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Was wäre, wenn das Schicksal bei dir anklopft, um dich vor deinem bevorstehenden Tod zu warnen? Am 5. September, kurz nach Mitternacht, bekommen Mateo und Rufus einen solchen Anruf. Von der "Death Cast", die die undankbare Aufgabe hat, ihnen die schlechten Neuigkeiten zu überbringen: Sie werden heute sterben. Noch kennen sich die beiden nicht, doch aus unterschiedlichen Gründen beschließen sie, an ihrem letzten Tag einen neuen Freund zu finden. Die gute Nachricht lautet, dass es dafür eine App gibt: Sie heißt ›Last Friend‹ und durch sie werden sich Rufus und Mateo begegnen, um ein letztes großes Abenteuer zu erleben – und um gemeinsam ein ganzes Leben an einem einzigen Tag zu verbringen.
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Seitenzahl: 391
Adam Silvera
Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Diestelmeier
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel They both die at the end bei HarperCollins Children’s Books, New York
© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © Adam Silvera 2017
All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.
Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Diestelmeier
Lektorat: Ulrike Schuldes
Coverillustration: Simon Prades
Covergestaltung: Erin Fitzsimmons
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03880-119-1
www.arctis-verlag.com
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Für alle, die daran erinnert werden müssen,
dass jeder Tag zählt.
Ein herzlicher Gruß an Mom für all ihre Liebe
und an Cecilia für ihre harte, aber liebevolle Kritik.
Ich hatte immer beides nötig.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
der Ausgangspunkt meines Schreibens war immer ein persönlicher, und Am Ende sterben wir sowieso bildet da keine Ausnahme. Aber im Unterschied zu meinen ersten beiden Romanen ist die Handlung dieses Buches keine verfremdete Fanfiction meiner eigenen Erfahrungen, sondern sie entstand gerade aus einem Mangel an Erfahrung. Ich bin jung, habe aber trotzdem schon viele Jahre meines Lebens vergeudet. Ich habe viel zu viel Zeit damit verschwendet, ein wählerischer Esser zu sein, meine Meinung für mich zu behalten, zu lügen, statt Freundschaften zu vertiefen, mich erst mit neunzehn zu meinem Schwulsein zu bekennen, die vielen süßen Typen in der U-Bahn nicht zu grüßen, nicht vor Freunden zu singen, weil ich eine furchtbare Stimme habe, und vieles mehr.
Erst beim Schreiben dieses Buches wurde ich mutiger, ermuntert von einem Jungen, der Stein für Stein die Mauern um sich herum einreißt, bis er schließlich seine vielen Unsicherheiten und Ängste abgelegt hat – und von einem anderen Jungen dazu ermuntert, meine Fehler zu korrigieren und Dinge zu klären, solange noch Zeit dazu ist. Ich habe Krokodilfleisch probiert und werde es nie wieder tun. Ich bin bereit, anderen gegenüber meine Meinung zu vertreten. Ich sage die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist, weil ich gelernt habe, dass das eine Freundschaft festigen kann. Wirklich jeder weiß inzwischen, dass ich schwul bin, sogar – und das ist vielleicht am wichtigsten – alle Schüler in konservativen Bundesstaaten, in denen ich auf Lesereise gehe, egal wie sehr das ihre Eltern möglicherweise auf die Palme bringt. Ich habe noch nie einen süßen Typen in der U-Bahn gegrüßt, aber ich habe bei einem Besucher meines Mitbewohners, der die ganze Zeit mit mir geflirtet hat, den ersten Schritt getan, und jetzt ist er mein Freund. Ich habe mitten in der Woche um drei Uhr morgens in einer Karaokebar mit anderen Jugendbuchautoren gesungen, und ich war grauenhaft und glücklich.
Ich glaube wirklich, wir sollten unser Leben so bald wie möglich und so gut wie möglich leben, denn im Unterschied zu den Figuren in diesem Buch weiß ich nicht, wie viel Zeit mir auf dieser Welt noch bleibt. Und ihr auch nicht. Also wartet nicht zu lange damit, zu denen zu werden, die ihr sein wollt – die Uhr tickt.
Von ganzem Herzen,
Adam Silvera
Leben – es gibt nichts Selteneres in der Welt.
Die meisten Leute existieren, weiter nichts.
Oscar Wilde [1]
Der Todesbote ruft an und hat eine einschneidende Warnung für mich – heute werde ich sterben. Nein, »Warnung« ist das falsche Wort, denn der Zweck einer Warnung ist ja, dass man etwas vermeiden kann: Wenn ein Autofahrer jemanden anhupt, der bei Rot die Straße überquert, gibt er ihm damit die Möglichkeit, stehen zu bleiben. Das hier ist eher eine Ankündigung. Der Alarm – ein unverwechselbares, unaufhörliches Läuten wie von der Kirchenglocke ein paar Straßen weiter – ertönt aus meinem Handy am anderen Ende des Zimmers. Und schon bin ich kurz davor, auszurasten. Ein ganzer Schwall Gedanken löscht augenblicklich alles um mich herum. Ich wette, ähnlich verwirrt fühlt sich eine Fallschirmspringerin, wenn sie sich zum ersten Mal aus einem Flugzeug stürzt, oder ein Pianist bei seinem ersten Konzert. Nicht, dass ich das je erleben werde.
Es ist verrückt. Gerade eben noch habe ich den gestrigen Blogeintrag auf Countdown gelesen – einer Seite, auf der Todgeweihte ihre letzten Stunden mit Einträgen und Fotos live dokumentieren, wobei es in dem konkreten Beitrag um einen Studenten ging, der ein neues Zuhause für seinen Golden Retriever suchte – und jetzt werde ich selbst sterben.
Ich werde … nein … ja. Ja.
Mir bleibt die Luft weg. Heute werde ich sterben.
Ich hatte schon immer Angst vor dem Sterben. Ich weiß nicht, warum ich dachte, dass genau diese Angst mich auf magische Weise davor bewahren würde. Natürlich nicht für immer, aber zumindest bis ich erwachsen sein würde. Dad hat mir immer eingeschärft, ich solle mir vorstellen, ich wäre in einer Geschichte die Hauptfigur, der nichts Schlimmes zustößt und die erst recht nicht stirbt, denn der Held muss schließlich am Ende die Welt retten. Aber jetzt legt sich langsam der Lärm in meinem Kopf und am anderen Ende der Leitung wartet der Todesbote, um mir zu sagen, dass ich heute im Alter von achtzehn Jahren sterben werde.
Puh, ich werde wirklich …
Ich will nicht rangehen. Lieber würde ich in Dads Schlafzimmer rennen und in ein Kissen brüllen, weil er sich den unpassendsten Moment ausgesucht hat, um auf der Intensivstation im Koma zu liegen. Oder gegen eine Wand schlagen, weil ich für einen frühen Tod schon vorherbestimmt war, als meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist. Das Telefon klingelt zum vermutlich dreißigsten Mal, und ich kann es genauso wenig ignorieren wie das, was heute im Lauf des Tages passieren wird.
Also schiebe ich den Laptop von meinem Schoß und erhebe mich leicht schwankend aus dem Bett. Ich habe ein flaues Gefühl. Wie ein Zombie gehe ich auf den Schreibtisch zu, langsam, ein lebender Toter.
Auf dem Display steht TODESBOTE, was sonst.
Obwohl ich zittere, gelingt es mir, den Anruf entgegenzunehmen. Ich sage nichts. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Darum atme ich bloß, denn ich habe weniger als achtundzwanzigtausend Atemzüge übrig – die durchschnittliche Anzahl von Atemzügen, die ein Mensch täglich macht – und kann sie genauso gut auch aufbrauchen, solange es noch geht.
»Hallo, hier spricht der Todesbote. Mein Name ist Andrea. Sind Sie das, Timothy?«
Timothy.
Ich heiße nicht Timothy.
»Sie haben den Falschen«, erkläre ich Andrea. Mein Herzschlag beruhigt sich, auch wenn ich Mitleid mit diesem Timothy habe. Wirklich. »Ich heiße Mateo.« Den Namen habe ich von meinem Vater, er möchte, dass ich ihn selbst ebenfalls weitergebe. Was ich jetzt auch tun kann, falls ich irgendwann einen Sohn haben werde.
Ich höre eine Computertastatur klappern, während Andrea wohl den Eintrag oder sonst irgendetwas in ihrer Datenbank korrigiert.
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Timothy war der Herr, mit dem ich vorhin gesprochen habe. Er hat die Nachricht nicht besonders gut aufgenommen, der Arme. Sie sind Mateo Torrez, nicht wahr?«
Und damit schwindet auch mein letzter Rest Hoffnung.
»Mateo, bitte bestätigen Sie Ihre Identität. Ich fürchte, ich muss heute Nacht noch sehr viele Anrufe erledigen.«
Ich hatte mir immer vorgestellt, meine Botin würde mitfühlend klingen und mir die Nachricht schonend beibringen, ja vielleicht sogar eindringlich beteuern, dass mein Tod angesichts meiner Jugend besonders tragisch sei. Um ehrlich zu sein, hätte ich es auch in Ordnung gefunden, wenn sie aufgekratzt gewesen wäre und mir gesagt hätte, dass ich mich amüsieren und das Beste aus diesem Tag machen solle, da ich doch jetzt immerhin wisse, was mir bevorstehe. Dann würde ich nicht zu Hause hocken bleiben und Puzzles mit tausend Teilen anfangen, die ich nie beenden kann, oder mir einen runterholen, weil ich Angst vor Sex mit einem echten Menschen habe. Aber diese Botin gibt mir das Gefühl, dass ich nur ihre Zeit verschwende, von der sie im Gegensatz zu mir noch so viel übrig hat.
»Okay. Mateo, das bin ich. Ich bin Mateo.«
»Mateo, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden einen vorzeitigen Tod erleiden werden. Und obwohl es bedauerlicherweise nicht in unserer Macht steht, etwas daran zu ändern, haben Sie trotzdem noch die Gelegenheit zu leben.« Die Botin erklärt weiter, dass das Leben nicht immer gerecht sei, und zählt dann einige Veranstaltungen auf, die ich heute besuchen könnte. Ich sollte nicht wütend auf sie sein, aber es ist offensichtlich, dass sie sich bei ihrer Rede langweilt. Diese Sätze haben sich bestimmt längst in ihr Gedächtnis eingegraben, weil sie schon Hunderte oder auch Tausende darüber informiert hat, dass sie bald sterben werden. Sie hat kein Mitgefühl für mich. Wahrscheinlich feilt sie sich gerade die Nägel oder spielt Tic-Tac-Toe gegen sich selbst, während sie mit mir spricht.
Auf Countdown posten die Leute Beiträge darüber, wie sie ihren letzten Tag verbringen, und zwar über alles, angefangen bei ihrem Anruf. Es ist sozusagen Twitter für Todgeweihte. Ich habe unzählige Einträge gelesen, in denen Leute angeben, dass sie ihre Boten gefragt haben, auf welche Weise sie sterben werden. Dabei ist allgemein bekannt, dass niemand Zugang zu diesen Informationen bekommt, nicht einmal der ehemalige Präsident Reynolds, der vor vier Jahren versucht hat, sich in einem unterirdischen Bunker vor dem Tod zu verstecken, und dann von einem seiner eigenen Geheimdienstleute ermordet wurde. Der Todesbote kann einem nur das Datum mitteilen, an dem man stirbt, aber nicht die genaue Uhrzeit oder wie es passieren wird.
»… Haben Sie all das verstanden?«
»Ja.«
»Loggen Sie sich auf Todesbote.com ein und füllen Sie das Formular aus mit den Wünschen für Ihre Beerdigung und der Inschrift, die Sie gern auf Ihrem Grabstein hätten. Oder vielleicht möchten Sie auch lieber eingeäschert werden? In diesem Fall …«
Ich bin in meinem Leben erst einmal bei einer Beerdigung gewesen. Meine Großmutter starb, als ich sieben war, und auf ihrer Trauerfeier bekam ich einen Tobsuchtsanfall, weil sie einfach nicht mehr aufwachte. Fünf Jahre später wurde der Todesbote eingeführt, und plötzlich waren alle bei ihrer eigenen Trauerfeier wach. Die Gelegenheit zu haben, sich zu verabschieden, bevor man stirbt, ist unglaublich, aber sollte man seine letzten Stunden nicht besser damit verbringen zu leben? Vielleicht sähe ich das anders, wenn ich darauf zählen könnte, dass tatsächlich ein paar Leute zu meiner Trauerfeier kommen würden. Wenn ich mehr Freunde hätte als Finger an meiner Hand.
»Und im Namen aller Mitarbeiter des Todesboten möchte ich Ihnen sagen, wie leid es uns tut, Sie zu verlieren, Timothy. Genießen Sie diesen Tag in vollen Zügen, okay?«
»Ich heiße Mateo.«
»Entschuldigen Sie bitte, Mateo. Ich bin untröstlich. Aber es war ein langer Tag. Diese Anrufe können echt stressig sein und …«
Ich lege auf, was nicht besonders höflich ist. Ja, ich weiß. Aber ich höre doch niemandem zu, der mir erzählt, was für einen stressigen Tag er hat, wenn ich innerhalb der nächsten Stunde tot umfallen könnte. Oder sogar schon in den nächsten zehn Minuten: Ich könnte an einem Hustenbonbon ersticken, ich könnte die Wohnung verlassen, um noch etwas zu unternehmen, und dann die Treppe hinunterfallen und mir den Hals brechen, bevor ich überhaupt zur Tür raus bin, oder jemand könnte einbrechen und mich umbringen. Das Einzige, was ich mit Sicherheit ausschließen kann, ist, dass ich an Altersschwäche sterbe.
Ich sinke auf die Knie. Heute wird alles zu Ende gehen und ich kann rein gar nichts dagegen tun. Ich kann nicht durch von Drachen bevölkerte Länder ziehen, um ein Zepter zu finden, das dem Tod Einhalt gebietet. Ich kann nicht auf einen fliegenden Teppich hüpfen und nach einem Flaschengeist suchen, der mir den Wunsch nach einem langen und einfachen Leben erfüllt. Vielleicht könnte ich einen wahnsinnigen Wissenschaftler auftreiben, der mich einfriert, aber wahrscheinlich würde ich mitten in dem verrückten Experiment sterben. Der Tod ist für jeden unausweichlich und für mich heute endgültig.
Die Liste der Leute, die ich vermissen werde, falls Tote jemanden vermissen können, ist so kurz, dass man sie nicht einmal als Liste bezeichnen kann: Dad, der alles gegeben hat, und meine beste Freundin Lidia. Sie hat mich auf dem Schulflur nicht nur wahrgenommen, sondern sich beim Mittagessen sogar zu mir gesetzt, sie ist meine Partnerin in Erdkunde geworden und hat mir erzählt, dass sie als Umweltschützerin die Welt retten will und dass ich zum Dank dafür einfach darin leben soll. Und das wars dann auch schon.
Falls sich jemand für die Liste der Leute, die ich nicht vermissen werde, interessieren sollte, muss ich ihn oder sie enttäuschen. Niemand hat mir je unrecht getan. Und ich verstehe sogar, warum einige Leute sich nicht mit mir einlassen wollten. Wirklich. Ich bin einfach furchtbar paranoid und verkorkst. Die wenigen Male, die ich eingeladen wurde, etwas Cooles mit den Leuten aus meiner Klasse zu unternehmen, zum Beispiel im Park Rollerskates zu fahren oder spätabends noch eine kleine Spritztour mit dem Auto zu machen, habe ich mich gedrückt, weil wir dabei ja vielleicht hätten umkommen können. Ich glaube, was ich am meisten vermissen werde, sind die verpassten Gelegenheiten, mein Leben zu leben, und die ungenutzte Möglichkeit, mit meinen Klassenkameraden echte Freundschaften zu schließen. Ich werde es vermissen, keine engeren Kontakte bei Übernachtungspartys geknüpft zu haben, wo man die ganze Nacht wach bleibt, um Video- und Brettspiele zu spielen – und das nur, weil ich zu ängstlich war.
Der Mensch, den ich am meisten vermissen werde, ist der zukünftige Mateo, der vielleicht etwas lockerer geworden ist und richtig gelebt hat. Es fällt mir schwer, ihn mir genauer vorzustellen, aber ich glaube, dass dieser Mateo neue Dinge ausprobiert, zum Beispiel mit Freunden kifft, den Führerschein macht und in ein Flugzeug nach Puerto Rico steigt, um mehr über seine Herkunft zu erfahren. Vielleicht hat er ein Date mit jemandem und mag die Person. Wahrscheinlich spielt er Klavier für seine Freunde, singt ihnen etwas vor und hat ganz bestimmt eine gut besuchte Trauerfeier, die nach seinem Tod noch ein ganzes Wochenende dauert – mit lauter neuen Leuten, die keine Gelegenheit mehr hatten, ihn ein letztes Mal zu umarmen.
Der zukünftige Mateo hätte eine längere Liste mit Freunden, die er vermissen würde.
Aber ich werde mich nicht mehr in den zukünftigen Mateo verwandeln. Niemand wird sich mehr mit mir bekiffen, niemand wird mir beim Klavierspielen zuhören und niemand neben mir im Auto meines Vaters sitzen, wenn ich den Führerschein gemacht habe. Ich werde mich nie mit Freunden darüber streiten, wer die besseren Bowlingschuhe bekommt oder wer bei unseren Videospielen Wolverine sein darf.
Ich lasse mich nach hinten auf den Boden kippen und denke daran, dass es heute für mich heißt: Jetzt oder nie. Nein, nicht mal das.
Es heißt: Jetzt und dann nie wieder.
Dad duscht immer heiß, um runterzukommen, wenn er wütend oder enttäuscht von sich ist. Ungefähr mit dreizehn habe ich angefangen, ihm das nachzumachen, weil damals viele verwirrende Mateo-Gedanken aufgetaucht sind und ich massenhaft Mateo-Zeit brauchte, um sie zu sortieren. Auch jetzt dusche ich, denn ich fühle mich schuldig, weil ich darauf hoffe, dass die Welt – oder zumindest ein Teil davon, abgesehen von Lidia und meinem Dad – traurig sein wird, wenn ich weg bin. Weil ich es versäumt habe, mich an all den Tagen, als der Todesbote noch nicht angerufen hatte, voll und ganz ins Leben zu stürzen. Weil ich meine gesamte Vergangenheit verschwendet habe und es jetzt keine Zukunft mehr für mich gibt.
Ich werde es niemandem sagen. Außer Dad, aber der ist nicht bei Bewusstsein, deshalb zählt das nicht. Ich will mich an meinem letzten Tag nicht dauernd fragen müssen, ob die Leute es ernst meinen, wenn sie mir traurige Worte schenken. Niemand sollte seine letzten Stunden damit zubringen müssen, die wahren Beweggründe der Menschen herauszufinden.
Aber ich muss hinaus in die Welt und mir einreden, dass heute ein ganz normaler Tag ist. Ich muss Dad im Krankenhaus besuchen und zum ersten Mal seit meiner Kindheit seine Hand halten, was gleichzeitig auch das letzte Mal sein wird … puh, das allerletzte Mal.
Ich werde weg sein, bevor ich mich an den Gedanken meiner Sterblichkeit gewöhnen konnte.
Auch Lidia und ihre einjährige Tochter Penny muss ich besuchen. Lidia hat mich bei der Geburt gefragt, ob ich Pennys Pate sein will, und es ist echt ätzend, dass ausgerechnet ich derjenige bin, der sich eigentlich um Penny kümmern soll, falls Lidia etwas zustößt, da Lidias Freund Christian vor gut einem Jahr gestorben ist. Nur wie soll sich ein Achtzehnjähriger ohne eigenes Einkommen um ein Baby kümmern? Kurze Antwort: Gar nicht. Aber ich hätte älter werden, Penny Geschichten über ihre weltrettende Mutter und ihren coolen Vater erzählen können und sie zu mir nach Hause einladen, sobald ich finanziell abgesichert und emotional in der Lage dazu gewesen wäre. Jetzt werde ich aus ihrem Leben gerissen, bevor ich mehr bin als irgendein Typ in einem Fotoalbum, über den Lidia Geschichten erzählt, bei denen Penny mit dem Kopf nickt und sich vielleicht über meine Brille lustig macht, aber dann schnell die Seite umblättert, um zu Familienmitgliedern zu kommen, die sie wirklich kennt und die ihr wichtig sind. Ich werde für sie nicht einmal ein Geist sein. Aber das ist kein Grund, sie nicht noch ein letztes Mal zu kitzeln, ihr Kürbis oder Erbsen aus dem Gesicht zu wischen oder Lidia eine kurze Pause zu verschaffen, damit sie für ihren Schulabschluss lernen, sich die Zähne putzen, die Haare kämmen oder ein wenig schlafen kann.
Anschließend werde ich mich irgendwie von meiner besten Freundin und ihrer Tochter losreißen und gezwungenermaßen endlich leben.
Ich stelle das Wasser ab und es prasselt nicht mehr länger auf mich herunter. Heute ist kein Tag für stundenlanges Duschen. Ich nehme meine Brille vom Waschbecken und setze sie auf. Dann steige ich aus der Wanne und rutsche in einer Pfütze aus. Während ich nach hinten falle, warte ich schon darauf, zu erfahren, ob es tatsächlich stimmt, dass das ganze Leben noch einmal an einem vorbeizieht. Doch dann bekomme ich die Handtuchstange zu fassen und kann mich festhalten. Ich atme ein paarmal tief durch, denn ausgerechnet so zu sterben wäre ein extrem unglücklicher Abgang. Irgendjemand würde mich auf die Liste »K.o. in der Dusche« setzen – auf dem Blog Törichte Todesfälle, eine viel besuchte Seite, die ich aus den unterschiedlichsten Gründen widerlich finde.
Ich muss hier raus und leben – aber zuerst muss ich es heil aus der Wohnung schaffen.
Ich schreibe Dankesnachrichten an meine Nachbarn aus den Wohnungen 4F und 4A und teile ihnen mit, dass heute mein Abschiedstag ist. Seit Dad im Krankenhaus ist, hat Elliot aus 4F immer wieder nach mir gesehen und mir Abendessen herübergebracht, vor allem nachdem letzte Woche unser Gasherd kaputtgegangen ist, als ich versucht habe, Dads Empanada-Rezept nachzukochen. Sean aus 4A wollte am Samstag vorbeikommen, um den Brenner zu reparieren, aber das ist jetzt nicht mehr nötig. Dad weiß, wie man das macht, und kann die Ablenkung vielleicht ganz gut gebrauchen, wenn ich nicht mehr da bin.
Ich gehe zum Schrank, hole das blaugraue Flanellhemd heraus, das Lidia mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hat, und ziehe es über mein weißes T-Shirt. Ich habe es bisher noch nicht draußen angehabt. In diesem Hemd werde ich Lidia heute den ganzen Tag über nahe sein.
Ich schaue auf die Uhr – Dads alte, die er mir geschenkt hat, nachdem er sich wegen seiner schlechten Augen eine Digitaluhr mit Leuchtziffern gekauft hat. Es ist fast ein Uhr nachts. An einem gewöhnlichen Tag hätte ich noch bis früh am Morgen Videospiele gespielt, auch wenn ich in der Schule dann immer todmüde war. Wenigstens konnte ich in den Freistunden schlafen. Ich hätte diese Stunden nicht einfach absitzen, sondern mich stattdessen noch für ein anderes Fach einschreiben sollen, für Kunst zum Beispiel, auch wenn ich durch Zeichnen nicht mein Leben retten kann. (Und auch durch sonst nichts, logisch, und ich würde gern sagen, dass das völlig egal ist, aber im Grunde ist es das Einzige, was zählt.) Vielleicht hätte ich im Orchester Klavier spielen und dort erstes Lob ernten können, um später dann im Chor zu singen oder ein Duett mit irgendjemand Coolem, und am Ende hätte ich mich vielleicht an ein Solo gewagt. Mensch, sogar Theater hätte mir Spaß machen können, mit einer Rolle, die mich gezwungen hätte, aus mir herauszugehen. Aber nein, ich entschied mich für eine weitere Freistunde, in der ich abschalten und ein Nickerchen machen konnte.
Es ist 00:58 Uhr. Sobald es eins ist, werde ich mich dazu zwingen, die Wohnung zu verlassen. Sie war immer mein Zufluchtsort und gleichzeitig mein Gefängnis, aber jetzt muss ich endlich mal die Luft dort draußen einatmen, statt nur hindurchzujagen, um von A nach B zu kommen. Ich muss Bäume zählen und vielleicht ein Lieblingslied singen, während ich die Füße in den Hudson tauche – einfach alles dafür tun, dass ich als der junge Mann in Erinnerung bleibe, der viel zu früh gestorben ist.
Es ist 01:00 Uhr.
Unfassbar, dass ich nie wieder in mein Zimmer zurückkehren werde.
Ich drehe den Schlüssel im Schloss, packe den Knauf und ziehe die Wohnungstür auf.
Dann schüttele ich den Kopf und knalle die Tür wieder zu.
Ich werde nicht in eine Welt hinausgehen, die mich vorzeitig töten wird.
Der Todesbote meldet sich, als ich gerade dabei bin, den neuen Freund meiner Ex halb totzuprügeln. Ich hocke auf dem Kerl und drücke ihm mit den Knien die Schultern auf den Boden. Der einzige Grund, warum ich ihm nicht noch eine aufs Auge verpasse, ist das Läuten aus meiner Tasche, dieser laute Klingelton des Todesboten, den alle nur zu gut kennen: aus eigener Erfahrung, aus den Nachrichten oder irgendeiner miesen Fernsehserie, die diesen Alarmton nutzt, um es – ta-ta-ta-taa – spannender zu machen. Meine Kumpels Tagoe und Malcolm haben aufgehört, mich anzufeuern. Sie sind totenstill geworden, und ich warte darauf, dass das Handy von Peck, diesem Dreckskerl, ebenfalls loslegt. Aber seins klingelt nicht, nur meins. Vielleicht hat der Anruf, der mir verkünden wird, dass ich heute mein Leben verliere, gerade seins gerettet.
»Los, geh schon ran, Roof!« Tagoe hat die Schlägerei gefilmt, weil Kämpfe im Netz anzugucken voll sein Ding ist. Aber jetzt starrt er sein Handy an, als ob er Angst hätte, seins könnte auch gleich klingeln.
»Scheiß drauf«, sage ich. Mein Herz hämmert rasend schnell, noch schneller als bei meinem ersten Angriff auf Peck, dem Schlag, der ihn umgehauen hat. Pecks linkes Auge ist schon total zugeschwollen und sein rechtes voller Angst. Die Anrufe des Todesboten kommen bis um drei. Er kann nicht sicher sein, ob ich ihn nicht noch mitnehmen werde.
Ich selbst auch nicht.
Mein Handy hört auf zu klingeln.
»Vielleicht wars ein Irrtum«, sagt Malcolm.
Mein Handy klingelt erneut.
Malcolm hält den Mund.
Ich habe mir keine Hoffnungen gemacht. Ich kenne zwar keine Zahlen und solches Zeug, aber ich hab noch nie davon gehört, dass der Todesbote das mit dem Anruf vermasselt hätte. Und wir Emeterios waren auch nie besonders erfolgreich darin, am Leben zu bleiben. Wenn es darum geht, unserem Schöpfer deutlich vor der Zeit entgegenzutreten, sind wir dabei.
Ich zittere und mein Kopf brummt vor Panik, als würde mich jemand andauernd boxen. Ich hab keine Ahnung, wie ich abtreten werde, nur dass es heute ansteht, ist klar. Und mein Leben zieht nicht an mir vorbei, womit ich auch später nicht rechnen werde, wenn ich dann tatsächlich am Abkratzen bin.
Peck windet sich unter mir und ich hebe die Faust, damit er verdammt noch mal stillhält.
»Vielleicht hat er ’ne Waffe dabei«, sagt Malcolm. Er ist der Riese in unserer Gruppe, der Typ, der uns damals gefehlt hat, als meine Schwester den Sicherheitsgurt nicht aufbekam, während unser Auto im Hudson versank.
Vor dem Anruf hätte ich sonst was drauf gewettet, dass Peck keine Waffe dabeihat, weil es schließlich wir waren, die ihn auf dem Weg von der Arbeit überfallen haben. Aber mein Leben verwette ich sicher nicht darauf, jetzt nicht mehr. Ich lasse mein Handy fallen. Dann taste ich Peck ab, drehe ihn auf den Bauch und suche seinen Hosenbund nach einem Taschenmesser ab. Ich stehe auf und er bleibt liegen.
Malcolm zerrt Pecks Rucksack unter dem blauen Auto hervor, wo Tagoe ihn hingeschleudert hat. Er zieht den Reißverschluss auf und dreht den Rucksack um. Ein paar Black Panther- und Hawkeye-Comics fallen raus. »Nichts.«
Tagoe stürzt sich auf Peck, und ich könnte schwören, gleich tritt er gegen seinen Kopf, als wärs ein Fußball, aber er hebt nur mein Handy auf und geht ran. »Wen wollen Sie sprechen?« Niemand überrascht das Zucken in seinem Nacken. »Moment, Moment. Das bin ich nicht. Moment. Warten Sie kurz.« Er hält mir das Handy hin. »Soll ich auflegen, Roof?«
Ich weiß es nicht. Vor mir liegt Peck immer noch blutig und blau geprügelt auf dem Parkplatz der Grundschule, und eigentlich müsste ich den Anruf gar nicht annehmen. Natürlich ruft der Todesbote nicht an, um mir zu sagen, dass ich im Lotto gewonnen habe. Ich reiße Tagoe das Telefon aus der Hand, stinksauer und verwirrt. Vielleicht muss ich mich gleich übergeben, aber das haben meine Eltern und meine Schwester auch nicht getan, also vielleicht auch nicht.
»Passt auf ihn auf«, sage ich zu Tagoe und Malcolm. Sie nicken. Ich weiß gar nicht, wie ich zum Anführer geworden bin. Schließlich bin ich erst Jahre nach ihnen in der Pflegefamilie gelandet.
Ich gehe ein Stück zur Seite, als käme es hier auf die Privatsphäre an, und achte darauf, mich vom Licht des Ausgang-Schildes fernzuhalten. Ich hab keinen Bock, mitten in der Nacht mit Blut an den Fingerknöcheln geschnappt zu werden. »Ja?«
»Hallo. Hier ist Victor vom Todesboten, ich möchte gern mit Rufus Emmy-terio sprechen.«
Er verhunzt meinen Nachnamen, aber es hat keinen Zweck, ihn zu verbessern. Es gibt sonst niemand mehr, der diesen Namen trägt. »Ja, das bin ich.«
»Rufus, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden …«
»Dreiundzwanzig Stunden«, verbessere ich ihn, während ich neben dem Auto auf und ab gehe. »Es ist schon nach eins.« Verdammte Scheiße. Andere Todgeweihte haben ihren Anruf schon vor einer Stunde bekommen. Wenn der Todesbote sich vor einer Stunde gemeldet hätte, hätte ich vielleicht nicht vor dem Restaurant gewartet, wo Peck arbeitet, der sein Studium schon im ersten Semester geschmissen hat, und ihn bis zu diesem Parkplatz verfolgt.
»Ja, Sie haben recht. Tut mir leid«, sagt Victor.
Ich beiße mir auf die Zunge, weil ich meinen Ärger nicht an einem Typen auslassen will, der nur seinen Job macht, auch wenn ich nicht verstehe, wie zum Teufel sich überhaupt irgendjemand auf so eine Stelle bewerben kann. Nur mal kurz angenommen, ich hätte eine Zukunft, dann könnte ich mir im Leben nicht vorstellen, morgens aufzuwachen und zu sagen: »Ich glaube, ich übernehme heute Nacht eine Dreistundenschicht, in der ich nichts weiter tue, als Leuten klarzumachen, dass ihr Leben vorbei ist.« Aber Victor und andere haben das getan. Ich will auch nichts von diesen blöden Sprüchen hören, dass man den Überbringer einer schlechten Nachricht nicht dafür verantwortlich machen kann, vor allem dann nicht, wenn er anruft, um mir zu sagen, dass ich heute den Löffel abgeben werde.
»Rufus, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie innerhalb der nächsten dreiundzwanzig Stunden einen vorzeitigen Tod erleiden werden. Und obwohl es bedauerlicherweise nicht in meiner Macht steht, etwas daran zu ändern, rufe ich an, um Sie über Ihre Möglichkeiten an diesem heutigen Tag zu informieren. Zunächst einmal – wie geht es Ihnen? Es hat eine Weile gedauert, bis Sie den Anruf entgegengenommen haben. Ist alles in Ordnung?«
Er will wissen, wie es mir geht, ja klar. An seinem aufgesetzten Ton kann ich erkennen, dass er sich genauso wenig für mich interessiert wie für die anderen Todgeweihten, die er heute noch anrufen wird. Wahrscheinlich werden die Anrufe aufgezeichnet und er versucht sich Zeit zu lassen, um seinen Job nicht zu verlieren.
»Ich weiß nicht, wie’s mir geht.« Ich umklammere mein Handy, um es nicht gegen die Mauer zu knallen, auf die kleine weiße und braune Kinder gemalt sind, die sich unter einem Regenbogen an den Händen halten. Dann werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe, dass Peck noch immer auf dem Bauch am Boden liegt, während mich Malcolm und Tagoe anstarren. Hoffentlich sorgen sie dafür, dass der Kerl nicht abhaut, bevor wir entschieden haben, was wir jetzt mit ihm machen. »Was hab ich denn für Möglichkeiten?« Ich schätze, das ist okay.
Victor gibt mir zunächst den Wetterbericht für heute durch (vormittags soll es regnen und später auch – falls ich so lange durchhalte), dann nennt er mir besondere Veranstaltungen, auf die ich null Bock habe (vor allem nicht auf einen Yogakurs im High Line Park, Regen hin oder her), Formalitäten für die Beerdigung und Restaurants mit den besten Rabatten für Todgeweihte, wenn ich den heutigen Code verwende. Mehr kriege ich nicht mit, weil ich Panik schiebe, wie der Rest meines Abschiedstages ablaufen wird.
»Woher wisst ihr das eigentlich?«, unterbreche ich ihn. Vielleicht kriegt der Typ ja Mitleid mit mir, und dann kann ich Tagoe und Malcolm in das große Geheimnis einweihen. »Das mit dem Todestag. Woher wisst ihr das? Habt ihr da ne Liste? Eine beschissene Kristallkugel? Oder ’nen Kalender für die Zukunft?« Alle Welt spekuliert darüber, woher der Todesbote diese einschneidenden Informationen hat. Tagoe hat mir von den ganzen durchgeknallten Theorien erzählt, die er im Internet gefunden hat, zum Beispiel dass der Todesbote eine Reihe waschechter Hellseher befragt, und eine echt lächerliche von ’nem Alien, der an eine Badewanne gefesselt ist und von der Regierung dazu gezwungen wird, Todestage auszuspucken. Diese Theorie hat eine ganze Menge Schwachstellen, aber ich hab gerade keine Zeit, sie aufzuzählen.
»Ich fürchte, über diese Information verfügen auch wir Boten nicht«, erklärt Victor. »Es würde uns ebenfalls interessieren, aber das müssen wir zur Ausübung unserer Tätigkeit nicht unbedingt wissen.« Schon wieder so ’ne lahme Antwort. Ich wette, er weiß Bescheid, darf aber nichts sagen, wenn er seinen Job behalten will.
Scheiß auf den Typen. »Ey, Victor, sei mal eine Minute lang ein Mensch. Keine Ahnung, ob du das weißt, aber ich bin erst siebzehn. In drei Wochen werde ich achtzehn. Kotzt es dich nicht an, dass ich nie aufs College gehen werde? Heiraten? Kinder kriegen? Reisen? Anscheinend nicht. Du hockst einfach ganz gechillt auf deinem kleinen Thron in deinem kleinen Büro, weil du weißt, dass du noch ein paar Jahrzehnte vor dir hast, stimmts?«
Victor räuspert sich. »Sie wollen, dass ich ein Mensch bin, Rufus? Sie wollen, dass ich von meinem Thron steige und ehrlich zu Ihnen bin? Einverstanden. Vor einer Stunde hatte ich eine Frau am Telefon, die geweint hat, weil sie keine Mutter mehr sein wird, sobald ihre vierjährige Tochter heute gestorben ist. Sie flehte mich an, ihr zu verraten, wie sie das Leben ihrer Tochter retten kann. Aber kein Mensch hat diese Macht. Und dann musste ich einen Antrag beim Jugendamt stellen, damit sie die Polizei hinschicken, falls die Mutter selbst für den Tod ihrer Tochter verantwortlich ist, und ob Sie es glauben oder nicht – das war noch nicht das Abscheulichste, was ich in diesem Beruf getan habe. Rufus, Ihr Schicksal tut mir leid, wirklich. Aber ich bin nicht schuld an Ihrem Tod, und bedauerlicherweise muss ich heute Nacht noch viele solcher Anrufe erledigen. Könnten Sie mir also den Gefallen tun und kooperieren?«
Fuck.
Also kooperiere ich, auch wenn der Typ mir eigentlich nichts von den Angelegenheiten fremder Leute erzählen dürfte. Aber ich kann an nichts anderes mehr denken als an die Mutter, deren Tochter nie auf diese Schule gehen wird, vor der ich hier stehe. Zum Abschluss des Gesprächs zitiert Victor den Firmenspruch, den ich schon so oft in den neuen Fernsehserien und Filmen gesehen habe, die den Todesboten in den Alltag ihrer Figuren einbauen: »Im Namen aller Mitarbeiter des Todesboten möchte ich Ihnen sagen, wie leid es uns tut, Sie zu verlieren. Genießen Sie diesen Tag in vollen Zügen.«
Ich weiß nicht, wer zuerst auflegt, aber das spielt keine Rolle. Es ist vorbei – es wird vorbei sein. Heute ist mein Todestag, das echte Rufus-Armageddon. Ich weiß nicht, wie die Sache ausgehen wird. Hoffentlich ertrinke ich nicht wie meine Eltern und meine Schwester. Der Einzige, dem ich je übel mitgespielt habe, ist Peck, ehrlich, also rechne ich nicht damit, erschossen zu werden, aber wer weiß, manchmal verirrt sich so eine Kugel ja auch. Das Wie ist auch nicht so wichtig wie das, was ich noch machen werde, bevor es so weit ist. Aber es nicht zu wissen, jagt mir trotzdem eine Scheißangst ein, man stirbt schließlich nur ein Mal.
Vielleicht wird Peck ja doch dafür verantwortlich sein.
Ich gehe schnell zu den anderen zurück, zerre Peck hinten am Kragen hoch und schleudere ihn an die Ziegelmauer. Er blutet aus einer offenen Wunde an der Stirn, und ich kann nicht glauben, dass ich wegen diesem Typen so ausgerastet bin. Er hätte einfach die Fresse halten sollen, statt darüber zu labern, warum Aimee mich nicht mehr wollte. Wenn ich das nicht erfahren hätte, lägen meine Hände jetzt nicht um seinen Hals, wovon er noch mehr Schiss hat als ich.
»Du warst nicht cooler als ich, klar? Aimee hat nicht deinetwegen mit mir Schluss gemacht, schlag dir das aus dem Kopf. Sie hat mich geliebt, und dann wurde es kompliziert, aber am Ende wär sie wieder zu mir zurückgekommen.« Das stimmt, Malcolm und Tagoe denken das auch. Ich beuge mich vor und starre Peck direkt in sein heiles Auge. »Ich will dich in meinem ganzen Leben nicht mehr sehen.« Ja, schon klar. Mein Leben ist sowieso bald vorbei. Aber der Kerl hier ist ein verdammter Clown und vielleicht noch auf Spaß aus. »Kapiert?«
Peck nickt.
Ich lasse seinen Hals los. Dann ziehe ich ihm das Handy aus der Tasche und werfe es gegen die Wand, sodass das Display zerspringt. Malcolm tritt darauf.
»Los, verpiss dich.«
Malcolm packt mich an der Schulter. »Lass ihn nicht gehen. Er hat doch die ganzen Connections.«
Peck schiebt sich nervös an der Mauer entlang, als würde er im obersten Stock eines Wolkenkratzers von einem Fenster zum nächsten klettern.
Ich schüttele Malcolm ab. »Ich hab gesagt, du sollst dich verpissen.«
Peck rennt los und flüchtet in einem schwindelerregenden Zickzackkurs. Er dreht sich nicht einmal um, um zu sehen, ob wir ihm folgen. Auch seine Comics und den Rucksack lässt er zurück.
»Du hast doch gesagt, er wär mit ein paar Typen aus so ’ner Gang befreundet«, sagt Malcolm. »Was, wenn er die auf dich hetzt?«
»Es ist keine echte Gang und er gehört auch nicht richtig dazu. Vor einer Gang, die Peck aufnimmt, braucht man sowieso keine Angst zu haben. Außerdem kann er sie oder Aimee ja nicht mehr anrufen, dafür haben wir gesorgt.« Er darf Aimee nicht vor mir erreichen. Ich muss es ihr erklären, aber wenn sie rauskriegt, was ich getan habe, will sie mich vielleicht nicht mehr sehen, Abschiedstag hin oder her.
»Der Todesbote kann ihn jetzt auch nicht mehr anrufen«, sagt Tagoe und sein Nacken zuckt zweimal.
»Ich hatte nicht vor, ihn umzubringen.«
Malcolm und Tagoe schweigen. Sie haben gesehen, wie ich auf Peck losgegangen bin, als wäre ich nicht mehr zu bremsen.
Die ganze Zeit über zittere ich.
Ich hätte ihn umbringen können, obwohl das nicht der Plan war. Ich weiß nicht, ob ich damit hätte leben können, wenn ich ihn kaltgemacht hätte. Nee, das stimmt nicht und das ist mir auch klar, ich versuch bloß, den harten Typen zu spielen. Aber ich bin nicht hart. Ich konnte ja kaum weiterleben, als meine Familie umgekommen ist – und daran war ich noch nicht mal schuld. Ich wäre auf keinen Fall cool geblieben, wenn ich jemand totgeschlagen hätte.
Ich laufe zu unseren Fahrrädern. Mein Lenker hat sich in Tagoes Speichen verfangen, als wir nach der Verfolgungsjagd auf Peck unsere Räder hingeschmissen haben. »Ihr dürft nicht bei mir bleiben«, sage ich, während ich mein Rad aufhebe. »Das ist euch klar, oder?«
»Nee, wir bleiben bei dir, auch …«
»Auf keinen Fall, Alter! Ich bin eine tickende Zeitbombe, und selbst wenn ihr nicht mit hochgeht, sobald es bei mir so weit ist, verbrennt ihr euch vielleicht – im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Du wirst uns nicht los«, sagt Malcolm. »Wir gehen, wohin du gehst.«
Tagoe nickt, wobei sein Kopf nach rechts zuckt, als würde sein Körper seinen Instinkt, mir zu folgen, Lügen strafen. Er nickt noch mal, diesmal ohne Zucken.
»Ihr zwei seid voll die Schatten«, sage ich.
»Weil wir schwarz sind?«, fragt Malcolm.
»Weil ihr mir dauernd auf den Fersen bleibt. Treu bis in den Tod.«
Den Tod.
Das bringt uns zum Schweigen. Wir steigen auf die Räder und fahren mit rumpelnden Reifen den Bordstein runter. Ausgerechnet heute hab ich meinen Helm nicht dabei.
Ich weiß, dass Tagoe und Malcolm nicht den ganzen Tag bei mir bleiben können. Aber wir sind Plutos, Brüder aus derselben Pflegefamilie, und lassen uns nicht im Stich.
»Also dann, ab nach Hause«, sage ich.
Und los gehts.
Ich bin wieder in meinem Zimmer – so viel dazu, dass ich nie hierher zurückkehren würde – und augenblicklich geht es mir besser. Als hätte ich gerade ein weiteres Leben in einem Videospiel gewonnen, nachdem der Endgegner mich fertiggemacht hat. Ich bin nicht naiv, was das Sterben angeht. Ich weiß, dass es passieren wird. Aber ich muss mich ja nicht kopfüber hineinstürzen. Ich schinde gerade noch etwas mehr Zeit. Alles, was ich wollte, war ein längeres Leben, und ich habe die Macht, diesen Traum nicht zu zerstören, indem ich die Wohnung verlasse – vor allem nicht so spät nachts.
Mit der Art Erleichterung, die man nur verspürt, wenn man morgens aufwacht und feststellt, dass Samstag und damit schulfrei ist, springe ich aufs Bett. Ich hänge mir die Decke über die Schultern, nehme wieder meinen Laptop, ignoriere die minutengenaue E-Mail-Bestätigung meines Telefonats mit Andrea vom Todesboten und lese den gestrigen Post auf Countdown weiter, den ich vor dem Anruf angefangen hatte.
Der Todgeweihte hieß Keith und war zweiundzwanzig. Seine Statuszeilen enthalten nicht viel Information über sein Leben, nur dass er ein Einzelgänger war, der lieber mit seinem Golden Retriever namens Turbo spazieren ging, als mit seinen Klassenkameraden unterwegs zu sein. Er war auf der Suche nach einem neuen Zuhause für Turbo, weil er ziemlich sicher war, dass sein Vater ihn dem Nächstbesten überlassen würde, was jeder hätte sein können, weil Turbo so ein schöner Hund ist. Mann, sogar ich hätte ihn adoptiert, obwohl ich eine heftige Hundehaarallergie habe. Aber bevor Keith seinen Hund abgab, liefen Turbo und er noch ein letztes Mal ihre Lieblingsplätze ab, und sein Eintrag endete irgendwo im Central Park.
Ich weiß nicht, wie Keith gestorben ist. Ich weiß nicht, ob Turbo überlebt hat oder mit Keith gestorben ist. Ich weiß nicht, was für Keith oder Turbo besser gewesen wäre. Ich weiß es nicht. Natürlich könnte ich nach irgendwelchen Überfällen oder Morden im Central Park gestern gegen 17:40 Uhr suchen, als der Post abbrach, aber meiner geistigen Gesundheit zuliebe bleibt das besser im Dunkeln. Stattdessen öffne ich meinen Musikordner und starte Space Sounds.
Vor ein paar Jahren hat ein Team der NASA ein spezielles Gerät entwickelt, um die Geräusche verschiedener Planeten aufzunehmen. Ich fand auch erst, dass sich das seltsam anhört, vor allem nach den ganzen Filmen, die ich gesehen hatte, wo es hieß, im Weltraum gebe es keinen Klang. Aber den gibt es sehr wohl, er äußert sich nur in magnetischen Schwingungen. Die NASA hat die Geräusche umgewandelt, sodass das menschliche Ohr sie hören kann, und obwohl ich mich in meinem Zimmer versteckt habe, bin ich auf etwas Magisches aus dem Universum gestoßen – etwas, das diejenigen verpassen, die nicht verfolgen, was gerade im Internet angesagt ist. Einige der Planeten klingen unheilvoll wie in einem Science-Fiction-Film, der in irgendeiner Welt voller Aliens spielt. Neptun klingt wie eine schnelle Strömung, Saturn hat so ein gruseliges Heulen an sich, dass ich ihn lieber gar nicht mehr höre, dasselbe gilt für Uranus, nur dass dort starke Winde pfeifen, was klingt wie Raumschiffe, die sich mit Laserkanonen beschießen. Die Planetenklänge sind ein geniales Thema, um ein Gespräch anzufangen, wenn man Leute hat, mit denen man sich unterhalten kann. Wenn nicht, sind sie wie ein geniales weißes Rauschen zum Einschlafen.
Ich lenke mich von meinem Abschiedstag ab, indem ich weitere Einträge auf Countdown lese und das Geräusch von der Erde höre. Es erinnert mich immer an entspannendes Vogelgezwitscher und diese leisen Töne, die Wale von sich geben, aber gleichzeitig klingt es auch ein bisschen schräg und hat etwas Beunruhigendes an sich, das ich nicht genau benennen kann. So ähnlich wie Pluto, der sich anhört wie eine Muschel, aber auch wie das Zischen einer Schlange.
Ich wechsele zu Neptun.
Mitten in der Nacht fahren wir zu Pluto.
»Pluto« ist der Name, den wir der Pflegefamilie gegeben haben, bei der wir alle leben, seit unsere richtigen Familien gestorben sind oder uns im Stich gelassen haben. Pluto wurde zwar von einem Planeten zum Zwergplaneten heruntergestuft, aber wir würden uns trotzdem nie als weniger wichtig betrachten.
Meine Leute sind jetzt seit vier Monaten tot, aber Tagoe und Malcolm sind schon viel länger befreundet. Malcolms Eltern sind beim Brand ihres Hauses, den irgendein Brandstifter gelegt hat, ums Leben gekommen. Malcolm hofft, dass, wer immer es auch war, in der Hölle schmort, weil er ihm seine Eltern genommen hat, als er ein dreizehnjähriger Problemfall war, den keiner haben wollte außer dem Staat – und auch der nur gezwungenermaßen. Tagoes Mom hat sich vom Acker gemacht, als er noch klein war, und sein Alter ist vor drei Jahren abgehauen, weil er die Rechnungen nicht mehr zahlen konnte. Einen Monat später bekam Tagoe die Nachricht, dass er sich umgebracht hat, aber der coole Hund hat bisher keine einzige Träne um den Kerl geweint und nicht mal gefragt, wie oder wann er abgekratzt ist.
Schon bevor ich erfuhr, dass ich sterben werde, war klar, dass Pluto nicht mehr viel länger mein Zuhause bleiben würde. Ich werde bald achtzehn – genau wie Tagoe und Malcolm, die beide im November Geburtstag haben. Ich hatte vor, aufs College zu gehen wie Tagoe, und wir waren davon ausgegangen, dass Malcolm nachkommen würde, sobald er sich zusammengerissen hätte. Wer weiß, wie’s jetzt weitergeht, aber es ist echt scheiße, dass ich nichts mehr mit diesen Fragen zu tun haben werde. Jetzt zählt nur noch, dass wir heute zusammen sind. Ich hab Malcolm und Tagoe bei mir, genau wie von dem Tag an, als ich bei ihnen eingezogen bin. Egal, ob es um Familienkram oder einen Anschiss ging, sie standen mir immer zur Seite.
Eigentlich hatte ich nicht vor anzuhalten, aber als ich die Kirche sehe, bei der ich einen Monat nach dem Unfall an meinem ersten Wochenende mit Aimee war, bleibe ich stehen. Es ist ein massiver Bau mit cremeweißen Ziegeln und einem rotbraunen Kirchturm. Ich würde gern ein Foto von den Buntglasfenstern machen, aber wahrscheinlich kommen die mit Blitz nicht gut rüber. Spielt allerdings keine Rolle. Wenn ich ein Bild sehe, das für Instagram gut wäre, lege ich sowieso den Moon-Filter für den klassischen Schwarz-Weiß-Effekt drüber. Das Hauptproblem ist, dass ein Kirchenfoto von einem ungläubigen Arsch wie mir wahrscheinlich nicht das beste Abschiedsbild für meine siebzig Follower wäre. (Hashtag: Das wird nicht passieren.)
»Was ist los, Roof?«
»Das ist die Kirche, wo Aimee für mich Klavier gespielt hat«, sage ich. Aimee ist ziemlich katholisch, aber sie hat nicht versucht, mich zu bekehren oder so. Wir haben über Musik geredet und ich hab erwähnt, dass ich ein paar von den klassischen Sachen ausgraben wollte, die Olivia immer beim Lernen gehört hat, und dann meinte Aimee, dass ich das auch mal live hören sollte – und sie wollte es für mich spielen. »Ich muss ihr sagen, dass ich den Anruf bekommen habe.«
Tagoe zuckt. Ich wette, ihm brennts unter den Nägeln, mich daran zu erinnern, dass Aimee gesagt hat, sie bräuchte Abstand von mir, aber an ’nem Abschiedstag gelten andere Regeln.
Ich steige vom Rad und stelle es ab. Dann gehe ich ein paar Schritte, nicht weit, nur etwas näher zum Eingang, aus dem gerade ein Priester kommt, der eine weinende Frau aus der Kirche begleitet. Sie ringt die Hände, wobei ihre Ringe zusammenknallen, Topas, glaube ich, wie der, den meine Mutter mal verpfändet hat, als sie Olivia zu ihrem dreizehnten Geburtstag Konzertkarten schenken wollte. Die Frau muss eine Todgeweihte sein – oder jemanden kennen, der es ist. Die Nachtschicht hier ist bestimmt kein Spaß. Malcolm und Tagoe machen sich immer über die Kirchen lustig, die mit dem Todesboten und seinen »unheiligen, vom Satan eingeflüsterten Visionen« nichts zu tun haben wollen. Aber es ist der Hammer, wie manche Nonnen und Priester bis weit nach Mitternacht für Todgeweihte zur Verfügung stehen, die beichten wollen oder sich taufen lassen und all so was.
Wenn meine Mutter recht hatte und es dort draußen einen Typen wie Gott gibt, hoffe ich, dass er mir jetzt beisteht.
Ich rufe Aimee an. Es klingelt sechsmal, bevor die Mailbox anspringt. Ich rufe wieder an und es passiert dasselbe. Dann versuche ich es noch einmal, und diesmal springt die Mailbox schon nach dem dritten Klingeln an. Aimee ignoriert mich.
Ich tippe eine Nachricht: Der Todesbote hat mich angerufen. Vielleicht könntest du das auch mal tun.
Nee, das zu schicken, wäre extrem fies.
Ich korrigiere die Nachricht: Der Todesbote hat mich angerufen. Könntest du dich bitte melden?
Nach weniger als einer Minute klingelt mein Handy, der übliche Klingelton, nicht dieser Todesbotenalarm, bei dem einem das Herz stehen bleibt. Es ist Aimee.
»Hey.«
»Ist das dein Ernst?«, fragt sie.
Wenn nicht, würde sie mich wegen dem falschen Alarm garantiert umbringen. Tagoe hat das mal gebracht, um gehört zu werden, aber Aimee hat ihn voll auflaufen lassen.
»Ja. Ich muss dich sehen.«
»Wo bist du?« Ihre Stimme klingt sanft und sie legt nicht auf wie bei meinen letzten Anrufen.
»Ich bin zufällig gerade bei der Kirche, in der wir zusammen waren«, sage ich. Hier ist es megafriedlich, als könnte ich es vielleicht doch bis morgen schaffen, wenn ich den ganzen Tag hierbleibe. »Malcolm und Tagoe sind auch da.«
»Warum seid ihr nicht bei Pluto? Was habt ihr denn Montagnacht draußen zu suchen?«
Ich brauche mehr Zeit, um darauf zu antworten. Vielleicht achtzig Jahre, aber so viel Zeit bleibt mir nicht. Trotzdem will ich es nicht gleich zugeben. »Wir fahren jetzt zurück zu Pluto. Treffen wir uns dort?«
»Was? Nein. Bleib bei der Kirche. Ich komm dahin.«
»Ich werd nicht sterben, bevor wir uns noch mal gesehen haben, vertrau …«
»Du bist nicht unbesiegbar, du Vollidiot!« Jetzt weint Aimee und ihre Stimme zittert wie damals, als wir ohne Jacken in den Regen geraten sind. »O Mann, tut mir leid, aber weißt du, wie viele Todgeweihte so was versprechen und dann von einem Klavier erschlagen werden?«
»Vermutlich nicht sehr viele«, entgegne ich. »Tod durch Klavier kommt, glaub ich, eher selten vor.«
»Das ist nicht witzig, Rufus. Ich zieh mich an, rühr dich nicht vom Fleck. In spätestens einer halben Stunde bin ich da.«