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Ein magischer Sommer begründet die Freundschaft zwischen Martin und den Zwillingen Paul und Billie. Ihre Vertrautheit findet aber schon bald ein jähes Ende. Zwanzig Jahre nach diesem Sommer werden Paul, ein aufstrebender Regisseur, und der Archäologe Martin mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: Das zufällige Auftauchen eines ehemaligen Schulkameraden zwingt sie, sich nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch ihren Geheimnissen – ihrer Liebe, ihrem Hass, ihrer Schuld und ihrer Einsamkeit – zu stellen. Und alles führt immer wieder zu Billie und ihrem Verschwinden zurück. In Tiefen und Untiefen menschlicher Emotionen, mit Leidenschaften und Unbewältigtem konfrontiert Elisabeth Schmidauer ihre Helden – und ihre Leserinnen und Leser.
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Seitenzahl: 286
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ELISABETH SCHMIDAUER
Für Christine
Copyright © 2016 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Demurez Cover Arts/Trigger Image/David Ridley ISBN 978-3-7117-2038-2eISBN 978-3-7117-5328-1
Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at
Elisabeth Schmidauer, geboren 1961 in Linz, Studium der Germanistik und Geschichte, lebt und arbeitet in Wien. Mitglied des ur.theaters, Improvisationsschauspielerin im Theater Drachengasse in Wien. Im Picus Verlag erschien zuletzt ihr Roman »Das Grün in Doras Augen« (2015).
Am dunklenFluss
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
PROSPERO: Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.
WILLIAM SHAKESPEARE,Der Sturm (IV/1)
Sie lächelte. Der Rest ihres Lebens war auf ein paar Sekunden zusammengeschrumpft. Ihr Körper beschrieb einen Bogen, als er fiel. Die Anmut ihres Falls. Dann lag ihr zerbrochener Körper seltsam verdreht auf dem Eis. Ihr Gesicht war weiß und leer, in ihren Augen spiegelte sich der Himmel. Raben flatterten auf, schwarz, über kahlen Bäumen.
Ich hatte gewusst, wovon ich mich fernhalten musste. Von einem bestimmten Lächeln, einem Klang in einer Stimme, einer Sehnsucht. Nie mehr die Last eines anderen tragen, sagte ich mir, nie mehr schuldig werden am andern. Die Frauen, mit denen ich schlief, waren mir gleichgültig. Wir fielen ineinander und blieben uns fremd, das wollte ich so. Dann schien es, als könnte ich ein anderer sein. Ich lernte Olga kennen, das ging gut, ein paar Jahre lang. Ich konnte mit Olga sein, ohne mich erinnern zu müssen. Aber Olga ist gegangen, vielleicht hat etwas gefehlt. Keine Verwicklungen mehr, wusste ich wieder, keine Liebe, wozu. Und dann war plötzlich Luise da, in Griechenland, in meinem Schreibkurs.
»Ich bin so wohl bei dir, Luise«, habe ich gesagt – ich hätte wissen müssen, dass das gefährlich war.
Tage und Nächte mit Luise auf der Insel. »Wir passen doch gut zusammen«, sagte ich, dann waren es sieben Wochen, acht Wochen, dass wir uns kannten, wir waren zurück in Wien, und immer kam noch eine Woche dazu. Manchmal holte ich sie von der Schule ab oder wir fuhren wohin, ans Wasser, in was Grünes oder Buntes. Oder sie schaute im Theater vorbei, in den Probenpausen saßen wir im Café am Eck, alleine oder mit den anderen, im Park färbten sich die Blätter.
Ich habe alles weggeräumt, was mich an Luise erinnert. Fotos. Die Texte, die sie in Griechenland geschrieben hat. Die Bücher, die ich ihr nicht zurückgegeben habe. Ein T-Shirt. Ihre Zahnbürste. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter habe ich an dem Tag gelöscht, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe ihre Handynummer gelöscht, ihre Mails. Da ist nichts mehr, was mich an Luise erinnert.
Es waren neun Wochen, zehn Wochen, dass wir uns kannten. Wenn ich nicht im Theater war, war ich bei Luise oder sie kam zu mir. Wir haben gekocht, gegessen, wir sind im Garten gesessen, wir haben miteinander geschlafen. Ich habe so gerne mit ihr geschlafen. Manchmal hat sie geweint, als zerfiele sie unter meiner Berührung. Ich reiche nicht aus, dachte ich, was, wenn ich nicht ausreiche. Einmal fuhren wir an die Donau, Donauauen, wo die Wildnis ist und die Ebene weit. Die Luft war milchig, der Himmel rosa und blau, in der Luft schwammen Silberfäden und die Bäume leuchteten in einem wilden Gold. Traumlos und wie in einem Traum vergingen die Wochen.
Olga kam mit ihrem Baby im Theater vorbei. Es war ein Mädchen, Greti, ein hübsches kleines Ding, das Olgas Haare hatte und Olgas Mund.
»Ich hätte sie gerne Paula genannt«, sagte sie und drückte mir Greti in die Hand. »Aber das hätte mich immer daran erinnert, dass du nicht der Vater bist. Schau sie dir an«, sagte Olga. »Wenn mich jemand gefragt hätte, wie unsere Kinder aussehen würden, dann hätte ich gesagt, genau so.«
»Sie sieht dir ähnlich«, sagte ich. »Luise, das ist Olga, Olga – Luise.«
Olga lachte melodisch, sie entschwebte zu einem der Chefs und ich stand da mit dem Baby, das meines hätte sein sollen. Luise machte ein seltsames Gesicht. Das Baby öffnete die Augen.
»Hat es dir leid getan?«, fragte mich Luise später.
»Was?«
»Olga. Das Baby. Dass es nicht deines ist. Dass Olga nicht deine Frau ist.«
»Nein«, sagte ich.
Luisesätze, wenn sie die Arbeiten ihrer Schüler korrigierte.
»Herr im Himmel, Mühsal und Pein ohnegleichen.« Dass sich die Schülerinnen Lady Macbeth als Tussi dachten, wer will nicht Königin sein, na klar.
»Und warum nicht?«, sagte ich, die Lady so anlegen, das könnte doch spannend sein.
»Meinst du?« Sie runzelte die Stirn und schrieb etwas unter die Arbeit, kopfschüttelnd.
Einmal habe ich sie abgeholt, sie stand im Sonnengekringel, im fallenden Laub, ich rief sie, sie kam über die Straße auf mich zu, hinter ihr johlten die Schüler.
»Das kann ich mir morgen anhören«, sagte sie, wie atemlos.
Wenn sie nicht da war, war es, als wäre ich immer leer gewesen.
»Du musst Luise jetzt wirklich einmal kennenlernen«, sagte ich zu Martin, da war ich schon Wochen wieder in Wien. »Komm zum Essen, du wirst sie mögen.«
Weil ich die beiden in der Küche nicht brauchen konnte, schickte ich sie in den Garten. Später kam ich nach, Luise saß auf der Schaukel, die ich an einen Ast des Apfelbaums gehängt hatte, Martin erzählte von seinen Reisen, seinen Ausgrabungen.
»Hast du das immer gewusst«, fragte Luise, »dass du Archäologe werden willst?«
Martin zögerte. Eigentlich, sagte er, hatte er Priester werden wollen. Ich sah ihn erstaunt an, das hörte ich zum ersten Mal.
»Was ist dazwischengekommen?«, fragte Luise. »Ein Mädchen?«
Im Schatten unter dem Apfelbaum glühte Martins Zigarette auf.
»Auch«, sagte er schließlich.
»Was noch?«
»Ich habe aufgehört, an Gott zu glauben.« Er drückte die Zigarette aus. »Was ist jetzt mit Essen?«
Wir setzten uns zum Tisch, ich verteilte das Huhn, das Rotkraut, die Erdäpfel.
»Und ihr seid miteinander in die Schule gegangen?«, fragte Luise.
»Erst am Schluss«, sagte ich. Ich sah Martin in die Augen, die waren sehr hell und groß und zornig.
»Wir haben miteinander maturiert«, sagte Martin. »Wir sind gemeinsam nach Wien gegangen. Paul auf die Schauspielschule, ich habe mit Latein angefangen, bevor ich zur Archäologie gewechselt bin.«
Wir erzählten Anekdoten, wem wollten wir was vormachen, endlich brach Martin auf.
»Schau einmal vorbei«, sagte er zu Luise. »Es ist eine Schande, dass du noch nie im Ephesos-Museum warst.«
Ich brachte ihn zur Tür. Luise klapperte in der Küche mit den Tellern, dem Besteck.
»Ich habe das nicht gewusst«, sagte ich.
»Nein«, sagte Martin. »Woher auch.«
»Du hast nie etwas gesagt.«
»Was hätte ich sagen sollen? Dass du nicht der Einzige warst, der etwas verloren hat? Als hätte dich das gekümmert.«
Zehn Schritte von mir zu Luise. »Schlaf mit mir«, sagte ich.
Ich zog ihr die Jacke aus, ich zog ihr das Shirt über den Kopf. Ich vergrub meinen Kopf an ihrer Brust, wir stolperten durch das Wohnzimmer, fielen auf die Couch. Ein leerer Himmel, eine Kurve in die Luft geschrieben. Am nächsten Morgen brennende Scham.
»Ich muss ins Theater«, sagte ich, »wenn du noch frühstücken willst.«
»Es ist Sonntag«, Luises Augen waren groß.
»Komm mir nicht mit Heulen«, sagte ich, »komm mir nicht so.«
Die Endproben vor dem Jubiläumswochenende gingen bis in den Abend, bis in die Nacht, parallel dazu liefen die Aufführungen, die Proben für die nächsten Inszenierungen, ich arbeitete am Sturm, da war keine Zeit, Luise zu treffen, keine Zeit, Luise anzurufen. Manchmal dachte ich an Luise und unsere Insel. Je schneller sie es begreift, dachte ich, und dass ich kein Gott der Macht war, das hätte ich ihr gerne gesagt. Dass Schiffe zerschellten, das musste also sein. Wenn ich weit nach Mitternacht in einen unruhigen Schlaf fiel, da war eine Stimme, ein Atem, ein Gesicht, ich tastete nach Luise, ich hatte mich so gewöhnt, so schnell daran gewöhnt, dass sie neben mir war, das war ein Fehler gewesen.
»Was soll das heißen, es ist schwierig?«
»Ich bin nicht, was sie braucht.«
»Und das war’s dann? Du schickst sie fort und suchst dir wieder irgendeine zum Vögeln? Herrgott, Paul!«
»Es ist wegen Billie.« Ich habe mit Martin nie mehr über Billie geredet, seit ihrem Tod nie mehr. »Es ist alles wieder da.«
Am Tag vor dem großen Fest läutete ich bei Luise.
»Ich will mit dir sein«, sagte ich.
Luise stand im Dämmerschatten ihrer Wohnung. Eine Uhr tickte, Holz knackte, »mach das nicht mit mir«, sagte sie.
»Du musst mit ihr über Billie reden«, hatte Martin gesagt. »Wenn du es nicht tust, das ist doch wie lügen.«
Martin, mit seinem naiven Glauben an die befreiende Wirkung der Wahrheit. Martin, der in seinem Gelehrtenleben versank und sein Leben seit Jahren frei hielt von den Abgründen zwischenmenschlicher Beziehungen. Er war bei seinen Steinen und Mauern zu Hause, bei Tonscherben und Glasgefäßen, eine Statue, die dreitausend Jahre alt war, war ihm lebendiger und interessanter als sein Wohnungsnachbar oder eine schöne Frau an einer Bar. Mit der Realität der Außenwelt konfrontiert, blinkte er manchmal wie eine Eule bei Sonnenlicht – was wusste er von der Wahrheit und ihrer verheerenden Wirkung.
»Wenn du es nicht tust, das ist doch wie lügen.«
Ich hatte genickt und gewusst, ich würde mit Luise nicht über Billie reden. Dann dachte ich, aber vielleicht hatte er recht. Und vielleicht wäre es möglich, mit Luise über Billie zu reden, vielleicht ging das ja. Mit Billie, weißt du, würde ich sagen, mit Billie, das war so. Sie würde fragen, wer ist Billie und wenn ich an diesem Punkt angelangt war, wusste ich, dass ich mit Luise nicht über Billie reden konnte, mit Luise nicht, mit Martin nicht, mit niemandem.
Sie kamen alle zum Jubiläumsfest. Die Szene, die neugierig war, die Ministerin und die Staatssekretäre, die Sponsoren und Journalisten, die Neider und die Bewunderer und das ganz normale Publikum, das gekommen war, weil es eine Riesensache war, vier Stücke – Uraufführungen – an einem Tag, zwölf Aufführungen insgesamt von neun bis nach Mitternacht, und am Sonntag das Ganze noch einmal, Diskussionen, Werkstattberichte, ein ständig wechselndes Publikum, das zwischen den Stücken im Foyer beim Gratisbuffet stand, und Luise, Luise war da. Eine Scheu, eine Schüchternheit war bei ihr, und ich hatte ihr doch die Angst nehmen wollen. Martin war da und Marianne, eine Freundin von Luise, Luises Schwestern.
»Schauspieler!«, sagte Karoline streng.
»Regisseur«, sagte ich, »hauptsächlich Regisseur.«
Bettina wollte alle Schauspieler kennenlernen, ich machte mit ihr die Runde, ich kam zu Luise zurück. Olga war mit ihrem Baby da, sie gratulierte zu meinem Stück.
»Sehr düster«, sie lachte glockenhell. »Privat läuft es hoffentlich besser! Hades im Wohnzimmer! Nicht neu, aber originell gelöst. Die Persephone wäre eine gute Rolle für mich gewesen, warum hast du mich nicht gefragt?«
»Du warst im Mutterschutz!«
»Ach, Mutterschutz.«
Es läutete wieder zur Vorstellung, einführende Worte, das Stück, Applaus, Verbeugungen, Interviews. Luise, die mit Marianne an der Bar stand. Jemand winkte mir von der anderen Seite des Foyers, »komm mit«, sagte ich zu Luise. Wir drängten uns durch die Menge und dann stand dieser Kameramann vor uns. Er war fast einen Kopf größer als ich, von fester, bärenhafter Statur.
»Paul«, sagte er und senkte die Kamera. Ein bärtiges Gesicht, die Haare auf ein paar Millimeter gestutzt. »Lange nicht gesehen.«
Ich starrte ihn an. Etwas an seiner Stimme kam mir bekannt vor, etwas an seiner Haltung. Er grinste, er streckte mir die Hand hin, ich schüttelte sie automatisch. Er schüttelte Luise die Hand.
»Du siehst Billie ähnlich«, sagte er, da wusste ich, wer er war. Er machte die Augen schmal, er fixierte Luise so konzentriert, als gälte es, ein Rätsel zu lösen.
»Nicht sehr, nicht die Farben, auch sonst nicht, gar nicht eigentlich, aber um die Augen herum ist etwas, die Stirn vielleicht, was sagst du, Paul?«, fragte er, ohne den Blick von Luise zu lösen.
Luise sah mich an, sie sah Robert an. Robert drehte sich, fassungslos, zu mir.
»Du hast ihr nicht von Billie erzählt?«
Ein kalter Regen schlug auf den Gehsteig. Ich hatte Luise hinausgezogen, Wasserschleier sprühten uns ins Gesicht.
»Wer war das?«, fragte Luise. »Wer ist Billie?«
Luises Augen, ihre Stirn, und vielleicht hatte Robert ja recht. »Nachher«, sagte ich. »Wir reden nachher.«
Mein Stück wurde noch einmal aufgeführt, Interviews, Gespräche mit Kollegen, der Ministerin, dem Publikum, Luise trieb am Rand mit.
»Willst du gehen?«, sagte ich. »Du musst nicht bis zum Schluss bleiben.«
Sie schüttelte den Kopf.
Robert, der da und dort auftauchte, im Schlepptau sein Team von Ton- und Lichtmenschen. Das böse Auge seiner Kamera.
Irgendwann gegen drei waren wir dann bei mir. Ich schenkte uns Wein ein, Luise schob ihr Glas weg, ich sah aus dem Küchenfenster in den Garten, auf die Büsche, die eine Abgrenzung zur Straße waren, auf den Streifen Gras.
»Billie ist meine Schwester.«
Im Küchenfenster traf Luises Blick meinen.
»Du hast eine Schwester?«
»War meine Schwester. Billie ist tot.« Ich drehte mich um. »Ich kann nicht gut über sie reden.« »Wie …«
»Nicht«, sagte ich.
Luise zögerte. »Kann ich was tun, Paul?«
»Nein. Am besten, du vergisst es wieder.«
Billie steht am Flussufer, unter der Weide. Der Fluss rauscht, der Fluss glänzt, ein Boot zieht vorbei. Irgendwo summen Bienen.
»Erzähl mir von ihr«, hat Luise in den Tagen nach dem Fest gesagt. »Wie lange ist es her?«
Weil sie mein Schweigen nicht verstand und weil sie so unglücklich aussah, sagte ich: »Siebzehn Jahre. Sie ist seit siebzehn Jahren tot.«
»Wie hat sie ausgesehen?«
Ich zuckte die Schultern und runzelte die Stirn, als wüsste ich es nicht mehr, als wäre mir Billies Gesicht nicht eingeschrieben.
»Hat sie dir ähnlich gesehen?«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte ich ungeduldig, »sie hat mir ähnlich gesehen und auch wieder nicht.«
»Hast du ein Foto von ihr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Kein einziges Foto?«
»Nein«, sagte ich und ging aus dem Zimmer.
Seit dem Jubiläumsfest war Robert Dauergast am Theater. Für eine Dokumentation würde er einige Monate die Proben, Aufführungen, Publikumsreaktionen, die professionelle Arbeit und die privaten Momente aufzeichnen. Gunter, einer der Chefs, war begeistert von diesem Projekt und von der Werbung, die das bedeuten würde, vom Licht, in das unser Theater gerückt würde. Er sprach von der Auszeichnung, dass die Wahl auf uns gefallen war, von den Möglichkeiten, die sich uns bieten würden, »auch finanzieller Art«, sagte er, als er uns über dieses Projekt informierte. »Alles, was uns von Subventionen unabhängiger macht, können wir nur begrüßen.«
Wie er sich das dachte, fragte ich. Ob ab jetzt immer Personen von außen dabei sein würden, Kameraleute, Lichtleute, Ton, der Regisseur? Die uns vielleicht noch sagen würden, wie wir zu arbeiten hätten, damit sie gutes Material bekämen?
»Du weißt so gut wie ich, dass wir den geschützten Raum brauchen.«
Dass ihm Robert zugesagt habe, mit so wenig personalem und technischem Aufwand wie möglich zu arbeiten. »Er wird unsichtbar sein«, sagte Gunter. »Und wenn ihr ihn gar nicht dabeihaben wollt, dann sagt ihr ihm das. Aber die eine oder andere Probe wird doch wohl möglich sein. Und seit wann redet ihr nicht gerne über eure Arbeit?«
Später kam Robert dazu. Trotz seiner Größe wirkte er fast schüchtern. Er sprach mit leiser Stimme, bedankte sich für unsere Kooperationsbereitschaft.
»Anteil nehmen am Haus und an jedem Einzelnen«, sagte er. Respekt und Wertschätzung, das sollte die Dokumentation vermitteln. Respekt und Wertschätzung für die Arbeit aller Theaterleute, der Bühnenarbeiter, der Beleuchter, der Dramaturgen, der Intendanz, Respekt und Wertschätzung für die Arbeit der Regisseure, für die Arbeit der Schauspieler. Dass er dieses Haus als Organismus begreife, dem er sich sehr behutsam annähern wolle. Dass er dankbar sei, dass er sich mit unserer Unterstützung dem Geheimnis der künstlerischen Arbeit annähern dürfe.
»Die gefährdete Existenz«, sagte er, »die notwendig ist, um in der Wahrheit zu leben.«
Was, dachte ich zornig, weiß er von gefährdeter Existenz, aber dann fiel mir ein, dass er Billie gekannt hatte, dass er Billie geliebt hatte, das machte mich noch zorniger.
»Ich will ihn nicht dabeihaben«, sagte ich am Abend zu Martin. »Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich konnte ihn noch nie ausstehen. Wenn es eine Person gibt, die ich nie mehr wiedersehen wollte, der ich nie wieder in meinem ganzen Leben begegnen wollte, dann ist es Robert!«
»Es könnte aber doch sein«, sagte Martin, sehr vorsichtig, »dass er sich geändert hat. Wir sind doch alle nicht mehr die, die wir einmal waren. Es kann sich doch auch Robert geändert haben, oder nicht?«
»Und das glaubst du?«, fuhr ich ihn an. »Ehrlich?«
Etwas flackerte über Martins Gesicht. »Du musst ja nicht mit ihm arbeiten«, sagte er schroff. »Es kann dich ja keiner zwingen.«
»Nein«, sagte ich, »zwingen kann mich keiner.«
Wenn ich damit gerechnet hatte, dass sich Robert an meine Fersen heften würde, dass er die Karte unserer früheren Bekanntschaft ausspielen würde, dann hatte ich mich geirrt. In den folgenden Wochen sah ich ihn mit vielen Kollegen und Kolleginnen reden, ich hörte von den Gesprächen, die er mit ihnen geführt hatte, »sehr angenehm«, sagten die Kollegen, »feinfühlig«, »mit Sachverstand und einer großen Liebe zum Theater.«
Ich lief ihm manchmal im Haus über den Weg, dann nickte er mir zu, er versuchte nie, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich sah ihn im Café ums Eck mit Schauspielern sitzen, mit Bühnenarbeitern, mit Garderobieren, manchmal trafen sich unsere Blicke, er sah immer als Erster weg. Er war bei anderen Inszenierungen in den Proben gewesen, nicht bei mir – ich hätte froh sein sollen, dass ich nicht gezwungen war, mich mit ihm auseinanderzusetzen, aber je länger dieser Zustand andauerte, desto eigenartiger erschien er mir.
Es gab keinen Grund, sagte ich mir schließlich, warum ich nicht mit ihm reden sollte. Vielleicht war da auch eine Spur gekränkter Eigenliebe – mit allen redete er, nur nicht mit mir? Und vielleicht, gestand ich mir irgendwann ein, war ich sogar ein wenig neugierig auf diesen Robert, der mir aus dem Weg ging und der es nicht über sich brachte, mich offen anzusehen.
Manchmal, wenn ich neben Luise durch die Stadt ging, durch die Parks, durch ein Museum schlenderte, manchmal, wenn wir nebeneinander saßen, war es jetzt so, als würde Billie wo stehen, als würde Billie wo sitzen, als würde Billie, und ich wusste nicht, mit wem ich sprach.
»Hörst du mir zu«, sagte Luise, und ich hatte Billies Lachen im Ohr. Billies spöttisches Lachen, ihr Rabenhaar. Billie mit den verklebten Händen, Erde, Schokolade, Schneckenschleim, Beerensaft und Harz von Bäumen. Ihre Kinderschätze waren Kräuter gewesen und Schneckenhäuser, ihr letztes Geschenk an mich ein Stein. Als würde sie zusehen, wenn ich Luise liebte. Als hielte ich nicht Luise im Arm. So ein Sog, seit damals. Wenn ich ganz in der Kälte war, gab es keinen Schmerz.
Billie liegt im Wald, unter Nadeln und Laub, knapp unter der Erde. Hunde mit roten Augen schnüffeln und winseln und schnauben, mit den Pfoten kratzen sie die krümelige Erde weg. Billie, als läge sie nicht lange schon unter der Erde, als schliefe sie, weiß im schwarzen Waldboden.
»Billie«, sage ich.
Wenn ich aufwache, ist mir so klamm, als wäre ich in der Erde gelegen, aus dem Wasser gekommen, »schlaf weiter«, sage ich zu Luise, »es ist nichts.«
»Ich bin die Ältere«, hat Billie gesagt.
»Die zwei Minuten!«
»Damit ich auf dich aufpasse«, hat sie gesagt, »deswegen war ich vor dir da, das ist doch ganz logisch.«
Zwillinge im Bauch, das Spiel hat Billie erfunden. Wir sind unter die Decke gekrochen, ganz eng zusammen, als könnte ich mich an eine orange Welt erinnern, in der wir schwebten, kopfüber, kopfunter, und etwas blubberte und etwas schlug, ruhig und kräftig.
»Du schubst«, sagte Billie, »tu ich nicht«, sagte ich.
Wir waren fünf, als sie das Spiel erfunden hat, an unserem fünften Geburtstag haben wir es das erste Mal gespielt, Billie war süchtig danach. Unter der Decke war es dunkel, Billies Atem rasselte.
»Weißt du noch«, sagte sie, »wie es gewesen ist, nur du und ich.«
Ich hielt die Luft an, ich machte die Augen auf, die Augen zu, rote Wellen hinter meinen Lidern.
»Spielen wir so«, sagte sie, »dass es ganz eng ist, ganz ganz eng und dann wird es immer noch enger und dann haben wir keinen Platz mehr und dann müssen wir hinaus.«
»Mir ist heiß«, sagte ich.
»Es ist noch viel zu früh.«
Also rückten wir zusammen, immer noch mehr, Billie patschte mir mit ihren heißen Händen ins Gesicht, »ich will hinaus«, sagte ich.
»Noch nicht.«
Ich kitzelte sie, »das hast du damals auch gemacht«, sagte Billie. »Ich hab dir gesagt, du sollst aufhören damit!«
Ich kitzelte sie wieder.
»Du musst tun, was ich sage!« Sie umarmte mich so fest, dass ich keine Luft bekam, »jetzt!«, rief sie, und wir rangelten, wer zuerst hinauskam, einfach die Decke abwerfen galt nicht, »gewonnen«, schrie Billie, »gewonnen gewonnen gewonnen!«
»Du und ich«, hat sie später gesagt, da waren wir keine Kinder mehr, »wir kennen uns viel länger als alle anderen. Ich kenne dich am längsten von allen. Ich hab gesehen, wie du entstanden bist.«
»Hast du nicht.«
»Hab ich doch.«
»Kannst du gar nicht. Du hast noch keine Augen gehabt.«
»Ich brauche keine Augen, damit ich dich sehe.«
Irgendwann haben wir das Spiel das letzte Mal gespielt, da waren wir elf oder zwölf. Der Vater ist ins Zimmer gekommen, der Vater hat die Decke weggezogen, er hat Billie aus dem Bett gerissen, »dass du dich nicht schämst«, hat er gezischt und sie aus dem Zimmer gestoßen. Ab dann hatten wir jeder ein eigenes Zimmer.
»Ich will kein eigenes Zimmer«, hat Billie geschrien, »ich will bei Paul sein!«
»Du bist ja gleich nebenan«, hat die Mutter gesagt, »du kannst ihn ja besuchen.«
»Das ist nicht dasselbe!«
»In eurem Alter braucht ihr ein eigenes Zimmer.«
»Wozu?«
»Ich finde das nicht so schlimm«, habe ich gesagt, da ist Billie auf mich losgegangen.
»Du Verräter«, sie hat mich mit ihren Fäusten traktiert, »du gemeiner Verräter!«
»Ich habe deine Karriere verfolgt«, sagte Robert und sah auf das Bierglas, das vor ihm stand. »Natürlich habe ich das, was glaubst denn du?« Er nahm einen Schluck und starrte auf die Wand hinter meiner Schulter.
»Ich habe mit den Leuten im Theater und in der Szene geredet. Die halten große Stücke auf dich. Dass du noch weit kommen wirst, sagen sie. Warum bist du noch nicht an der Burg?, oder in Deutschland, in Berlin?, in Hamburg?, in München?«
Ich zuckte die Schultern. Während Robert in sein Bierglas hinein oder über meine Schulter hinweg wie mit sich selbst redete, hatte ich Gelegenheit, ihn aus der Nähe anzusehen, ihn mit dem Robert zu vergleichen, den ich vor fast zwanzig Jahren gekannt hatte. Nichts mehr erinnerte an den drahtigen, gut trainierten Jungen mit seinem spöttischen, lauernden Dauergrinsen. Sein Gesicht war aufgedunsen und sein Körper, obwohl nicht schwammig, ließ doch die athletische Modellierung vermissen, auf die er als Schüler so stolz gewesen war.
Aus einem Impuls heraus hatte ich mich im Café an seinen Tisch gesetzt. »Du gehst mir aus dem Weg«, hatte ich gesagt, »ich hebe mir das Beste zum Schluss auf«, hatte er geantwortet, seitdem redete er mit seinem Bierglas oder über meine Schulter hinweg mit der Wand.
»Fährst du noch manchmal nach Hause?«, fragte ich.
Plötzlich hatte ich ihn wieder vor Augen, wie er damals gewesen war und dass ich ihn gehasst hatte, eine böse Energie hatte ihn angetrieben, aber wie er mir jetzt gegenüber saß, war es eher so, als wäre jegliche Energie in ihm erloschen.
»Wieso fragst du?«
»Nur so.« Ich sah mich im Café um, die Tische leerten sich. »Da war doch was mit deinem Bruder?«
Er rieb sich mit der Hand über seinen fast kahl geschorenen Kopf. »Ach, das.«
»Drogen«, sagte ich. »Oder? Eine Messerstecherei? Wie ist das ausgegangen? Hat er es denn überlebt?«
»Ja klar«, sagte Robert. »Klar hat er es überlebt. Wir waren immer hart im Nehmen.« Er verzog das Gesicht und wechselte das Thema.
»Deine Schauspieler lieben dich«, sagte er. »Die vertrauen dir, das weißt du, oder?«
Wieder fuhr er sich mit der Hand über seinen Kopf, das kratzige Rascheln der Stoppelhaare. »Ich war mir nicht sicher, ob du mit mir reden willst«, sein Blick traf meinen. »Willst du denn überhaupt mit mir reden?«
Ob er Billie so angesehen hatte, fragte ich mich und ein Würgen stieg mir in der Kehle hoch. »Aber er will mich«, hatte sie gesagt, daran musste ich denken, und dass ich sie hatte schlagen wollen, als sie das gesagt hatte. Ich deutete dem Kellner, dass ich zahlen wollte.
»Sicher«, sagte ich zu Robert. »Aber sicher rede ich mit dir.«
Luise ließ sich nicht täuschen. »Sag mir, was los ist, Paul.«
Ich wollte einem Gespräch ausweichen, die Proben zum Sturm waren anstrengend, dass ich nicht darüber reden wollte, sagte ich, ob was los sei oder nicht.
»Aber ich möchte.« Ihre Stimme schwankte. »Ich halte das nicht gut aus. Sag mir, was los ist.«
»Was soll sein? Du bildest dir da etwas ein.«
»Da ist ein schrecklicher Billielärm, merkst du das nicht? Wir reden nicht über sie, aber sie ist da, immer. Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede, ich komme ja gar nicht mehr durch zu dir vor lauter Billielärm.«
»Billielärm«, sagte ich. »Du hast also einen Billielärm.«
»Du träumst von ihr. Du rufst sie, im Schlaf, wie kannst du sagen, da ist nichts?«
»Wenn ich dich störe, tut es mir leid, ich kann auch woanders schlafen.«
»Ich will wissen, was dich quält.«
»Mich quält nichts.«
»Ich will wissen, was dich verfolgt.«
»Sei nicht so dramatisch. Das ist lange her und vorbei. Und es hat auch gar nichts mit uns zu tun, wozu darüber reden?«
»Wie ist sie gestorben?«
Ich hob die Arme, ließ sie fallen, ich ging hinaus. Nach einer Zeit kam ich zurück. Ich setzte mich neben Luise. Sie saß ganz still.
»Lass uns, bitte, einfach nicht darüber reden.«
Holz knackte, eine Uhr tickte, »wenn du meinst«, sagte Luise.
Olga spielte in einer anderen Produktion, wir begegneten uns im Foyer, am Kaffeeautomaten.
»Ärger?«, sagte sie, weil ich auf den Automaten einhämmerte.
»Nicht wirklich. Premierenstress.«
Ich warf noch einmal das Geld ein, jetzt klackte der Becher in die Halterung, der Kaffee zischte in den Becher.
»Und sonst?«, sagte Olga. »Mit Luise, geht’s dir gut?«
»Ja«, sagte ich, »alles gut.«
Und dann redeten wir über die Proben, dass ich ein neues Stück plante, Olga erzählte von Greti und ich dachte, wie angenehm es war, nicht aufpassen zu müssen auf Untertöne und Fallstricke, nicht verantwortlich zu sein für Stimmungen und Befindlichkeiten. Mit Olga war es einfach gewesen. Es war einfach gewesen, mit ihr zu arbeiten, es war sogar einfach gewesen, mit ihr zu leben. Mit Olga zu schlafen war einfach gewesen.
»Was ist?«, fragte Olga.
»Nichts«, sagte ich. »Ich muss zurück.«
»Wir sehen uns.«
»Ja«, sagte ich, »wir sehen uns.«
»Wir haben dieselbe Lebenszeit«, hat Billie gesagt. »Wir sind gemeinsam auf die Welt gekommen, wir werden gemeinsam sterben. Ich werde zwei Minuten vor dir sterben. Mein armer Paul. Du wirst alleine sein, wenn ich tot bin. Schrecklich alleine. Sei mir nicht böse. Mein armer, armer Paul.«
So hat sie es dem Vater erzählt, der hat gelacht und es den anderen erzählt, die grad da waren, Onkel, Tanten, sie haben alle gelacht.
»Natürlich wird es so sein«, habe ich geschrien. Ich habe Billie in den Arm genommen. »Zwei Minuten, das ist nicht lang.«
Am Abend traf ich mich mit Luise, wir gingen durch die Stadt, sie erzählte von ihren Schwestern, von der Schule, sie war übermütig, oder sie tat so, später schliefen wir miteinander und während ich mit Luise schlief, dachte ich daran, wie einfach es gewesen war, mit Olga zu schlafen.
Wo das Land in den Fluss hineinragt, steht ein Weidenbaum. Kühl und grün ist der Fluss am Abend, ein Tor zur Nacht. Vorbei an silbrigen Pappeln schaukelt ein Nachen flussabwärts. Ein Schatten hängt in der Weide. Auf dem gläsernen Berg sitzt ein Rabe, er wetzt seinen Schnabel, das Glas singt.
Billie steht am Ufer, unter der Weide. »Billie«, rufe ich. Ein Blumenkranz schwimmt, weiß und blau und rot, auf den Wellen. Ein Boot, mit Blumen bekränzt, liegt am Ufer. Im hellen Grün, im leuchtenden Gold die Braut, die Schwester, ihr Kleid färbt sich rot.
Die Schwester öffnet die Augen, schwarz rauscht der Fluss unter erloschenen Sternen. Sie steht am Ufer, unter der Weide. »Billie«, rufe ich. Sie dreht sich um, das ist der Moment, in dem ich aufwache.
Am Sonntagvormittag traf ich mich mit Robert und Gordana von der Technik im Theater, Robert, Gordana, der Kameramann und ich und das stille Haus. Während Robert mit Stefan und Gordana die Lichtverhältnisse, mögliche Einstellungen, die Kameraführung besprach, betrat ich die Bühne. Das Bühnenbild für die Abendvorstellung war schon aufgebaut, viel leerer Raum, in der Mitte eine Plattform, die zu Beginn das Schiff darstellte, ein wackres Schiff, das sicher herrliche Geschöpfe trug, einen Haufen von Verrätern und potenziellen Mördern, und später die verzauberte Insel, mit Versenkungen, aus denen Caliban kroch, Sklave, Erdkloß, Ungeheuer. Blaue Stoffbahnen, das aufgewühlte oder ruhige Meer, Gordana ließ das Licht spielen, ein Unwetterhimmel, ein Morgen, ein Abend.
»Sei nicht in Angst«, sagte ich in den dunklen Zuschauerraum hinein. »Die Insel ist voll von Geräuschen, Tönen und anmutigen Melodien, was Freude bringt und nicht schmerzt.« Robert trat ins Licht, der Kameramann bewegte sich irgendwo am Rand des Lichtkreises.
»Vermisst du die Schauspielerei?«, fragte Robert.
Ich legte mich in den Sand in der Mitte der Plattform. Ich sah das wechselnde Licht, ich spürte das Holz unter mir, die Aufregung, die immer da gewesen war, wenn ein Text mich verwandelt hatte.
»Nicht wirklich«, sagte ich und setzte mich auf. »Das war eine Riesenhurerei. Ich war eine Hure auf der Bühne.«
Robert lachte. »Und jetzt? Bist du die Puffmutter?«
»Hin sind meine Zauberein, was von Kraft mir bleibt, ist mein, und das ist wenig. Entschuldige«, sagte ich. »Blöde Angewohnheit. Wenn ich ein Stück mache, drängt sich mir manchmal der Text auf.« Als wäre er für mich und mein Leben geschrieben.
Was am Sturm in ein heutiges Leben passe, fragte Robert. Warum der Sturm? Warum Shakespeare?
Dass ich Lust gehabt hätte, ein Märchenstück zu inszenieren, ein Stück zwischen den Wirklichkeiten, zwischen Träumen und Illusionen und Zaubereien. Dass mich die Muster von Macht und Kontrolle fasziniert hätten, von Unterdrückung und Verachtung, von Auflehnung und Unterwürfigkeit. Dass mich die Poesie fasziniert habe, die das Geschöpf Caliban in manchen Momenten besitze, schnöder Sklav, nenne ihn Prospero, Kot, wie du bist, und doch sei er der angestammte Herr der Insel, der ihre Stimmen höre und ihren Zauber kenne. Die Vergänglichkeit unseres Tuns, die Vergänglichkeit allen menschlichen Seins, sagte ich, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.
Ich dachte an Billie und dass Robert vielleicht dasselbe dachte. Ich ließ Sand durch meine Finger rinnen, da war ein Tag am Fluss gewesen, eine Libelle war über dem Wasser geschwirrt, ich hatte Erde gegessen, die Zeit nach unserm Tod war so viel länger als die Zeit unseres Lebens.
Die nächsten drei Stunden verbrachten wir auf der Bühne. Gordana spielte uns die Geräusche und Töne, die Musik der Insel ein, wir wanderten durch Lichtsäulen und in einem Geräuschewald, ich stellte Robert ins Licht und dorthin, wo ihn die Musik wie in einem Wirbel erfassen würde, wir ließen uns abwechselnd als Ariel durch die Luft stürzen, am Ende saßen wir wieder auf der Plattform.
»Das Stück kreist«, sagte ich, »um unser Gefangensein, unsere Abhängigkeit von Dingen, von Menschen, von unseren eigenen Wünschen und Begierden. Prospero befreit sich am Ende von so vielem: seinem Zorn, seiner tiefen Verletztheit, seinem brennenden Wunsch nach Rache. Er gibt seine zauberischen Kräfte auf, er kehrt in die Welt der Menschen zurück. Warum Shakespeare?, hast du gefragt. Weil er der menschlichste von allen ist.«
Nach einer Mittagspause, in der wir uns Pizza holten, machten wir weiter. Gordana war gegangen, wir saßen im Büro, rauchten, tranken ein Bier, die Kamera lief, ich war sehr angenehm müde.
Dass ich, sagte ich, zu Beginn einer neuen Arbeit meistens sehr genau wisse, was ich wolle, worauf es mir ankomme, dass vieles sich aber erst aus der schauspielerischen Auseinandersetzung mit dem Text entwickle, aus der konkreten Arbeit mit den Schauspielern. Das sei ein Wechselspiel, das mich immer aufs Neue beglücke, »nicht Puffmutter«, ich grinste, »doch eher Hebamme.«
Dass ich besser sei in dem, was ich jetzt machte. Das Scheinwerferlicht habe mich korrumpiert. Es habe, ich nickte zur Kamera hin, etwas sehr Verführerisches, geballte Aufmerksamkeit zu bekommen, das tue mir aber nicht gut.
Dass Theater immer noch eine Erlösungsmaschinerie sei, sagte ich. Manche Kollegen würden mich auslachen, wenn ich ihnen damit käme. Katharsis und so weiter, das fänden sie zum Gähnen, aber das Geschehen auf der Bühne, die Arbeit der Schauspieler, ihre ganz konkreten Erfahrungen während der Aufführung und die Art, wie sich das dem Publikum übertrage, die Reaktionen des Publikums, das habe, wenn es gelinge, etwas Magisches.
»Warum sonst sollten wir – Schauspieler und Publikum – das auf uns nehmen, die Auseinandersetzung mit dem Grausigen, zu dem Menschen fähig sind, mit all den seelischen Abgründen, den Zwängen, den Obsessionen, den Zerstörungen und Deformationen, die wir auch in uns suchen müssen, um sie darstellen zu können – warum sollten wir das tun, wenn nicht auch deshalb: um etwas zu erlösen.«
»Wann ist denn«, fragte Robert und sah an meinem Gesicht vorbei, »wann ist das Interesse am Schauspiel bei dir aufgetaucht?«
Ich war durstig, ich griff nach einer Dose Bier, ich trank. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Es war einfach da, immer schon.«
»Du und Martin«, sagte er, »ihr habt den Hamlet geprobt, nicht?« Er wirkte fast desinteressiert.
»Ja«, sagte ich. »Martin und ich.«
»Am Fluss.«
»Ja«, sagte ich. »Am Fluss.«
»Und Billie war Ophelia.«
»Billie«, sagte ich, und ihr Bild stieg vor mir auf. Der Fluss, die Blumen, funkelnde Wassertropfen auf ihrer Haut.
»Billie war Ophelia.«
»Erzähl.«
Von Billie erzählen. Endlich von Billie erzählen.
»Sie war schön«, sagte ich, als nötigte mich etwas, das zu sagen. »Aber das weißt du. Es wird nie eine andere Ophelia für mich geben.«
Jetzt sah mich Robert direkt an. »Erzähl mir von ihr«, sagte er.
Rot auf Grün auf Weiß war eine Linie, eine Kurve in die Luft gerissen, von Billie erzählen, dachte ich, ein für alle Mal sagen, wie es gewesen war. Robert wartete. Fast sanft sagte ich: »Ich denke, da hören wir jetzt auf.«
Billie war Ophelia gewesen.
»Ich bin Hamlet«, hatte ich gesagt. »Du musst mich küssen.« Billie kicherte.
»Das geht so nicht«, sagte ich, »du musst ernst bleiben. Das ist eine ernste Sache.«