Nahe Fremde - Wolfgang Emmerich - E-Book

Nahe Fremde E-Book

Wolfgang Emmerich

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Beschreibung

Eine Studie zu Paul Celans Verhältnis zu Deutschland - im Jahr seines 100. Geburtstags und 50. Todestags. Paul Celan, 1920 als deutschsprachiger Jude in Czernowitz geboren, wollte schon früh Dichter werden, doch die Ermordung seiner Eltern im Holocaust führte zu einem zwiespältigen Verhältnis zur deutschen Sprache. Trotzdem wird er zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Lyriker der Nachkriegszeit. Von seinem Wohnort Paris reist er zu Lesungen oder auch privat immer wieder in die Bundesrepublik, aber dieses Deutschland, in dem der Nazismus noch lange virulent ist, bleibt ihm fremd und verstört ihn stets aufs Neue. Freundschaften mit deutschen Autoren (die meisten ehemalige Soldaten der Wehrmacht) scheitern. Die Plagiatsanschuldigung der sogenannten Goll-Affäre nimmt Celan als Rufmord wahr, der für ihn einem nachgeholten Mord gleichkommt. Sein Verhältnis zu Deutschland und seiner Muttersprache, die auch die Sprache der Mörder war, erweist sich als nicht heilbar. Emmerich geht dem schwierigen Verhältnis Paul Celans zur »nahen Fremde Deutschland« auf der Grundlage seines dichterischen Werks und mit Hilfe der zahlreichen, veröffentlichten Briefwechsel des Autors nach. »Der Widerspruch zwischen Muttersprache und Mördersprache, die zugleich seine Dichtersprache war, zwischen Deutschland als einem Ort der Angst und als einem Sehnsuchtsort, sollte sich nie auflösen.« Wolfgang Emmerich

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Wolfgang Emmerich

Nahe Fremde

Paul Celan und die Deutschen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Wallstein Verlag,

unter Verwendung einer Fotografie von Nani Demus

ISBN (Print) 978-3-8353-3606-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4456-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4457-0

Inhalt

Vorwort

Nahe Fremde Deutschland. Das Dilemma

Schreiben im Angesicht der Shoah. Die Jahre 1943 bis 1947

Das erste Deutschlandgedicht: »Todesfuge« (1945)

Wien 1948. Unter selbsternannten ›Opfern‹

Paris 1948–1952. Ein bewohnbarer Ort

»Ein Fremder war da gewesen«. Lesen vor der Gruppe 47

Zwei Schiffe, die sich nicht begegnen. Bremen 1958

Das zweite Deutschlandgedicht: »Wolfsbohne« (1959)

Que sont mes amis devenus?Deutsche Freundschaften und ihr Scheitern

»Gibt es mich überhaupt?« Folgen einer Verleumdung

»Es lebe die krummnasige Kreatur!« Eine Gestalt des Jüdischen

»So kam ich unter die Deutschen«Im Literaturbetrieb der 60er Jahre

»Eine Art Rechenschaft«. Zu Besuch bei Heidegger, Juli 1967

»Linksnibelungen« – »Rechtsnibelungen«

Reise ins Herz der Finsternis. Berlin, Dezember 1967

»Mit zeitroten Lippen« – das Jahr 1968

Hölderlins deutsches Vaterland – (»Pallaksch. Pallaksch.«)

Départ Paul. Der Tod in der Seine

Nahe Fremde Deutschland – nach der »Zäsur«

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Vorwort

Der Dichter Paul Celan hat die erste Hälfte seines 50-jährigen Lebens fast vollständig in seiner Geburtsstadt Czernowitz in der Bukowina verbracht. 1938 /39 studierte er für ein kurzes Jahr im französischen Tours, dann kehrte er nach Czernowitz zurück. 1942 bis 1944 war er Zwangsarbeiter im Straßenbau im Nordosten Rumäniens; danach lebte er wieder für etwa ein Jahr in Czernowitz, das nun Teil der Sowjetunion wurde. Es folgten zwei Jahre in Bukarest 1945-47 und ein halbes Jahr in Wien 1948 – Celans einziger Aufenthalt in deutschsprachiger Umgebung von relativer Dauer. Der Ort der zweiten Lebenshälfte des Dichters war Paris – bis zu seinem Gang in die Seine; in summa 22 Jahre.

Aber ganz so einfach war es doch nicht. Der Autor reiste viel – nach London, wo eine Tante wohnte, nach Italien, nach Zürich, nach Genf (wo er zweimal für Monate als Übersetzer am Bureau International du Travail arbeitete), schließlich nach Stockholm in Sorge um die befreundete Dichterin Nelly Sachs. Nicht zu vergessen Ferienaufenthalte in den Alpen, in der Bretagne, in der Normandie, wo die Familie ein Ferienhaus besaß, und in anderen französischen Regionen. 1969, einige Monate vor seinem Tod, besuchte Paul Celan Israel.

Etwas Entscheidendes fehlt in dieser Aufzählung: Es sind die Aufenthalte in Deutschland, wobei ›Deutschland‹ immer die Bundesrepublik meint. Denn der Dichter war nie in der DDR, wie er auch nach dem Krieg nie mehr in ein anderes Ostblockland reiste. Zwei Jahre in der »Volksdemokratie« Rumänien waren ihm genug und machten ihn misstrauisch gegenüber den osteuropäischen Regimes. Der noch nicht 18-jährige Paul Celan (der damals Antschel hieß) war bereits am 9. oder 10. November 1938 (also am Tag nach der sogenannten Reichskristallnacht) über Berlin und weiter quer durch Nazi-Deutschland und Belgien zu seinem französischen Studienort gefahren (und im Sommer 1939 auf dem gleichen Weg zurück nach Czernowitz). Aber dadurch lernte er Deutschland natürlich nicht kennen. Nach seiner Reise von Wien nach Paris im Juli 1948, mit der Eisenbahn über Innsbruck und durch die französische Besatzungszone, das heutige Baden, vergingen fast vier Jahre, bis der Dichter 1952 wieder deutschen Boden betrat; diesmal, um an der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee teilzunehmen – ein Datum, das einen spürbaren Einschnitt in seinem Leben bedeutete. Seine äußerst zwiespältig aufgenommene Lesung vor um die vierzig der wichtigsten deutschen und österreichischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, zumal seiner eigenen, der jüngeren Generation, machte ihn in gewisser Hinsicht selbst erst zu einem deutschen Schriftsteller. Es folgten im Lauf von achtzehn Jahren mehr als fünfzig Reisen nach Deutschland, zu Lesungen (auch im Rundfunk und sogar im Fernsehen), zu Verlagsverhandlungen, zu Treffen mit anderen Autoren und Kritikern, zur Entgegennahme von Literaturpreisen, zu Besuchen bei Freunden und – ja, auch das – zu Treffen mit Geliebten. Die Bundesrepublik war von Paris aus mit dem »Schnellzug« (wie man damals sagte) in ein paar Stunden (Frankfurt a. M., Köln) oder höchstens in einer Tagesreise (Stuttgart, Tübingen, Freiburg i. Br., München, Bremen, Hamburg) zu erreichen. Celan fuhr immer mit der Bahn, nur für die Reise nach Berlin bestieg er ein Flugzeug. Er fuhr zwar seit dem Sommer 1961 selbst Auto,[1] aber – soweit ich weiß – nicht bei seinen Deutschlandbesuchen.

Deutschland war Paul Celan also nahe, geographisch gesehen. Und es war das Land seiner Muttersprache: Deutsch. So nimmt es nicht wunder, dass er das Land wieder und wieder besuchte, für ein paar Tage, vielleicht einmal eine Woche, manchmal auch für zwei Wochen. Insgesamt habe ich etwa 350 Tage in Deutschland gezählt, also fast ein ganzes Jahr seines Lebens. Er hat in all diesen Jahren keinen Familienurlaub in der Bundesrepublik verbracht. Freilich hat er zusammen mit seiner Frau die Eröffnung einiger Ausstellungen ihrer graphischen Kunst in deutschen Städten besucht und war im Juli 1964 mit ihr für drei Wochen in Süddeutschland und der Schweiz unterwegs. Trotz dieser so zahlreichen Besuche hat der Dichter sich relativ wenig auf deutsche Städte und Landschaften eingelassen – mit Ausnahme von Frankfurt a. M. (seiner Verlagsstadt), Köln (wo er mindestens dreiundzwanzigmal war),[2] Freiburg i. Br. (wo er zwischen 1967 und 1970 dreimal las) und Tübingen, für das er »ein Faible« hatte.[3] Mehrmals erhielt Celan Angebote, sich in Deutschland niederzulassen, die er aber allesamt ausschlug. 1960 hätte er die Poetikdozentur in Frankfurt wahrnehmen können – er sagte Nein. Als er 1964 gegenüber dem Verleger Gottfried Bermann Fischer in Frankfurt sogar sein Interesse bekundete, »nach sechzehn Jahren Paris wieder einmal einige Zeit […] in ausschließlich deutscher Sprachumgebung zu leben«, bot ihm der Verlag ein ordentlich bezahltes Gastlektorat für deutsche Literatur an – Celan lehnte letztlich doch ab.[4] Im Sommer 1964 hätte Peter Szondi für den Freund ein Ford-Stipendium für ein ganzes Jahr in West-Berlin erwirken können – Celan sagte ab.[5] Im Juni 1968 wiederholte Gudrun Schaal von der Tübinger Buchhandlung Gastl ihr Angebot vom Herbst zuvor, dem Dichter eine eigene Wohnung in bester Lage und auf Dauer zu überlassen; Celan reagierte nicht.[6] Im März 1970 unterbreitete der renommierte Romanist Hugo Friedrich dem Autor das Angebot, als Sprachlektor an der Universität Freiburg i. Br. zu unterrichten und dauerhaft dort zu leben. Celan dachte kurze Zeit über das Angebot nach und – zu dieser Zeit schon schwer krank – verwarf es dann. Es war, als ob der Autor es nach ein paar Tagen oder höchstens zwei Wochen nicht mehr im »Gedeutsch«[7] aushielte. Zwar entstanden Freundschaften mit Deutschen, Österreichern und Schweizern, von denen ihm manche viel bedeuteten, so die zu Ingeborg Bachmann und Klaus Demus, zu Rolf Schroers und Paul Schallück, zu Hanne und Hermann Lenz, später auch zu Peter Szondi und Franz Wurm. Doch diese Freundschaften scheiterten zumeist, manchmal mit geradezu katastrophischem Ende. Kurz, Deutschland, der deutsche Sprachraum war nah – und blieb doch Fremde.

Ich versuche in diesem Buch herauszufinden, wie es zu diesem Dilemma »Nahe Fremde Deutschland« kam und welche Wandlungen das Verhältnis des Dichters zu Deutschland und den Deutschen durchlaufen hat. In diesem Sinne handelt es sich um eine biographische Studie, die freilich auf einen – entscheidenden – Aspekt dieses Lebens konzentriert ist und vieles andere, was dieses Leben ausmacht, beiseitelässt. Nur durch wiederholte genaue Lektüre sowohl der zahlreichen Briefe und anderen Lebenszeugnisse Paul Celans, aber auch der Gedichte und weiterer literarischer Texte lässt sich dieser Versuch bewerkstelligen. Dabei habe ich nur wenig Skrupel, auch das Gedichtwerk Celans aus der Perspektive des Biographen zu betrachten. Von Petre Solomon, dem engsten Freund des Dichters in der Bukarester Zeit und ihm lebenslang nahe, stammt der Satz: »Warum den Menschen Celan aus seinen Gedichten eliminieren, die doch mit seinem eigenen Blut signiert sind?«[8] Ich erlaube mir, es wie Solomon zu halten. Celan selbst hat darauf bestanden, dass seine Gedichte auf existenziellen Erfahrungen beruhten. So sagte er dem Lyrikerkollegen Arno Reinfrank: »Mein letztes Buch [»Fadensonnen«, 1968] wird überall für verschlüsselt gehalten. Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben. Aber nein, das wollen und wollen sie nicht verstehen.«[9] Und in seinem Essay über »Die Dichtung Ossip Mandelstamms«, der ihm sehr nahestand, heißt es:

Der Ort des Gedichts ist ein menschlicher Ort, »ein Ort im All«, gewiß, aber hier, hier unten, in der Zeit. Das Gedicht bleibt, mit allen seinen Horizonten, ein sublunarisches, ein terrestrisches, ein kreatürliches Phänomen. Es ist Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen, es hat Gegenständlichkeit, Gegenständigkeit, Gegenwärtigkeit, Präsenz. Es steht in die Zeit hinein.[10]

Auch Paul Celans Gedichte stehen »in die Zeit hinein.« Es ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Shoah. Vielleicht gibt es – außer einigen kalauernden Wortspielen aus der Bukarester Zeit und den wenigen Gedichten für Kinder – kein Gedicht dieses Autors, in das nicht wenigstens mittelbar die Erinnerung an den »Zivilisationsbruch«[11] des Massenmords an den Juden eingegangen wäre. Jeder seiner Texte ist »unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit«[12] entstanden und geschrieben. In seinem gar nicht nur individuellen Fall wurde dieser »Neigungswinkel« von Deutschen und ihren nichtdeutschen Helfershelfern bestimmt. Sie ermordeten seine Eltern und viele andere Menschen, die ihm lieb waren. Die Männer, die diese Verbrechen begingen, hatten die gleiche Muttersprache wie er. Sie kamen aus den verschiedenen deutschen Regionen, zu denen seit 1938 auch Österreich gehörte. Die Bukowina, Paul Celans Heimat, gehörte wiederum bis 1918 zu Österreich, und der Geist der ehemaligen k. u. k. Monarchie wirkte dort fort. So geriet der junge Dichter als deutsch sprechender Jude in ein abgrundtiefes Dilemma. Das begann im Juli 1941 mit dem Einmarsch der Wehrmacht und der sogenannten Einsatzgruppe D in der Bukowina, als Paul Antschel auch selbst mit dem Tod bedroht war. Im Februar 1944 hörte diese Bedrohung für seine Person auf, nicht aber die Trauer um die geliebten Toten. Sie hielt lebenslang an und fand ihren Ausdruck in mehreren hundert Gedichten in deutscher Sprache. Der Gegensatz zwischen Muttersprache und Mördersprache, die zugleich seine Dichtersprache war, zwischen Deutschland als einem Ort der Angst und einem Sehnsuchtsort sollte sich nie auflösen. Wie bewusst dem Dichter dieser Vorbehalt immer war, sieht man auch daran, dass das Wort »Deutschland« nur in zwei Gedichten (die hier ausführlich besprochen werden) begegnet und das Adjektiv »deutsch« auch nur selten.[13]

1997 gab es im Literaturarchiv Marbach a. N. eine Ausstellung zu Paul Celan als Übersetzer. Sie trug – wie dann auch der umfangreiche Katalog – den schönen Titel »Fremde Nähe«.[14] Mein Buch heißt »Nahe Fremde« und meint, was Deutschland für Paul Celan war. Ich bitte dieses kleine Wortspiel nicht als Plagiat aufzufassen, sondern als respektvollen Gruß an den leitenden Kurator dieser Ausstellung, Axel Gellhaus, der 2013 – viel zu früh – gestorben ist.

Mein Dank gilt vornehmlich zwei Kennern Paul Celans: Florian Welling, der mein umsichtiger Lektor war, und Barbara Wiedemann, ohne deren kommentierte Werk- und Briefeditionen ich nicht halb so viel über den Dichter wüsste. Schließlich danke ich dem Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) für einige Monate der Ruhe im zweiten Halbjahr 2012, in denen ich eine erste Konzeption dieser Studie erarbeiten konnte.

Bremen, im Herbst 2019

Wolfgang Emmerich

Nahe Fremde Deutschland

Das Dilemma

Paul Celan ist ein deutscher Dichter jüdischer Herkunft. Er kam 1920 in Czernowitz in der Bukowina als Paul Antschel zur Welt und wuchs dort bis zu seinem 18. Lebensjahr behütet auf. Die Bukowina (zu Deutsch Buchenland) ist auf dem östlichen Balkan gelegen, da, wo sich der Gebirgszug der Waldkarpaten zur Ebene des Flusses Pruth hin absenkt. Heute gehört der überwiegende Teil der Region zum Staatsgebiet der Ukraine. Sowohl Deutsche als auch Juden hatte es schon über Jahrhunderte in der Bukowina gegeben, noch als das Gebiet, als Teil des Fürstentums Moldau, zum Osmanischen Reich gehörte, das gegenüber Juden durchaus tolerant war. Aber erst Kaiser Joseph II. siedelte, nach der 1775 vollzogenen Einverleibung der Bukowina in die Donaumonarchie, gezielt Deutsche an und forcierte gleichzeitig die Niederlassung jüdischer Familien sowohl auf dem Lande als auch in den Städten. Ziel war, ohne jeden Vorbehalt, die »bürgerliche Verbesserung der Juden«.[1] So wanderten Juden vor allem aus dem angrenzenden Galizien sowie aus Russland und der Moldau ein – aus Gebieten, in denen sie diskriminiert und verfolgt wurden. Und so kam es, dass gerade die Czernowitzer Juden sich ohne Zwang an die deutsche Kultur als ›Leitkultur‹ anlehnten. Damit entsprachen sie – eine günstige Übereinstimmung der Interessen – exakt den Erwartungen der kaiserlichen Regierungen in Wien an ihr neugewonnenes Staatsgebiet, das 1849 zum Kronland erhoben wurde. Die rechtliche Gleichstellung der Juden im Jahre 1867 verstetigte diesen Prozess. Die Juden stellten nach den Rumänen und den Ruthenen (so nannte man die Ukrainer), die ungefähr je ein Drittel der Bevölkerung der Bukowina ausmachten, mit ca. 15 % die drittgrößte Volksgruppe (in Czernowitz sogar über 40 %) – und waren damit fast doppelt so zahlreich wie die sogenannten Volksdeutschen. Das brachte die deutsch sprechenden Juden in der Bukowina in die Rolle des Wien nahestehenden eigentlichen ›Staatsvolks‹ – eine in der Donaumonarchie einmalige Situation. Deutsch sprechende Juden waren Fabrikbesitzer, wohlhabende Kaufleute, Gewerbetreibende und Bauern; sie waren Träger der staatlichen Verwaltung, des Gerichts- und Schulwesens, ab 1875 auch Professoren und Studenten der neugegründeten deutschsprachigen Universität; und sie stellten die meisten Ärzte und Anwälte. »Wohlwollend sahen die österreichischen Behörden zu, wie jenes Bürgertum, dessen Assimilation immer als Musterbeispiel einer erfolgreichen deutsch-jüdischen ›Symbiose‹ gepriesen wurde, sich die Ideologie des zur sittlichen Zähmung ›Halb-Asiens« beauftragten homo austriacus aneignete […].«[2] So befestigten die Bukowiner jüdischen Bürger die Ansprüche der k. u. k. Monarchie, aller ethnischen und sprachlichen Buntheit zum Trotz eine ›deutsche Kulturnation‹ zu sein.

Auch der Bukowina war Antisemitismus nicht fremd. Aber erst in den 1870er Jahren erreichten immer stärkere Wellen antijüdischen Ressentiments das Buchenland, ausgehend von den einheimischen Rumänen und Ruthenen wie vom immer aggressiveren Wiener Antisemitismus. Sie kulminierten im Ersten Weltkrieg in blutigen Pogromen und Synagogenbränden, die von russischen Truppen inszeniert wurden. Und so wird man heute, deutlich nüchterner als noch vor drei, vier Jahrzehnten, weniger dazu neigen, die Kulturinsel Bukowina zu verklären – und mehr die Befangenheit gerade des jüdischen Bürgertums in lähmenden Illusionen wahrnehmen, an deren Ende das Fiasko der fast vollständigen Vernichtung jüdischen Lebens im Buchenland durch die nazistische Gewaltherrschaft 1941-45 steht. Schon 1918, Jahre vor diesem Terror, zog Ninon Ausländer, die aus einer der Czernowitzer ›guten Familien‹ stammte (und später die dritte Ehefrau Hermann Hesses wurde) die ernüchternde Bilanz:

Tief waren in uns der jüdische Fatalismus und das Eingeschlossensein in die bürgerlichen Konventionen eingeprägt. Wir verloren aber den Glauben, der mit jenem Fatalismus zusammenhing, und auch die Selbstsicherheit, die die bürgerliche Macht verlieh. Wir waren einfach Gefangene, ohne aber die Gefängnismauern zu bemerken; wir sahen alles wie durch eine Glaswand und schauten, bis wir einmal an die frische Luft gelangten und uns den Kopf an der Wirklichkeit blutig stießen. Meist aber zog es uns gar nicht an die frische Luft, sondern wir wollten in der Gefangenschaft der Hauswände verharren.[3]

Ähnlich ernüchternd spricht Ilana Shmueli, die vier Jahre jüngere Jugendfreundin von Paul Antschel und spätere Geliebte und Begleiterin auf seiner Israelreise 1969, im Blick auf das jüdische Bürgertum in Czernowitz vom »Mangel an Echtheit der sogenannten ›anständigen Bürgerlichkeit‹, an geistiger Orientierung, ein ›Tun als ob‹«.[4] Und doch bekennt sie sich am Ende ihrer so anschaulichen Jugenderinnerungen zur »Czernowitzer Vielfältigkeit, Lebhaftigkeit und Unrast«, ihren »hohen Ansprüchen und Hoffnungen«, die einerseits »Kraft und Haltung« gaben und sich in anderen Umständen als »Belastung« erwiesen:

Pseudo-nyme

Phraseo-nyme

Größenwahn und

Ungenügen

Kunst und Sturz und Höhenflüge:

Czernowitz mein schwarzer Witz.[5]

Selbst nach 1918, als die Donaumonarchie zerfiel und das Buchenland dem Königreich Rumänien zugeschlagen wurde, ist die Provinz noch beschienen vom Abglanz der »goldenen Jahre« von 1867 bis 1914, und in Czernowitz blieb Deutsch Umgangssprache. Zugespitzt lässt sich sagen, dass das kulturelle Milieu von Paul Antschels Kindheit und Jugend ungleichzeitig zu den politischen Machtverhältnissen stand, indem in dieser Stadt weiter »Menschen und Bücher lebten«,[6] und zwar Menschen und Bücher in großer Vielfalt. Immer noch ist Czernowitz eine vielsprachige, an religiösen Bekenntnissen reiche, im Wortsinn multikulturelle und multiliterarische Stadt – und damit übrigens alles andere als ein jüdisch-orthodoxes »Schtetl«. Zwar existierte ein älteres kleines Judenviertel, aber ein Ghetto hatte es in Czernowitz nie gegeben. Das richteten erst die Nazis im Oktober 1941 ein. Die jüdische Bevölkerung verteilte sich bis dahin über die ganze Stadt, und Synagogen koexistierten mit Kirchen, orthodox oder katholisch, und Moscheen. »Czernowitz war«, so erinnerte sich Rose Ausländer,

eine Stadt von Schwärmern und Anhängern. […] Karl Kraus hatte in Czernowitz eine große Gemeinde von Bewunderern; man begegnete ihnen, die ›Fackel‹ in der Hand, in den Straßen, Parks, Wäldern und an den Ufern des Pruth[7]

– wenn sie nicht gerade in einem der zahlreichen Czernowitzer Caféhäuser nach ›Wiener Modell‹ saßen und lasen. Und war es nicht »Die Fackel«, dann eine der fünf Czernowitzer deutschsprachigen Tageszeitungen oder eine der vielen ausliegenden europäischen Zeitungen von Rang. Ja, es gab sogar eine bemerkenswerte expressionistische Zeitschrift namens »Der Nerv«, die freilich nur wenige Male erschien.[8] So war Czernowitz, zumal seitdem die deutschsprachige Universität gegründet worden war (die östlichste in ganz Europa), bis an die Jahre 1940 /41 heran eine kultivierte, wahrhaft europäische Stadt, in der die deutsch-jüdische Symbiose – wenn irgendwo überhaupt – für ein knappes Jahrhundert zumindest teilweise gelang. Und wie viele Dichter kamen aus der Bukowina: nach dem Begründer der Czernowitzer Literatur Karl Emil Franzos (der auch der erste Herausgeber der Werke Georg Büchners war) sind Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Klara Blum, Moses Rosenkranz, Alfred Liquornik (der das Pseudonym Gong annahm) und Immanuel Weißglas (die beiden Letzteren zeitweise Mitschüler Celans) sowie seine Großcousine Selma Meerbaum-Eisinger zu nennen; dazu – als einer der wenigen Nichtjuden – Gregor von Rezzori. Auch an Manès Sperber aus dem nahen Zablotów am Pruth, an Wilhelm Reich, den abtrünnigen Schüler Freuds (er wuchs auf einem Landgut bei Czernowitz auf), oder den großen Biochemiker Erwin Chargaff wird man sich erinnern können. Wo sonst existierte so viel deutsche Kultur auf engstem Raum? Freilich spielte auch die jiddische Sprache und Literatur eine beträchtliche Rolle. Vor allem der Balladen- und Fabeldichter Elieser Steinbarg und der später zu Weltruhm gekommene Itzig Manger (er lebte zur Zeit von Paul Antschels Jugend schon in Warschau) waren populär, und die dem jungen Antschel von seinem Biographen Israel Chalfen zugeschriebene Ablehnung der jiddischen Sprache als »verdorbenes Deutsch« darf man wohl in Frage stellen.[9]

Wie tief der heranwachsende Paul Antschel in der deutschen Kultur und Literatur verankert war, zeigt die Erinnerung einer engen Freundin vor allem aus den Jahren bis 1938, Edith Silbermann:

Außer mit dem Herbarium konnte ich Paul bei seinem ersten Besuch auch mit unserer großformatigen Luxusausgabe der deutschen Klassiker imponieren. Bongs Goldene Klassikerbibliothek schmückte natürlich den Bücherschrank nahezu jeder Czernowitzer Bürgerfamilie, die etwas auf sich hielt, aber mit solchen mit Goldschnitt und Stahlstichen versehenen Bänden konnte nicht jedermann aufwarten. Mein Vater, Altphilologe und Germanist, hatte, als er 1920 heiratete, kistenweise Bücher aus Wien mitgebracht und steckte jeden Groschen, den er erübrigen konnte, in Bücher, so daß er in kürzester Zeit die zweitgrößte Privatbibliothek der Stadt besaß, für den bildungshungrigen Paul eine wahre Fundgrube. So lautete denn auch die Widmung, die Paul im Oktober 1964 meinem Vater in das ihm zugedachte Exemplar von »Mohn und Gedächtnis« hineinschrieb: »Für Karl Horowitz, in dankbarer Erinnerung an sein Haus, an seine Bücher, an vieles noch immer Gegenwärtige.«[10]

Die wichtigste Rolle für Paul Antschels entschieden ›deutsche‹ Orientierung spielte zweifellos seine Mutter Friederike, genannt Fritzi, geborene Schrager, die 1895 in Sadagora, der Hochburg des Chassidismus, keine fünfzehn Kilometer von Czernowitz entfernt, zur Welt kam. Auch ihre Eltern waren (wie die des Ehemanns Leo Antschel) orthodoxe Juden, aber doch liberal orientiert, weshalb in ihrem Haus ein besseres Deutsch gesprochen wurde als in dem von Pauls Großeltern väterlicherseits. Während des Ersten Weltkriegs flohen beide großelterlichen Familien vor den russischen Truppen für fast drei Jahre nach Böhmen. So konnten Leo Antschel und Fritzi Schrager erst nach der Rückkehr aller aus Böhmen Anfang des Jahres 1920 in Czernowitz heiraten. Die junge Frau hatte nach der Volksschule Handelskurse besucht und danach in einem kaufmännischen Büro sowie als Kinderpflegerin gearbeitet. Dass sie nun ihre Berufstätigkeit aufgab, galt damals als selbstverständlich. Allerdings war sie, gemessen an ihrem begrenzten schulischen Bildungsstand, außergewöhnlich belesen. Die gemeinsame Begeisterung für deutsche Dichtung ließ die ohnehin enge Beziehung zwischen Mutter und Sohn immer noch enger werden. Das Verhältnis des Jungen zum strenggläubigen, autoritären Vater, der ihn schon für nichtige Vergehen körperlich züchtigte, blieb hingegen kühl. Das ist einer der Gründe, warum Paul Antschel späterhin sowohl das orthodoxe Judentum als auch die zionistische Utopie fremd blieben, eben weil es der Vaterglaube, die väterliche Weltanschauung war.

Wie stark die Bindung des Vaters an die jüdische Tradition war, wurde deutlich, als es um die Wahl der richtigen Schulbildung für den kleinen Paul ging. Zwar besuchte er zunächst den deutschsprachigen Meisler-Kindergarten und wurde anschließend in die gleichnamige – teure – Grundschule aufgenommen. Doch vom zweiten Schuljahr an schickte ihn der Vater auf die hebräische Volksschule, weil er das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte. Sie schien ihm, nach der deutschen Schule, am ehesten den Aufstieg in die ›bessere Gesellschaft‹ zu ermöglichen. Doch Paul behagte das Hebräische nicht, und so war es in seinem Sinne, dass er ab 1930 ein rumänischsprachiges Oberrealgymnasium besuchen konnte. Nach vier weiteren Jahren wechselte er auf ein ukrainisches Gymnasium, das aber als Unterrichtssprachen Rumänisch und Deutsch hatte. Der entscheidende Grund für diesen Wechsel waren die antisemitischen Tendenzen an der rumänischen Schule. Es hat sich ein Brief an seine Tante Minna Schrager in Palästina vom 30. Januar 1934 (sie war ein Jahr zuvor ausgewandert) erhalten, in dem es heißt: »Ja, was den Antisemitismus an unserer Schule betrifft, da könnte ich ein 300 Seiten starkes Buch darüber schreiben.«[11]

Das neue Gymnasium hatte den Vorteil, dass die Mehrheit der Schüler Juden waren; in Pauls Klasse 19 von 28 Jungen. Hier fand er nun auch Freunde, die seine musischen Neigungen teilten: Gustav Chomed und Immanuel Weißglas waren die wichtigsten. Von Letzterem wird noch ausführlich die Rede sein. Der jetzt 14-jährige Paul wählte den humanistischen Zweig, so dass zum schon gewohnten Latein nun auch noch für ein Jahr Italienisch und in den letzten beiden Schuljahren Altgriechisch hinzukamen. Mit 17 Jahren sind dem Jungen also, neben der deutschen Muttersprache, Rumänisch und Französisch fließend geläufig und Hebräisch sowie Latein und Griechisch zumindest gut bekannt; des Weiteren Grundkenntnisse im Italienischen. Englisch kommt bis zum Bacalaureat (= Abitur) nicht vor, aber nach den Recherchen seines Biographen Israel Chalfen hat Paul Antschel in seinem letzten Schuljahr 1937 /38 auch noch die Grundzüge des Englischen gelernt. Sieben Jahre später, ab dem Herbst 1944, wird er nach der Wiedereröffnung der Czernowitzer Universität ein Studium der Anglistik aufnehmen.[12] Ab dem Juni 1940, als die Rote Armee in Czernowitz einmarschierte und auch die Universität sowjetisch wurde, erlernte er die russische Sprache gründlich. Später, in Bukarest, wird er Prosa von Michail Lermontov und Anton Čechov aus dem Russischen ins Rumänische übersetzen. Und auch mit dem Jiddischen war Paul, wie erwähnt, schon früh vertraut.

Die Bilanz ist frappierend: Dem jungen Mann aus einfachen Familien- und Bildungsverhältnissen stand eine kaum glaubliche Vielzahl von Sprachen zur Verfügung. Sie begleiteten ihn durch sein ganzes Leben, und aus allen genannten Sprachen (außer dem Jiddischen) übersetzte er auch literarische Texte.

Gleichwohl, die Dominante inmitten dieser sprachlichen Vielfalt war und blieb das Deutsche. Und das meint sowohl die alltäglich gesprochene Umgangssprache als auch die hochdifferenzierte Sprache der Gebildeten, deren Blick immer nach Wien gerichtet war (man nannte sie scherzhaft »Bukowienerisch«). Ihnen war die deutsche Literatur in einem Maße bekannt und gegenwärtig, das heute sagenhaft anmutet. Das begann mit den Minnesängern und dem Nibelungenlied (was die ganze als ›urdeutsch‹ postulierte germanische Mythologie einschloss: Siegfried, Kriemhild und Hagen in jüdischen Köpfen!) und setzte sich fort mit den Dichtungen von Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, den Romantikern und Heinrich Heine. Bald kamen Nietzsche (»Zarathustra«), Hofmannsthal, George und vor allem Rilke dazu, ebenso Georg Trakl und andere expressionistische Lyriker, ja, auch schon Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Franz Kafka wurde bereits in diesen Jahren zu einem Lieblingsautor Paul Antschels und blieb es lebenslang.

Ein wichtiger Ort der Beschäftigung mit Dichtung waren für den Gymnasiasten Paul Lesezirkel, in denen er, häufig in der freien Natur, begeistert Gedichte rezitierte und zuweilen auch in das Gelesene einführte. Die ihm liebste Dichtung überhaupt war Rilkes »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Das schmale Buch war 1912 als erster Band der Insel-Bücherei erschienen und seither zum Kultbuch schwärmerischer Jünglinge schlechthin geworden. Paul wurde nicht müde, daraus vorzutragen. Freilich waren die ihm andächtig Lauschenden fast nur Mädchen. Die Jungen, auch die engeren Freunde, belächelten solche poetischen Séancen eher, oder sie hielten sich zumindest in scheuer Bewunderung fern.[13]

Der Abiturient Paul Antschel war ein weitläufig belesener, schon damals geradezu von Literatur besessener Mensch, der seine Muttersprache Deutsch liebte und sie vorzüglich beherrschte. Und als er nun selbst zu schreiben begann, war es selbstverständlich, dass er das auf Deutsch tat. Wohl schon 1935 entstanden die ersten Gedichte. Ein wichtiger Schub wurde 1942 durch die von den Rumänen verhängte Zwangsarbeit beim Straßenbau und den damit verbundenen Lageraufenthalt, aber auch durch die Liebesbeziehung mit der Schauspielerin Ruth Lackner (spätere Kraft) ausgelöst. Vor allem im Jahr 1943 schrieb Paul Antschel – inzwischen im Wissen um den Tod von Vater und Mutter in dem ukrainischen Arbeitslager Michailowka – sehr ernste und sprachlich durchgearbeitete Gedichte, die er zumeist an Ruth Lackner schickte und schließlich im Frühling 1944 zu einer handschriftlichen Sammlung zusammenfügte. Sie ist erstmals 1985 unter dem Titel »Gedichte 1938-44« faksimiliert im Druck erschienen.

Doch damit ist zeitlich weit vorgegriffen. Erst einmal ist die große emotionale wie intellektuelle Nähe dieses Menschen zur deutschen Sprache, Literatur und Kultur festzuhalten, die in seinem Fall regelrecht zu einer selbstgewählten, starken und dauerhaften Identität wird. Zu fragen ist nach den historischen Umständen, in die der kaum 18-Jährige geriet und die diese Tiefenprägung seiner Person zum Dilemma, ja, zur Aporie seines Lebens machten – bis zum Datum seiner Selbsttötung. Worin bestand das Dilemma, und wie konnte es lebensbestimmend werden?

Die 20er und 30er Jahre sind Paul Antschels kulturelle und persönliche Prägezeit. Gleichzeitig sind es die Jahre des Aufstiegs der nationalsozialistischen Bewegung, ihrer Machtübernahme in Deutschland 1933 und im März 1938 auch in Österreich. Im Zentrum des Nationalsozialismus stand zu jeder Zeit der Antisemitismus – ein Judenhass, der in der Öffentlichkeit zunächst nicht zwingend als auf physische Vernichtung abzielend wahrgenommen wurde, aber doch als massiv diskriminierend und existenzbedrohend. Inwieweit waren diese Prozesse dem Heranwachsenden, dem Jugendlichen Paul Antschel bewusst? Haben sie ihn interessiert, haben sie ihn alarmiert? Wurden zu fällende Entscheidungen dadurch beeinflusst?

Leider ist die Quellenlage zu diesen Fragen eher dürftig, so viel auch sonst mittlerweile über Paul Celans Leben und Denken bekannt ist. Israel Chalfen berichtet, sein Onkel David Teitler habe den jungen Paul schon 1933 über die Judenverfolgung in Deutschland aufgeklärt, als er das Land verlassen musste und in Czernowitz Station machte, bevor er weiter nach Bukarest reiste.[14] Vielfach belegt ist, dass sich der Jugendliche damals, also Mitte der 30er Jahre, nicht nur in schöngeistigen Lesezirkeln bewegte, sondern auch an Treffen der (illegalen) »Antifaschistischen Jugend« teilnahm. Dem eher konservativen Vater bereiteten die linken Sympathien des Sohnes Sorgen, und er drängte ihn mit Erfolg, der jüdisch-nationalen Burschenschaft »Davidia« beizutreten – die dieser jedoch bei der erstbesten Gelegenheit wieder verließ.[15] In seinen politischen Lektüren favorisierte Paul die Anarchisten, so Gustav Landauer (der ihm lebenslang nahe war) und den Fürsten Kropotkin. Dessen »Reden eines Rebellen« las er lieber als Marx’ »Das Kapital« – so kolportiert es zumindest Israel Chalfen.[16] »Unsere politische Einstellung war romantisch-kommunistisch, doch nicht sehr tiefgehend«, heißt es bei Ruth Kaswan.[17] Am liebsten sang man »Revolutionslieder wie ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹ oder Landsknechts-Lieder wie ›Vom Barette weht die Feder‹ und […] ›Flandern in Not, durch Flandern reitet der Tod‹.«[18] Und Paul Antschel war einer der Wildesten, Leidenschaftlichsten beim Singen und beim Tanzen. Natürlich kannte man auch die anderen politischen Jugendgruppen wie die linken Jungzionisten oder die jungen zionistischen Sozialdemokraten, aber man ging einander »gleichgültig, ja sogar mit Verachtung aus dem Weg.«[19] Weniger als die zionistische Option beschäftigte Paul und seine jungen Genossen der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Von den stalinistischen Massenverbrechen des sogenannten Holodorm in der Ukraine, wo 1932 /33 ca. sechs Millionen Bauern verhungerten, hatte man offenbar – trotz der geographischen Nähe! – kaum Kenntnis.[20] Aber die Moskauer Schauprozesse der Mittdreißiger Jahre drangen bis an die Ohren des jungen Mannes, zumal er André Gides »Retouches à mon Retour de l’URSS« wohl unmittelbar nach deren Erscheinen im Herbst 1937 las. So war Antschel bereits ausreichend gegen die kommunistische Ideologie und ihre stalinistische Praxis imprägniert, als die Rote Armee im Juni 1940 in der Bukowina einmarschierte. Anders als für drei seiner engsten Freunde, Gustav Chomed, Erich Einhorn und Ilse Goldmann, war es für ihn keine Verlockung, in die Sowjetunion zu emigrieren. Diese drei taten es, und alle drei hat dieser Schritt später mehr oder weniger ernüchtert.[21]

Bis zu seinem Abitur bot sich für Paul kaum einmal eine Möglichkeit, über seine engere Heimat Bukowina hinauszukommen und seinen Blick zu weiten. Einzig eine kurze Reise in die Hauptstadt Bukarest war 1934 möglich. Doch mit bestandenem Abitur boten sich interessante Möglichkeiten: ein Studium, das freilich, nach Lage der Dinge, nicht an einer der nazifizierten deutschen (und jetzt inbegriffen: österreichischen) Universitäten stattfinden konnte. Die Eltern plädierten für ein Medizinstudium, weil der Arztberuf für den Sohn als rumänischen Juden der aussichtsreichste Weg wäre, gesellschaftlich zu reüssieren. Man entschied sich für Frankreich, und zwar für die bescheidene Provinzstadt Tours, die in der Lebenshaltung gewiss preiswerter war als die Metropole Paris. Das klingt vernünftig und plausibel, aber war es nicht gleichzeitig ein Ausweis politischer Ahnungslosigkeit? Nach Israel Chalfens Recherchen wird man zumindest den Vater von einem solchen Urteil ausnehmen müssen. Er hatte eigentlich immer nach Palästina gehen wollen, erwog aber jetzt auch, angesichts der faschistischen Tendenzen im Königreich Rumänien, die »provisorische Lösung einer schneller möglichen Auswanderung nach Südamerika«.[22] Doch, so Chalfen, Mutter und Sohn rangen ihm gemeinsam die Erlaubnis ab, den jungen Mann in Frankreich studieren zu lassen, und schlugen so »die Befürchtungen des Vaters in den Wind«.[23] Generell galt: Man war gegen das Nazitum (allein schon deshalb, weil es bösartig antisemitisch war), aber man hatte keine Vorstellung davon, dass dieses aggressive, kriegslüsterne Regime vielleicht auch die eigene Existenz bedrohen könnte. Das gilt, mit wenigen Ausnahmen wie Pauls Vater, für die Elterngeneration genauso wie für die Alterskohorte Paul Antschels.

Wegen Pauls Bahnreise durch Nazi-Deutschland mit dem Ziel Tours machte man sich keine Sorgen, war er doch rumänischer Staatsbürger und als solcher, auch als Jude, zu dieser Zeit gegen Übergriffe noch geschützt. Entsprechende Visa wurden für die Hin- wie für die Rückreise problemlos ausgestellt, und es passierte dem jungen Mann ja auch nichts. Selbst Antschels Rückfahrt nach Czernowitz im Sommer 1939, einige Wochen vor Kriegsbeginn, verlief, äußerlich gesehen, noch ganz im Rahmen des Geplanten. Er hatte die fälligen Prüfungen abgelegt und stellte sich vor, im Herbst zurückzukehren und das Studium der vorklinischen Fächer der Medizin fortzusetzen.

An dieser Stelle muss an den kaum glaublichen Zufall erinnert werden, dass Paul Antschel seine Zugfahrt nach dem Städtchen Tours vermutlich am 9. November 1938 (oder war es der 8. November?) antrat, was bekanntlich der Tag der sogenannten Reichskristallnacht war. In dem Gedicht »La Contrescarpe« (1962) heißt es:

Über Krakau

bist du gekommen, am Anhalter

Bahnhof

floß deinen Blicken ein Rauch zu,

der war schon von morgen.[24]

Es ist bei diesem symbolträchtigen Datum nicht verwunderlich, dass es allerorten in der Celan-Biographik erwähnt und gefragt wird, ob Paul Antschels Zug Berlin am Morgen oder am Tag des 9. November – also vor den antisemitischen Gewaltorgien und Bränden des Abends und der Nacht – erreicht habe oder erst am (Morgen des) 10. November, als die Luft tatsächlich vom Rauch der Synagogenbrände geschwängert war. Soweit mir bekannt, gibt es keine Äußerungen des Autors zu seinem ersten Berlin-Erlebnis, außer der zitierten Gedichtpassage. Auch die drei wichtigen Gedichte, die er bei seinem Besuch (West-)Berlins im Dezember 1967 geschrieben hat,[25] machen keine Aussagen zu seinen eigenen Erlebnissen am 9. oder 10. November 1938 auf deutschem Boden. Die zitierten Gedichtzeilen von 1962 lassen keine eindeutige Lesart zu. Ich lese sie als Reminiszenz an den wohl tatsächlich wahrgenommenen Rauch, wahrscheinlich am Morgen des 10. November, beim Aufenthalt auf einem Berliner Bahnhof, nachdem der junge Mann bereits eine (zur Hälfte nächtliche) Bahnfahrt von 24 Stunden hinter sich hatte. Freilich endeten Züge, die »über Krakau« oder auch Breslau und Posen in Berlin einliefen, nicht am Anhalter Bahnhof, sondern am Schlesischen Bahnhof (seit 1950 Ostbahnhof). Ob Paul Celan sich 1962 bei der Niederschrift des Gedichts »La Contrescarpe« vielleicht getäuscht und den Schlesischen mit dem Anhalter Bahnhof verwechselt hat? Er war ja seit 1939 nicht wieder in Berlin gewesen. Und denkbar wäre das auch deshalb, weil das frühere, im Krieg zerstörte Empfangsgebäude des Schlesischen Bahnhofs mit seiner Rundbogenarchitektur und der gelbroten Klinkerfassade dem Anhalter Bahnhof stark ähnelte. Für einen Zwischenhalt Celans am Schlesischen Bahnhof spricht auch, dass seinerzeit von diesem aus die Züge direkt in Richtung Westen (Köln, Belgien) weiterfuhren und nicht vom Anhalter Bahnhof aus.[26]

Doch gleichgültig, an welchem Tag im November 1938 und über welchen Bahnhof Paul Antschel Berlin durchquerte, der »Rauch […] schon von morgen« kann als eine Anspielung auf die wenige Jahre später geschehende Verbrennung der Leichname in den Vernichtungslagern der SS gelesen werden. Damit verglichen war der Rauch der Brände in der Reichspogromnacht 1938 nur ein Vorspiel für den »Rauch […] schon von morgen«. So ähnlich sieht auch Israel Chalfen die Chronologie von Antschels Bahnreise.[27] Der ARTE-Film »Dichter ist, wer menschlich spricht«, den vor allem Bertrand Badiou als Experte beglaubigt, geht ebenfalls davon aus, Paul Antschel habe den Rauch über Berlin, verursacht von den brennenden Synagogen, bereits gesehen.[28] Anders Barbara Wiedemann. In ihrem Kommentar zu Celans zitiertem Gedicht heißt es: »der Zug durchquerte Berlin unmittelbar vor der ›Reichskristallnacht‹«.[29] Belege für das ›vor‹ bringt sie nicht bei. Auch der Hinweis auf den Vers 3 des Gedichts »Lila Luft mit gelben Fensterflecken« von 1967 (»Kokelstunde, noch nichts / Interkurrierendes, […]«)[30] und der Kommentar dazu bringen keinen Aufschluss. Bei Edith Silbermann findet sich 1993 die Annahme, Antschel habe die sogenannte Reichskristallnacht und ihren Rauch nicht erlebt, aber gleichwohl vorausgeahnt.[31]

Es ist naheliegend, die Frage des Datums von Paul Antschels Reise durch das Nazi-Berlin vom November 1938 symbolisch aufzuladen, zumal Celan selbst Daten sehr ernst nahm. Das gilt zuallererst für den »20. Jänner«, an dem Büchner seinen Lenz »durchs Gebirg« gehen lässt und den Paul Celan in seiner Darmstädter Rede »Der Meridian« von 1960 mit dem 20. Januar 1942 korrespondieren lässt, dem Datum der sogenannten Wannseekonferenz, auf der in einer schönen Berliner Villa zwei Dutzend SS-Offiziere und hohe Ministerialbeamte den Massenmord an den Juden minutiös durchplanten.[32] So lässt sich hier schon festhalten, dass es für Celan ›Daten‹ von vielerlei Art sind (nicht nur zeitliche), die den individuellen Lebensläufen Struktur, manchmal auch Sinn geben und die wiederum mit ›Daten‹ in Gedichten oder anderen literarischen Texten korrespondieren.

Und gleichzeitig hat die Debatte um dieses Datum etwas Gespenstisches und Falsches. Denn einem von den Nazis gesetzten Datum wird damit ein Quasi-Sinn für das Individuum Paul Celan zugesprochen, den es eigentlich gar nicht gibt. Wäre der angehende Student ein paar Tage früher oder später gereist, hätte das sein Verhältnis zum NS-Staat Deutschland in keiner Weise verändert.

Kehren wir zur wirklichen Historie zurück und wie sie mehr und mehr schmerzhaft in das Leben des Paul Antschel eindrang. Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 änderte sich alles. Antschel teilte der Universität von Tours am 16. September mit, dass er sein Studium dort wegen des Krieges nicht fortsetzen könne. Und da er wegen des rigiden numerus clausus für Juden im Fach Medizin an der Universität von Czernowitz keine Chance hatte, dieses Studium fortzusetzen, schrieb er sich in Romanistik ein. Es folgte vom Herbst 1939 bis zum Sommer 1940 ein Jahr prekärer politischer Ruhe – die Ruhe vor dem Sturm –, das weder das Ehepaar Antschel noch den Sohn Paul neuerlich über radikal andere Lebenswege – Auswanderung nach Palästina oder nach Nord- oder Südamerika – nachdenken ließ. Wenn man sich heute – 80 Jahre später und ohne den Druck der damaligen Verhältnisse – vergleichsweise auf die Lage der Juden im Deutschen Reich zurückbesinnt, dann erinnert man sich, dass Zehntausende von ihnen in den Jahren 1933-38 ähnliche Illusionen über die NS-Herrschaft hegten und sich nicht vorstellen konnten und wollten, dass auch sie einmal Opfer dieses Regimes werden könnten. Waren denn nicht auch sie, die Juden, gute Deutsche, die als Soldaten im Ersten Weltkrieg für Deutschland ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten? Und verehrten sie Goethe und Schiller und Beethoven nicht mindestens genauso wie ihre ›arischen‹ Mit-Deutschen? So müssen auch die Gefühle und Illusionen der deutsch sprechenden Juden in der Bukowina noch im Jahr 1940 gewesen sein, als im Deutschen Reich schon der blanke Terror wütete, von Polen ganz zu schweigen. Man kann sich zum Vergleich beispielhaft an das Schicksal der Familie des Schriftstellers Edgar Hilsenrath erinnern, die nach der Reichspogromnacht aus Halle / S. zu den Großeltern nach Sereth in der Bukowina flüchtete, weil sie sich da in Sicherheit vor den Nazis wähnte. Weit gefehlt. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurden Edgar, seine Mutter, sein Bruder und andere Verwandte in das einem KZ gleichende Ghetto des transnistrischen Städtchens Mogilev-Podolskiy verbracht, wo die Familie nur mit Glück überlebte. Hilsenraths Roman »Nacht« verarbeitet die schrecklichen Erfahrungen dieser ›Verbringung‹.

Und so, wie es für die deutschen Juden schon ab Jahresbeginn 1939 in der Regel zu spät war, der NS-Herrschaft noch zu entkommen, so war es ab Ende Juni 1941 auch für die Bukowiner Juden zu spät. Das Antonescu-Regime in Bukarest ließ nicht nur die Deutschen in der Bukowina (und ebenso in Bessarabien) frei schalten und walten, sondern ergriff selbst die Initiative und setzte die antisemitische Eiserne Garde ein, mit mörderischen Folgen. Am schlimmsten war es in Jasşi, der rumänischen Grenzstadt zum heutigen Staat Moldawien, die zur Hälfte von Juden bewohnt wurde. Hier wurden Ende Juni 1941 etwa 15 000 jüdische Menschen umgebracht, und von 127 Synagogen überstand nur eine einzige das Pogrom.[33] Im rumänischen Altreich war es anders. Dort wurden die Juden zwar gehasst, diskriminiert und auch nach Belieben umgebracht. Aber Antonescu gab sie nicht zur Deportation und nachfolgenden systematischen Ermordung durch die deutsche SS frei – zu deren Bedauern.[34] Bereits einen Tag nach dem Einzug der rumänischen Truppen in Czernowitz am 6. Juli 1941 folgte die sogenannte Einsatzgruppe D, eine Spezialeinheit aus SS und SD, deren Aufgabe die Liquidierung der jüdischen Bevölkerung war. Der jüdische Tempel wurde niedergebrannt, die Oberhäupter der Kultusgemeinde wurden umgebracht. Am 29. August konnte der SS-Befehlshaber Otto Ohlendorf nach Berlin melden: »In Czernowitz und bei Durchkämmen ostwärts Dnjester weitere 3106 Juden und 34 Kommunisten liquidiert.«[35] Wer am Leben geblieben war (und das war noch die große Mehrheit), musste den Judenstern tragen und Zwangsarbeit leisten.

Mit der Errichtung des Ghettos im alten Judenviertel am 11. Oktober 1941 begann die zweite Phase des Terrors gegen die Czernowitzer Juden. Ca. 45 000 Menschen wurden, umzäunt von hohen Bretterplanken und Stacheldraht, auf engstem Raum zusammengepfercht und für die schubweise Deportation bereitgehalten. Etwa 15 000 Bleibeerlaubnisse wurden für diejenigen ausgestellt, die für lebenswichtige Arbeiten in der Stadt benötigt wurden. Tausende der übrigen wurden im Lauf des Herbstes »Verbracht ins / Gelände / mit der untrüglichen Spur«[36] – zunächst deportiert in rumänisch befehligte Lager zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug, das sogenannte Transnistrien.

Im Winter 1941 /42 kam es zu einer vorübergehenden Beruhigung der Lage. Das Ghetto wurde aufgelöst, und erst im Juni 1942 setzten erneut die Deportationen ein. Jetzt war auch die Familie Antschel, die mittlerweile in die alte Wohnung zurückgekehrt war, unmittelbar gefährdet, und Paul, der während all dieser Monate hatte Zwangsarbeit leisten müssen, versuchte eindringlich, dies seinen Eltern klarzumachen. Er wollte sie überreden, übers Wochenende ein Versteck aufzusuchen, aber vergeblich. An einem Montag Ende Juni kam er in die elterliche Wohnung zurück – die Deportationen fanden immer an den Wochenenden statt – und musste feststellen, dass seine Eltern verschwunden waren.

Kurz darauf, im Juli, hörten die »Verbringungen« wieder auf. Paul Antschel wurde einem von den Rumänen neu eingerichteten Arbeitsdienst für jüdische Männer zugeteilt, was immerhin Schutz vor der immer noch möglichen Verbringung nach Transnistrien bedeutete. So verbrachte er die folgenden eineinhalb Jahre bis zum Februar 1944 in wechselnden Arbeitslagern, zuletzt in Tăbăresşti bei Buzau in der Region Moldau, wo er zu Straßenbauarbeiten eingesetzt wurde. »Fragte man Paul während eines Urlaubs in der Stadt, was er im Lager mache, antwortete er lakonisch: ›Schaufeln!«[37]

Paul Antschel sah seine Eltern – beide waren in das von der SS befehligte ukrainische Lager Michailowka östlich des Bug verbracht worden – nicht wieder. Im Spätherbst 1942 erreichte ihn im Arbeitslager die Nachricht vom Tod des Vaters, möglicherweise in einem Brief der Mutter, herübergeschmuggelt durch einen Kurier.[38] Ob der Vater im Herbst 1942 an Typhus starb oder erschossen wurde, ist bis heute unklar. Die Mutter ist jedenfalls im anschließenden Winter 1942 /43 im Lager Michailowka bei Gaisin von Deutschen durch Genickschuss umgebracht worden. Diese Nachricht erhielt der Sohn noch im gleichen Winter durch einen aus Transnistrien geflüchteten Verwandten. In einem Brief vom 28. März 1943 schrieb Paul an die Geliebte Ruth Lackner: »Es soll nun Frühling werden, Ruth. Seit ungefähr zwei Jahren fühle ich nicht mehr Jahreszeiten und Blumen, und Nächte und Verwandlungen überhaupt.«[39]

Das Ausmaß der Trauer von Paul Antschel um seine Mutter ist kaum vorstellbar. Für die Leser von Celans lyrischem Werk gilt, dass ein großer Teil seiner Gedichte bis an sein Lebensende Manifeste dieser seiner Trauer sind; »Textgräber«, geschrieben in der Sprache der Mutter, Akte der Grablegung dieses Menschen, für den die Nazi-Wirklichkeit kein Grab übrig hatte.[40]

Die Ereignisse seit dem Juni 1941 haben Paul Antschel – mittlerweile ein Mann von Anfang zwanzig – eindrücklich klargemacht, dass die von ihm immer gewünschte Identifikation mit der deutschen Sprache, Literatur und Kultur äußerst fragwürdig geworden war. War dadurch sein ganzes Lebenskonzept ad absurdum geführt? ›Deutsche Kultur‹: das war auch, und zuallererst, eine Kultur der Gewalt und des Todes. Eine Erinnerung der Freundin Ilana Shmueli (damals noch Liane Schindler) macht in bedrückender Weise klar, in welches Dilemma, ja, in welche Ausweglosigkeit Menschen geführt wurden, die an dieser deutschen Kultur als einer schönen, beglückenden, »menschlichen« Kultur als ihrer eigenen hingen:

Winter 1943. Wir ausgegrenzt mit gelbem Stern. Es war die Musik, die ich in jener Situation für mich ›erfand‹, Musik, mit der ich mich aus diesen Grenzen hinausspielte – ich lernte Geige spielen. […]

Ich aber vergaß alle Hemmungen, mein Lampenfieber und die Ironie meiner Mutter. Ich spielte knapp zwei Jahre ernsthaft Violine, mein Ton war noch unsicher. Doch ich mußte vorspielen! Die ›Träumerei‹ [von Robert Schumann] […]

In einer Ecke stand Paul Antschel – wie so oft bekundete er Distanziertheit und ironische Überlegenheit. Ich nahm es nicht wahr, obwohl mir an seinem Zuhören viel lag. […] und es gelang. Die Unmöglichkeit gelang – Widersinn im Winter 1943 – in einem kleinen Zimmer – im jüdischen Stadtteil – in Czernowitz. […]

Nach 21 Jahren, als ich Paul in Paris wiedertraf, sagte er mir, unser versonnenes, zurückdenkendes Gespräch unterbrechend:

Weißt Du, ich habe Dein so schönes Bild mit der Geige gleich zerrissen. Es ist damals wirklich zu weit gegangen. Ich konnte diese Widersinnigkeit nicht ertragen.[41]

Das Foto der jungen Frau mit der Geige findet sich auf dem Einband ihres Erinnerungsbuches »Ein Kind aus guter Familie. Czernowitz 1924-1944« (2006 erschienen). Dem Impressum kann man entnehmen, dass das Foto von 1942 stammt. Wahrscheinlich hat die Freundin es Celan irgendwann in den 50er oder frühen 60er Jahren geschickt, und dann, nach dem Empfang, hat er es wohl »gleich zerrissen«. Aber es geschah in Erinnerung an die mittlerweile weit zurückliegende Situation in dem »kleinen Zimmer« in Czernowitz, als die Freundin Robert Schumanns »Träumerei« auf der Geige spielte. Celans Erinnerung an »diese Widersinnigkeit« war offenbar immer noch so lebhaft, dass sie das Zerreißen der Fotografie auslöste, als letztlich hilflose Zerstörungstat am untauglichen Objekt. Und doch wiederum ganz und gar plausibel: Robert Schumanns »Träumerei«, eines der berühmtesten Stücke eines urdeutschen romantischen Komponisten, von Ilana so schön auf der Geige gespielt, ging »damals wirklich zu weit«, indem es den absoluten Kontrast zur Kehrseite deutscher Tatkraft demonstrierte, die im Morden der Nazis zum Vorschein kam. Das war damals nicht »zu ertragen«, vielleicht wenige Wochen nachdem Paul Antschel die Nachricht von der Erschießung der Mutter erhalten hatte. Und das war es auch zehn oder zwanzig Jahre später nicht, beim Anblick der geigenden Ilana auf dem Foto. Das ostentative Auslöschen des kleinen Erinnerungsträgers namens Foto war für den inzwischen etablierten Dichter deutscher Sprache auch insofern stimmig, als er immer noch, ja, noch viel mehr als seinerzeit, in dem andauernden Widerspruch lebte, in Frankreich wohnend, doch permanent Deutschland als naher Fremde benachbart zu sein und sich ab 1952 immer wieder besuchsweise in diesem Land aufzuhalten.

Schreiben im Angesicht der Shoah

Die Jahre 1943 bis 1947

Kehren wir zurück zu den Jahren 1943, 1944, 1945. Paul Antschel überstand mit viel Glück die Zeit als Zwangsarbeiter im Straßenbau. Im Februar 1944 wurde er aus dem Lager in Tăbăresşti entlassen. Ab April 1944 war er im nun wieder sowjetisch regierten Czernowitz als Arzthelfer in der psychiatrischen Klinik angestellt und hatte als solcher auch einmal einen Krankentransport nach Kiew zu begleiten. Folgenreich war, dass er im Frühjahr 1944 den ehemaligen Schulkameraden Immanuel Weißglas in Czernowitz wiedertraf – die Überlebenden der transnistrischen Lager kamen jetzt zurück – und erzählen hörte, wie es ihm gelungen sei, seiner alten Mutter in Transnistrien während der Odyssee von Lager zu Lager beistehen zu können.[1] Das sogenannte Überlebensschuld-Syndrom (survivor guilt syndrom) derjenigen europäischen Juden, die dem ihnen zugedachten Todesurteil durch die Nazis mit Glück entgingen, ist ein furchtbares Erbe der NS-Herrschaft. Paul Antschel-Celan war – so zeigen viele ihn betreffende Dokumente – diesem Schuldgefühl seinen ermordeten Eltern gegenüber lebenslang ausgesetzt. Und es half ihm dabei gar nichts zu wissen, dass er sich diese Schuld, die doch nur die der deutschen Nazis und ihrer rumänischen und ukrainischen Helfershelfer war, grundlos zurechnete.

Auch wenn die genauen Sterbedaten der Eltern Antschel unbekannt sind, lässt sich sagen, dass mit ihnen das entscheidende Datum der Dichtung von Paul Celan gesetzt ist – später für ihn symbolisch aufgehoben in jenem »20. Jänner« der Wannseekonferenz 1942. Die Ermordung der Eltern markiert einen Bruch im Leben wie im Dichten des jungen Mannes. Die frühe Lyrik Antschels war vor allem Liebeslyrik, wenngleich der Tod schon als ein wichtiges Motiv vorkam. Jetzt aber beginnt eine nie wieder aufgehobene Verflechtung von Totengedenken, jüdischem Thema und poetologischer Reflexion im Gedicht, die auch noch die Liebesgedichte durchzieht. Mit der Ermordung der Eltern war die so geliebte Muttersprache (im wörtlichen Sinne) zur Mördersprache[2] geworden, und es gab nicht nur einen Mörder, sondern ein ganzes Volk potentieller Mörder, das diese deutsche Sprache sprach und dem sie bei seiner Meisterschaft im Töten als nützliches Werkzeug diente. War es dann noch erlaubt, sich, als Jude, dieser Sprache als Medium der Poesie zu bedienen? Das Anfang Juli 1944 entstandene Gedicht »Nähe der Gräber«, in der Sammlung von 1944 an vorletzter Stelle platziert, das schon eingangs die ermordete Mutter anspricht, stellt in der letzten Strophe pointiert diese Frage:

Kennt noch das Wasser des südlichen Bug,

Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?

Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten,

wie leise dein Herz deine Engel gelitten?

Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden,

den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten?

Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab

den Hügel hinan und den Hügel hinab?

Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,

den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?[3]

Das Gedicht imaginiert in den ersten drei Strophen das Leiden und Sterben der Mutter inmitten einer Landschaft, die durch den ukrainischen Fluss Bug, durch ein Feld und eine Mühle, schließlich durch Espen- und Weidenbäume vorgestellt wird. Doch diese Elemente der lebendigen Natur können der Ermordeten keinen »Trost bereiten«. Und auch die Erinnerung an den Weingott Dionysos und seinen Thyrsosstab in der vierten Strophe[4] – den Gott, der den Tod erlitten hat und dann erneut lebendig wird – kann der Toten nicht mehr helfen. So mündet das in der deutschen Sprache geschriebene und durchweg gereimte Gedicht in die Frage, ob die Verstorbene ebendiese Sprache, ebendiesen »leisen«, »deutschen« Reim, der so »schmerzlich« geworden ist, noch »dulden« könne, sprich: ob der dichtende Sohn ihn noch gebrauchen dürfe, ohne die Tote damit zu kränken. Die Legitimität des Dichtens in deutscher Sprache, in den vertrauten Reimen wird, paradoxerweise, gebunden an das Urteil einer Toten, die doch eigentlich nicht mehr imstande ist, sich überhaupt zu äußern. Natürlich weiß das Paul Antschel – und dennoch macht er die tote Mutter dauerhaft zu der Instanz, die über dieses Urteilsvermögen verfügt und deren Urteile der Sohn gleichsam in seinen Gedichten vollstreckt. In diesem Lebensstadium – Paul Antschel ist Anfang, Mitte zwanzig – lautet die zwiespältige Antwort: nicht mehr in Reimen dichten, aber dennoch weiter schreiben in der geliebten deutschen Sprache.[5] Wie wichtig dieses Gedicht dem Autor war, erkennt man daran, dass er noch 1961 eine Abschrift an den Freund Rolf Schroers schickte und den folgenden Kommentar beifügte:

Dieses Gedicht habe ich im Sommer 1944 geschrieben, Rolf, in Czernowitz, nach der Rückkehr von einer Reise nach Kiew. Ich war an den Orten vorbeigekommen – nur vorbeigekommen –, wo meine Eltern umgekommen sind. Das Lager war in Michailowka. Später wurden meine Mutter und mein Vater nach Gaisin gebracht.[6]

Paul Celan, mittlerweile über vierzig Jahre alt, fand es angemessen, dem Freund nicht nur das Gedicht »Nähe der Gräber« zu schicken, sondern auch exakte topographische Angaben zu diesen (nicht vorhandenen) »Gräbern« zu machen und seinen eigenen Lebenskontext von damals offenzulegen. Das zeigt sehr deutlich, wie stark gelebtes Leben in die Gedichte dieses Autors eingegangen ist und wie wichtig ihm selbst diese Tatsache war.

Liest man die Gedichte der ersten von Paul Antschel selbst angelegten handschriftlichen Sammlung »Gedichte [1938-1944]«, neu geordnet und aufgeschrieben seit dem Februar 1944 nach der Rückkehr in die Heimatstadt Czernowitz, dann stockt man, wenn man schon weit vorgedrungen ist und etwa einhundert Gedichte gelesen hat, alle übertitelt mit roter Tinte. Man blättert eine leere Seite um und stößt auf ein nicht rot, sondern – einmalig – schwarz übertiteltes Gedicht, auf das wiederum eine leere Seite folgt. Das Gedicht heißt »Winter« und ist noch gereimt wie »Nähe der Gräber«. Das Ich des Gedichts (sagen wir in diesem Fall ruhig: Paul Antschel) wendet sich schon in der ersten Zeile ganz direkt an die Mutter, die er sich sterbend im Schnee der Ukraine vorstellt. Die zweite Strophe imaginiert ein Konzentrationslager, aus dem die wohl letzte Äußerung seiner Insassen hervordringt: »Wir sterben schon«. Eine solche Vergegenwärtigung ist äußerst selten bei diesem Dichter; vergleichbar ist eigentlich nur die »Todesfuge«, die den Sterbenden ausführlich eine chorische Stimme gibt. In dem Gedicht »Winter« zeigt die Frage »Sind sie es denn, die frieren in der Schlacke […]?« an, dass der hier Sprechende weiß, wie ungesichert (und zugleich privilegiert) seine Vorstellung von der Situation der Lagerinsassen und also auch der Mutter ist. In den letzten beiden Strophen spricht das Ich von seiner Verfassung »in den Finsternissen« und fragt nach seiner eigenen Haltung als Dichter: Was ihm denn eigentlich noch bleibe angesichts des Todes der Mutter: »die Saiten [s]einer überlauten Harfe« sind »zerrissen«, »die Rosenstunde« verlischt. Beide Möglichkeiten des Lyrikers, laut und aggressiv oder zart und innig zu dichten (»erlöst das Linde und entblößt das Scharfe?«), sind gleicherweise außer Kraft gesetzt, so dass das Ich am Ende fragt:

Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wunde –

versänk ich mit im Schneewehn der Ukraine?

Ähnlich wie in »Nähe der Gräber« stellt der hier Sprechende sich angesichts der tödlichen Gewalt, die sich ganz in seiner Nähe vollzieht, mit seiner ganzen Existenz in Frage, auch als Dichter. Vielleicht wäre das Mit-Sterben des Sohnes, so überlegen diese Verse, die bessere Alternative zum Einsam-Weiterleben gewesen? Damit klingt erneut das Überlebensschuld-Syndrom an.

Am deutlichsten reflektiert das Gedicht »Russischer Frühling« (Ende 1944 / Anfang 1945) das eigene Verhaftetsein in der deutschen Literaturtradition samt ihren germanischen Mythen. Handlungselemente und Gestalten des Nibelungenliedes werden in abrupten Fügungen mit den aktuellen Ereignissen des Weltkriegs konfrontiert und in sie einmontiert: die Schlacht in den Ardennen (eine Gegend, in der die Nibelungen einmal lebten) oder der gefürchtete sowjetische Raketenwerfer Katjuscha (die sogenannte Stalinorgel), die »nun anfängt zu singen« (V. 13). Der Sprechende stellt sich als »Reiter« vor, dem mitten »im ukrainischen Grün der getreue, der flandrische Tod« (V. 8) beigesellt ist. Diesen Tod hatte der Gymnasiast Antschel wenige Jahre zuvor begeistert in dem Landsknechtslied »Flandern in Not« aus dem Ersten Weltkrieg besungen. Um die Absurdität auf die Spitze zu treiben, ist das ganze Gedicht exakt in der metrischen Form der sogenannten Nibelungenstrophe geschrieben – vierzeiligen Strophen aus fünf- oder sechshebigen gereimten Langversen mit einer Zäsur in der Mitte. Am Ende fragt sich der, der hier spricht, ob er »dem friesischen Strand, den rheinischen Fluren die Treue« (Vers 17) halten könne. Das Gedicht endet ambivalent:

Träumerisch hält meine Hand und singt in die wallende Bläue

für alle, die hier liegen, Herr Volker von Alzey.[7]

Volker, der Spielmann und zugleich einer der tapfersten ritterlichen Helden, hat noch zum Untergang der letzten Nibelungen in Etzels brennendem Saal aufgespielt, bis er selbst getötet wurde. Das Epos vom heroischen Untergang dieses germanischen Stammes war eine der Lieblingslektüren Paul Antschels gewesen. Nun wird es zum Gegenstand eines verzweifelten Selbstgesprächs über die deutsche Literaturtradition bis zurück zum Mittelalter; eine Tradition, die der Heranwachsende quasi ohne Arg aufgenommen und verinnerlicht hatte, germanischen Heldenkult und Nibelungentreue inbegriffen. Die letzten beiden Verse haben eine fatale Botschaft: Der Spielmann Volker (das grammatische Subjekt)[8] hält dem Sprecher des Gedichts die Hand und singt dabei »für alle, die hier liegen«, das heißt für die sinnlos Gefallenen beider Seiten, und der Paul Antschel verwandte Sprecher des Gedichts tut es ihm gleich und unterwirft sich damit dem menschenfeindlichen Heroismus der »Nibelungentreue«. Das ist die Phantasie dessen, der zutiefst ratlos ist: des jüdischen Spielmanns Paul Antschel, der jetzt »[a]llein mit den jüdischen Gräbern« ist und nicht weiß, was er mit seiner so lange unbefangenen Liebe zu den Nibelungen machen soll. Dass Antschel sich selbst in dieser Rolle sah, bestätigt ein Brief an Ruth Kraft vom 19. März 1943 aus Tăbăresşti, in dem es heißt: »Dein schwärmerischer Spielmann lebt um vor Dir zu singen […] Zu den Dingen, die Dein Herz aufbewahren wird, lange, immer, wird auch das ›Saitenspiel für Ruth‹ gehören.«[9] Neu ist auch, dass diese Selbstreflexion mit ironischen und sarkastischen Wendungen gespickt ist. Die Gewaltorgien der zur »Nibelungentreue« fanatisierten deutschen Krieger haben ihm sein kulturelles Fundament zerschlagen. Das Langgedicht »Todesfuge« wird dieses existenzielle Dilemma des jungen Autors noch einmal vertiefen, indem es die gesamte deutsche Erbschaft auf ihre Tauglichkeit hin befragt.

Die zutiefst verstörenden Ereignisse der Kriegsjahre 1941 bis 1945, die zugleich die Jahre des Massenmords an den Juden sind, haben aber nicht nur das Dichten in Frage gestellt. Die Überlebenden standen vor der Entscheidung, wo in der Fremde sie sich ansiedeln sollten, welcher bislang unbekannte Ort ihnen zu einer neuen Heimat werden könnte. Die eingeschlagenen Wege und Ziele waren verschieden. Rose Ausländer ging zum zweiten Mal in die USA und verbrachte dann ihre letzten Lebensjahre von 1965 bis 1988 in der Bundesrepublik. Alfred Gong ging, Paul Antschel zuerst ganz ähnlich, nach Kriegsende zunächst nach Bukarest und floh über Budapest nach Wien. Aber dann gelangte er 1956 ebenfalls nach Amerika, wo er eingebürgert wurde. Immanuel Weißglas wählte ebenfalls die Option Bukarest. Er blieb dort bis zu seinem Tod 1979. Auch Moses Rosenkranz lebte nach dem Krieg zunächst in Bukarest. Er wurde 1947 in die Sowjetunion verschleppt und verschwand für zehn Jahre im GULAG. 1961 wurde er, nunmehr in Rumänien, wieder politisch verfolgt und musste fliehen. Schließlich kam er in die Bundesrepublik. Bis zu seinem Tod mit 99 Jahren lebte er im Schwarzwald. – Nur wenige Autoren gingen nach Palästina resp. Israel. Manfred Winkler, zwei Jahre jünger als Antschel, und Else Keren taten es. Keren war eine enge Freundin von Selma Meerbaum-Eisinger, Celans Großcousine, die im Dezember 1942 im gleichen Lager wie Antschels Eltern 18-jährig an Fleckfieber starb. – Die Aufzählung von Lebensläufen jüdischer Autoren aus der Bukowina ließe sich fortsetzen. Der generelle Befund lautet: Wohin auch immer sie gingen, sie dichteten weiter in deutscher Sprache. Aber keine / r dieser Dichterinnen und Dichter konnte sich die Bukowina als Heimat erhalten.

Immanuel Weißglas resümierte seine Verlusterfahrung im Gedicht »Ahasver« so:

Betrogen um den Trost des Herdes, schreiten

Wir im Gekläff der Köter durch die Zeiten,

Und fliehen vor dem Fluch, im einzgen Hemde,

Aus fremder Heimat in die Heimatfremde.[10]

Bei Paul Celan tauchen ähnliche Wendungen auf, aber erst einige Jahre später. In dem berühmten Gedicht »Schibboleth«, entstanden 1953 oder 1954, heißt es:

Herz:

gib dich auch hier zu erkennen,

hier, in der Mitte des Marktes.

Ruf’s, das Schibboleth, hinaus

in die Fremde der Heimat:[11]

Das Schibboleth, das von Herzen kommende Losungswort, richtet sich auch in diesem Gedicht, das vornehmlich um den Spanischen Bürgerkrieg kreist, in die alte Heimat, die freilich zur Fremde geworden ist. Es frappiert, wie oft Paul Celan seit Mitte der 50er Jahre das Wort ›Heimat‹ und Komposita mit ›heim‹ verwendet: Wörter der Sehnsucht, aber meistens auch der Vergeblichkeit.[12] Die ehemalige Heimat, das Buchenland, ist längst fremd geworden, eine Heimkehr nicht möglich oder doch zumindest, der politischen Zustände wegen, nicht wünschenswert. Es gibt allenfalls noch einen unsichtbaren »(Czernowitzer) Meridian«, wie Celan 1968 voller Wehmut in einem Brief an Gideon Kraft schrieb.[13]

Das Gedicht »Heimkehr«, wohl im Dezember 1955 entstanden, zieht erneut eine Bilanz der nun schon zehn Jahre dauernden Existenz in der Fremde. Der sprachliche Duktus ist komplexer geworden, gleichwohl ist die autobiographische Grundierung des Gedichts unverkennbar. Es beginnt mit einer Erinnerung:

Schneefall, dichter und dichter,

taubenfarben, wie gestern,

Schneefall, als schliefst du auch jetzt noch.

Weithin gelagertes Weiß.

Drüberhin, endlos,

die Schlittenspur des Verlornen,

Diese Eingangsverse lassen an Gedichte wie »Nähe der Gräber«, »Winter« oder »Schwarze Flocken« denken, an die »Schneewehn der Ukraine«. Die folgenden Strophen werden deutlicher. Auch wenn die Ermordeten kein ›ordentliches‹ Grab erhielten, so stellt sich der Sprechende ihre Gräber doch als Hügel vor:

Darunter, geborgen,

stülpt sich empor,

was den Augen so weh tut,

Hügel um Hügel,

unsichtbar.

Auf jedem,

heimgeholt in sein Heute,

ein ins Stumme entglittenes Ich:

hölzern, ein Pflock.

Mehr ist nicht geblieben von den Ermordeten. Sie sind »ins Stumme entglitten«, nur »hölzern, ein Pflock«. Das Gedicht endet mit dieser Strophe:

Dort: ein Gefühl,

vom Eiswind herübergeweht,

das sein tauben-, sein schnee-

farbenes Fahnentuch festmacht.[14]

»[E]in Gefühl«, so lässt sich deuten, hat sich als einzig Lebendiges noch erhalten. Freilich ist auch dieses dem »Eiswind« ausgesetzt. Aber dieses »Gefühl« ist immerhin in der Lage, sich in einem Gedicht zu äußern, das mit der Schnee-Wirklichkeit korrespondiert: Es kann »sein tauben-, sein schnee- / farbenes Fahnentuch« festmachen. Freilich, anders als im Gedicht, das ein sichtbares »Fahnentuch« auf den unsichtbaren Hügel setzt und ihn dergestalt als Grab markiert, ist »Heimkehr« nicht mehr möglich.[15] Ein wichtiges Gedicht aus den letzten Monaten in Bukarest unterstützt die Deutung des »Fahnentuch[s]« als dichterischer Text. In diesem Gedicht mit dem Titel »Die letzte Fahne«[16] ist gleich eingangs die Rede von einem »wasserfarbene[n] Wild«, das »gejagt« wird. Daraus folgt als Maxime für den Sprechenden: »So binde die Maske dir vor und färbe die Wimpern dir grün.« Es ist die notwendige Parole für den Dichter, sich zu maskieren angesichts der totalitären Macht im rasch sowjetkommunistisch gewordenen Rumänien 1946 /47. Der letzte Vers lautet: »o wasserfarbenes Vlies, unser Banner am Turm!« Die Dichtung, dieses zarte, tauben- oder schneefarbene blasse Gebilde, dieses verletzliche, scheue »wasserfarbene[ ] Wild«, ist die »letzte Fahne«, »unser Banner am Turm«. Es ist sowohl ›das Andere‹ von Gewalt und Tod als auch ›das Andere‹ einer totalitären Gesellschaft. Für die Zukunft fundiert der enge Zusammenhang von Verlust, Trauer, Gedenken und Gedicht Paul Celans poetologisches Programm.

Paul Antschel bereitete also im April 1945 seine Abreise von Czernowitz vor. Sie wurde von den Behörden der Ukrainischen Sowjetrepublik, zu der die Stadt jetzt gehörte, geduldet, weil diese sich »der ungeliebten jüdischen Bevölkerung unauffällig entledigen« wollten.[17]