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Lila Zieglers persönlichster Fall Der Student Jonas steht in Verdacht, einem Freund beim ›Roofing‹ einen tödlichen Stoß versetzt zu haben. Bei dem zweifelhaften Trendsport geht es darum, sich beim Klettern in schwindelerregender Höhe filmen zu lassen. Privatdetektivin Lila Ziegler und ihren Partner Ben Danner geht der Fall unerwartet nahe. Zugleich erklärt Lila ihrem Vater den Krieg: Sie stellt sich endlich ihren eigenen Problemen und zeigt ihn wegen häuslicher Gewalt an. Sie ahnt nicht, was sie damit auslöst … Eine Geschichte, die die Leser sprachlos zurücklässt!
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Seitenzahl: 313
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Lucie Flebbe
Am Boden
Kriminalroman
© 2016 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, D-44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagmotive: Anna-Lena Thamm; shadowtricks / photocase.de
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-710-1
Die Autorin
Lucie Flebbe, geb. 1977 in Hameln, lebt mit Mann und Kindern in Bad Pyrmont. Mit ihrem Krimidebüt Der 13. Brief (noch unter dem Namen Lucie Klassen) mischte sie 2008 die deutsche Krimiszene auf. Folgerichtig wurde sie mit dem ›Friedrich-Glauser-Preis‹ als beste Newcomerin in der Sparte ›Romandebüt‹ ausgezeichnet.
www.lucieflebbe.de
1.
Meine Hände zitterten. Es gelang mir nicht, sie ruhig zu halten. Genauso wenig schaffte ich es, meinen Blick von der Frau an der Flurwand gegenüber zu lösen. Sie hatte ein blaues Auge und ihre Unterlippe war aufgeplatzt.
Eine Plakatwerbung gegen häusliche Gewalt. Mir wurde übel davon.
Ich schlage dich tot, das ist ein Versprechen. Ich hörte die Stimme in meinem Kopf, als stünde er neben mir. Ein orangefarbenes Buch tauchte in meinen Erinnerungen auf. Ich nehme ein paar lose Zettel und werfe sie auf das Buch, damit die Signalfarbe meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich lenkt.
Das Gesicht der Plakatfrau kippte zur Seite und drehte sich kopfüber. Ich stützte die Stirn in die Hände. War nur eine Frage der Zeit, bis ich kotzen musste.
Ohne Vorwarnung kracht die Hand auf meinen Kopf, mein Gesicht schlägt auf das Matheheft. »Du warst seit zwei Wochen nicht beim Religionsunterricht, Liliana?« An den Haaren reißt er mich hoch. Eine Sekunde lang bin ich sicher, skalpiert zu werden.
Ich presste die Handballen gegen meine Schläfen und krallte meine Fingernägel so fest in meine Kopfhaut, dass sie bläuliche, mondsichelförmige Abdrücke verursachten. Aber die Erinnerungen ließen sich nicht mehr stoppen. Sie stürzten auf mich ein, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über mir ausgekippt.
Was zum Teufel tat ich hier eigentlich?
Mein Name ist Lila, ich bin zwanzig Jahre alt und ich habe den Verstand verloren.
Ich musste hier raus!
Den Griff auf meinem Oberschenkel spürte ich, weil er unangenehm wurde. Ich hob den Kopf und warf einen Blick auf Danners Hand, die mein Bein zusammendrückte.
Weil mein Freund ein ärmelloses schwarzes Shirt trug, war nicht zu übersehen, dass er seine Ober- und Unterarme regelmäßig mithilfe nicht zu kleiner Hanteln aufpumpte. Genauso offensichtlich war er eine Ecke älter als ich und mit Glatze und Dreitagebart versprühte er mal wieder Türstehercharme. Beim lustigen Beruferaten konnte man leicht annehmen, dass er für zweifelhafte Inkassounternehmen als Geldeintreiber unterwegs war.
Hier auf dem kahlen Flur des Polizeipräsidiums gingen wohl die meisten Leute, die Danner und mich in der Abteilung für Gewaltprävention und Opferschutz warten sahen, davon aus, dass er die Ursache für mein leichenbleiches Gesicht war.
Danner schob seine kräftigen Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln zwischen meine. Seine warme Haut ließ meine kaltschweißige Handinnenfläche kribbeln.
»Frau Ziegler?« Eine Beamtin hatte den Kopf aus einer Bürotür gesteckt.
Ich starrte unsere ineinander verschränkten Hände an. Zwischen Danners Fingern wirkten meine eigenen dünner und weißer, als sie tatsächlich waren, fand ich.
Danner drückte erneut zu: »Na los.«
Lieber zog ich mich splitternackt aus und ließ das Video vor dem Sonntagabendtatort senden.
»Kommen Sie rein, Frau Ziegler.« Die Polizeibeamtin deutete einladend auf die offen stehende Bürotür.
Halt den Mund oder ich breche dir das Genick. Versprochen.
Halt endlich die Fresse! Ich lasse mir nicht drohen! Von niemandem, kapiert?
Ich straffte die Schultern und erhob mich.
2.
Ich will meinen Vater anzeigen.
Seit ich diesen Satz gesagt hatte, hörte mein Gehirn nicht auf, die Worte in einer Endlosschleife zu wiederholen, wie eine Schallplatte, die an dieser Stelle einen tiefen Kratzer abbekommen hatte.
Ich will meinen Vater anzeigen.
Das Karussell meiner Gedanken war mir außer Kontrolle geraten, die Gänsehaut auf meinen Armen verschwand nicht mehr. Die altmodischen Tische und Stühle um mich herum, die rot karierten Decken, die Topfpflanzen und der polierte Tresen traten in den Hintergrund und verschwammen. Als würde morgens um sieben ein Raumschiff über Bochum-Stahlhausen schweben und mich aus Molles gemütlich-schmuddeliger Kneipe herausbeamen.
Der Krieg war erklärt.
Es war höchste Zeit gewesen. Seit Danner mir ins Gesicht gesagt hatte, dass ich ein Opfer häuslicher Gewalt war, hatte das Wissen, dass ich meinen Vater ungestraft davonkommen ließ, an meinem Ego genagt.
Nun würde mein Vater in seiner Wut vermutlich ganz Bochum in Schutt und Asche legen.
Die Polizistin hatte ihren fahrbaren Drehstuhl um den Schreibtisch herumgerollt und mich erwartungsvoll angesehen.
Ich hatte die langen Ärmel meines dünnen, dunklen Shirts über meine Hände gezupft.
Ich erinnere mich an einen Schädelbasisbruch mit sechs, drei Rippenbrüche mit zehn, den rechten Arm mit zwölf, zwei Rippen mit dreizehn, den Kiefer mit fünfzehn.
Ich hatte bemerkt, dass Danner mich anstarrte, und innegehalten.
Klar hatte er in dem Dreivierteljahr, in dem wir mittlerweile miteinander schliefen, geschnallt, dass meinem Vater oft die Hand ausgerutscht war. Ins Detail zu gehen, hatte ich jedoch vermieden. Weil ich nämlich auf keinen Fall wollte, dass Danner mich auf genau diese Weise ansah. Wie einen Welpen, dem nach der Rettung aus dem Tierlabor ein Bein fehlte.
Vor zwei Jahren musste der Kiefer noch mal nachgeschraubt werden, hatte ich dann doch weiter berichtet.
Außerdem …
Ich hatte Luft geholt.
… außerdem habe ich das Gefühl, dass ich mich an einiges gar nicht erinnern kann.
Das war die Untertreibung des Tages gewesen. Die Lücken fraßen sich durch mein Gedächtnis wie schwarze Löcher durchs Universum. Sie hatten keinen Anfang und kein Ende, und wenn ich mich zu dicht an ihren Rand wagte, würden sie mich einsaugen und verschlucken.
Dass ich meinem eigenen Erinnerungsvermögen nicht vertrauen konnte, beunruhigte mich am meisten. Einige Dinge aus meiner Vergangenheit hatten sich eingebrannt, als hätte jemand glühende Zigarettenstummel in den Windungen meines Gehirns ausgedrückt. Zum Beispiel die Worte, die der Arzt hinter der angelehnten Tür zu meiner Mutter gesagt hatte, als ich mit sechs mit dem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
Entdecken wir beim Röntgen etwas Auffälliges, müssen wir ein CT vom Schädel Ihrer Tochter machen, Frau Simanowski-Ziegler. Wir haben ihr vorsichtshalber schon mal etwas zur Beruhigung gegeben, denn die Injektion von Kontrastmittel ist bei so kleinen Kindern erfahrungsgemäß schwierig. Im schlimmsten Fall müssen wir rasch eine Notoperation veranlassen. Bei einer starken Blutung oder Schwellung des Gehirns wird ein Stück Schädeldecke entfernt, um der betroffenen Region Platz zu verschaffen.
Andererseits konnte ich nicht ansatzweise schätzen, wie oft mein Vater zugeschlagen hatte. Einmal pro Woche? Einmal im Monat? Täglich?
Die Gedankenfetzen verengten sich auf aufeinandergepressten Kiefern und einer geballten Faust. Keine Ahnung, wie oft ich im Krankenhaus gewesen war. Die Knochenbrüche konnte ich einigermaßen aufzählen. Die Gehirnerschütterungen? Keine Chance.
Und dann gab es noch Bilder, die ich überhaupt nicht zuordnen konnte.
Meine Mutter liegt auf dem Bauch. Bewegungslos. Auf den hellen Fliesen der Küche. Ihr blondes Haar verdeckt ihr Gesicht. Ich wage nicht, sie zu berühren.
Ob mein Vater meine Mutter ebenfalls geschlagen hatte? Erinnern konnte ich mich nicht daran. Vielleicht war sie auch besoffen umgekippt. Oder hatte ich die Szene am Ende bloß geträumt? Wie konnte es sein, dass ich das nicht wusste?
Das kann vorkommen bei Opfern häuslicher Gewalt, hatte die Polizistin mich beruhigt. Na klasse.
Seit ich in Bochum war, kam mir mein altes Leben weit weg vor. Wie ein verblassender Albtraum an diesem sonnigen Julimorgen. Doch die Narbe an meinem Kinn warnte mich davor, die Wut meines Vaters zu unterschätzen.
Die Polizistin hatte von ihrem Protokoll aufgesehen.
Wie heißt Ihr Vater?
»Lila? Alles okay?«
Molles gutmütige, brummige Stimme holte mich zurück an den Tisch an der Theke in der Kneipe in Bochum-Stahlhausen.
»Sorry.« Ich konzentrierte mich auf die Wollfransen der alten Tischdecke zwischen meinen Fingern, den Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee, die kalten Fliesen unter meinen nackten Füßen. Ich zwang mich zurück in unsere Kneipe und drängelte die Polizistin aus meinem Kopf. »War in Gedanken.«
»Du hast alles richtig gemacht, Schätzchen.« Molle strich mir durch die blonden Haarfransen, während er seinen Bauch an mir vorbeiquetschte. Seine wuschelige, kleine Promenadenmischung Mücke wuselte hinter ihm her. Der Wirt stellte eine fleckige Kaffeekanne auf den Tisch. »War allerhöchste Zeit, den Mistkerl anzuzeigen.«
Erst jetzt merkte ich, wie verkrampft mein Nacken war. Ich versuchte, locker zu lassen, wusste aber plötzlich nicht mehr, wie das ging. Ich zwang mich, den dicken Kneipenwirt anzusehen. Wie immer trug er eine schmuddelige Schürze, die Stoppeln an seinem Kinn waren zu einem grauen Bart gewachsen, er musste sich seit Wochen nicht mehr rasiert haben. Und weil der gleichfarbige Haarkranz um seine Glatze herum mittlerweile bis auf seine Schultern herunterfusselte, trug er neuerdings Zopf. Mit der halbmondförmigen Lesebrille auf der knubbeligen Nase erinnerte er an den Weihnachtsmann nach einer durchzechten Nacht. Normalerweise hatte Molle die gleiche Wirkung auf mich wie eine Tasse Entspannungstee.
Heute nicht.
Molle entging das nicht, er verfügte über verlässliche Antennen.
»Schiss brauchst du nicht zu haben«, munterte er mich auf. »Immerhin pennt zwischen dir und der Wohnungstür ein Kriminalkommissar als Wachhund auf dem Sofa.«
Möglicherweise war das einer der Gründe, die meinen Vater davon abgehalten hatten, mir in meinen Träumen aufzulauern. Es hatte ein paar Augenblicke lang gedauert, bis die Polizeibeamtin die Tragweite der Information erkannt hatte, dass ich Konstantin Alexander Simanowski, Oberstaatsanwalt im Bezirk Hannover, angezeigt hatte.
Aber trotz der Tatsache, dass ich mich ab heute nirgends mehr sicher fühlen würde, hatte ich in unserer unaufgeräumten Dachgeschosswohnung, zwei Stockwerke über der Kneipe, einigermaßen ruhig geschlafen.
Jetzt war es der ›Wachhund‹, der mich aus meinen Gedanken zurück in die Gegenwart holte, indem er hereingeschlurft kam.
Kriminalhauptkommissar Lennard Staschek, der Chef der Bochumer Mordkommission, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Schlank war er schon immer gewesen, aber jetzt hatte er so stark abgenommen, dass seine Haut zu groß für ihn geworden zu sein schien. Die Spätfolgen ausgedehnter Solariumbesuche zerknitterten sein normalerweise attraktiv gebräuntes, schmales Gesicht erschreckend. Sein kastanienfarbenes Haar hatte in den letzten Wochen borstige, graue Strähnen bekommen, seine sonst so geschmeidige Fönwelle wirkte ungekämmt und struppig.
Aber wirklich gruselig war, dass Staschek offensichtlich nicht mehr in der Lage war, ein optisch einigermaßen unbedenkliches Outfit zusammenzustellen. Seinen ehemals kastanienfarbenen Kaschmirpullunder hatte er definitiv zu heiß gewaschen und unter dem verfilzten Saum ragte ein Feinrippunterhemd hervor.
Ich rieb mir die Stirn, als der Polizeichef sich mir gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ, weil er nicht neben mir sitzen wollte.
Seine Abneigung war nachvollziehbar, er war immer noch sauer auf mich. Denn dass ihm sein Privatleben um die Ohren geflogen war wie ein Ei in der Mikrowelle, verdankte er im Wesentlichen – nun ja – mir. Nicht einmal unabsichtlich hatte ich seine Ehe in die Luft gejagt. Im Auftrag meiner besten Freundin Lena hatte ich ihn bespitzelt, weil sie dummerweise gleichzeitig seine Tochter war. Dank mir hatte seine Familie Kenntnis davon, dass Staschek sich von seiner Vorgesetzten, der Polizeipräsidentin persönlich, widerstandslos hatte befummeln lassen, weil er seine Karriere nicht gefährden wollte.
Infolgedessen wohnte der schlecht gelaunte Kripochef seit mittlerweile drei Wochen auf unserem durchgesessenen Sofa.
Mein schlechtes Gewissen hielt sich allerdings in Grenzen. Immerhin hätte Staschek der blöden Schlampe ja auf die Finger hauen können. Dass ich meine Meinung zu diesem Thema ein- oder zweimal hatte durchblicken lassen, hatte die Stimmung in unserer merkwürdigen WG nicht verbessert.
Molle betrachtete den Kommissar über seine Lesebrille hinweg. Dann erhob er sich seufzend, verschwand in der Küche und fing an, mit Geschirr zu klappern.
Ich blieb allein mit dem grimmigen Kommissar zurück. Plötzlich fühlte ich mich nackt und zog die Beine unter Danners T-Shirt, das heute Morgen ganz oben auf dem Wäschehaufen vor unserem Bett gelegen hatte.
Weil meine beiden Mitbewohner länger im Bad brauchten als ich selbst und es im Hochsommer sogar um sieben Uhr früh nicht wirklich kalt war, war ich barfuß und nur mit einem Schlüpfer und Danners Shirt bekleidet zu Molle hinuntergeschlichen, um mir den ersten Kaffee zu schnorren.
Staschek musterte mich mürrisch.
Ich beobachtete meinerseits schweigend, wie sich seine Kaumuskulatur unter der zerknitterten Haut seiner hohlen Wangen wölbte. Bis zu einem gewissen Punkt verstand ich, dass er in Panik geraten war, als er die nächste Scheidung auf sich zukommen sah. Doch seit er mir eine gescheuert hatte, um zu verhindern, dass ich meine Ermittlungsergebnisse ausplauderte, hielt ich Sicherheitsabstand.
Ohne den Kriminalkommissar aus den Augen zu lassen, schnappte ich mir die Zeitung von Molles Platz und gab Staschek nichts davon ab. Der schob den Unterkiefer vor. Ich senkte den Blick in die Zeitung. Er betrachtete nachdenklich die Thermoskanne auf dem Tisch.
»Wenn du darauf wartest, dass mir Engelflügelchen wachsen und ich hinter die Theke flattere, um dich zu bedienen, wirst du hier noch hocken, wenn ich längst in der Hölle schmore«, informierte ich ihn, ohne vom Lokalteil aufzusehen.
Staschek gab ein Knurren von sich, erhob sich dann aber tatsächlich und schlurfte kraftlos hinter die Theke, um sich selbst eine Tasse zu besorgen.
Sein Telefon klingelte zeitgleich mit der altmodischen Glocke über der Kneipentür, die hinter Danner ins Schloss fiel. Eine Sekunde lang tauchten unsere ineinander verschränkten Finger in meiner Erinnerung auf. Mein Herz hopste wie bei einem in den Deutschlehrer verknallten Teenager, wenn die Klassenzimmertür aufgeht.
Danner trug wie immer Schwarz. Jeans und das ärmellose Shirt von gestern. Er zwinkerte mir zu, als er zu Staschek trat, um sich ebenfalls eine Kaffeetasse zu organisieren.
»Aha …«, murmelte Staschek in sein Handy. »In Ordnung, ich schicke Ihnen die Kollegen …«
Danner deutete fragend auf den Kommissar.
Weil ich keine Ahnung hatte, worum es in dem Telefonat ging, zuckte ich die Achseln.
»Und die Spurensicherung«, sagte Staschek in dem Moment. Prompt hielt Danner sein Ohr an die Rückseite des Telefons und versuchte zu lauschen. Staschek schnitt eine Grimasse und drehte sich weg.
»Tatsächlich?«, sprach er weiter. »Wie heißt das?«
Er klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter, riss einen Zettel von Molles Bestellblock und wühlte einen Kugelschreiber aus einer Schublade.
»Youtube? Ja, sagen Sie mal an. – Gut, ich gebe das an die Kollegen weiter.« Staschek beendete das Gespräch.
»Sag nicht, du hast pünktlich zum Dienstbeginn eine Leiche, damit die Kollegen nicht faul im Büro rumlungern müssen?«, witzelte Danner.
»Sieht auf den ersten Blick nach einem Unfall aus …« Staschek drängelte sich mit dem Zettel und einer Tasse in der Hand an Danner vorbei. »Anscheinend sind ein paar junge Leute besoffen auf einen Baukran geklettert und einer ist abgeschmiert. Vor dem Unfall ist offenbar noch ein Video der Kletterpartie im Internet hochgeladen worden. Laut der Kollegin ist das so was wie ein neuer Trendsport …«, er warf einen Blick auf seine Notizen. »Roofing nennt es sich, wenn man auf einem hohen Gebäude herumlungert und sich dabei filmt. Allerdings ist auf dem Internetvideo wohl auch zu sehen, dass sich die Kids auf dem Kran in die Haare gekriegt haben.«
»Und das habt ihr alles rausgefunden, noch bevor Schnabelnase und Rambo überhaupt vor Ort sind?«, wunderte sich Danner.
»Wenn der Kollege Mahlmann mitbekommt, was für niedliche Spitznamen ihr euch habt einfallen lassen, jagt er euch mit seinem Buschmesser zwischen den Zähnen in den Dschungel.« Staschek füllte seine Tasse. »Die Kollegin Schiller von der Schutzpolizei ist ziemlich engagiert«, erklärte er dann aber doch, während er sich wieder mir gegenüber auf den Stuhl setzte. Er nahm die Kaffeetasse in die linke Hand und mit der Rechten das Handy ans Ohr.
»Morgen, Katrin. Auf der Baustelle an der Uni liegt eine Leiche. Sieht auf den ersten Blick nach einem Unfall aus, übermütige Jugendliche. Aber angeblich existiert ein Internetvideo, worauf zu sehen ist, dass es auf dem Kran, von dem der Tote offenbar gestürzt ist, Streit gab. Also seht euch das mal an und die Spurensicherung soll sich Mühe geben. – Hast du was zu schreiben? – Dann notier dir mal die Internetadresse, unter der du die Videoaufnahme findest.«
Ich reagierte prompt und zückte mein Smartphone.
Während Staschek Kriminalkommissarin Katrin ›Schnabelnase‹ Wegner erklärte, wo sie das Video finden konnte, tippte ich die digitale Adresse gleich in die Eingabemaske der Internetsuchmaschine.
Staschek bemerkte es und machte ein Gesicht, das mir verriet, dass er mir das Telefon gern aus der Hand geschlagen hätte. Danner schob mit dem Bein seinen Stuhl näher an meinen heran, während er sich Kaffee einschenkte.
Als Staschek das Telefongespräch beendet hatte, zeigte das Display meines Smartphones bereits das Video. Ich drehte das Gerät quer, damit das Bild größer wurde.
Die verwackelte Aufnahme war in der Abenddämmerung entstanden, also ziemlich spät, denn es war Hochsommer. Ich erkannte eine Stahlkonstruktion vor dramatisch aufgetürmten lila Wolken. Eine steile Leiter führte zwischen roten Streben aufwärts. Direkt vor der Kamera bewegte sich ein – Gesäß? Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass der Hobbyfilmer die Kamera auf seinem Kopf montiert und seinem Vordermann beim Hinaufklettern auf den Arsch geglotzt hatte. Besser gesagt, seiner Vorderfrau. Es handelte sich eindeutig um ein weibliches Gesäß. Und bei dem Kameramann handelte es sich eindeutig um einen Idioten.
Die nächste Szene zeigte Grobi. Dunkel erinnerte ich mich an das blaue Plüschmonster aus dem Kinderfernsehen. Normalerweise war es mit Bibo, dem depressiven Riesenstorch, und Mülltonnenbewohner Oscar in der Sesamstraße unterwegs. Tja, gestern Nacht war Grobi offensichtlich auf der Baustelle an der Uni gewesen. Neben dem Sesamstraßenmonster lehnte ein Sensenmann lässig an einer Art durchsichtiger Kabine, dem Führerhäuschen des Krans vermutlich. Hinter ihm formten sich die Wolkenberge, die weite Kapuze, unter der der Typ seinen Totenschädel verbarg, flatterte im Wind. Nur die Sense hatte er zu Hause gelassen.
»Unser Bunny hat Schiss«, lästerte jemand im Off.
Die Kamera schwenkte auf einen Plüschhasen mit Schlappohren, Filznagezähnen und weißen Schnurrhaaren. Tatsächlich handelte es sich um eine komplett schwarz gekleidete Frau – oder einen echt überzeugenden Transvestiten – mit einer eindeutig weiblichen und ziemlich guten Figur. Die alberne Maske trug sie wahrscheinlich, genau wie Grobi und der Sensenmann, damit ihr Gesicht auf dem Video nicht zu erkennen war. Das Karnickel sah aus, als wollte es den Mount Everest besteigen: Über dem figurbetonten, dunklen Sportdress spannte sich rotes Nylongurtzeug. Der Film zeigte jetzt, wie der Hase ein Sicherungsseil am Kran einklinkte.
»Ratte hat nie Angst.«
Die Kamera schwenkte von dem blauen Plüschmonster und dem Sensenmann weg auf die Umgebung.
»Oh«, machte ich, als drei weitere, riesenhafte Baukräne aus rot gestrichenem Stahl im Bild erschienen. Dahinter standen mehrere gewaltige Gebäudeklötze militärisch präzise aufgereiht. Man konnte auf ihre Dächer hinuntersehen.
»Die Ruhr-Uni«, kommentierte Danner im Tonfall eines Stadtführers bei einer Busrundfahrt. »Gebaut wird gerade hinter der Fakultät für Bauwissenschaften, glaube ich.«
Die Kamera filmte abwärts, an den Markenturnschuhen des Hobbyregisseurs vorbei durch einen schmalen Drahtgittersteg in den schwindelerregenden Abgrund.
»Großer Gott.« Staschek war hinter uns getreten und sah mir über die Schulter.
Das Display zeigte nun den irrwitzig langen Ausleger des Krans. Der Wind drehte ihn, das erkannte ich, weil sich der nächste Kran im Hintergrund von links nach rechts durchs Bild bewegte.
Vor den violetten Wolken hob sich die schwarz gekleidete Silhouette, die freihändig auf dem Ausleger balancierte, gut erkennbar ab. Sie war breitschultrig, mit wenig Hals und leicht vom Körper abstehenden Armen.
Selbst in dem Minifilm erkannte ich, dass der Kerl kräftig war. Gewichtheber, tippte ich. Oder Schwimmer.
»Guck dir an, wie der Wind das Ding in Schwung bringt.« Danner deutete auf die Stahlskelette der anderen Kräne im Hintergrund. »Die Kräne werden nachts nicht festgestellt, damit sie sich bei ungünstigen Windverhältnissen drehen können und nicht umkippen.«
Die dunkle Gestalt im Bild stand inzwischen im Handstand – ungesichert, ganz am Ende des sich im Wind bewegenden Auslegers eines wirklich sehr, sehr, sehr hohen Krans.
Offensichtlich ein Lebensmüder.
»Die haben eine Macke«, stöhnte Staschek.
»Krass, Alter!« Weil die Stimme ziemlich deutlich zu verstehen war, vermutete ich, dass sie zu der Person mit der Kamera auf dem Kopf gehörte. Eine männliche Stimme.
In Gedanken zählte ich nach: Grobi, der Sensenmann, der angehende Dokumentarfilmer, Bugs Bunny und der Lebensmüde mit den breiten Schultern. Heute Nacht waren mindestens fünf Leute auf dem Kran gewesen.
»Du bist dran, Grobi!«
Der Lebensmüde hatte seine Turnübungen beendet und kam mit energischen Schritten auf die wartende Gruppe zu. Sein Gesicht tauchte im Bild auf: die blutverschmierte Fratze einer Riesenratte mit ausgefransten Ohren und verzerrt aufgerissenem Maul. Sie stürzte auf die Kamera zu wie in einem Horrorfilm. Einen Sekundenbruchteil brauchte ich, um zu schnallen, dass auch die Nagerfratze des lebensmüden Turners aus Gummi bestand. Der Typ bewegte sich nicht annähernd so vorsichtig, wie ich es in Anbetracht des schmalen Steges und der Höhe für nötig gehalten hätte.
»Was ist? Scheißt du dir etwa in die Hose?«
Der aggressive Nager ging auf das Plüschmonster los. Seine verwackelte Silhouette bestätigte meinen ersten Eindruck: Der Kerl war unwahrscheinlich kräftig.
»Oder dachtest du, ich kneife, weil es heute ein bisschen wackelt?«
Der Freak war mächtig sauer. Und er ballte die Fäuste auf eine Art, die mir verriet, dass er bereit war, sie auch zu benutzen. »Nimm das Ding weg!«, fuhr die Ratte den Kameramann an und riss sich wütend die Maske vom Gesicht.
»Du hast mal wieder eine große Fresse, aber keinen Arsch in der Hose, was?«
Der Dokumentarfilmer wich zurück. Für einen Augenblick tauchte das wutverzerrte Gesicht des lebensmüden Möchtegernstuntmans in Nahaufnahme im Handydisplay auf.
»Wie kommt ein Weichei wie du eigentlich drauf, hier das Sagen …«
»Noch mal zurück«, sagte Danner.
Im gleichen Moment war das Video zu Ende. Der Film brach ab, als die Ratte auf Grobi losging.
Danner tippte an mir vorbei auf den Bildschirm und schob den Balken, der die Abspieldauer des Videos anzeigte, ein Stück zurück.
Wieder kam die Gruselgestalt im Halbdunkel auf den Kameramann zu. Wie in einer typischen Szene aus Filmen mit Namen wie Invasion der Monsterratten oder Das Grauen aus dem Kanal, Teil siebzehn.
Nachdem der Typ sich die Maske vom Kopf gezogen hatte, tippte Danner erneut das Bild an und das Video stoppte.
Die viereckige Form des Gesichtes verstärkte sich durch die heruntergezogenen Mundwinkel, den tief auf die Augen gedrückten Brauenbalken und einen dünn rasierten, um das kantige Kinn laufenden Backenbart. Der linke Oberarm war in dieser Sequenz mit ins Bild gerückt – und mit ihm eine extrem scheußliche Tätowierung: eine blutverschmierte Rattenfratze, mindestens genauso grässlich wie das Gummigesicht, dass der Lebensmüde eben noch getragen hatte.
»Okay, der sieht wirklich so aus, als würde er gleich irgendwen vom Kran schmeißen«, fand ich.
»Wer schmeißt wen vom Kran?« Molle kam mit einem vollgepackten Tablett aus der Küche. Honig, Marmelade, Nutella, Käse, Schinken, Eier und ein duftender Korb frisch aufgebackener Brötchen.
Ich liebte den Dicken.
Danner drückte das Video weg.
»Lennys neuester Kunde«, erklärte er. »Sind mal wieder ein paar Spinner auf einer Baustelle rumgeklettert und einer ist anscheinend abgestürzt.« Er stand auf. »Wir fahren da aber trotzdem mal eben vorbei, Alter«, informierte er Staschek.
Der sah erstaunt von seinem Kaffee auf: »Tatsächlich?«
»Ja. Schmier dir ’ne Stulle und dann ab.«
Der Erste Kriminalhauptkommissar gehorchte irritiert und verbrannte sich die Finger an einem ofenheißen Brötchen.
»In einer halben Stunde sind wir wieder da«, winkte Danner ab, als ich meine nackten Füße musterte und überlegte, ob ich jetzt nach oben in unsere Wohnung flitzen und in meine Jeans springen sollte.
Sekunden später bimmelte die Kneipentür hinter Staschek und Danner zu und weg waren sie.
Na toll.
»Na toll«, murrte auch Molle mit Blick auf den fürstlich gedeckten Frühstückstisch. »Morgen gibt’s Müsli. Was ist denn so spannend an dem lebensmüden Spinner?«
Das hätte ich allerdings auch gern gewusst.
Ich kratzte mich am Kinn.
Irgendwas stimmte da nicht. Ohne dass ihn jemand dafür bezahlte, kam Danner normalerweise nicht auf die Idee, sich vor dem Frühstück eine Leiche anzusehen. Hatte er auf dem Video irgendetwas entdeckt, das auf einen Mord hindeutete?
Glücklicherweise speicherte mein Smartphone die angesehenen Internetseiten, sodass ich nun einfach die zuletzt eingegebene Adresse anklicken musste. Schon erschien das Video erneut auf dem Display.
Wieder war die direkt in die Wolken führende Stahlkonstruktion zu sehen. Und der Hintern.
»Unser Bunny hat Schiss!«, feixte einer der Adrenalinabhängigen wieder.
»Ratte hat nie Angst«, entgegnete der Kameramann.
Molle rutschte seinen Stuhl schnaufend an mich heran. Ich bemerkte, dass der Dicke nach Hund und fettigen Haaren roch. Bei Molle war mir die Tendenz zur Verwahrlosung schon länger aufgefallen. Was mir herzlich egal war. Ich lehnte mich an seine Schürze und drehte das Handy so, dass er mit auf das Display sehen konnte.
»Meine Güte«, murmelte Molle, als der Lebensmüde seinen Handstand vorführte. »Kein Wunder, dass der abgeschmiert ist.«
»Gleich kommt die Stelle, an der Ben irgendwas aufgefallen sein muss.« Ich wartete, bis sich der Typ die Gummifratze vom Gesicht zog und in Nahaufnahme zu sehen war. An der Stelle stoppte ich das Bild. Ohne Maske war sein Gesicht nicht wesentlich weniger gruselig.
»›Ratte‹ sagen sie zu ihm, das passt so gut, dass er sich seinen Spitznamen gleich hat tätowieren lassen«, ulkte ich. Erst ein paar Augenblicke später wunderte ich mich darüber, dass Molle nicht antwortete.
Als ich mich nach ihm umsah, war das Gesicht des Dicken aschgrau – bis auf einen dreieckigen Bereich zwischen Nasenspitze und Mundwinkeln, der sich schlagartig weiß gefärbt hatte. Im gleichen Moment registrierte ich seine rechte Hand auf seiner Brust. Seine Finger krallten sich in seine Schürze.
Mir wurde eiskalt!
»Molle?« Ich sprang auf. »Alles okay?«
Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Molle öffnete den Mund und holte röchelnd Luft: »Nee, ich glaube …«
»Mach keine Scheiße!« Ich packte ihn an den Schultern. »Hörst du?«
Molle griff nach der Tischkante, als sein Oberkörper nach vorn sank. Wie in Zeitlupe sah ich ihn zur Seite kippen.
Ich konnte ihn unmöglich halten! Ich sprang neben ihn und stemmte meine Schulter gegen seine Brust, aber weil Molle – noch freundlich geschätzt – drei Zentner auf die Waage brachte, hatte ich keine Chance.
Der Dicke verlor das Bewusstsein. Sein massiger Körper rutschte schlaff vom Stuhl, sein kleiner schwarzer Hund sprang, erschrocken kläffend, zur Seite. Ich schaffte es eben noch zu verhindern, dass Molles Kopf ungebremst auf die Fliesen knallte.
Dann lag er bewegungslos vor mir auf dem Kneipenboden.
Scheiße! Eine Sekunde lang weigerte sich mein Gehirn, das zu verarbeiten.
Der Hund winselte.
Endlich tauchte ein erster Gedanke aus der Leere in meinem Kopf auf: Krankenwagen!
Handy!
Notruf!
Bewusstlose Person, Kneipe, Annastraße 28!
»Atmet der Patient?«, wollte die Stimme am anderen Ende der Leitung wissen.
»Keine Ahnung«, piepste ich.
»Bleiben Sie ruhig! Ich schicke Ihnen einen Rettungswagen. Wenn Puls und Atmung fehlen, beginnen Sie unverzüglich mit der Herzdruckmassage! Haben Sie mich verstanden?«
Herzdruckmassage!
Klar.
Ich ließ das Handy sinken.
Das war nicht das erste Mal, dass ich dabei war, wenn jemand das Bewusstsein verlor. Eigentlich wusste ich, was ich tun musste.
»Du stirbst hier nicht, Molle!«, fuhr ich den Dicken an, knallte neben ihn auf die Knie und hielt mein Ohr an seinen Mund. Nichts.
»Hast du mich gehört?«
Ich tastete an seinem Hals nach einem Puls – was bei einem korpulenten Menschen gar nicht so einfach war. Als ich nichts spürte, stemmte ich mich gegen seine Schulter, sodass er auf den Rücken kippte und legte das Ohr auf seine warme Brust.
Bupp, machte sein Herz.
Dann war Ruhe.
»Fuck!«
Ruhe war nicht gut!
Brustbeinspitze, zwei Finger drüber, oder wie viele? Egal.
Ich legte die Hände übereinander auf Molles Brustkorb und stützte mich mit vollem Gewicht auf ihn.
»Du – stirbst – nicht – ka – piert?«, schrie ich ihn an, während ich versuchte, das Blut aus seinem Herz in seinen Kreislauf zu pressen, indem ich mit meinem vollen Körpergewicht seinen Brustkorb zusammendrückte. Molles Hündin knurrte mich an, ich achtete nicht darauf.
Beatmet werden musste er auch, fiel mir ein.
Wie ging das?
Mund-zu-Nase.
Mein Blick fiel auf Molles große Nasenlöcher, aus denen lange, harte Haare wuchsen.
Na ja, Mund-zu-Mund-Beatmung hatte wohl auch lange Zeit funktioniert.
Also Nase zuhalten.
Fest presste ich meinen Mund auf Molles leblose Lippen und pustete dem Dicken so viel Luft, wie ich konnte, in die Lungen. Tatsächlich schien sich sein mächtiger Brustkorb ein wenig zu heben.
Okay.
Weiter.
Herzdruckmassage.
Keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis endlich das zuckende Blaulicht vor den Kneipenfenstern auftauchte und die Tür aufgerissen wurde.
»Gut gemacht«, sagte ein kräftiger Sanitäter zu mir und schob mich zur Seite. »Jetzt lassen Sie uns mal ran.«
Wie in Trance taumelte ich rückwärts. Meine Haare kringelten sich vor Schweiß, meine Arme fühlten sich an wie aus Pudding, meine Knie bebten.
»Wie ist sein Name?«
Es dauerte eine Sekunde, bis ich merkte, dass ich was sagen sollte.
Molles Name?
Der kräftige Sanitäter sah mich durch eine runde Brille mit dicken Gläsern an.
»Äh – Jochen«, stammelte ich. »Jochen Schröder. Das hier ist seine Kneipe.«
»Und sind Sie mit ihm verwandt?«
Glücklicherweise begann mein Gehirn auf dieses Stichwort hin wieder zu arbeiten.
»Er ist mein Vater«, schwindelte ich hastig.
»Gut, Frau Schröder. Im Moment haben wir einen schwachen Puls.«
Mir schossen Tränen in die Augen.
»Wir versuchen, ihn zu stabilisieren. Wenn der Notarzt gleich auftaucht, werden wir ihn, so schnell es geht, ins Krankenhaus bringen. Falls Sie mitfahren wollen, sollten Sie sich jetzt eine Hose anziehen.«
3.
Hinterwandinfarkt.
Hinterwandinfarkt.
Hinterwandinfarkt.
Das Wort pochte in meinem Kopf. Das war ein Herzinfarkt. Herzinfarkt! Daran starben Menschen. Oft.
Mach bitte keine Scheiße, Molle!
»Im Moment scheint der Zustand Ihres Vaters einigermaßen stabil«, hatte mir ein pummeliger junger Notarzt mit osteuropäischem Akzent erklärt, während die Sanitäter Molle auf der fahrbaren Trage in die Notaufnahme schoben. »Ob eine Notoperation nötig ist, kann ich Ihnen aber erst sagen, wenn Untersuchungsergebnisse vorliegen oder er zu Bewusstsein kommt. Am besten drücken Sie ihm ganz fest die Daumen.«
Damit war er hinter einer schweren Tür verschwunden und hatte mich allein im Flur stehen lassen.
Es hatte ein paar Minuten gedauert, bis ich auf einen orangefarbenen Sitz in einer kurzen Reihe bunter Stühle an der Wand gesunken war.
Und noch mal ziemlich lange, bis ich das leise Summen meines auf lautlos gestellten Telefons in meiner Hosentasche registrierte.
Danner verriet mir das Display.
»Ben?«
»Lila?«
»Ja.«
O Gott, wie sollte ich ihm das beibringen?
»Mann!«, schnauzte Danner mich an. »Die Tür steht offen, die Kneipe ist verwüstet und du bist weg! Wenn dich dein durchgeknallter Bruder nicht entführt hat, solltest du dir ganz schnell eine Erklärung einfallen lassen!«
Hinterwandinfarkt, hämmerte es in meinem Kopf.
Glücklicherweise begriff Danner, wenn er sich Mühe gab, auch ohne lange Erklärungen.
»Was ist passiert?«
Das Wort steckte in meiner Kehle fest, ich hatte das Gefühl, daran zu ersticken.
»Wo bist du?«
»Krankenhaus. Bergmannsheil. Notaufnahme.«
»Ich bin gleich da.«
Danner war kreidebleich, als er sich neben mich auf einen grünen Plastiksitz sinken ließ. Wahrscheinlich traf der Schreck ihn noch viel schlimmer als mich. Irgendwie war Molle ja der große Bruder, den Danner nie gehabt hatte. Die beiden waren zusammen aufgewachsen. Und als Danners Verlobung spektakulär geplatzt war, hatte Molle ihm Asyl gewährt und ihm sein Dachgeschoss vermietet.
»Im einen Moment haben wir uns das Video angesehen und im nächsten Augenblick …« Ich zuckte hilflos die Schultern.
»Video?« Danner starrte mich an.
»Alzheimer?« Ich hob fragend die Hände. »Das Video, das du dir auch angesehen hast, um dann gleich mit Lenny zur Baustelle zu rennen.«
Danner ließ wortlos das Gesicht in die Hände sinken.
»Euch ist doch irgendwas aufgefallen«, hakte ich nach. »Da war was Verdächtiges zu erkennen, oder etwa nicht?«
Er rieb sich über die Glatze.
»Ben?«
»Ich bin ein Idiot.«
Ich runzelte die Stirn.
Danner kramte sein eigenes Smartphone aus der Hosentasche und holte mit wenigen Klicks das Video auf das Display.
»Mir ist was aufgefallen«, murmelte er. »Lenny hat immer noch keinen Schimmer, warum ich mir unbedingt die Leiche eines lebensmüden Spinners ansehen wollte.«
Danner spulte den Kurzfilm vor, bis das Bild wieder den wütenden Nager zeigte, der kurz zuvor den lebensgefährlichen Handstand gemacht hatte.
Mittlerweile sah ich zum dritten Mal, wie der Typ sich die Maske vom Gesicht zog, und noch immer fiel mir – außer dem ausgesprochen geschmacklosen Tattoo – rein gar nichts daran auf.
»Und?«
»So sah Molle mit zwanzig aus«, sagte Danner.
Wie bitte?
Zum zweiten Mal innerhalb sehr kurzer Zeit reagierte mein Gehirn, als hätte man es mithilfe eines nicht gerade schwachen Stromstoßes lahmgelegt.
»Nicht so ähnlich oder ungefähr, sondern ganz genau so.« Danner wartete, bis ich begriff.
Ich schluckte: »Soll das heißen, Molle ist umgekippt, weil …?«
»… weil er seinen Sohn auf dem Video erkannt hat«, vollendete Danner meinen Satz. »Natürlich hat er sofort geschnallt, wer das ist. Das ist unmöglich zu übersehen.«
Molle hat einen Sohn?
Molle hat einen verdammten Sohn?
Ganz langsam wich meine Lähmung einer heißen Welle von Wut, die irgendwo in meinem Bauch anfing zu brodeln und dann gefährlich schnell hochschwappte.
»Und warum hat mir in dem knappen Jahr, das ich bei euch stimmbandamputierten Kommunikationsallergikern wohne, niemand auch nur einen winzigen Hinweis darauf gegeben, dass Molle einen Sohn haben könnte?«, fauchte ich Danner an. »Dann hätte ich ihm das verdammte Video nämlich möglicherweise nicht unter die Nase gehalten und mich gewundert, dass er vor Schreck stirbt!«
Ich hielt inne, weil Danner zusammenzuckte.
»Sorry«, murmelte er schließlich.
»Frau Schröder?« Eine stämmige Ärztin, deren hochrotes Gesicht vermuten ließ, dass sie selbst unter einem hohen Blutdruck litt, sah mich abwartend an.
Ich richtete mich auf: »Ja?«
»Ihr Vater ist zu sich gekommen.«
Die Erleichterung ließ meine Angst abplatzen wie einen zu engen Panzer.
»Sie können mit ihm sprechen.«
Danner und ich sprangen gleichzeitig auf.
»Sind Sie denn auch mit Herrn Schröder verwandt?«, fragte sie Danner streng.
»Sein Bruder«, log er, ohne zu zögern.
Molle lag in einem von blinkenden Monitoren umstellten Pflegebett. Das Kopfteil war so weit erhöht, dass er halb saß. Ein Schlauch steckte in seiner Nase, ein anderer in seiner Ellenbeuge. Unzählige Kabel waren an seine Finger geklemmt oder verschwanden unter dem dünnen OP-Hemdchen, das seinen Bauch nur notdürftig bedeckte.
Aber immerhin hob sich sein Gesicht farblich ein klein wenig von dem blütenweiß gestärkten Kopfkissen ab und ich atmete auf.
Ich flog auf sein Bett und drückte ihm einen Kuss in den weichen grauen Bart.
»Ihre Tochter hat sehr professionell reagiert, Herr Schröder«, erklärte die Ärztin, die ja selbst gar nicht dabei gewesen war.
Molle tätschelte mir schwer atmend den Rücken.
»Nicht zu lange«, sagte die Ärztin streng. »Herr Schröder darf sich auf keinen Fall aufregen oder anstrengen.«
Dann schlüpfte sie aus dem Zimmer.
Molles Blick hing an Danners Gesicht.
»Jo«, flüsterte er matt und Danner beeilte sich, neben mir ans Bett zu treten.
»Ist er …?« Molle schluckte trocken.
»Nein«, beeilte sich Danner, ihn zu beruhigen. »Ich kümmere mich um ihn. Ruh du dich einfach aus, in Ordnung?«
Molle hob den Kopf aus dem Kissen und versuchte, Danner einen strengen Blick über seine Brille hinweg zuzuwerfen. Doch man hatte ihm die Brille weggenommen und ohne sie klappte das nicht so richtig. Ein Monitor fing an zu piepen, weil der Pulswert in die Höhe schnellte.
»Lüg mich nicht …« Molle versuchte zu knurren.
»Einer von seinen Kumpeln ist abgeschmiert«, versicherte Danner hastig. »Ich habe die Leiche gesehen. Er war es definitiv nicht.«
Molles Finger zuckten, Danner sollte weiterreden.
Rasch griff mein Freund Molles verkabelte Hand und tätschelte sie beruhigend.
Ich biss mir auf die Zunge. Süß.
»Krieg aber nicht gleich den nächsten Herzinfarkt«, bat Danner eindringlich. »Oben auf dem Kran wollte Jonas einem seiner Kletterkollegen an den Kragen. Wenn es sich bei dem Toten um seinen Streitgegner handelt, steckt er in Schwierigkeiten. Die Wegner versucht sicher schon, ihn ausfindig zu machen.«
Molle ließ sich stöhnend zurück ins Kissen kippen.
Im nächsten Moment hob er den Kopf jedoch ruckartig wieder und starrte Danner an.
»Nicht …«, flüsterte Molle beschwörend.
Danner schüttelte den Kopf, als würde er wirklich verstehen, was Molle nicht auszusprechen schaffte.
Molle bewegte tonlos die Lippen: »Pass … auf.«
Danner salutierte mit zwei Fingern an die Schläfe und ich hatte das Gefühl, irgendwas nicht mitbekommen zu haben.
4.
Mit Mühe hielt ich meine Neugier zurück, bis die schwere Glastür mit dem Zahlenschloss und der Gegensprechanlage, die die Intensivstation abriegelte, hinter uns zugefallen war.
»Wo zum Teufel kommt ›Jonas‹ plötzlich her?«, platzte ich heraus, als wir in den Fahrstuhl stiegen. »Und was genau habt ihr da drin eben ›nicht‹ besprochen?«
Danner lehnte sich mir gegenüber an die Fahrstuhlwand, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich mit unbewegter Miene. Wahrscheinlich überlegte er, wie er sich um die Antworten herumdrücken konnte.
»Entschuldige, dass ich ein paar Worte brauche und mich nicht telepathisch verständige, wie anscheinend alle anderen um mich herum«, giftete ich gereizt. Als ich das Grübchen in seinen Bartstoppeln bemerkte, verstummte ich abwartend.
Danner rieb sich das Kinn. »Das ist eine längere Geschichte.«
»Wir haben nichts vor, oder?«, entgegnete ich.
»Doch«, widersprach Danner, »jetzt schon. Aber ich schätze, ich kann dich im Auto aufklären.«
»Molle ist zehn Jahre älter als ich«, begann Danner tatsächlich zu erzählen, als wir kurz darauf in unserem windschnittigen, aber klapprigen, schwarzen Oldtimer saßen und Danner den Wagen aus dem Klinikparkhaus kurbelte. »Nach der mittleren Reife hat er eine Ausbildung zum Koch absolviert. In einem Fünf-Sterne-Schuppen. Er hatte das ziemlich gut drauf, weißt du?«
Nein, hatte mir bisher ja keiner erzählt.
Danner fuhr nicht in Richtung Innenstadt, sondern bog in die Hattinger Straße ein. Wir fuhren nach Süden?
»Schon während der Ausbildung hat Molle an irgendwelchen Wettbewerben teilgenommen – die schönste Torte und so ’n Scheiß. Mit zweiundzwanzig war er Chef de Cuisine. Mit vierundzwanzig hat er sein eigenes Restaurant in der Innenstadt aufgemacht, irre viel Pacht bezahlt und noch unglaublichere Preise verlangt für Gerichte, von denen man beim Lesen der Speisekarte keinen Schimmer hatte, was man da bestellte.«
Klang absurd, wenn man Molle unrasiert in seiner schmuddeligen Schürze und seiner noch schmuddeligeren Kneipe Schnitzel Pommes servieren sah. Doch wenn ich einen Moment darüber nachdachte, war Molle als Sternekoch für mich nicht unvorstellbar.
»Und dann hat er Margorzata als Kellnerin eingestellt.«
Danner sagte ›Marrgorrschaata‹, woraus ich eine osteuropäische Herkunft schlussfolgerte.
»Polin«, bestätigte er. »Sie besuchte Verwandte, die als Bergarbeiter nach Bochum gekommen waren. Vom Servieren hatte sie null Ahnung. Kennst ja Molle.«
Ich nickte. Molles Einstellungskriterien für Kellnerinnen waren heute noch mysteriös.