen Geruch des Reinigungsmittels noch nicht völlig vertrieben. Trotzdem war es eindeutig eine Suite, in der jemand sehr lange gelebt hatte.

Yskandr hatte die Farbe Blau gemocht und teuer aussehende Möbel aus irgendeinem dunklen, glänzenden Metall angeschafft. Das Industriedesign des Arbeitstischs und der niedrigen Couch hätte jeder, der nicht auf einem Planeten, sondern auf einer Station oder einem Schiff aufgewachsen wäre, sofort einladend gefunden. Auf dem Boden lagen jedoch seidenweiche, tiefe und gemusterte Teppiche. Mahit dachte daran – ein flüchtiges fröhliches Verlangen – , in ihrem Heim barfuß umherzulaufen und das körperliche Gefühl zu genießen. Dann fiel ihr auf, wie sehr sich sogar die ästhetischen Vorlieben der Imago-Nachfolgerin denen des Vorgängers anglichen. Yskandr war gerne auf geflochtenen Fasern barfuß gelaufen, und anscheinend mochte sie es auch, obwohl sie noch nie die Gelegenheit dazu gehabt hatte.

Hinter einer Tür befand sich das Schlafzimmer. An der Decke über dem Bett hatte Yskandr ein metallenes Modell der teixcalaanischen Sternkarte für den Sektor der Stationen aufgehängt wie eine Werbung. Schlafen Sie hier, und Sie schlafen mit den Ressourcen des gesamten Sektors.

Es war eine schöne Arbeit, die um ein Haar nicht schräg gewirkt hätte. Um ein Haar.

Auf dem Nachttisch lagen einige Gesetzbücher und ordentlich aufgereihte Plastikplatten mit Infofilmen. Mahit glaubte nicht, dass Yskandr der Typ war, der den Lesestoff auf dem Nachttisch gewissenhaft ausrichtete. Ihr selbst lag dies ganz sicher nicht. Allerdings wäre es leichter gewesen, wenn sie ihn hätte fragen können. Was sollte sie tun, wenn er nicht zurückkehrte? Wenn dieser schreckliche Gefühlsausbruch die Verbindungen zwischen der Imago-Maschine und ihrem Stammhirn verbrannt hatte, ehe sie und Yskandr überhaupt die Gelegenheit bekommen hatten, zu einer einzigen Person zu verschmelzen? Hätten sie mehr Zeit gehabt, dann wäre die Maschine unwichtig geworden. Sie wäre dann Yskandr gewesen, und er wäre sie gewesen, oder sie hätten sich zu einem neuen, vollständigeren Wesen entwickelt, das Mahit Dzmare hieß und sehr genau wusste, was Yskandr Aghavn gewusst hatte – einschließlich der Muskelerinnerungen, seiner erworbenen Fertigkeiten und Instinkte. Seine und ihre Stimme hätten sich vermischt, wie es sein sollte, wenn in der Imago-Reihe eine neue Verbindung entstand. Aber jetzt? Was sollte sie tun? Sich an die Heimat wenden und um eine Reparaturanleitung bitten? Nach Hause fliegen und all die Arbeit unerledigt lassen, wozu nicht zuletzt die Antwort auf die Frage zählte, warum er gestorben war? Wenigstens hatte sie auch ohne seine Hilfe keinerlei Sprachprobleme. Die halbe Zeit träumte sie in teixcalaanischer Sprache, und sie hatte oft genug von der Stadt geträumt. Aber wenn sie sich an den inneren Ort wandte, an dem sie seine Gegenwart gespürt hatte, seit er ihr zugeteilt worden war, stellte sich sofort wieder dieser schwindelerregende, grässliche Eindruck ein, sie würde ins Bodenlose stürzen. Sie setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die akkuraten Ecken der Gesetzbücher, bis sie sicher war, nicht mehr in Ohnmacht zu fallen. Wer die Räume auch gereinigt hatte, er hatte die Bücher ordentlich aufgereiht, was bedeutete, dass alles, was irgendwie verfänglich sein konnte, längst entfernt war.

Sie dachte schon über Verfängliches nach.

Natürlich dachte sie über Verfängliches nach. Du musst davon ausgehen, dass du getäuscht wirst, sagte sie sich selbst. Gehe davon aus, dass etwas faul ist und man dich hintergeht. Erstickt. Eine Allergie, oder er hatte etwas Verdünntes eingeatmet. So war es in der Politik. Dies hier war die Stadt. Hier besaß jeder Mensch einen Cloudhook, der ihm eine Geschichte einflüsterte. Intrigen, Täuschungen und Ränke. Sie hatte die Geschichten in der Kindheit gelesen und sie später selbst erzählt. Welch blasser Abklatsch, den sie im perfekten Versmaß den leeren dummen Metallwänden der Station vorgetragen hatte. Was für eine beliebte und fröhliche Spielgefährtin sie in der Kindheit doch gewesen war. Nicht dass es jetzt noch eine Rolle spielte.

Denke wie eine Teixcalaanerin.

Verfängliche Informationen waren entfernt oder unkenntlich gemacht.

Es sei denn, Yskandr hatte sie versteckt, weil er wusste oder ahnte, was mit ihm geschehen würde. Wenn er klug war. Die Imago war klug, aber überholt. Im Laufe von fünfzehn Jahren konnte sich ein Mann verändern.

Mahit fragte sich, was aus ihr würde, wenn sie lange in dieser Suite lebte. Besonders ohne die Imago, die nicht nur veraltet, sondern anscheinend auch verloren war. Es sei denn, Yskandr tauchte doch noch auf. Natürlich würde er wieder auftauchen. Es war nur ein kurzer Aussetzer, ein Fehler. Morgen würde sie aufwachen, und er wäre wieder da. Aber wenn nicht, dann musste sie an Sabotage oder an mechanisches Versagen denken. Oder an die ihr anzulastende Unfähigkeit, die Integration vorzunehmen. Möglicherweise war es wirklich ihre Schuld. Vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein das seine verworfen. Sie schauderte. Die Hände fühlten sich immer noch kribbelig und fremd an.

»Ihr Gepäck ist überprüft und steht Ihnen zur Verfügung«, verkündete Drei Seegras, als sie durch die Iristür von Yskandrs Schlafzimmer trat. Mahit richtete sich auf und gab sich große Mühe, ihren neurologischen Zwischenfall zu verbergen. »Kein bisschen Konterbande. Bisher sind Sie eine ausgesprochen langweilige Barbarin.«

»Hatten Sie mit etwas mehr Aufregung gerechnet?«, fragte Mahit.

»Sie sind meine erste Barbarin«, erwiderte Drei Seegras. »Ich rechne mit allem.«

»Sie sind doch sicher schon einmal Nichtbürgern begegnet. Immerhin ist dies hier das Juwel der Welt.«

»Eine Begegnung ist etwas ganz anderes als die Aufgabe einer Kulturreferentin. Sie sind meine Nichtbürgerin, ich öffne Ihnen die Türen.«

Die Verbform, die sie benutzte, war gerade archaisch genug, um als idiomatisch durchzugehen. Mahit riskierte es, nicht ganz so sprachmächtig zu wirken, wie sie es sich erhofft hatte, und sagte: »Das Öffnen von Türen scheint mir doch unter der Würde einer Patrizierin Zweiter Klasse zu sein.«

Drei Seegras’ Lächeln war breiter, als es den meisten Teixcalaanern möglich war. Es erreichte sogar die Augen. »Sie haben keinen Cloudhook. Manche Türen können Sie gar nicht öffnen, Botschafterin. Die Stadt weiß nicht, dass Sie existieren. Außerdem, wie wollen Sie ohne meine Hilfe die Mail entschlüsseln?«

Mahit zog eine Augenbraue hoch. »Ist meine Mail denn verschlüsselt?«

»Ja, und obendrein wartet sie seit drei Monaten auf die Bearbeitung.«

»Das wäre dann aber Botschafter Yskandr Aghavns Mail, nicht meine.« Sie stand auf und verließ das Schlafzimmer. Wenigstens diese Tür war ihr gewogen.

Drei Seegras folgte ihr. »Da gibt es keinen Unterschied. Botschafterin Dzmare oder Botschafter Aghavn.« Sie wedelte mit der Hand. »Es ist die Mail des Botschafters.«

Der Unterschied war sogar kleiner, als Drei Seegras ahnte. So wäre es jedenfalls, wenn die Imago zurückkehrte. Da wurde Mahit bewusst, dass sie wütend auf ihn war, von den Sorgen wegen des mechanischen Versagens mal ganz abgesehen. Er war in Panik geraten, als er sich selbst tot gesehen hatte, er hatte sie mit Adrenalin überschwemmt und ihr die seltsamsten Kopfschmerzen ihres ganzen Lebens beschert. Jetzt stand sie allein vor der unbeantworteten Mail, die sein fünfzehn Jahre älteres teixcalaanisches Selbst hatte liegen lassen, weil er höchst vermutlich ermordet worden war, und musste sich mit einer Kulturreferentin herumschlagen, die sogar Humor besaß.

»Und sie ist verschlüsselt.«

»Selbstverständlich. Es wäre nicht sehr respektvoll, die Mail eines Botschafters nicht zu verschlüsseln.« Drei Seegras holte eine Schale voller Infofiche-Sticks. Es waren kleine Würfel aus Holz, Metall oder Plastik, in denen die Chips steckten. Alle waren aufwändig mit den persönlichen Symbolen des jeweiligen Absenders geschmückt. Sie nahm eine Handvoll heraus und hielt sie zwischen den Fingern, als wären aus den Knöcheln Klauen gesprossen. »Womit möchten Sie beginnen?«

»Wenn die Mail für mich bestimmt ist, sollte ich sie auch selbst lesen können«, wandte Mahit ein.

»Rein rechtlich gesehen, bin ich ein absolut ausreichender Ersatz«, erwiderte Drei Seegras und blieb dabei sogar liebenswürdig.