Am anderen Zeit-Ort - Wolfgang Emmerich - E-Book

Am anderen Zeit-Ort E-Book

Wolfgang Emmerich

0,0

Beschreibung

Was war DDR-Literatur wirklich, und wie war dieser eigentümliche historische Zeit-Ort beschaffen, der sie – vier lange Jahrzehnte und auf engem Raum – prägte? Wen interessiert heute noch die Literatur aus der DDR? Das Feld der deutschsprachigen Literatur hat sich gegenüber dem Wendejahr 1989/90 mit einer Rasanz verändert, die kein Mensch auch nur annähernd hätte voraussagen können. Die literarischen Koryphäen aus dem Westen wie aus dem Osten leben nicht mehr. Vor allem aber hat der massenhafte Zustrom von jungen Migrantinnen und Migranten die Deutsch schreibende Autorenschaft so gravierend verändert, dass die Divergenzen zwischen westdeutschen und ostdeutschen Literaturproduzenten kaum noch wahrgenommen werden. Vielleicht liegt darin eine Chance, die Qualitäten einer Literatur neu kennenzulernen, die allzu lange als rein ideologisch ins Abseits gestellt wurde. Aber was war DDR-Literatur wirklich? Und wie nähert man sich ihr am besten? Wie war dieser eigentümliche historische Zeit-Ort (Chronotopos) beschaffen, der auch die Literatur – vier lange Jahrzehnte und auf abgeschlossenem engem Raum – so stark prägte? In welches existenzielle Dilemma waren die Akteure gestellt, die als schreibende Intellektuelle gegen Zensur und Repression anzukämpfen versuchten? Wolfgang Emmerich stellt solche grundsätzlichen Fragen und exemplifiziert sie anschaulich anhand der Texte bedeutender Autorinnen und Autoren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 476

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Emmerich

Am anderen Zeit-Ort

Literatur der DDR

WALLSTEIN VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2024

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Eva Mutter

(evamutter.com <http://evamutter.com>)

ISBN (Print) 978-3-8353-5704-4

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8709-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8710-2

Inhalt

Vorwort

I Was ist DDR-Literatur? Und wie nähert man sich ihr?

Chronotopos DDREin literaturgeschichtliches Modell

Schicksale der Moderne in der DDR

Habitus- und GenerationsgemeinschaftenEin Versuch, das literarische Feld Ostdeutschland mit Bourdieu und Mannheim besser zu verstehen

Fast eine LeerstelleDie Shoah in der DDR- und Post-DDR-Literatur

II Das Dilemma der literarischen Intelligenz

Status melancholicusZur Transformation der Utopie in vier Jahrzehnten

Geschichte und HeilsgeschehenDie Welt des Intellektuellen als Wille und Vorstellung

Großmutter, Mutter und KindDrei Frauen der Familie Wolf schreiben autobiographisch

Kleine Typologie der Weggegangenen

III Zu einzelnen Themen und Autoren

Holzwege, gelegentlich LichtungenOstdeutsche Literatur 1945-55

Warum ausgerechnet das Alte Testament? Stefan Heyms Roman »Der König David Bericht«

Griechische Mythen als EsperantoHeiner Müllers Antikenstücke

Im Zeichen der GründungsmythenUwe Johnson contra Hermann Kant

Was die Liebe ist bei Günter de BruynEine Eloge zu seinem 80. Geburtstag

»Das Nichtgelebte« – das Lebenswerte. Sinn und Sinnlichkeit in Volker Brauns »Hinze-Kunze-Roman«

Den Holocaust (nicht) erzählenJurek Becker, »Jakob der Lügner« / Fred Wander, »Der siebente Brunnen«. Zwei Romane im Angesicht der Shoah

Sarah Kirsch – Christa Wolf. Der Briefwechsel

Nachweise

Literatur

Personenregister

Anmerkungen

Vorwort

Als die DDR untergegangen war, wurde ich häufig, und gern in süffisantem Ton, gefragt, was ich denn nun anstelle, da mein Sammelgebiet nicht mehr existiere. Natürlich war und ist das eine dumme Frage – schließlich sind alle ›Sammelgebiete‹ der Literaturgeschichte, sei es das Barock, das Biedermeier oder der Expressionismus, irgendwann an ein Ende gekommen. Aber dahinter verbarg sich doch die berechtigte Frage, ob man die Erforschung und Darstellung der DDR-Literatur unverändert weiterbetreiben könne, wo das »ganze Land« DDR im Begriff stand, »in den Westen« zu gehen, wie Volker Braun es ausdrückte. Einer produktiven, selbstbewussten und wirkmächtigen literarischen Szene war auf einmal der Boden unter den Füßen weggezogen, denn das Gemeinsame fast aller Schreibenden in der DDR bestand darin, dass sie sich mit Verve auf ihren Lebensort – eben dieses Land DDR – bezogen, ganz gleich, ob sie das affirmativ, behutsam kritisch oder radikal kritisch taten. Plötzlich löste sich dieser existenzielle Bezug in Luft auf und ließ die Schreibenden ortlos zurück.

Wer im Westen über DDR-Literatur schrieb, hatte dieses Problem nicht, es sei denn, sein Faible für die DDR-Literatur war obsessiv. Das galt für mich (einen »Doppeldeutschen«, wie mich Konrad Franke einmal nannte, weil ich 1958, mit 17 Jahren, die DDR verlassen hatte) immerhin partiell, und ich kam im Lauf der Jahre zu der persönlichen Bilanz, dass mich meine Sympathie für die ›wahren Sozialisten‹ vom Schlage Heiner Müllers, Volker Brauns und Christa Wolfs dazu verführt hatte, manches in der DDR allzu wohlwollend zu beurteilen. Doch jetzt – 1990 – zeigte sich auch klar, was mich von dieser Autorengruppe trennte: Eine Erhaltung des Staates DDR, vielleicht sogar ein Erhalt der Mauer, war für mich zu keinem Zeitpunkt eine Option. Im Gegenteil, für mich war der Fall der Mauer Anlass zu unbändiger Freude, und der Untergang des Staates DDR nicht minder. Dieser Gegensatz führte in den Jahren nach 1990 zu Ernüchterung und Enttäuschung auf beiden Seiten der (geschleiften) Mauer. Manche meiner Freundschaften, auch solche mit Autoren und Wissenschaftlern, gerieten in die Krise, manche ließen sich nicht halten. Vor allem stieß die letzte Ausgabe meiner »Kleinen Literaturgeschichte der DDR« von 1996 mancherorts im Osten auf Ablehnung.

Was bewirkte die Wende bei denen, die sich als forschende DDR-Bürger mit der Literatur ihres Landes beschäftigten? Nur bei sehr wenigen löste der Untergang der DDR eine Krise aus, die sich als produktiv für ihre wissenschaftliche Arbeit erwies. Zu nennen ist die Arbeitsgruppe von Ursula Heukenkamp (mit starkem Bezug auf Pierre Bourdieu) und das Trio Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka, das »Kanonkämpfe« in der DDR-Literatur-Gesellschaft untersuchte; wie auch die west-ostdeutsch gemischten Forschergruppe um Simone Barck und Siegfried Lokatis, die sich mit dem Phänomen Zensur beschäftigte. Aber es dauerte bis in die Nuller- und Zehnerjahre des neuen Jahrhunderts, dass jüngeren Leuten aus dem Osten (und aus dem Westen) ein neuer Blick auf den Corpus DDR-Literatur gelang. Herausragend war Stephan Pabsts Schrift »Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR« von 2016, die eine Brücke zwischen Heiner Müller und den jüngeren Autoren Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl und Durs Grünbein schlug. Das andere wegweisende Buch ist Michael Ostheimers Studie »Leseland. Chronotopographie der DDR- und Post-DDR-Literatur« (2018). Aber für diese Zeit charakteristisch waren zunächst bilanzierende Tagungsbände (auch der internationalen Germanistik), die zu verstehen versuchten, was DDR-Literatur denn nun eigentlich war und wie die Erinnerung an sie und die DDR selbst aussehen könnte und sollte. Hinzu kamen Tagungsbände zu einzelnen Autoren wie Christa Wolf, Heiner Müller, Uwe Johnson, Volker Braun, Wolfgang Hilbig und Christoph Hein. Bemerkenswert ist auch, dass das Gesamtwerk ebendieser Autoren (von Hilbig abgesehen) inzwischen komplett bei einem einzigen sehr renommierten westdeutschen Verlag – nämlich Suhrkamp – angesiedelt ist (der den Luchterhand Verlag weitgehend ablöste) und von diesem in anspruchsvollen kritischen Gesamtausgaben präsentiert wird. Daran zeigt sich, dass binnen drei Jahrzehnten ein Prozess der Auslese und Kanonisierung stattgefunden hat, der zumindest einen gewichtigen Teil der DDR-Literatur im kulturellen Gedächtnis bewahrt – andere Teile hingegen nicht. Dass in diesem Kanon Ost nach wie vor männliche Autoren dominieren, ist eine bedauerliche Tatsache. Sie hat bekanntlich ein westdeutsches Pendant. Immerhin ist eine feministische Literaturwissenschaft sehr erfolgreich, die – über Christa Wolf hinaus – entdeckt, welchen zentralen Anteil Autorinnen im Gesamt der DDR-Literatur ausmachen. Inge Müller, Sarah Kirsch, Brigitte Reimann und Katja Lange-Müller werden mittlerweile in einem Atemzug mit den ostdeutschen Großschriftstellern männlichen Geschlechts genannt. – Im krassen Gegensatz zu allen anderen Strategien der Kanonisierung steht der Versuch von Ines Geipel und Joachim Walther, Autorinnen und Autoren eine Stimme zu geben, die zu DDR-Zeiten nie auch nur den Hauch einer Chance auf Veröffentlichung hatten. Für einige Zeit wurden sie darin von der Büchergilde Gutenberg unterstützt. Doch eine breitere Resonanz ist ausgeblieben.

Schließlich haben schon die ersten 20 Jahre seit der Wende einige im besten Sinne positivistische Unternehmen hervorgebracht, die auf weitgespannten Archivrecherchen aufruhen. Bereits 1996 konnte Joachim Walther sein Werk »Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR« vorstellen, das heftige Kontroversen auslöste, aber dessen Wahrheitsgehalt doch unbestreitbar ist. Wie sehr DDR-Literatur mittlerweile historisch geworden ist, zeigt der Band »DDR-Literatur. Eine Archivexpedition« von 2014, der Fallstudien zu einzelnen Autoren, Autorengruppen und Verlagen aus der DDR vorstellt. Grundlage dieser Studien sind die erstaunlich vielen Nachlässe und Vorlässe von Autorinnen und Autoren aus der DDR, die inzwischen ihren Platz entweder im Archiv der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin oder im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar gefunden haben. Auf diese doppelte Materialbasis wird sich die künftige DDR-Literatur-Forschung immer stärker beziehen müssen.

Aber wird es diese Forschung überhaupt geben? Wen interessiert denn in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts noch ostdeutsche Literatur? Das Feld der deutschsprachigen Literatur hat sich gegenüber dem Wendejahr 1989/90 mit einer Rasanz verändert, die keiner – kein Autor, kein Kritiker und kein Wissenschaftler – auch nur annähernd hätte voraussagen können. Die literarischen Koryphäen aus dem Westen wie aus dem Osten leben nicht mehr, von ganz wenigen wie Alexander Kluge und Volker Braun abgesehen. Aber das Sterben der Großen – Müller und Wolf, Grass und Enzensberger und Walser – ist nicht der entscheidende Einschnitt. Entscheidend ist vielmehr der massenhafte Zustrom von jungen Migrantinnen und Migranten in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, der die deutsch schreibende Autorenschaft so gravierend verändert hat, dass die Divergenzen zwischen westdeutschen und ostdeutschen Literaturproduzenten allenfalls als randständig unter vielen anderen Unterschieden wahrgenommen werden. Mittlerweile gibt es mindestens zwei Dutzend ernstzunehmende Autorinnen und Autoren, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, die aber Deutsch schreiben. Wen interessieren da noch die Unterschiede zwischen Hermann Kant und Günter Grass? Was soll man sich noch mit den Machenschaften der Stasi und der literarischen Zensur in der DDR befassen, wo im Zeitalter der Digitalisierung und neuerdings von Künstlicher Intelligenz allein schon die technischen Bedingungen der Literaturherstellung, Literaturverbreitung und lesenden Aufnahme gänzlich andere geworden sind?

Und doch: Man darf auch die Literatur der DDR interessant finden, immer noch und immer wieder; vielleicht aber auch in anderer Weise als zu Zeiten der Dominanz des Ideologischen. Unsere Entfernung von der realen Existenz des Staates DDR ist inzwischen gewaltig: Seit dem Mauerfall sind 35 Jahre vergangen; ein Zeitraum, fast dreimal so lang wie die Nazidiktatur und beinahe so lang, wie die DDR bestand. Und tatsächlich ist eine Sichtweise auf die DDR und ihre Literatur im Entstehen, die das Besondere (vielleicht: das Einmalige) dieses Phänomens DDR(-Literatur) genauer und besser fasst, als es im Getümmel der 1990er Jahre möglich war. Vielleicht wird damit auch der sogenannte deutsch-deutsche Literaturstreit aus den frühen 1990ern neuerlich hinterfragbar.

Dieser Band Aufsätze von mir aus drei Jahrzehnten, die ich in drei Schwerpunkten angesiedelt sehe. Es geht mir zunächst (I) um Grundsätzliches, d. h. um Überlegungen zu einer Theorie der DDR-Literatur sowie zu der ungelösten Frage, welche methodischen Zugänge der Erforschung dieses umfangreichen Corpus angemessen sind. In einem zweiten Teil (II) widme ich mich einem Problem, das in der Ost-West-Konfrontation zwischen 1945 und 1990 von großer Bedeutung war, nämlich wie sich Schriftsteller in den Zeiten des Kalten Kriegs selbst verstanden und welche Position sie politisch bezogen. Mich interessiert das existenzielle Dilemma, in das die ostdeutschen Autorinnen und Autoren an diesem so besonderen Zeit-Ort namens DDR gerieten. In Albrecht Dürers berühmtem Holzschnitt »Melencholia I« und in Sigmund Freuds weisem Essay über »Trauer und Melancholie« meinte ich schon bald nach der Wende eine Art Doppelschlüssel gefunden zu haben, der mir half, ebendieses Dilemma aus der Untergangszeit des Staates DDR besser zu verstehen. Da mir meine Erklärung von 1990/91 auch mehr als 30 Jahre später noch als haltbar erscheint, drucke ich sie hier erneut ab.

Im Teil III sind Aufsätze zu einzelnen Autoren und Werken versammelt, die mir persönlich wichtig sind und denen ich wünschte, dass sie nicht endgültig vergessen werden. Ich hatte mir diesen Teil umfangreicher vorgestellt, aber das hätte den Rahmen gesprengt. Ich wünsche diesem Buch Leserinnen und Leser, die durch die Lektüre neugierig werden und sich, erneut oder auch neu, den literarischen Texten aus dem Vierjahrzehnte-Land DDR selbst zuwenden; vielleicht dem Besten, was dieser merkwürdige Zeit-Ort uns hinterlassen hat.

Bremen, im Frühling 2024

Wolfgang Emmerich

N. B. Häufig zitierte Bücher und Aufsätze werden in der Folge nur mit Kurztiteln genannt. Die vollständigen Angaben finden sich in am Ende des Bandes, [zum Text]

I Was ist DDR-Literatur?    Und wie nähert man sich ihr?

Der Staat DDR war vom Tag seiner Gründung an Gegenstand heftiger politischer Kontroversen. Gleiches gilt für die dort entstandene Literatur. Sie wurde im Westen als direkter Ausfluss der Ideologie der Staatspartei SED wahrgenommen und abgeurteilt. Ästhetische Vorzüge und Potentiale von Sinn und Bedeutung, die auch westdeutsche Leser interessieren oder gar erfreuen könnten, wurden der Literatur aus dem anderen deutschen Staat nicht zugebilligt. Dementsprechend wurde Literatur aus der DDR von westlichen Kritikern sehr lange nur nach politisch-ideologischen Maßgaben gelesen und bewertet (und von ostdeutschen Kritikern nicht minder, nur eben seitenverkehrt). Und als gegen Ende der 1950er und frühen 1960er Jahre so etwas wie eine literaturgeschichtliche Einordnung von Literatur aus dem anderen deutschen Staat erforderlich wurde, geschah das generell nach politischen Vorgaben, und wiederum: im Osten wie im Westen gleichermaßen. Man folgte dem Raster der Parteitage der SED und den Zäsuren der kulturpolitischen Debatten. Jahreszahlen, die politische Bedeutung hatten (wie 1945, 1948, 1949, 1953, 1956, 1961, 1971, 1976 usw.) wurden umstandslos der entstehenden Literatur zugeordnet und damit unterstellt, dass z. B. die Proklamation des Aufbaus des Sozialismus 1948 nun auch prompt genuin sozialistische Literatur hervorbringen würde. Es dauerte bis in die 1970er Jahre (und teilweise noch länger), bis es endlich im Westen (selten noch im Osten) den aufmerksamen Lesern der Literatur aus der DDR dämmerte, dass auch diese Literatur nach anderen Maßgaben rezipiert und beurteilt werden müsste als rein politisch-ideologischen; und dass deshalb für diesen langen historischen Zeitraum von fast 50 Jahren auch eine andere Chronologie zu finden wäre. Übrigens wird die longue durée der DDR, dieser trivial erscheinende Sachverhalt, noch immer viel zu wenig reflektiert: Die DDR hat mehr als dreimal so lange bestanden wie die Naziherrschaft, und sie dauerte doppelt so lange wie die Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939.

Nachstehend werden Versuche vorgestellt, die die umstandslose Zuordnung der Literatur zu den Daten der politischen Geschichte durchbrechen und andere Horizonte und Perspektiven sichtbar machen, die dem je Besonderen der literarischen Texte besser entsprechen. Es sind die folgenden:

Chronotopos DDR. Ein literaturgeschichtliches Modell. Der Aufsatz bezieht die (frühe) Literatur aus der DDR explizit auf ihren Ort (das 45 Jahre festumrissene, nie veränderte Territorium) und ihre geschichtliche Zeit (die des sozialistischen Aufbaus in Industrie und Landwirtschaft). Dieser Ort und diese Zeit sind seit Ende der 1940er Jahre zu einem ganz eigentümlichen Zeit-Ort, einem Chronotopos verschmolzen, der die DDR und ihre Literatur sehr deutlich und auf Dauer von der Bundesrepublik und ihrer Literatur unterscheidet. Dieser eigentümliche Zeit-Ort korrodiert zwar – kaum mit großer Emphase gegründet – schon seit Beginn der 1960er Jahre und zerfällt bis zum Ende der 1980er Jahre schließlich komplett. Aber er ist gleichwohl der gemeinsame Nenner nicht nur des Gesellschaftstypus namens DDR, sondern auch seiner Literatur. Interessanterweise ist dieser Terminus Chronotopos (Ende der 1930er Jahre von dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin konzipiert) in den letzten 15 Jahren mehrfach von verschiedenen Forscherinnen und Forschern unabhängig voneinander aufgegriffen worden; freilich so divergent, dass ich in diesem Fall zur Klärung meinem eigenen Chronotopos-Aufsatz von 2013 ausnahmsweise einige Nachträge anfügen musste.

Ästhetische Modernisierung. 45 Jahre ostdeutsche Literatur manifestieren eine mühevolle, aber zum Ende hin ziemlich erfolgreiche Aneignung moderner, teilweise sogar avantgardistischer Schreibweisen, welche die verordneten Vorgaben eines »sozialistischen Realismus« konterkarieren, und zwar in allen Gattungen. Eine Beschreibung dieses Prozesses unterläuft in fruchtbarer Weise die lange dominante Fokussierung auf die politische Rahmung der Literatur.

Literaturgeschichte nach Generationen. Die ostdeutsche Literatur aus mehr als vier Jahrzehnten ist von Autorinnen und Autoren geschrieben worden, die drei, vielleicht auch vier Generationen angehören. Sie sind, aufgrund ihres unterschiedlichen Geburtsdatums, mit einem je verschiedenen »natürlichen Weltbild« (Karl Mannheim) aufgewachsen und haben die traumatischen Verhaltenszumutungen von Diktatur, Krieg und Nachkrieg, von Zerstörung und Neubeginn je unterschiedlich erfahren. Unter ihnen sind Emigranten und Widerständler, Angepasste und sich Verweigernde, Soldaten und Zivilisten, Ältere, Jüngere und Jüngste, die mit je verschiedenen Erfahrungen in den neuen Staat hineingewachsen sind und hernach eine signifikant verschiedene Literatur hervorgebracht haben. Diese generationellen Prägungen – auch der Literatur – sind kaum zu überschätzen.

Die DDR als literarisches Feld. Zwar ist die für westliche, nichtdiktatorische Gesellschaften entwickelte Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu nicht umstandslos auf die DDR übertragbar, ebenso wenig wie seine fruchtbaren Kategorien des Habitus und des symbolischen Kapitals. Aber erhellend sind Versuche, es doch zu tun, allemal; und sie sind bereits mehrfach unternommen worden. Hier wird ein Aufsatz zur Diskussion gestellt, der Anregungen sowohl für den Aspekt Generation (Mannheim) wie auch für den Aspekt literarisches Feld (Bourdieu) aufnimmt.

Leerstelle Holocaust. Abschließend wird eine Merkwürdigkeit reflektiert, die nicht nur einen umgrenzten Inhalt betrifft, sondern die DDR-Literatur als Ganze – und damit auch, noch einmal, ihren im Vergleich zur Bundesrepublik so anderen Zeit-Ort. Es geht um den Sachverhalt, dass der Holocaust in der Literatur der DDR ebenso in der Post-DDR-Literatur nur selten vorkommt und das Vernichtungslager Auschwitz nicht als mahnendes »Geschichtszeichen« (Immanuel Kant) wahrgenommen wird (wie es in der Bundesrepublik seit Beginn der 1960er Jahre der Fall ist). Stattdessen kreist der ostdeutsche Gründungsmythos des Antifaschismus um das KZ Buchenwald, das umgekehrt in der westdeutschen Erinnerungskultur und -literatur kaum eine Rolle spielt. Beides hat tieferliegende Gründe, die hier dargelegt werden. Schließlich wird über die Wendezeit hinaus gefragt: Sind seit 1990 Werke von ostdeutschen Autorinnen und Autoren erschienen, die diesen Befund infragestellen? Die Antwort ist nein – womit sich bestätigt, dass es in der DDR-Literatur tatsächlich diese gravierende Leerstelle gegeben hat. Und das heißt auch, dass sich zwei divergierende Erinnerungskulturen Ost versus West immer noch fortsetzen.

Chronotopos DDREin literaturgeschichtliches Modell

I

Seit der Wende 1989/90 sind jetzt (2024) 35 Jahre vergangen – ein halbes Lebensalter. Und je mehr die Zeit verging, desto klarer wurde auch, dass die Vorstellung vom abgeschlossenen Sammelgebiet, bezogen auf die Literatur aus dem Land, das von 1949 bis 1990 DDR hieß, eine Fiktion ist. Die Lebensläufe aller DDR-Autoren aus den verschiedenen Generationen – von den damals, um 1990, Ältesten, um 1910 bis 1920 Geborenen, über die 1920er-Jahrgänge und die sog. Kriegskinder, also die zwischen Mitte der 1930er und Mitte der 1940er Jahre Geborenen, bis zu den Jüngeren und Jüngsten, die um 1990 erst fünfzehn oder achtzehn waren – alle diese Lebensläufe transzendierten notgedrungen die weltgeschichtliche Zäsur 1989/90 (von den wenigen, die, wie Irmtraud Morgner oder Georg Seidel, exakt 1990 starben, abgesehen) – wenn auch dieser Grenzübertritt an signifikant verschiedenartigen Punkten der jeweiligen Biographie lag. Schon aus diesem trivialen Faktum erklärt sich, dass ›DDR-Literatur‹ nach 1990 nicht aufhören konnte und nicht aufgehört hat. Lebenslange oder auch nur eine Kindheit umspannende Prägungen verschwinden nicht mit dem Untergang eines Staates. Und die interessante Frage ist ja gerade, was in den seither vergangenen drei Dekaden eigentlich geschehen ist und wie ›DDR-Literatur‹ in dem neuen mixtum compositum deutschsprachiger Literatur 1990 bis 2020 vorkommt.

Zunächst bedarf mein Titel der Erläuterung. Ich möchte von der DDR als Literaturlandschaft sprechen. Es geht mir um den geographischen, soziokulturellen und historischen Raum, der die DDR war. Denn es scheint mir an der Zeit zu sein, dass wir, was DDR und DDR-Literatur war, stärker als bisher in raumzeitlichen Kategorien erfassen; ein Vorhaben, das durch das Ende des Staates DDR erleichtert wird. Zu diesem Zweck nehme ich einige Gesichtspunkte und Fragestellungen des sog. spatial turn auf und versuche, sie auf die Geschichte der DDR(-Literatur) und der nachfolgenden 30jährigen Transformationsperiode anzuwenden. Dazu haben mich u. a. Lektüren von Michail M. Bachtin, Henri Lefebvre, Michel Foucault, Homi K. Bhabha, Edward W. Soja, Arjun Appadurai und Karl Schlögel (sein Buch mit dem schönen Titel »Im Raume lesen wir die Zeit«) angeregt.[1] Damit will ich allerdings nicht diejenigen Perspektiven falsifizieren, die ich selbst bisher angewendet oder vorgeschlagen habe, um die Geschichte der DDR-Literatur zu schreiben. Denn sie sind, so scheint mir, mit dem Chronotopos-Ansatz durchaus vereinbar. Es sind

DDR-Literaturgeschichte als Sozialgeschichte

DDR-Literatur im Verhältnis zum Moderneparadigma

DDR-Literaturgeschichte als Generationengeschichte

DDR-Literaturgeschichte als Feldgeschichte mit Bourdieu.

Der letztgenannte Ansatz wird auch in den hier vorgestellten Überlegungen eine Rolle spielen.

Wenn ich nun auf die letzten Jahre Erforschung der DDR-Literatur in historischer Absicht zurückschaue, dann nehme ich Folgendes wahr:

In historiographischer, insbesondere archivbasierter Hinsicht stand die

Zensur- und Überwachungsthematik des »Sicherungsbereiches Literatur«

(Joachim Walther) deutlich im Vordergrund. Angesichts der Zugänglichkeit der Archive und der auch menschlichen Brisanz des Problems ist das so nachvollziehbar wie berechtigt, freilich auch einseitig. Auffällig ist, dass ›die‹ Germanistik das Feld der seinerzeit vollständig unterdrückten und verfemten Literatur von DDR-Autorinnen und -Autoren zwei Außenseitern überlassen hat, nämlich Ines Geipel und Joachim Walther. Ich denke an das »Archiv der unterdrückten Literatur in der DDR«, das Walther als »mnemonisches Therapeutikum gegen die grassierende Diktatur-Amnesie«

[2]

bezeichnet hat; ich denke an die Verschwiegene Bibliothek, die in der Büchergilde Gutenberg erschienen ist, und an Geipels Buch »Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989« aus dem Jahre 2009. Im »Metzler Lexikon DDR-Literatur« (auch von 2009) kommen von den von Geipel vorgestellten zwölf vorgestellten Schriftstellerinnen nur zwei vor: Inge Müller und Gabriele Stötzer-Kachold. Freilich sagt Geipel auch zu Recht, dass man die Mehrzahl ihrer Autorinnen gar nicht gekannt haben könne, eben weil sie und ihre Texte komplett unterdrückt wurden.

Die Dominanz der aktuellen

Wendethematik

hat auch in der Forschung stärker historisch orientierte Fragestellungen verdrängt. Das ist schade. Denn dass die DDR(-Literatur) 40 resp. 45 Jahre, also fast ein halbes Jahrhundert, gewährt hat, scheint zeitweise fast vergessen zu sein. Symptomatisch war ein FAZ-Artikel von Jochen Hieber vom 8. November 2014, der unter der Überschrift »Leseland ist abgebrannt« suggerierte, dass von dem ganzen Korpus der DDR-Literatur nur ein einziges Werk Bestand habe (nämlich Jurek Beckers »Jakob der Lügner«).

[3]

Alles andere sei mehr oder weniger Makulatur. Überraschend erkannte Hieber in den Post-Wende-Romanen von Monika Maron, Thomas Brussig, Lutz Seiler und Eugen Ruge plötzlich ebendie Substanz, die er in 40 Jahren Literatur aus der DDR so schmerzlich vermissen musste. Wie kommt es, dass hier auf einen Schlag alle Proportionen verloren gehen? –

Wenn

in der DDR-Literatur- (und Post-DDR-Literatur-) Forschung die historische Perspektive eine gewichtige Rolle spielte, dann fast immer im Rückbezug auf die NS-Herrschaft – also aus guten, aber nur partiell DDR-spezifischen Gründen. Eine literarhistorische Binnendifferenzierung der DDR-Literatur aus vier Dekaden, die über das bisher Geleistete hinausginge, ist aus meiner Sicht immer noch ein Desiderat.

Nach wie vor sind Versuche, anspruchsvolle

theoretische Paradigmen auf die DDR-Literatur

und ihre Geschichte zu applizieren, rar. Anstöße, die z. B. Bernhard Greiner schon 1983 gegeben hat, sind verhallt. Zu fragen ist bis heute hin, ob die DDR-Literatur-Forschung je aus der »Verquickung von Germanistik und Politik« herausgefunden habe, die Greiner ihr seinerzeit als »kollektive Fehlleistung« und sie massiv beengend vorgeworfen hat.

[4]

Diese Frage richtet sich sowohl an die Liebhaber als auch an die Verächter der DDR-Literatur, und natürlich auch an mich selbst. Gewiss, manche Aspekte der DDR-Literatur können mittlerweile, auch über einzelne Autoren hinaus, als gut erforscht gelten, z. B. die Frauenliteratur, die alternative Szene am Prenzlauer Berg und Verwandtes, teilweise auch die späten 1940er und frühen 1950er Jahre (ich nenne die Namen Ursula Heukenkamp, Gerrit-Jan Berendse, Birgit Dahlke, Anneli Hartmann und Julia Hell), oder die Mythosrezeption und die Gattung Autobiographie. Auch sind die ausgebürgerten und übergesiedelten Autoren durch Andrea Jägers Standardwerk lexikalisch gut erfasst.

[5]

Aber z. B. ein anspruchsvolles Buch wie David Bathricks »The Powers of Speech«, das sehr grundsätzlich die öffentliche Sphäre und die prominente Rolle des innermarxistischen Diskurses in der DDR reflektiert, ist in Deutschland kaum rezipiert worden.

[6]

Dabei enthält es Anregungen für ein halbes Dutzend Dissertationen. Ich komme auf Bathricks Buch zurück.

Der heikelste Punkt (soweit meine Kenntnis reicht): In den letzten dreißig Jahren ist im deutschen Sprachraum

keine wirklich neue Geschichte der DDR-Literatur

in größerem Umfang (der auch nötig wäre) erschienen.

[7]

Ralf Schnell hatte ja schon 1993 seinem zuerst 1986 erschienenen Buch »Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb« Kapitel zur DDR-Literatur beigeordnet, freilich: komplett abgetrennt von der Darstellung der westdeutschen Entwicklung. 2003 hat er seine »Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945« als »2. überarbeitete und erweiterte Auflage«

[8]

erscheinen lassen, in der er einzelne Abschnitte, Autoren und Werke der DDR-Literatur in chronologisch aufeinander folgende Großkapitel zur westdeutschen wie auch österreichischen und Schweizer Literatur eingefügt hat – mit merkwürdigen Effekten. Da kommt z. B. der Bitterfelder Weg vor die Gruppe 47 zu stehen, Bruno Apitz’ »Nackt unter Wölfen« geht unmittelbar dem Teilkapitel »Existenzphilosophie und Sozialkritik in der Prosa« voraus und Günter Wallraff folgt auf Christa Wolf. Zum Ende hin finden sich Heins »Drachenblut« und Wolfs »Kassandra« unter »Prosa der ›Postmoderne‹«. Zugegeben, Literarhistoriker haben’s schwer, nicht zum Diener ihrer selbstgewählten Ordnungsschemata zu werden. Ich kann ein Lied davon singen. Gleichwohl scheint mir Schnells Buch von 2003 zu zeigen, wie weit wir noch von einer Einlösung der Aufgabe entfernt sind,

eine

Geschichte der deutschen Literatur seit 1945 zu schreiben, die überzeugenden kategorialen Annahmen folgt, passende Vergleiche anstellt (z. B. entlang den Generationen) und, sofern gegeben, die literarischen Felder West und Ost in ihrer Verzahnung analysiert. – Auch Wilfried Barner und sein Team haben 2006 eine Fortschreibung ihrer gewichtigen »Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart« vorgelegt; freilich: ein typisches Sammelwerk, das, nicht anders als Schnell, nur weniger kleinteilig, die DDR-Literatur rein additiv neben die drei westlichen deutschsprachigen Literaturen stellt und überdies kein erkennbares theoretisches Konzept hat.

[9]

 – David Wellberys viel gelobte voluminöse »A New History of German Literature« von 2004 hakt die DDR-Literatur mit ganzen sechs [!] Einträgen ab (dabei werden Autoren vom Kaliber Huchel, Fühmann, Hacks, Braun, Hein nicht einmal erwähnt) und hält aus dem Zeitraum 1990 bis 2004 nur einen Autor aus Ostdeutschland, nämlich Durs Grünbein, für niveauvoll genug, um Eingang in das Buch zu finden.

[10]

Man erinnert sich an Hans-Ulrich Wehlers Umgang mit vierzig Jahren DDR in Band 5 seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte«. Wehler hielt es für angemessen, das »Intermezzo der ostdeutschen Satrapie [sic]«, »die kurzlebige [sic] Existenz der DDR« nur ganz am Rande im Verhältnis zu der großartig modernen Bundesrepublik zu behandeln. Man könne es, so Wehler, »der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen, das Gelände eines untergegangenen […] Staatswesens mit all seinen Irrwegen genauer zu erkunden.«

[11]

Vielleicht war die ostdeutsche Diktatur Wehler einfach zu langweilig, hat sie doch keinen Krieg angezettelt, keinen Holocaust auf dem Gewissen und auch keine charismatischen Führer hervorgebracht wie das Dritte Reich, dessen Darstellung er unter dem Obertitel »Charismatische Herrschaft und deutsche Gesellschaft […] 1933-1945« verhandelt. Wie auch immer, hier haben wir die ganze Arroganz gegenüber der DDR und ihrer Erforschung, die auch in der Germanistik – siehe Welberrys Kompendium – immer noch verbreitet ist. – Bleibt das schon erwähnte »Metzler Lexikon DDR-Literatur« von 2009: ein verdienstvolles, nützliches, in der Regel den damals aktuellen Stand der Forschung repräsentierendes Hilfsmittel, das sich aber – zu weiten Teilen ein Autorenlexikon und von höchst verschiedenen Beiträgern verfasst – wohl auch im Selbstverständnis der beiden Herausgeber Michael Opitz und Michael Hofmann nicht als eine neue Literaturgeschichte versteht.

[12]

Schließlich, und damit komme ich zum Ende meiner Zwischenbilanz: Was ist mittlerweile der Sachstand zu den drei Gretchen-Fragen nach Art und Zahl der deutschen Literaturen seit 1945: 1. Wie viele deutsche Literaturen seit 1945 gibt es überhaupt? 2. Sollen westdeutsche und ostdeutsche Literaturgeschichte getrennt oder gemeinsam abgehandelt werden? 3. Wie viele DDR-Literaturen gibt es? Genau genommen, müssten diese Fragen jeweils noch einmal getrennt gestellt und beantwortet werden für die Zeiträume

bis

1990 und

ab

1990. Man sieht schon, dass diese Fragen zwar einerseits eminent wichtig, aber zugleich auch sophistisch und in der Zuspitzung aberwitzig sind – und man sich dementsprechend, so meine ich, einen flexiblen Umgang mit ihnen erlauben sollte. So sehe ich bisher keine Veranlassung, die Frage 1 anders als vor zwanzig oder mehr Jahren zu beantworten, und das heißt: In den entscheidenden Hinsichten gab es, immer noch mit Jürgen Link zu sprechen, ab dem Ende der 1940er Jahre und tendenziell bis zum Ende der DDR ein Verhältnis der »Diskulturalität« zwischen Ost und West – und folglich auch zwei verschiedene deutsche Literaturen.

[13]

Mein eigener hier folgender Text mit der Leitidee Chronotopos versucht das zu untermauern. Damit ist auch schon die Frage 2 beantwortet, die z. B. Ursula Heukenkamp so heftig umgetrieben hat, wie vor allem ihre beiden Aufsätze »

Eine

Geschichte oder

viele

Geschichten der deutschen Literatur? Gründe und Gegengründe« von 1995 und »Ortsgebundenheit. Die DDR-Literatur als Variante des Regionalismus in der deutschen Nachkriegsliteratur« von1996 demonstrieren.

[14]

Mit geradezu existenzieller Angespanntheit pendelt die Autorin zwischen den beiden Möglichkeiten, die beiden deutschen Literaturen getrennt oder ineinander verzahnt darzustellen. Ihre ganze Sympathie gilt der zweiten Option (fast so, als ob sie die 40 Jahre isolierter DDR-Literatur auch für sich als Person endlich abstreifen wolle), aber sie muss auch anerkennen, dass die DDR ein eigenes literarisches Feld war (der Name Bourdieu fällt nicht, wohl aber wird der Feldbegriff gebraucht) und somit auch weiterhin für sich dargestellt werden dürfe, ja, vielleicht sogar müsse. In der Skizze eines Projekts »Geschichte der DDR-Literatur« aus den Nullerjahren, das auf der Homepage der Humboldt-Universität zu lesen war, aber nach dem Tod der Initiatorin im Jahr 2007 als Projekt nicht mehr fortbesteht, hat Ursula Heukenkamp denn auch vehement und eindeutig die Auffassung vertreten, dass »die DDR-Literatur […] eine eigenständige deutschsprachige Literatur« sei, die sich aufgrund anderer Produktions- und Rezeptionsbedingungen, anderer Themen und Traditionsbezüge und eines anderen Literaturverständnisses »wesentlich von der bundesdeutschen Literatur« unterscheide. Heukenkamps Fazit lautete: »Die Literatur der DDR kann daher nicht als Teil der bundesdeutschen Literatur seit 1945 mitverhandelt werden, ohne den Aussagegehalt und Rezeptionsraum ihrer Texte zu beschneiden bzw. sogar zu verfälschen.«

[15]

Heukenkamps Überlegungen und die Schlüsse, die sie aus ihnen zieht, berühren sich so stark mit meinen eigenen, dass ich im Zuge meiner Chronotopos-Konzeption noch einmal auf sie zurückkommen werde. Es ist sehr zu bedauern, dass diese bedeutende Gelehrte im Jahr 2007 verstorben ist und ihren eigenen Entwurf einer Geschichte der DDR-Literatur nicht vollenden konnte.

Bleibt die Frage Nummer 3, was denn eigentlich ›die‹ DDR-Literatur gewesen sei. Schon Fritz J. Raddatz kam 1987 auf drei verschiedene DDR-Literaturen, wobei für ihn die dritte, jüngste und wichtigste die der Übergesiedelten von Biermann bis Schädlich war.[16] Erich Loest hatte bereits 1984 vorgeschlagen, vier Gruppen (je nach Systemtreue oder -untreue und Aufenthaltsort Ost oder West) zu unterscheiden.[17] Ich selbst habe mehrfach dafür plädiert, den Begriff DDR-Literatur »nicht künstlich eindeutig [zu] machen, sondern beharrlich offen[zu]halten«.[18] Gleichzeitig habe ich immer wieder vorgeschlagen (und tue es noch), als Kern von DDR-Literatur diejenige anzusehen, »die zwischen den beiden Polen der blinden Affirmation einerseits und der radikalen Dissidenz andererseits angesiedelt war und stets das Unmögliche versuchte […]: nämlich Literatur aus dem blochschen ›Geist der Utopie‹ – nüchterner gesagt: aus dem Geist reformsozialistischer Hoffnungen und Illusionen – zu schaffen«.[19] Es ist die Literatur der bekannten und vieldiskutierten Namen.

II

So weit eine kurze Revue der Forschung. Dabei ist eine Richtung bewusst ausgeklammert geblieben, die vielleicht, und immer noch, die derzeit interessanteste ist, nämlich der Versuch, DDR-Literatur mittels Bourdieus Theorie der sozialen Felder zu analysieren. Hier sind vor allem die Initiatoren und Beiträger dreier Sammelbände zu nennen: (1) der von Ute Wölfel (einer Heukenkamp-Schülerin) herausgegebene Band »Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR« von 2005,[20] (2) der von Markus Joch und Norbert Christian Wolf verantwortete Band »Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis« (gleichfalls 2005[21]) und (3) der wiederum von Joch und Wolf sowie York-Gothart Mix und Nina Birkner herausgegebene Tagungsband »Mediale Erregungen. Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart« von 2009.[22] Konsequent ›bourdieusch‹ verfährt außerdem das wenig rezipierte Buch der Politologin Angela Borgwardt »Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären System« (2002), das innovative Autor-Feld-Studien zu Heym, C. Wolf und Biermann enthält.[23] Schließlich ist auf das so voluminöse wie gehaltvolle Buch »Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000« von Heribert Tommek aus dem Jahre 2015 hinzuweisen, das Entwicklungsprozesse sowohl in der Bundesrepublik, als auch in der DDR mit Hilfe bourdieuscher Kategorien nachzeichnet und diese Prozesse plausibel macht. Besonders überzeugend ist die »Fallstudie« zur »Konkurrenz der Autorpositionen von Peter Hacks und Heiner Müller«, die sich mit Bourdieu tatsächlich sehr viel besser verstehen lässt als ohne diesen. Ebenso ist es sehr aufschlussreich (und bisher nie so deutlich belegt worden), dass es in der DDR nie einen expliziten »Nobilitierungssektor« gegeben hat und dementsprechend im Feld keine Autoren wie Botho Strauß, Peter Handke und W. G. Sebald, die von vornherein nur von einem begrenzten Segment der Lesenden wahrgenommen und ästimiert werden. Unterm Strich ist eigentlich Tommeks Buch, das auch die Zeit 1945 bis 1960 schon kenntnisreich mit Bourdieus Kategorien darstellt, diejenige Geschichte beider deutscher Literaturen bis ans Jahr 2015 heran, die man so lange vermisst hat. Chapeau.

III

Und doch gibt es in Tommeks geschichtlicher Gesamtschau der deutschsprachigen Literatur mit Bourdieu eine Leerstelle, die, so scheint mir, gefüllt sein muss, wenn man die Literatur verstehen will, die aus der DDR kommt. Ich versuche diese Leerstelle mit dem Begriff Chronotopos (Zeit-Ort) zu erfassen und greife dabei auf den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin zurück. Diesen Ansatz habe ich erstmals 2012 zu Papier gebracht, ohne damals zu ahnen, dass gleichzeitig (vielleicht auch schon etwas früher) Michael Ostheimer mit der gleichen theoretischen und methodologischen Kategorie arbeitete. Dass das der Fall war, stellte sich, zu unser beider Überraschung, während einer Tagung im Brecht-Literaturhaus in Berlin im Jahre 2012 heraus. Daraus folgt, dass ich – im Abstand von mehr als zehn Jahren – mich nun dazu äußern muss, was unsere Chronotopos-Konzeptionen bezüglich der DDR-Literatur verbindet und wo wir uns unterscheiden.

Bachtin hat den Begriff Chronotopos in den Jahren 1937/38 entwickelt. Aber er konnte hernach ein halbes Jahrhundert nicht wirken, weil der Autor im eigenen Lande verfemt war. Mittlerweile (nach dem englischen Erstdruck seiner Arbeit 1975) ist der Begriff als eine seiner zentralen Kategorien für die Analyse erzählender Prosa gut bekannt. Bachtin selbst hat ihn in seinen Studien zu spätantiken Abenteuerromanen (z. B. Longos’ »Daphnis und Chloe«), zum Schelmenroman (speziell Rabelais) oder auch zur gothic novel des 18. Jahrhunderts (Horace Walpole) angewendet. Aber neben diesem »inneren Chronotopos«, d. h. der »Raumzeit des dargestellten Lebens« im Roman, hat Bachtin immer auch den jeweiligen »reale[n] äußere[n] Chronotopos« im Blick, in resp. an welchem die romanhafte Darstellung öffentlich wird und dem sie entstammt.[24] Das ist, allgemein gesprochen, »die epochenspezifische raumzeitliche Ordnungsstruktur der menschlichen Weltwahrnehmung«.[25] Dementsprechend sieht Bachtin auch die literarisch dargestellten Menschenbilder immer als chronotopisch konfiguriert. Und erst wenn sich »der reale Chronotopos […] geändert hat, entsteht ein neues Welt- und Menschenbild.«[26]

Was ich nun versuche, ist, Bachtins Leitbegriff Chronotopos als »die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum«[27] noch stärker als er es selbst es tat, zu einem außerliterarischen Konzept gleichsam zurückzudenken, das es möglich macht, einen jeweiligen (geographischen) Raum und eine jeweilige (historische) Zeit so eng ineinander verschlungen als nur möglich vorzustellen – und dieses auf das über vier Jahrzehnte existierende Gebilde namens DDR anzuwenden. Diese engstens ineinander verschlungene Raumzeit ist nach meinem Verständnis die Dauerbedingung schlechthin von ›DDR‹ und ›DDR-Literatur‹. Was heißt das konkret?

Die DDR war über vierzig Jahre

territorial kohärent

, was für Staaten nicht selbstverständlich ist; allerdings in diesem Fall: mit einer Insel in ihrer Mitte – West-Berlin, und die war natürlich für den Chronotopos DDR ein bleibender Störfaktor.

Die DDR war

ethnisch homogen

, nämlich germanisch-norddeutsches Siedlungsgebiet, zeitweise und partiell auch slawisch besiedelt (mit einer noch lebendigen, aber sehr kleinen slawischen Minorität). Das DDR-Territorium erstreckte sich im Wesentlichen auf zwei vorherige Staatswesen, nämlich Preußen und Sachsen. Damit ist ein landsmannschaftlicher, aber kein ethnischer Gegensatz markiert, der zu DDR-Zeiten virulent war, aber nicht entscheidend.

Die DDR war

konfessionell homogen

. Im Jahre 1949 waren 80,5 % ihrer Einwohner evangelisch-lutherisch, darunter viele Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Die Katholiken befanden sich eindeutig in der Diaspora (11 %). Daraus folgt die weite Verbreitung dessen, was Max Weber protestantische Leistungsethik genannt hat – ein generell, aber auch für das Selbstverständnis der Autoren bedeutsamer Faktor. Am Ende der DDR war die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger konfessionslos (über 70%). Ihre Sprösslinge ließen sich nicht mehr konfirmieren, sondern gingen zur Jugendweihe – auch das ein im ganzen Ostblock einmaliger Status staatlich durchgesetzter Homogenisierung.

[28]

Die DDR hatte, einzelnen Kursänderungen, Reform- und Restaurationsversuchen zum Trotz, über vierzig Jahre die

gleiche Form politischer Herrschaft

und die

gleiche staatssozialistische Organisation ihrer Ökonomie

. Die Strukturen waren hierarchisch, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben war vielfältiger Kontrolle unterworfen; ein freies Spiel der Kräfte war in allen gesellschaftlichen Wertsphären die Ausnahme und nicht die Regel. Das gilt auch für die kulturellen Bereiche.

Die DDR war von ihren

soziokulturellen und politischen Traditionen

her zwar nicht homogen, aber markant geprägt. Sachsen war (mit Teilen von Thüringen und Sachsen-Anhalt) neben dem Ruhrgebiet

das

moderne deutsche Industriegebiet

par excellence

, dazu eines der ältesten Zentren der Arbeiterbewegung, wo die SPD einst ihre ersten Reichstagssitze errungen hatte. In der Nazi-Zeit wurden diese Gebiete (wie auch Berlin), wo sie früher rot gewesen waren, teilweise stark braun – und dann, nach 1945, auch wieder rot.

Die Einwohner der DDR waren stark – und dauerhaft – von den katastrophalen

Hinterlassenschaften des NS-Regimes und des Weltkriegs

geprägt: von den Zerstörungen durch den Bombenkrieg, von den Kriegsfolgen im engeren Sinne, von den Folgen der radikalen Demontage ihrer Infrastruktur und Industrieanlagen, schließlich von dem, was die Nazis in den Köpfen der Menschen angerichtet hatten. Das trifft auch auf die Westzonen resp. die Bundesrepublik zu, aber doch in geringerem Maß, zumal Westdeutschland durch den Marshallplan und andere Maßnahmen wirtschaftlich rasch boomte. Hingegen führten die Kriegsfolgenverluste im Osten zu einem

zivilisatorischen Rückschritt

, der noch in den 1980er Jahren und nach der Wende erkennbar war, wenn man die Grenze von West nach Ost überschritt resp. überfuhr. Noch 45 Jahre nach Kriegsende konnte man das wie eine Zeitreise an einen ganz anderen Zeit-Ort erleben.

Auch die

Prägungen durch die Besatzungsmacht

, die Rote Armee, unterschieden sich von denen der Westzonen. Gewiss gab es auch dort, wenig bekannt, 1945/46 Vergewaltigungen und andere Übergriffe der Besatzungssoldaten gegenüber der deutschen Bevölkerung, aber nicht in dem Ausmaß, das die Ostdeutschen (Frauen) zu erdulden hatten, nachdem die Rotarmisten häufig sogar von ganz oben zu solchen Übergriffen ermuntert worden waren. Durch die spätere Abschottung der sowjetischen Besatzungssoldaten von der ostdeutschen Bevölkerung fehlte andererseits auch ein Pendant zu dem, was Westdeutschland in Gestalt der britisch-amerikanischen Popkultur prägte.

Territorial kohärent, ethnisch homogen, konfessionell homogen, in den Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen konstant, soziokulturell und politisch klar profiliert, historisch einheitlich vorbelastet, zivilisatorisch und technologisch zurückgeworfen: das sind – natürlich sehr verkürzte – Zuschreibungen grundsätzlicher Merkmale. Aber sie weisen deutlich in eine Richtung: Der ›Ort‹ DDR bleibt für einen langen Zeitraum identisch; die Zahl der Einwohner verringerte sich bis 1961 entscheidend durch ›Republikflucht‹, die zu einem großen Anteil eine Flucht von Eliten war und zu einer weiteren Homogenisierung der verbleibenden Bevölkerung führte. Von 1961 bis 1989 lebt die DDR-Bevölkerung in geschlossenen Grenzen. Auf den schon genannten homogenen Grundlagen der Ethnizität, der Konfession, der politischen und ökonomischen Struktur, der politischen Traditionen und des historischen Erbes kam es zu einer fortschreitenden Angleichung der diversen Bevölkerungsgruppen, auch generationsübergreifend. Zudem gab es im Land ausgesprochen wenig Fremde. Die, die da waren (Soldaten der Roten Armee) oder ins Land geholt werden (Studierende, politische Asylanten aus Südafrika oder Chile und später Gastarbeiter vor allem aus Vietnam und Angola/Mozambique), wurden von der DDR-Bevölkerung weitgehend abgeschirmt. Vermischung war unerwünscht und fand auch realiter kaum statt.

Auf der Grundlage all dieser Homogenitätsmerkmale ist auch die Implantation ganz anderer Gründungsmythen als in Westdeutschland erfolgreich und trägt zur weiteren Homogenisierung der DDR-Bevölkerung bei. Das ist inzwischen allseits bekannt; ich nenne nur die Stichworte Antifaschismus/Sozialismus versus D-Mark/Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik.[29] Aus DDR-Bürgern, von denen die meisten Älteren genauso Nazis oder stumme Mitläufer gewesen waren wie ihre westdeutschen Altersgenossen, wurden »Sieger der Geschichte«. So entstand im Lauf der Jahrzehnte ein von Generation zu Generation weitergegebenes kulturelles Gedächtnis, das sich gravierend von dem westdeutschen unterschied. Eines seiner Merkmale ist (um nur ein pointiertes Beispiel zu geben), dass nicht ›Auschwitz‹ als dominantes »Geschichtszeichen« im Sinne Immanuel Kants[30] für den Massenmord an den Juden aufgerichtet wurde, sondern ›Buchenwald‹ mit der Legende des erfolgreichen proletarisch-kommunistischen Widerstands.[31] Eng verwoben mit den DDR-spezifischen Gründungsmythen ist das irritierende Faktum, dass sich über die Jahrzehnte hin kritischer Dissens im politischen wie im literarischen Feld der DDR fast durchweg und anhaltendmarxistisch artikulierte – völlig anders als in den meisten anderen Ostblockstaaten. Warum? Nun, Systemkritiker in der DDR konnten nach zwölf Jahren Naziherrschaft und dem Holocaust weder auf ein ›unschuldiges‹ nationales Erbe zurückgreifen, noch eigneten sich die in Ostdeutschland gegebenen religiösen Traditionen für die Fundierung einer Gegenposition (wie vor allem im katholischen Polen). Bei Marx hingegen, zumal in seinen Frühschriften wie den »Pariser Manuskripten«, fanden sich philosophische Maximen, aus denen sich ein »wahrer Sozialismus«, ein »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« als Gegenentwurf zum »real existierenden Sozialismus« herleiten ließ. In den Worten von David Bathrick, der dieses Phänomen gründlich analysiert hat: »Like Luther, their [the authors‹, W. E.] original intent was very much a move toward reformation and revision and not a total abandonment of doctrinal adherence or even a break with the institutional church. And like Luther again, the political consequences of such heresy led them far afield of their imagined political goals.«[32]

Der paradoxe Befund lautet also: Ein großer – und vielleicht der wichtigste – Teil der Schriftsteller und Intellektuellen aus der DDR definierte und inszenierte sich ganze vier Jahrzehnte lang explizit marxistisch, und damit in einem Selbstverständnis, das auch in den westlichen Ländern im Lauf der Jahrzehnte in die Krise gekommen, wo nicht vollends unter die Räder geraten war. Freilich drehte sich das, wofür die Autoren als Repräsentanten standen, im Lauf der Zeit um nahezu 180 Grad: von der vorbehaltlosen Bejahung des Aufbaus des Sozialismus zu einer Radikalkritik der Strukturen und des je aktuellen, als verkommen deklarierten Ist-Zustandes dieses Systems. Die Wende 1989/90 bescherte dann den Autor(inn)en aus der Gruppe der Reformsozialisten ein weiteres Paradox: Indem sie mit dem Zerfall der DDR fast schlagartig ihre privilegierte Position als Experten für die Verkündigung des »wahren Sozialismus« und für Lebenshilfe verloren, ja, regelrecht vom Denkmal gestürzt und Verachtung und Spott preisgegeben wurden (im sog. Literaturstreit), verloren sie ihren Repräsentantenstatus endgültig. Auch diese Besonderheit gehört zum Chronotopos DDR.

Ein weiteres Wesensmerkmal desselben ist die Entstehung und propagandistische Pflege dessen, was Wolfgang Engler treffend die arbeiterliche Gesellschaft[33] genannt hat (und Ursula Heukenkamp ist ihm im Blick auf die Literatur gefolgt[34]). Die Arbeiterklasse war bekanntlich, anderslautenden Parolen zum Trotz, nie die herrschende Klasse, aber ›Arbeit‹ war immer ein hoch besetzter Wert, und zwar in allen DDR-Milieus. Daraus hat sich ein gesellschaftlich dominanter Habitus gebildet, der über die von der SED propagierte Arbeitsideologie weit hinausgeht und auch, was die gegenwärtige mentale Verfassung eines großen Teils der Ostdeutschen angeht, kaum zu überschätzen ist. In 40 Jahren DDR ist eine Konstellation entstanden, in der (ich zitiere Engler) der »Mythos von der Arbeiterklasse mit der alltagskulturellen Dominanz der proletarisch bis kleinbürgerlich-materialistischen Kultur« zusammenfloss.[35]

Last not least: Die Literatur hat, wie andere Kulturbereiche, in der DDR von Anfang bis Ende einen besonderen Ort eingenommen. Sie war, verordnet und freiwillig zur gleichen Zeit, »sozialaktivistisch« und »sozialpädagogisch« (in den immer wieder zitierenswerten Worten von Uwe Johnson[36]). Und sie war erklärtermaßen Lebenshilfe, auch auf der individuellen Ebene. Dementsprechend verschieden zur Bundesrepublik war die literarische Traditionsbildung, waren die Einflussbeziehungen zwischen Autoren und Werken, erklärt sich auch die verspätete Modernerezeption. Und dementsprechend anders war das Selbstverständnis der meisten Autoren: nämlich Erzieher des Volkes, Aufklärer, pointiert: Gewissen der Nation sein. Damit standen sie, zumeist unbewusst, in der Tradition der protestantischen Gewissenskultur, die sie agnostisch wendeten. Generell gilt – in Schlenstedts Worten –, dass »diese Literatur in einem geschlossenen ideologischen Raum arbeitete, der den Vorschriften folgte, dem die Macht bestimmte Denkformen und Denkregeln, Symbole, Bilder, klischierte Sprache vorgab.«[37]

So kommt, trotz Ermüdungen und Rissen im System DDR und trotz zaghaft seit 1968, stärker dann seit 1976 entstehenden Bürgerbewegungen, eine bemerkenswert dichte Kontinuität von 40, 45 Jahren zustande (das ist, knapp nach dem Kaiserreich, die längste Periode der jüngeren deutschen Geschichte) – eine Kontinuität nicht nur eines Staatswesens, sondern auch einer spezifischen Lebensweise und Lebenswelt der DDR-Bürger. In summa: Die wechselseitige Durchdringung von räumlichen und zeitlichen Determinanten von Lebensweise und Kultur in der DDR ist eine sehr lang anhaltende und weitgehende. Das schließt gravierende Veränderungen auf der Zeitachse keineswegs aus (die interne Historisierung dieses langen Zeitraums ist, wie gesagt, dringend notwendig). Mein Vorschlag ist, die Unverwechselbarkeit der DDR-Literatur, die ich als sehr stark ansehe, aus diesem Bündel von homogenisierenden Merkmalen zu erklären, die für mich zusammen den stabilen Chronotopos DDR / DDR-Literatur ausmachen. Man könnte auch das von Ruth Klüger geprägte Neuwort »Zeitschaft/Zeitschaften« aufnehmen, um »zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher«[38]  – hier also der ›Ort in der Zeit‹ namens DDR. Diese Unverwechselbarkeit lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen, so z. B. auf der der Autorgenerationen, die sich so im Westen alle nicht finden lassen (hier muss diese Andeutung genügen). Oder man fasst einzelne Autoren ins Auge, und ich behaupte, dass nicht nur parteinahe Autoren, sondern gerade auch andere viel bessere thematisch, aber auch stilistisch und im Schreibgestus unverwechselbar ›DDR‹ sind. Ich nenne nur die Namen Hermlin, Fühmann, Hacks, Müller, Wolf, Reimann, die ganze Sächsische Dichterschule, Biermann, Braun, Hilbig, Jirgl, Fuchs und Papenfuß-Gorek. Und es wäre völlig unmöglich, dass z. B. ein Text von Walser, Enzensberger, Botho Strauß, Kronauer, Kehlmann oder Mosebach in diese Reihe geriete, die ihrerseits – mit vielen anderen und bei aller Verschiedenheit – unverwechselbar für den Chronotopos Deutschland-West stehen.

Weitergehend möchte ich behaupten, dass die Eigenart der Schauplätze, der inneren Chronotopoi im Sinne von Bachtin, die DDR-Literatur von der westdeutschen unterscheidet. Auch das lässt sich hier nur andeuten. Typische Handlungsorte vor allem der ersten zwanzig Jahre DDR-Literatur sind bekanntlich solche der Industriearbeit, überhaupt der Arbeitswelt (vom frühen Produktionsroman und Produktionsstück über den Bitterfelder Weg und Johnson, Wolf, Morgner bis zu Angela Krauß und noch Antje Rávik Strubel), aber auch Orte der landwirtschaftlichen Produktion (Hacks, Müller, Strittmatter u. a.); des weiteren Orte des DDR-Alltags außerhalb der unmittelbaren Produktionssphäre (Loest, de Bruyn, Wolf, Plenzdorf und viele andere). Gerade zur ersten Kategorie lassen sich Beispiele nennen, die nirgends als in der DDR angesiedelt sein können: dreimal das Mauern eines Ringofens zum Brennen von Schamottsteinen (E. Claudius, Brecht, Müller), mehrfach Großbaustellen und Braunkohlenbergbau (Neutsch, Müller, B. K. Tragelehn, Reimann, Braun u. a.), einmalig: der Uranbergbau der Wismut (Werner Bräunig, Konrad Wolfs Film »Sonnensucher« – und noch Lutz Seilers Lyrikband »Pech und Blende«). – Sodann dominieren bestimmte geschichtliche Orte: an erster Stelle solche des antifaschistischen Widerstandskampfes (Seghers, Hermlin, Apitz, »Nackt unter Wölfen« als der kanonische Text u. v. a.) und Orte des 2. Weltkriegs, die in die DDR-Geschichtssicht eingepasst (Karl Mundstock, Harry Thürk, Fühmann, Max Walter Schulz, Dieter Noll u. v. a.) und in die DDR-Frühgeschichte hinübergeführt werden (Seghers, Schulz, Noll, Hermann Kants »Aula«, die für mehrere Texte zu den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten steht; Johnsons »Jahrestage«, ab dem Ende von Band 2: kein anderes Buch bildet die frühe DDR raumzeitlich so lebendig ab wie dieses). Gewiss, die inneren Chronotopoi der DDR-Literatur differenzieren sich stark aus in ihren letzten beiden Jahrzehnten; sie werden individueller (man könnte von neu entstehenden »Mikro-Chronotopoi« sprechen[39]) und oft ganz bewusst den Raum DDR, bis hin zum Aufsuchen weit entfernter historischer und mythischer Orte. In manchen Texten, vor allem Romanen, werden weit auseinander liegende Chronotopoi montiert, z. B. in Morgners »Trobadora Beatriz« oder bei Fritz Rudolf Fries. Zum Ende der DDR-Zeit hin wird das eigene Land immer häufiger als Ort von Repression (z. B. in der NVA), Bespitzelung und Zensur thematisiert. Und fünfzehn Jahre nach dem Ende des Staates wird in Uwe Tellkamps »Der Turm« ein singulärer Chronotopos, ein einzelner homogener kultureller Raum innerhalb des Groß-Chronotopos DDR beschworen: nämlich die verkapselte bildungsbürgerliche Welt von Dresden, Weißer Hirsch.[40] Auch das war »ein Ort in der Zeit, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher«, mit Ruth Klüger zu sprechen. Und Tellkamps Roman bestätigt einmal mehr den Satz von Cicero, der lautet: »Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt.«[41] Zur ganzen Wahrheit der DDR-typischen Chronotopoi gehört aber auch, dass viele von ihnen mittlerweile, Jahrzehnte später, dem Verfall anheimgegeben sind: Industriegelände, die jetzt Brachen sind; heruntergekommene Plattenbaugebiete, einst Idyllen und jetzt eine Landschaft, die »keinen Trostraum der Imagination« eröffnet, sondern »Szenen vollendeter Tristesse« preisgibt.[42]

Im Mai 1932 hat Ernst Bloch einen Essay veröffentlicht, der später, als Bestandteil des Buchs »Erbschaft dieser Zeit«, zu Recht Berühmtheit erlangte. In ihm räsonierte er über das, was hernach als »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« oder (nicht ganz dasselbe) die »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« bekannt wurde. Immer häufiger begegnet einem diese Formulierung ohne Angabe der Quelle. Das ist ärgerlich und unangemessen gegenüber dem, der sie als Erster gebraucht hat – eben Ernst Bloch. Bei ihm heißt es unter der Überschrift »Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik«: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.«[43] Diese tiefsinnigen Sätze lassen sich auch auf die Bewusstseinsverhältnisse der Deutschen Ost und West anwenden, und je länger die deutsche Teilung dauerte, desto mehr. Dieser Befund gilt – leider – auch noch Jahrzehnte nach dem Ende der staatlichen Teilung. Der Terminus »Chronotopos« zielt auf das gleiche Phänomen inmitten unserer Gesellschaft.

IV

Nachtrag 1: Zwölf Jahre nach der Niederschrift dieses Textes – im Jahre 2024 – versuche ich einzuordnen und zu meinen eigenen Erkenntnissen ins Verhältnis zu setzen, was andere DDR-Literatur-Forscherinnen und -Forscher zum Thema Chronotopos herausgefunden haben. Dabei greife ich zuerst, und mit Entschiedenheit, auf Ursula Heukenkamps Aufsätze von 1995/96 zurück, auch wenn sie gezögert hat, Bourdieus Begrifflichkeit explizit zu benutzen und Bachtins Terminus möglicherweise gar nicht kannte. Aber ihre Befunde zur Nachkriegs- und frühen DDR-Literatur lassen sich mit den von mir genannten Merkmalen des (frühen) Chronotopos DDR (-Literatur) problemlos kurzschließen. U. a. nennt Heukenkamp als Charakteristika der jungen Literatur des Landes die verbreitete Aversion gegenüber künstlerischer Innovation zugunsten der Kriterien ›verständlich‹ und ›volkstümlich‹; die durchgehende Dominanz eines »Realismus des Inhalts«, die sich dann im »Milieurealismus« des »geförderten Typs der Produktionsliteratur« manifestiert. So entsteht laut Heukenkamp – ohne Oktroy von oben – eine Literatur mit engen, bejahenden Bezügen zu den Städten und Landschaften der jungen DDR. Und dieses Land erscheint als ein freundliches, das »mit zuversichtlicher Haltung beschrieben wurde als das Andere im Verhältnis zur Vergangenheit«; als ein Ort, mit dem man sich identifizieren konnte. Heukenkamp betont das Neue dieses Schreibansatzes der jungen Autorinnen und Autoren, der den heimgekehrten Exilschriftstellern nicht zur Verfügung stand.[44] Diese Haltung führte in dem dominanten Typus der Produktionsliteratur zu einem »regelrechten Paradigmenwechsel«, vor allem in der Prosa. Diese wurde »kunstlos, pragmatisch und direkt«, mit der Tendenz zur »Vereinheitlichung der Schreibweisen«.[45] Heukenkamp betont das Identitätsstiftende dieser neuen Literatur, die gewiss provinzielle Züge hatte, aber doch – als neue »Heimatliteratur – »mit ihrem Bekenntnis zum DDR-Teil Deutschlands […] gleichzeitig eine Art von kulturellem Separatismus« praktizierte.[46] Mit Erfolg. Selbst Sarah Kirsch nannte die DDR lange »mein kleines wärmendes Land«.[47] Die Entfernung der deutschen Literatur Ost und der deutschen Literatur West voneinander und am Ende die wirkliche Scheidung waren voll im Gange.

Es ist vor allem die Dissertation von Francesca Goll »Mapping Spaces. Reimagining East German Society in 1960s Fiction« von 2019, die anhand der gründlichen Erzählanalyse von zwei Romanen der DDR-Produktionsliteratur, nämlich Werner Bräunigs »Rummelplatz« (fertiggestellt 1965, aber erst nach der Wende vollständig gedruckt) und Erik Neutschs »Die Spur der Steine« (1964), zeigt, wie in Texten dieser Art die erzählten Räume immer wichtiger werden, während der Aspekt Zeit zurücktritt resp. stillsteht. Die Romane unternehmen es, diese neuen Räume der Neubaugebiete, des Uranbergbaus oder der Industrieproduktion gleichsam zu kartographieren – für Leser, die diese Lebenswelt bisher noch nicht kennen, aber sie kennenlernen wollen. Es sind (so lautet Golls Fazit) »animate, socialized entities«.[48] Goll folgt hier explizit Henri Lefebvre, für den Räume erst als soziale, von Menschen bewohnte und bearbeitete Räume interessant sind.

Im Gegensatz zu Francesca Goll geht Michael Ostheimer mit seinen Chronotopos-Studien sowohl in die Breite als auch in die Tiefe. Wo Heukenkamp, Goll und auch ich den Zeit-Ort DDR gewissermaßen idealtypisch in der neuen Industrieproduktion ansetzen und in ihr auch die neue realsozialistische Lebensweise auffinden (im Guten wie im Schlechten), fokussiert sich Ostheimer auf ›Chronotopos‹ als zunächst nicht gefüllte, abstrakte, quasi philosophische Kategorie. So findet er DDR-typische Chronotopoi einerseits in den großen Gedenkorten des Landes (das KZ Buchenwald, der Bauernkriegs-Gedenkort Frankenhausen) und andererseits (wie Goll und ich) in den neuen Produktionsstätten (Uranbergbau der Wismut, Eisenhüttenstadt) und Neubaugebieten (Halle Neustadt). Aber auch die Insel Hiddensee hat für ihn den Charakter eines (»idyllischen«) Chronotopos: Es ist die »Insularität«, der Standort außerhalb der vorgegebenen, schon immer fertig kartographierten Ordnung, die Sehnsüchte weckt und zeitweise stillen kann. Schließlich sucht und findet Ostheimer Chronotopoi dort, wo sich Schwellen- und Grenzerfahrungen manifestieren. Hier geht es natürlich um die Berliner Mauer, aber auch um weniger klar materialisierte liminale Erfahrungen. Am überzeugendsten ist Ostheimer in seinem Einleitungskapitel, in dem er den emphatischen Begleittext Werner Bräunigs zu einem Bildband »Luftbilder aus der DDR« von 1968 unter die Lupe nimmt und herausarbeitet, wie sich der Autor von seiner imaginierten Utopie beflügeln lässt, dass sich der Sieg der arbeitenden Menschen in dem überflogenen Georaum namens DDR schon vollzogen habe. Der reale Zeit-Ort DDR als Utopie – ja, aber die DDR-Literatur hat auch seine auch tragische Dimension festgehalten, so vor allem in unzähligen Fluchtgeschichten.

Es ist meines Erachtens fraglich, ob die von Ostheimer praktizierte Ausweitung des Bedeutungsspektrums von Chronotopos bezüglich der DDR die heuristische Kraft dieses Begriffs erhöht oder doch eher vermindert. Mir scheint es im Blick auf die DDR und ihre Literatur sinnvoller, an der engen Anbindung der Kategorie Chronotopos an den Wirklichkeitsbereich der materiellen Produktion und die Neugestaltung des Georaums DDR festzuhalten und lieber von hier aus weiterzufragen, was auf diese Weise noch als typisch für diesen Zeit-Ort und seine Literatur festzuhalten wäre. Überzeugend geschieht das z. B. in Karen Lohses Studie »Schattenwelten« von 2010, die schöne Literatur der Romantik zum Thema Bergbau (Novalis, E. T. A. Hoffmann u. a.) zum Montan-Diskurs bei Wolfgang Hilbig, Franz Fühmann und Werner Bräunig in Beziehung setzt. Dabei zeigt sich, dass Texte zum Sujet Bergbau tatsächlich im Zentrum des Chronotopos DDR-Literatur stehen. Über unterschiedlich gefüllte »Gegensatzkonstruktionen« versuchen diese drei Autoren utopische Potentiale des »Unterirdischen« (u. a. Weiblichkeit und Sexualität) zu mobilisieren, um den ›übertage‹ erstarrten realen Sozialismus zu revitalisieren.[49]

Nachtrag 2: Gewiss, vor allem Hilbigs Erzählerstimmen sind eher nicht mehr von dem Glauben erfüllt, dass sich der ›wahre Sozialismus‹ auf dem Boden der DDR noch verwirklichen ließe. Aber weder Hilbig noch Fühmann oder Bräunig würden je einen so rabenschwarzen Roman wie »Die Baugrube« geschrieben haben, wie ihn der sowjetische Wasserbauingenieur Andrej Platonow Ende der 20er Jahre verfasst hat. Zu ihm gibt es in der DDR-Literatur meines Wissens kein Pendant – und dies aus guten Gründen nicht. Platonow schildert – in einer bis dahin völlig unbekannten Sprachmischung aus Parteikauderwelsch, Proletenjargon und poetischen Wörtern – das Leben und den Tod eines jungen sowjetischen Arbeiters, der sich voll guten Willens einem kommunistischen Bauprojekt zur Verfügung stellt und in diesem umkommt. Umkommt im und am Aufbau dieses brutalen Kriegskommunismus; umkommt durch die Gleichgültigkeit und Rigidität der Menschen (»Genossen«), die hier leben und arbeiten, in dem prototypischen Chronotopos schlechthin: einer »Baugrube«, auf deren Grund das »gemeinproletarische Haus« entstehen soll. »Das Haus wird der Mensch errichten und sich selbst zugrunde richten. Und wer wird dann leben?« – so fragt sich Wotschtschew, der junge Arbeiter.[50] Der Roman, der damals, 1930, noch nicht einmal verboten wurde und dessen Autor nicht im GULAG verschwand, führt die menschenfeindlichen Seiten des kommunistischen Lebens und Arbeitens in einer Konsequenz vor Augen, für die es, wie gesagt und Gottseidank, in der DDR-Aufbauliteratur und auch sonst kein Gegenstück gibt. Aber die sowjetische »Baugrube« und die heroische DDR-Literatur der 1950er und frühen 1960er Jahre siedeln am gleichen realen und zugleich imaginären Zeit-Ort. Es ist die über die Maßen zwanghaft positiv aufgeladene utopische Vorstellung vom ganz anderen Leben an einem Handlungsort, den es noch gar nicht gibt und vielleicht auch nie geben wird, extrem profan und heilig zugleich. Es ist wohl eher ein Heterotopos, ein Unort im Sinne Foucaults.[51]

Nachtrag 3: Schließlich lässt sich doch noch ein Prosatext in der Nachfolge der DDR(-Literatur) finden, der den hier gemeinten Chronotopos verkörpert, und das sogar in Reinform. Ich war ganz frappiert, als ich auf ihn stieß. Es ist die empirisch-soziologische Studie »Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«, erschienen 2020, deren Autor Steffen Mau anschaulich und lebendig darstellt, wie er selbst (zunächst ohne es zu wissen, als teilnehmender Beobachter) in einer realsozialistischen »Idealstadt« an der Ostseeküste aufgewachsen ist. Wenn man den markanten DDR-Chronotopos schlechthin sucht, dann hat man ihn hier gefunden, in Lütten Klein. Nirgends ist das gut Gewollte, die Utopie menschenfreundlichen Zusammenlebens so geballt und plausibel in Szene gesetzt worden wie hier, vom ersten gemeinsamen Planen über das komplett modularisierte Bauen eines ganzen Stadtteils für etwa 40.000 Menschen bis zum realen Zusammenleben all derer, die das Glück haben, eine der begehrten Wohnungen zu ergattern. Die Menschen in der DDR, die in runtergekommenen Altbauwohnungen ohne jede Entlastung und Hilfe lebten, waren wirklich zufrieden, wenn sie hier eine Bleibe fanden. Heiner Müllers böses Wort von den »Fickzellen mit Fernheizung«[52] traf nicht ihre existenzielle Lage. Und alles, was der Mensch sonst noch zum Leben braucht, war hier inklusive: Supermärkte, Schulen und Kitas, Sportplätze und ein Schwimmbad, Bibliotheken, Ärzte, eine Sparkasse und ein Kino. Sogar ans Kleingewerbe hatte man gedacht. Die Versorgung klappte tadellos. Die Bewohner hatten durchweg Arbeit, und zumeist qualifizierte. Alte Leute waren sehr selten, Ausländer auch. Lütten Klein war der Inbegriff einer intakten realsozialistischen Wohngemeinschaft, homogen in hohem Maß. Aber einiges fehlte eben doch: die Mobilität, die Abwechslung, das Besondere und Individuelle, das kulturell Abweichende und Anregende, es fehlte das gelegentlich Irreguläre, das das Leben vielleicht erst wirklich lebenswert macht. »Insgesamt dominierte eine konformistische Kultur, die Abweichung mit moralischem Rigorismus begegnete.«[53] Eine »formierte Gesellschaft« war entstanden, in der der Grad an sozialer Kontrolle hoch war, und schon vor der Wende zeichnete sich ab: Die Zufriedenheit und Harmonie würde nicht ewig halten. Eine neue sozialistische Lebensweise, neue sozialistische Menschen, wie sie sich die Planer von einst versprochen hatten, waren nicht entstanden. Die Bewohner wurden älter, anspruchsvoller und egoistischer, die Ehen und Familien wurden krisenhaft nicht anders als außerhalb des idealen Chronotops. Der innere, gewollte Zusammenhalt der ersten zehn, fünfzehn Jahre hielt den Veränderungen nicht stand, und schon gar nicht den Verhaltenszumutungen, die die Wende mit sich brachte; die grassierende Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Das soziale Freiluftexperiment Lütten Klein war zwar nicht gescheitert, aber es taugte auch nicht als Blaupause für glückliches Zusammenleben, ob nun im Sozialismus oder im Kapitalismus. – Inzwischen ist Lütten Klein ein Problemstadtteil wie viele andere (zu) groß angelegte Neubaugebiete. Steffen Mau hat die Symptome zusammengetragen, die zur »Endlichkeit einer Gesellschaftsform«[54] beigetragen haben. Eine im engeren Sinne literarische Darstellung dieses Idealtyps des Chronotopos in seiner Spätphase ist bisher, soweit ich sehe, ausgeblieben, leider.

V

Seit Beginn der 1990er Jahre haben wir es nun mit ziemlich anderen Orten und Räumen zu tun als dem, was bis dahin die DDR als ein tendenziell geschlossenes Raum-Zeit-Amalgam war. Steffen Maus Buch demonstriert diesen Umbruch beispielhaft und unter einer Vielzahl von Aspekten. Diese Transformation hat den Menschen aus der DDR viel gebracht, darunter aber auch und gleichzeitig enorme Verhaltenszumutungen. So entstehen neue Zeit-Orte und Zeit-Räume, und diese nun entstehenden neuen Zeit-Räume sind auch für die Literatur folgenreich. Diese gänzlich andere Situation soll abschließend wenigstens skizziert werden.