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WER WIRD EWIG LEBEN, UND WER BEI DEM VERSUCH STERBEN? Aufgewachsen in New York, haben die Zwillingsbrüder Emil und Brighton die Spellwalker immer vergöttert – eine Gruppe cooler Actionhelden, die sich geschworen hat, die Welt von den Specter zu befreien. Während die Celestials und andere Himmlische mit magischen Kräften geboren werden, stehlen die Specter gewaltsam die Essenz seltener magischer Kreaturen wie Phönixe. Brighton wünscht sich, er hätte die Macht, sich dem Kampf seiner Helden anschließen zu können. Emil hingegen will nur, dass die Kämpfe endlich aufhören. Nach einem Protest kommt es zu einer Schlägerei, und Emil erkennt seine eigene magische Kraft – eine, die ihn in den Mittelpunkt des Konflikts stellt und zu jenem heldenhaften Himmlischen macht, der Brighton immer sein wollte …
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Seitenzahl: 425
Adam Silvera
Infinity Son
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Christine Fliedner
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Infinity Son bei Quill Tree Books, ein Imprint von HarperCollins Publishers, New York
© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 by Adam Silvera
Published by Arrangement with Adam Silvera
All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Übersetzung: Hanna Christine Fliedner
Lektorat: Maike Frie
Coverillustration: Kevin Tong
Coverüberarbeitung: Niklas Schütte
www.arctis-verlag.de
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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03880-164-1
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Für jene, die sich selbst nicht als Held*innen sehen. Es ist Zeit, die Flügel auszubreiten.
Besonderer Dank geht raus an Amanda und Michael Diaz – für all die Abende, an denen wir uns in wilde Harry-Potter-Theorien hineingesteigert haben, und weil ihr meine Fan-Fiction gelesen habt. Mein erster Fantasyroman ist für euch.
Ich bin mir todsicher, dass ich in dem einen Leben, das ich habe, Gutes bewirken will, aber das Gleiche kann ich nicht von meinem Bruder behaupten.
Niemand erwartet, dass Brighton mit einem Schlag erwachsen ist, sobald wir um Mitternacht achtzehn werden, ein bisschen mehr Reife wäre allerdings angebracht. Die Tage, an denen wir als Kinder so taten, als hätten wir ähnliche Superkräfte wie die Celestials, die heute Abend die Stadt durchstreifen, sind lange vorbei. Ihr Alltag besteht nicht bloß aus Spiel und Spaß. Aber Brighton ignoriert die täglichen düsteren Schlagzeilen einfach. Ich kann ihn schlecht zwingen, die Wahrheit zu erkennen, doch an mir selbst kann ich arbeiten. An Halloween verkleide ich mich nicht mehr als heldenhafter Spellwalker, und ich schaue mir auch nicht mehr an, wie die Celestials mit ihren angeborenen Fähigkeiten in Käfigen gegen mythische Kreaturen kämpfen.
Damit bin ich fertig. Und zwar so was von.
Ich muss mich ein bisschen abregen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Brighton und ich sind unzertrennlich. Wenn du dich mit ihm anlegst, leg ich mich mit dir an, obwohl ich ums Verrecken nicht die Fäuste schwingen kann. Aber manchmal frage ich mich, ob wir wirklich Zwillinge sind. Vielleicht wurde Brighton ja bei der Geburt vertauscht oder ist heimlich adoptiert? Auf solche abstrusen Ideen komme ich natürlich nur, weil ich im Laufe der Jahre so viele Comics über Auserwählte verschlungen habe.
Jedenfalls dreht Brighton wegen des Straßenfests heute Nacht völlig ab und versucht, überall Interviews für sein YouTube-Format – Celestials of New York, CONY – klarzumachen, aber niemand hat Lust dazu. Alle sind damit beschäftigt, das Erscheinen des Crowned Dreamers zu feiern, des riesigen, noch blassen Sternbilds einer Krone tragenden Gestalt, das sich gegen den dunklen Himmel abzeichnet. Es wird den Großteil dieses Monats zu sehen sein, bevor es sich wieder für die nächsten siebenundsechzig Jahre zur Ruhe bettet. Wie lange es schon Celestials gibt oder woher die ersten Himmlischen ihre Kräfte erhielten, ist unklar. Doch alle Anhaltspunkte im Laufe der Geschichte legen eine starke Verbindung zu den Sternen nahe. So, als könnten ihre ältesten Vorfahr*innen direkt aus dem Äther gefallen sein. Ob das jetzt der Wahrheit entspricht oder nicht, das Erscheinen von Sternbildern ist auf jeden Fall ein besonderes Ereignis für Celestials.
Schön zu sehen, dass sie zur Abwechslung was zu feiern haben. Zurzeit sieht man große Gruppen von ihnen meist nur noch bei Demonstrationen gegen das Unrecht und die Gewalttaten, die ihnen widerfahren. In den letzten neun Monaten haben sich solche Vorfälle verdoppelt. Schwul zu sein, ist ja auch nicht nur eitel Sonnenschein und Regenbögen, aber was da neuerdings abgeht, ist echt noch mal heftiger: Seit dem Blackout – dem brutalsten Angriff, den es in meiner Lebenszeit in New York gegeben hat – behandeln die Leute Celestials wie Terroristen.
Das Straßenfest heute Nacht erinnert mich dagegen an meine erste Pride-Parade. Vor meiner Familie und meinen Freund*innen war ich schon geoutet, in dem Bereich war also alles okay. Aber ich kann nicht so tun, als hätte mich die Vorstellung, was andere von mir und meinen Gefühlen halten, nicht immer noch nervös gemacht. Gedankenlesen wäre da sehr praktisch gewesen. Doch während der Parade spürte ich Erleichterung, Sicherheit, Hoffnung und Glück – verwoben zu einem unzerstörbaren Band, das uns alle zusammenhielt. Zum ersten Mal konnte ich in Gegenwart Fremder völlig frei atmen.
Wie vielen Celestials es heute Abend wohl genauso geht?
Brighton steht hinter seinem Stativ und nimmt Leute auf, die an den Ständen und Zelten entlangschlendern, bevor er die Kamera auf die flimmernde, gekrönte Gestalt am Himmel richtet. »Morgen ändert sich alles«, sagt er. »Das fühle ich. Dann wird man uns filmen.«
»Ja, vielleicht.«
Brighton schweigt so lange, dass es unangenehm wird. »Nie glaubst du mir. Aber du wirst schon sehen.«
»Oder das wird das Jahr, in dem wir damit abschließen«, entgegne ich. »Es gibt noch so viel anderes Aufregendes. Du ziehst fürs College in eine neue Stadt und hast deinen YouTube-Kanal und …«
»Manche kriegen halt echt an ihrem achtzehnten Geburtstag Superkräfte«, unterbricht er mich.
»Ja, in Büchern oder Filmen.«
»Die alle auf den Geschichten von Celestials basieren, deren Fähigkeiten erst mit achtzehn aufgetreten sind.«
»Aber das kommt doch total selten vor.«
»Das heißt nur, dass es unwahrscheinlich ist, nicht unmöglich.« Ich bin ja schon still. Brighton muss immer das letzte Wort haben. Und so kurz vor unserem Geburtstag will ich keinen Streit anfangen. Das Problem ist nur, Schweigen zählt für ihn nicht als Friedensangebot. »Das Timing ist perfekt, Emil. Der Crowned Dreamer verstärkt die Eigenschaften aller Celestials, und wenn wir auch nur einen Funken Gleamkraft von Abuelita in uns haben, könnte er auflodern. Ich … Das spüre ich förmlich.«
»Du spürst es? Tust du wieder so, als hättest du hellseherische Fähigkeiten?«
Brighton lacht und schüttelt den Kopf. »Ha, das war echt lustig, aber nein. Ich mein’s ernst. Erklären kann ich es schlecht. Das ist so ’n Kribbeln in Blut und Knochen.«
»Lass uns einen Zwanziger auf dein Blut-und-Knochen-Gefühl wetten.« Leicht verdientes Geld für eine neue Graphic Novel.
»Deal.«
Wir stoßen die Fäuste gegeneinander und pfeifen dabei, das ist unser Move.
Brighton will gern zu einer bestimmten Dachterrassen-Party, deshalb stellen wir uns in die Schlange vor einem typischen New Yorker Stadthaus. Mehr und mehr Leute werden in das gepflegte Gebäude gelassen. Wir stehen hinter zwei Frauen, die beide die halblangen Capes der Celestials tragen. Bei dem Gedanken daran, dass wir bis vor etwa zwei Jahren auch welche hatten, überrollt mich eine gigantische Schameswelle. Wir trugen sie einfach zum Spaß, ohne zu ahnen, wie heilig den Himmlischen diese traditionelle Kleidung ist, bis unsere beste Freundin Prudencia uns aufgeklärt hat. Danach habe ich meins ganz schnell gespendet. Sobald die beiden Frauen drin sind, treten wir auf die Schwelle, aber der eher unauffällige Türsteher verwehrt uns den Zutritt. »Heute Abend nur Celestials.«
»Sind wir«, behauptet Brighton.
Das Braun in den Augen des Mannes schwindet und wird für einen Moment durch leuchtende Galaxien ersetzt, das untrügliche Kennzeichen der Celestials. »Beweis es.«
Sinnloserweise starrt Brighton zurück, als müsste er sich nur genug anstrengen, und dann würden auch in seinen Augen Sterne und Kometen umherwirbeln.
»Tut mir leid, wir gehen schon«, sage ich zum Türsteher. Ich ziehe Brighton die Stufen hinunter und muss lachen. »Dachtest du echt, du könntest so tun, als hättest du Superkräfte? Als wären deine Augen eine Art gefälschter Ausweis?«
Brighton ignoriert die Frage und zeigt stattdessen auf eine Feuertreppe. »Lass uns da hochschleichen, für ein bisschen Exklusivmaterial.«
»Was? Nein! Alter, das ist bloß ’ne Party. Wen interessiert denn das?«
»Vielleicht findet da ja irgendein Ritual statt.«
»Dann geht uns das nichts an. Ich will da jedenfalls nicht hoch.«
Er schraubt die Kamera vom Stativ. »Okay.«
Ich schaue auf mein Handy. »Nur noch ’ne Viertelstunde bis Mitternacht. Lass uns einfach chillen.«
Brighton späht zum Dach. »Gib mir fünf Minuten. Das könnte richtig gut für CONY sein.«
Samt Stativ setze ich mich auf den Bürgersteig. »Tja, ich kann dich nicht aufhalten.«
»Fünf Minuten«, wiederholt Brighton und klettert die Feuerleiter hoch. »Und hey, lass die Schultern nicht so hängen.«
Nicht alle interessieren sich für Muskeln oder Posen. Manche von uns verhüllen ihre schlaksigen Körper mit weiten T-Shirts und ziehen den Kopf ein, bis wir eines Tages völlig in uns zusammensinken und einfach verschwinden.
Während ich warte, kann ich dem Instagram-Impuls nicht widerstehen, also gehe ich kurz online. Zuerst erscheint ein Post meiner Lieblingsfotografin. Sie fängt Phönixe in ihrer ganzen Pracht ein. Ihr neuestes Video ist das eines Flammenstürmer-Exemplars, das in Brasilien mitten in ein Unwetter fliegt. Ich scrolle weiter und entdecke den Fitness-Influencer, dessen Bauchmuskeln mir in den letzten Monaten sehr vertraut geworden sind. Und obwohl ich sein Work-out ausprobiert habe, sehe ich nicht mal annähernd aus wie er oder die anderen durchtrainierten Sportler, denen ich folge. Seine motivierende Caption holt mich heute aber nicht ab, also stecke ich das Handy weg und versuche, die wirkliche Welt in mich aufzusaugen.
Dieses Straßenfest ist echt der Wahnsinn.
Kleine Kinder flitzen einige Meter über dem Boden durch die Luft, und Erwachsene grillen Essen mit Sonnenstrahlen, die sie locker aus der Handfläche schießen. Ich hoffe, dass auch Nicholas Creekwell Grund zum Feiern hat. Er war der erste Junge, auf den ich stand. Wir waren Partner im Labor, und Chemie hat ihm so viel Spaß gemacht, dass er jetzt Alchemie studieren will, um Tränke zu brauen. Er sah ziemlich gut aus und hatte einen noch besseren Charakter. Und er hat mich zu Tode erschreckt, als er die klemmende Tür meines Schließfachs einfach verschwinden ließ, damit ich meinen Taschenrechner für Algebra rausholen konnte. Ich habe sein Geheimnis für mich behalten, selbst vor Brighton, und er hat mir zwar vertraut, war aber nicht bereit für eine Beziehung, also blieben wir bloß Freunde. Manchmal frage ich mich, ob das wohl anders gelaufen wäre, wenn ich einen Sixpack hätte.
Auf dem Fest werden schicke silberne Ferngläser verkauft, und ich würde mir gern eins holen, aber im Kopf höre ich Mas Stimme, die mich daran erinnert, dass sich die Bücher fürs College nicht von allein bezahlen. Vor allem, weil sie immer noch mit der astronomisch hohen Rechnung für Dads medizinische Behandlung zu kämpfen hat. Ein teures Experiment mit Blutalchemie, das seinen Knochenkrebs verschlimmert hat, bis er dann im März gestorben ist. Dad war von den Sternen fasziniert und hatte sich auf den Crowned Dreamer gefreut. Vielleicht erschließt sich mir ja dessen volle Schönheit, wenn ich älter bin und mir ein Fernglas leisten kann, und Dad betrachtet das Sternbild in einem anderen Leben – sofern man daran glauben möchte.
Das Geräusch von Absätzen auf dem Asphalt lässt mich aufhorchen. Ich wende mich von dem Verkaufszelt ab und bemerke eine Frau in den Zwanzigern. Auf ihrer Stirn glänzt Schweiß, vermutlich ist sie schon ein paar Blocks gerannt. Sie trägt einen schlecht sitzenden Blazer. Einer der Ärmel ist abgerissen, und die frei liegende Haut wirkt im Vergleich zu ihrem blassen Gesicht sonnenverbrannt. Sieht nicht gerade aus, als wäre das hier ihre nächtliche Laufrunde. Einen Augenblick später wird mir klar, warum sie es so eilig hat: Sie wird aus der Luft verfolgt. Ein Mädchen schwebt etwa drei Meter über dem Boden hinter ihr her, und ein Junge rauscht auf einer Windbö heran, die allen möglichen Müll unter ihm aufwirbelt.
Ich springe auf und ziehe mich hastig ein Stück vom Geschehen zurück. Wer weiß, was da gleich passieren wird. Ich drehe mich zur Feuertreppe um. Mein Bruder ist ungefähr auf Höhe des vierten Stocks. »Brighton! Komm runter!«
Blazer-Woman stolpert über die Bordsteinkante und schlägt der Länge nach hin. Ich sollte kein Arsch sein und ihr aufhelfen, aber ich bin vor Schock wie gelähmt und bleibe an die Wand gepresst stehen. Sie rappelt sich auf, greift nach einem Zeltpfosten. Er glüht orange auf. Plötzlich lodern weiße Flammen über den Arm der Frau, als hätte sie jemand mit Benzin überschüttet und angezündet. Das Zelt hat keine Chance. Wie eine riesige Fackel kippt es gegen die angrenzenden Pavillons. Das ausbrechende Chaos hilft sicher nicht dabei, Leuten die Angst vor Celestials zu nehmen.
Jemand packt mich an der Schulter, und ich lasse das Stativ fallen.
»Bist du okay?«, fragt Brighton. Er war wirklich schnell.
Ich hole tief Luft. »Nichts wie weg hier.«
»Wart mal kurz.« Gebannt von dem Tumult, hält Brighton sich die Kamera vors Gesicht.
»Das ist doch nicht dein Ernst!« Ich packe ihn am Arm, aber er reißt sich los.
»Ich muss das festhalten.«
»Einen Scheiß musst du.«
Dafür, dass Brighton um ein Haar Jahrgangsbester geworden wäre, kann er echt ganz schön dumm sein. Wäre er irgendwer anders, würde ich einfach abhauen. Das ist auch der Grund, warum ich nicht das Zeug zu dem Helden habe, der ich früher immer sein wollte. Mir ist mein Leben zu lieb, um es aufs Spiel setzen zu wollen. Brighton dagegen träumt von genau der Art Action für seinen YouTube-Kanal. Von den Himmlischen sind die meisten klüger und hängen nicht weiter hier rum. Manche von ihnen teleportieren sich schneller weg, als ich blinzeln kann.
Das Verfolgerduo kommt näher, und im Mondlicht glitzert das Spellwalker-Emblem auf ihren bannsicheren Westen wie das Sternbild, nach dem sich eine der bekanntesten Gruppierungen von Celestials benannt hat.
»Maribelle und Atlas!« Brighton reckt eine Faust in die Luft.
Was hat Blazer-Woman wohl verbrochen, dass sie von den Spellwalkern verfolgt wird? Als erneut weißes Feuer an ihrem Arm emporzüngelt, kann ich ihre Augen genauer betrachten. Darin wirbeln keine Himmelskörper wie bei den Celestials. Sie sind dunkel, bis auf einen orangefarben lodernden Ring. Die Aureole einer Sonnenfinsternis, das Erkennungszeichen der Specter. Jetzt weiß ich, warum die Spellwalker hinter ihr her sind. Mag sein, dass ich nicht uneingeschränkt hinter ihren knallharten Methoden stehe – normalerweise bin ich kein Fan von Selbstjustiz –, aber die Spellwalker scheinen die Einzigen zu sein, die klipp und klar die Meinung vertreten, dass man Specter aufhalten muss, bevor sie alle mythischen Kreaturen ausrotten und den Weltuntergang heraufbeschwören. Ich persönlich hoffe, dass man alle Specter fasst und einsperrt. Das Blut mythischer Kreaturen zu stehlen, um sich selbst Superkräfte zu verschaffen, nur weil man nicht als Celestial geboren wurde, ist ein abscheuliches Verbrechen. Normales Feuer wäre schon furchteinflößend genug, aber wenn diese Specter hier Phönixfeuer verschießt, sollten wir echt schleunigst verschwinden. Ich will Brighton davonzerren, aber das Funkeln in seinen Augen jagt mir Angst ein. Wir wissen nur zu gut, wie riskant es für Menschen sein kann, Kreaturenblut zu trinken.
Specter geben ihr Leben für Macht, und ich bete, dass mein Bruder die darin liegende Tragik nicht mit einem Wunder verwechselt.
Blazer-Woman schleudert einen weißen Flammenstrahl durch die Luft, der Feuerschwingen ausbreitet und von Phönixschreien begleitet wird.
»Bro, das ist eine Specter«, sagt Brighton.
»Die hat ihre Kräfte bestimmt von einem Halophönix oder …«
Ich breche ab, als Maribelle Lucero elegant den Flammen ausweicht und direkt auf die Specter zurast. Maribelle ist noch jung – ungefähr so alt wie wir, schätze ich. Brighton könnte vermutlich das Alter aller Spellwalker plus Lieblingsfarbe runterrattern. Sie hat hellbraune Haut und einen dunklen geflochtenen Zopf. Er peitscht hin und her wie ein Seil, während sie Blazer-Woman mit rechten Haken bearbeitet. Derweil schwebt Atlas über den Zelten und gibt sein Bestes, um den Brand in Schach zu halten. Starke Windböen schießen aus seinen Handflächen, aber er scheint diesen Kampf zu verlieren. Das Feuer breitet sich bis zu den Wohnhäusern auf der einen und der abgerockten Bar auf der anderen Seite aus. Die Menschen verlassen die Gebäude, so schnell sie können.
Mein Herz hämmert wie verrückt. Lauf los, lauf los, lauf los, lauf los.
»Bright, wir müssen hier schleunigst weg.«
»Du kannst ja gehen.«
Ich bin so kurz davor, ihm die Kamera zu entreißen und wie einen Football davonzuschleudern, als die Fenster und Mauern der Bar mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbersten. Die Druckwelle erwischt Atlas unvorbereitet, er fällt und kracht in ein herumstehendes Motorrad. Es regnet Pflastersteine. Brighton und ich suchen Schutz unter dem Vordach eines der Ecklädchen, die wir hier Bodega nennen. Die flimmernde Hitze erinnert mich daran, wie wir in der winzigen Küche meiner verstorbenen Abuelita Flan gemacht haben, nur ist es jetzt gerade noch tausendmal heißer.
Maribelle eilt zu Atlas, und die Specter wirft erneut weiße Flammen.
»Maribelle, pass auf!«, ruft Brighton.
Sie wirbelt herum, aber die Feuersäule fegt sie mit ekelerregender Wucht in eine Autotür, als hätte sie jemand mit übermenschlicher Stärke geschubst.
»Nein«, haucht Brighton.
Die meisten Leute sind schon geflohen. Anscheinend haben sie fast alle einen Eins-a-Überlebensinstinkt. Eine kleine Frau mit wirbelnden Sternen in den Augen köpft einen Feuerhydranten und lenkt den Wasserstrahl ins Flammenmeer, aber allein kann sie nicht viel ausrichten. Nur wenige Zuschauende feuern die Kämpfenden an. Ein paar Meter weiter filmt noch jemand das Geschehen: ein blasser Typ mit dunkelblonden Strähnen, die unter einer Kapuze hervorgucken, und einem gelben Wolf auf der Handyhülle. Er wirkt nicht übermäßig beunruhigt, beobachtet das Ganze aber auch nicht mit vor Faszination weit aufgerissenen Augen wie Brighton, dem das Filmen einen Kick verschafft. Vermutlich wird der Wolfstyp nicht zum ersten Mal Zeuge einer solchen Auseinandersetzung.
Atlas rappelt sich auf, die blonden Haare noch zerzauster als vorher. Blazer-Woman beugt sich vor, stützt die Arme auf die Oberschenkel und atmet schwer. Sie sammelt sich, und es folgt eine erneute Feuerattacke. Das Kreischen ihrer Flammen wirkt allerdings schwächer als zuvor. Wieder streckt sie den Arm aus, hält dann aber inne, als eine faustgroße Juwelgranate auf sie zurollt. Der Zitrin zerbirst in scharfe Scherben, und zuckende Blitze erwischen die Specter. Sie bricht zusammen und windet sich vor Schmerzen.
Ich glaube, ich muss mich übergeben. Oder mache mir in die Hose. Online zu sehen, wie jemand angegriffen wird, ist eine Sache. Es persönlich mitzuerleben, eine völlig andere. Schweißüberströmt hinkt Maribelle auf Atlas zu. Sie presst eine Hand mitten auf ihre Schutzweste, die das meiste abgehalten zu haben scheint.
»Davon rede ich die ganze Zeit!« Brighton klingt, als hätte er gerade eine Klausur mit Bestnote wiederbekommen oder ein Spiel gewonnen. Er rennt auf Maribelle und Atlas zu.
Ein paar Sekunden lang, die sich eher wie Minuten anfühlen, verharre ich in meiner Schockstarre, dann folge ich Brighton. Dabei versuche ich, die Schreie der Specter auszublenden. Trotzdem denke ich über ihr Leben nach, darüber, was wohl zum heutigen Tag geführt hat. Ich gebe mir einen Ruck. Sirenen heulen, als Krankenwagen, Feuerwehrautos und goldglänzende Panzer der Anti-Gleam-Einheit eine Straßenecke abriegeln. An der Bar lecken weiter weiße und orangefarbene Feuerzungen und werfen furchterregende Schatten auf den Asphalt. Mit dem Rücken zum Inferno haste ich meinem Bruder hinterher.
Brighton kniet neben Maribelle und Atlas, die gerade zu Atem kommen. »Ihr wart unglaublich«, schwärmt er, während er immer noch filmt. »Ich bin ein Riesenfan.«
Maribelle beachtet ihn nicht, wirkt aber sichtlich angespannt, als sie die Anti-Gleam-Einheit bemerkt. Sie stöhnt. »Wir müssen hier weg.«
»Jap. Wird ihnen nicht schmecken, dass du ’ne Granate geworfen hast«, sagt Atlas.
»Ich hätte auch Schneebälle werfen können; die Arschlöcher würden trotzdem behaupten, ich hätte das Viertel in ein Kriegsgebiet verwandelt«, entgegnet Maribelle.
Brightons Handy ist gezückt. »Wär’s okay für euch, wenn wir ein kurzes Selfie machen?«
»Bright, Alter, lass sie in Frieden.«
»Klar, schon gut.«
Vier Uniformierte kommen mit Bannstäben auf uns zu. »Keine Bewegung.« Ich rühre nicht einen Muskel. Manchmal kommt es vor, dass sich Celestials der Anti-Gleam-Einheit anschließen, aber die Mehrheit der Mitglieder hat keine eigenen Superkräfte. Deshalb werden sie darauf getrimmt, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr anzugreifen. Viel zu viele Celestials wurden von hitzköpfigen Anti-Gleamer*innen betäubt oder haben durch sie zu früh den Tod gefunden.
»Keinen Mucks«, warne ich Brighton.
Ich beobachte die Uniformierten und wünschte, ich wäre auch so ausgerüstet, mit bronzenem Helm und meergrüner bannsicherer Weste. Mein Puls rast, meine Beine schlottern, und ich habe panische Angst, dass sie das Zittern aus Versehen als gefährliche Superkraft deuten, die ich nicht besitze.
Weiter vorn auf der Straße richtet eine Anti-Gleamerin ihren Bannstab auf die Specter, während ein Kollege ihr feuerfeste Handschuhe und -schellen anlegt, um sie vorübergehend unschädlich zu machen.
Atlas hat denen von der Anti-Gleam-Einheit den Rücken zugewandt und führt ein lautloses Gespräch mit Maribelle, das mich beunruhigt. Sie holt tief Luft und nickt. Durch ihre Augen segeln Kometen. Die von Atlas sehen dagegen aus, als wirbelten darin Milliarden Sterne um ein schwarzes Loch. Plötzlich rollt er sich zur Seite, gleichzeitig hebt Maribelle ab. Ein Windstoß schiebt Brighton und mich gegen ein Auto, als Bannwerk um uns herum explodiert wie Feuerwerkskörper. Hastig vergewissere ich mich, dass es Brighton gut geht, ehe ich das weitere Geschehen von unter dem Auto her verfolge. Ein paar Uniformierte hat es von den Füßen gefegt, ihre Bannstäbe rollen über den Boden. Atlas wird von einer starken Bö emporgehoben. Er schnappt sich Maribelle, und gemeinsam fliegen sie über ein Wohnhaus davon, während ihnen Bannblitze hinterherjagen.
»Emil, steh auf. Na komm schon. Hauen wir ab.« Gebückt rennt Brighton los, weg von der Anti-Gleam-Einheit. Jetzt, da die Spellwalker weg sind, hat er es auf einmal eilig. Klar.
Ich habe weder im Unterricht gestört noch auf den Schulfluren herumgetobt, und ich gehe nie bei Rot über die Straße. Ich hasse es, in Schwierigkeiten zu geraten. Aber gerade scheine ich vom mutigsten aller Dämonen besessen zu sein, während ich über das Pflaster schieße und vor der Anti-Gleam-Einheit wegrenne, im Zickzackkurs, falls sie mir Bannwerk hinterherschicken. Ohne Brighton wäre ich vermutlich liegen geblieben, mit dem Gesicht auf dem Asphalt und ausgestreckten Armen, in der Hoffnung, dass sie mich als harmlos einstufen. Doch nach dem Blackout mit den Spellwalkern in Verbindung gebracht zu werden, ist ein Risiko, das wir nicht eingehen können.
Ein paar Blocks weiter erwischen wir einen Bus in unsere Richtung. Die letzten Reihen sind leer, und wir nutzen den Platz aus. Wir sind schweißgebadet, und ich für meinen Teil bräuchte dringend mehrere Liter Wasser, zum Trinken, aber auch um sie mir über den Kopf zu gießen.
»Geht’s dir gut?«, frage ich und massiere mir den Ellbogen, auf dem ich vorhin blöd gelandet bin, während ich gleichzeitig versuche, den scharfen Schmerz in meinem Brustkorb wegzuatmen.
Brightons Arme sind vom Sturz aufgeschürft, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. »Alter, was für ’ne geile Aktion! Wir haben das ultimative Power-Pärchen getroffen!« Er klingt, als hätte er gerade eine Riesenportion gute Laune abgegriffen, und ich wünschte, er könnte mir was abgeben, um damit meine Panik zu bekämpfen. »Atlas hat uns sogar mit seinem Wind gerettet. Ich hoffe, die Kamera hat das aufgezeichnet.« Er reißt die Augen auf. »Wo ist mein Stativ?«
»Hm, mal überlegen, das muss ich irgendwann zwischen der Specter, die die halbe Straße abgefackelt hat, und der schießwütigen Anti-Gleam-Einheit verloren haben. Aber ich könnte natürlich zurückfahren und es holen.«
»Ach nein, musst du nicht.«
»Das war auch kein ernst gemeinter Vorschlag.«
Brighton spult das Filmmaterial zurück. »Von den Werbeeinnahmen für dieses Video kaufe ich mir ein neues.«
»Wie kannst du jetzt an dein Video denken? Wir wurden von Anti-Gleamer*innen beschossen, und Maribelle Lucero hat vor unseren Augen fast jemanden umgebracht.«
»Selbst wenn, das hätte ihr doch niemand übel genommen. Diese Specter war voll auf Zerstörungskurs.«
Weder kenne ich den Namen der Specter noch irgendein Detail aus ihrem Leben, um zu belegen, dass in ihr womöglich ein Funken Gutes gesteckt hat. Trotzdem fand ich es uncool, sie am Boden zu sehen, während ein Bannstab auf sie gerichtet ist. Wer weiß, was die Anti-Gleam-Einheit mit ihr anstellt? Sie in die Bounds sperren, mit all den anderen, die Superkräfte haben? Vielleicht lassen sie sie auch komplett verschwinden.
Aber ich bin gerade nicht in Stimmung für diese Art Diskussion. Hier geht’s nicht um irgendeine Lappalie, wie wenn Brighton sich, ohne zu fragen, Klamotten leiht, weil er in einem Video was Neues tragen will, oder ich mir sein Fahrrad.
Mein Handy vibriert. Prudencia wünscht uns alles Gute zum Geburtstag. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, haben wir es verpasst, um Mitternacht reinzufeiern. Der Achtzehnte hat einen holprigen Start. Dad wäre enttäuscht. Ich bin so gestresst, dass Brighton mich nicht dazu bringen wird, ihm einfach die Faust zu geben und so zu tun, als wäre alles in Ordnung.
»Warum bist du sauer?«, fragt er und sieht von der Kamera auf. »Weil es mir nichts ausgemacht hätte, wenn diese Specter gestorben wäre? Ey, die Spellwalker retten mehr Leben, als sie auslöschen. Und wenn sie Leute ins Jenseits befördern, vertraue ich darauf, dass diejenigen es verdient haben.«
Eigentlich will ich keinen Streit. Wenn ich wütend bin, bin ich zu nah am Wasser gebaut – und Brighton macht mich wirklich wütend – aber ich kann meine Klappe nicht halten. »Es ist nicht an uns, zu entscheiden, wer es verdient zu leben und wer nicht.«
»Ich werde mich nicht darüber aufregen, wenn die Guten ein paar von den Bösen kaltmachen. Seit dem Blackout haben sich die Spielregeln geändert.«
Ich bin echt kurz davor, auszusteigen und nach Hause zu laufen. »Das ist aber kein Spiel.«
»Du weißt, wie ich das meine. Kriege fordern Opfer. Das ist unvermeidlich.« Brighton beugt sich vor und stupst mir gegens Knie. »Wenn wir Superkräfte hätten, dann hätten wir helfen können. Die Reys of Light, hm?«
So nennt er uns, seit wir zehn waren, direkt nachdem wir herausgefunden hatten, dass unser Nachname – Rey – auf Spanisch König bedeutet, aber auch Lichtstrahl auf Englisch, na ja, jedenfalls wenn man die Schreibweise anpasst. Nichts konnte uns von der Idee abbringen, dass dieser Name somit höchstwahrscheinlich prophetisch war und wir zu Großem bestimmt: die heldenhaften Brüder mit Zwillingskräften, die sich zum Beispiel ohne Handys quer durch die Stadt unterhalten können. Wie sich herausgestellt hat, sind wir kein bisschen besonders, aber der Name hat sich gehalten. Auch wenn unsere Geschwisterliebe von Tag zu Tag weniger strahlend erscheint.
»Tja, ich für meinen Teil danke den Sternen, dass wir keine Superkräfte haben«, sage ich. »An meinen Händen soll nach Möglichkeit kein Blut kleben.«
»Wenn man tötet, um die Welt zu retten, ist das was anderes, Bro.«
»Held*innen sollten keine Berge von Leichen hinterlassen.«
Darauf fällt ihm zur Abwechslung nichts ein.
Wir starren uns in die Augen, als wäre das eine Partie Schach, die auf ein Patt hinausläuft. Beide Könige leben, aber keiner gewinnt.
Bald wird die Welt feststellen, dass ich’s richtig draufhab.
Ohne Witz, mit diesem Video habe ich den Jackpot geknackt. Klar habe ich nicht zum ersten Mal Celestials beobachtet, die mit ihren Fähigkeiten Wunder vollbringen. Mit am verrücktesten war, als dieser Anzugtyp auf die Gleise gefallen ist, kurz bevor eine Bahn einfuhr. Voll das Klischee, aber so passiert. Noch ehe ich den Helden spielen konnte, hat so ’n kleiner Junge Anzugtyp am Handgelenk gepackt und ihn zurück auf den Bahnsteig gezogen, als wäre der Mann so leicht wie die Puppe in der anderen Hand des Kleinen. Das Problem mit diesen Vorfällen ist, dass alles oft viel zu schnell geht, um es zu filmen. Und genau deshalb wird dieser Kampf, den ich eben fertig hochgeladen habe, echt Wellen schlagen.
Ich sehe mir das Video immer wieder an. Gerade als die Anti-Gleamer*innen zum wahrscheinlich millionsten Mal ihr Bannwerk abfeuern, springt Emil von seinem Bett auf und meint, ich soll es endlich ausstellen. Ich stöpsele mir bloß Kopfhörer rein und dreh die Lautstärke hoch. Eigentlich sollte ich zusehen, dass ich ein bisschen Schlaf bekomme, damit ich morgen fit bin für das geplante Meet-and-Greet mit all meinen Fans. Aber irgendwie muss ich wach bleiben und das Video alle paar Minuten neu laden, um die Views zu checken und neue Kommentare zu lesen. Nach etwa einer halben Stunde sieht die Statistik solide aus, doch die nächtlichen Zuschauerzahlen gehen nicht so krass durch die Decke, wie ich gehofft hatte. Na ja, ich weiß, dass meine dreißigtausend Brightsider ihr Ding machen werden, und wenn ich aufwache, haben sie das Video bestimmt ordentlich unter die Leute gebracht. Ich mein, es ist einfach fucking unwiderstehlich.
Ich klappe den Laptop zu und schiebe ihn auf den Schreibtisch zu meiner Nikon, mehreren Schokoriegelpapieren, Comics und meiner Ideenliste für Videos, die ich hoffentlich drehen werde, sobald ich in L.A. bin. Ich schlüpfe unter die Decke und bleibe auf dem Rücken liegen. Meine Schulter tut echt sauweh. Ich kann’s kaum erwarten, meinen Fans den Bluterguss zu zeigen. Diese Narben von der Schlacht trage ich mit Stolz. Wer kann schon von sich behaupten, dass er von Atlas’ Wind aus der Schusslinie gefegt wurde?
Und wer, wenn nicht der Crowned Dreamer, könnte uns an unserem Geburtstag endlich Superkräfte bescheren? Es muss so kommen. Und sobald wir erst mal unsere Fähigkeiten haben, wird Emil seine Meinung über die Reys of Light, die Helden des einfachen Volkes, aber ganz fix ändern. Wir sind mit Büchern und Filmen aufgewachsen, in denen völlig normale Teenager entdecken, dass sie besonders sind – Auserwählte, verschollen geglaubte Zauberer, wer auch immer. Natürlich läuft das im echten Leben nur selten so, aber wer weiß.
Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, das sind die besten Voraussetzungen für Menschen mit Träumen.
Mit Karacho fliegt unsere Zimmertür auf, und meine Kinderzeichnung der Spellwalker segelt zu Boden. Ma steht in der Tür, sie atmet schwer und presst eine Hand auf ihr Herz. Wieder ein Anfall? Fast verheddere ich mich in der Decke, so schnell springe ich auf.
Sehen wir jetzt auch unsere Mutter sterben? So kurz nachdem wir Dad verloren haben?
»Ruf den Notarzt!«, brülle ich Emil zu, der wie erstarrt im Bett sitzt.
Ma schüttelt den Kopf. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Es gab einen Angriff beim Straßenfest. Und ich muss es aus den Nachrichten erfahren? Ich dachte schon, ich finde nur leere Betten vor …«
Emil reißt sich aus seiner Starre, läuft auf sie zu und nimmt sie in den Arm. »Es geht uns gut, Ma. Sorry, wir sind so spät nach Hause gekommen, und ich war noch im Schockzustand, glaube ich.«
Moment mal.
»Aus den Nachrichten? Haben sie mein Video verwendet?«
»Du hast das doch nicht etwa gefilmt?«, fragt Ma außer sich.
Ich schnappe mir mein Handy, während Emil Ma verklickert, dass er versucht hat, mich da wegzukriegen. Wenn ich mir all die Benachrichtigungen so ansehe, bin ich aber verdammt froh, dass ich am Ball geblieben bin. Ich checke YouTube. Mein Video hat fast neunzigtausend Klicks, mindestens dreimal so viele wie die beliebtesten meiner vorherigen. Trotzdem ist die Zahl nicht so hoch wie erwartet. Aber es ist noch früh, und außerdem habe ich ein paar Tausend Abonnent*innen dazugewonnen. In den Kommentaren danken sie mir dafür, dass ich diesen Kampf festgehalten habe, und ich muss lächeln, weil jemand schreibt, ich selbst sei auch eine Art Held.
Ich bin neugierig, welche Websites und Sender das Video verbreitet haben, also wechsle ich zu Twitter. Daher beziehe ich all meine Nachrichten. BuzzFeed hat einen Artikel mit dem Titel »Zufällig gefilmt: Spellwalker liefern sich explosive Schlacht« getweetet.
»BuzzFeed hat mein Video verwendet?!«
Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich schon ein Quiz auf BuzzFeed gemacht habe – und jetzt werde ich da gefeaturt? Digga, was ein Leben!
Ich öffne den Artikel, und es gibt massenweise GIFs, aber das war nicht mein Blickwinkel. Ich scrolle hoch. Sie haben einen anderen YouTube-Account verlinkt, MinaProbiertsAus.
»Nicht im Ernst.«
Ihr Video hat über eine Million Klicks.
Ich drücke auf Play. Diese Mina ist so Anfang zwanzig. Sieht aus, als wäre sie für ihren Vlog gerade dabei gewesen, selbst gemachtes Mondschein-Eis von einer Celestial zu probieren, als das erste Zelt in Flammen aufging. Panisch rennen Leute an ihr vorbei, aber sie musste anscheinend weiterfilmen.
Und mir das Rampenlicht stehlen.
Ich blende Emil und Ma aus, während ich hektisch das Internet durchforste. Scheiß auf BuzzFeed. Warum teilen die Minas Video und nicht meins?! Aber irgendwoher muss ich ein bisschen Anerkennung bekommen haben, sonst wären meine Zahlen nicht so gut. Die New York Times, CNN, das TIME-Magazine, die Scope Source und die Huffington Post berichten alle über das Spektakel, und alle verlinken Minas Beitrag. Das aktuell meistgesehene Video auf YouTube.
»Alter, wie ungerecht.«
»Was ist los?«, fragt Emil.
»Ich bin am Arsch. Ein anderes Video ist viral gegangen.«
Ich arbeite zu hart, um immer nur Zweitbester zu werden. Meine Motivation, Spitzennoten einzuheimsen, war der Traum von dem Augenblick, in dem ich als Jahrgangsbester die Bühne betreten würde, während mir die ganze Schule applaudiert, um gleich darauf gespannt meiner Rede zu lauschen: darüber, wie es sich anfühlt, ein Junge aus der Bronx zu sein, von dem niemand erwartet hätte, dass er die Welt im Sturm erobert. Und dann ruft mich die stellvertretende Direktorin in ihr Büro, um mir zu gratulieren, dass ich Zweitbester geworden bin. Nur aus einem einzigen Grund bin ich nicht völlig ausgerastet: Ich konnte nicht riskieren, auch noch diesen Moment im Scheinwerferlicht – selbst wenn es nicht das hellste war – an jemanden zu verlieren, der weniger im Kopf hatte als ich. Schlimm genug, sich durch eine niveaulose Rede quälen zu müssen.
Ma setzt sich auf Emils Bett, spricht aber mit mir. »Brighton, du machst deiner Mutter Kummer und interessierst dich nur dafür, dass Leute dein Video nicht gesehen haben?«
»Tut mir leid, okay?« Ich kann den Blick nicht von Minas steigenden Klickzahlen wenden.
»He, red nicht in diesem Ton mit mir!«
»Ma, du kapierst einfach nicht, wie viel Geld ich hätte nach Hause bringen können, wenn mein Video richtig steil gegangen wäre.«
»Kein Geld der Welt kann mich beruhigen, solange ich weiß, dass ich euch hätte verlieren können, nur weil du so tun musst, als wärst du erwachsen.«
Sie sieht mich nicht mehr so häufig an wie früher. Manchmal glaube ich, dass es ihr zu wehtut, weil ich ziemlich nach Dad komme. Sogar seine grünen Augen habe ich. Vielleicht will sie auch einfach nicht wahrhaben, dass ich Samstagnachmittag wegziehe, um Film zu studieren und mein Leben neu zu beginnen. Und dass sie dann nur noch Emil bei sich hat, der irgendein drittklassiges Community College hier in der Stadt besuchen wird. Ich selbst würde für kein Geld der Welt an diesem Ort bleiben, wo ich sieben Monate lang zusehen musste, wie Dad gelitten hat. Wo ich mir Hoffnungen gemacht habe, als die Alchemist*innen ihn angerufen und ihn an dieser Studie haben teilnehmen lassen, bei der ihm Hydrablut verabreicht wurde. Die Idee war, damit all die Eigenschaften zu übertragen, die es diesen mythischen Kreaturen ermöglicht, sich selbst zu heilen und mehrere Köpfe nachzubilden.
Ich war als Einziger zu Hause, als mein Vater an seinem eigenen Blut erstickt ist.
Ich tue nicht bloß so. Ich bin erwachsen.
Ich schließe mich so lange in unserem Zimmer ein, bis ich sicher sein kann, dass ich niemanden grundlos anbrülle. Auch als Ma mich zum Frühstück ruft, ignoriere ich sie. Zwar bin ich am Verhungern, aber ich kann einfach keine Tortillas mit Bohnenmus und Avocado mehr essen ohne Dad. Es ist ein schlichtes Gericht, eins, das Dad sich draufgeschafft hat, um eine Verbindung zu Mas puerto-ricanischer Seite herzustellen, und seine Tortillas sind mit der Zeit ultraknusprig geworden. Ich bin nicht bereit, so zu tun, als wäre es das Gleiche, wenn Ma sie macht. Und ich bin erst recht nicht bereit für ein Familienfrühstück im Wohnzimmer, bei dem wir darüber reden, dass es unser erster Geburtstag ohne ihn ist. Das ist echt zu viel.
In unserem Zimmer ist es sowieso spannender. Dad hat mal gesagt, es sei im Grunde ein Schrein für Celestials, in dem zufällig zwei Betten stehen. Vor einigen Jahren, als die Öffentlichkeit noch wesentlich besser auf die Himmlischen zu sprechen war, haben sie sich ihre Bilder lizenzieren lassen, um ein bisschen Kohle zu verdienen. Ich hatte das Glück, ein paar Poster in die Finger zu kriegen, als sie noch gedruckt wurden. Beim Fenster hängt eins von Maribelle und ihren Eltern, Aurora und Lestor Lucero. Daneben reihen sich limitierte Funko-Pops der ursprünglichen Spellwalker auf: Bautista de León, Sera Córdova, die Luceros, Finola Simone-Chambers und Konrad Chambers. Da sind auch die Spielkarten, die ich vor dem Abschluss immer mit zur Schule genommen habe, und der Schlüsselanhänger mit dem Emblem der Spellwalker: das Sternbild einer Gestalt, die einen Schritt nach vorn macht. Die hellsten Sterne darin lassen Fäuste, Füße und Herz der Figur erstrahlen. Von den Spellwalkern der neuen Generation gibt es kaum offiziellen Merch, aber über meinem Schreibtisch hängen gerahmte Kunstdrucke von ihnen. Der von Wesley Young ist sogar signiert. Das war ein Dankeschön bei einer Spendensammelaktion für eines ihrer sicheren Geheimverstecke.
Oh Mann. Ich bin derjenige, der heute hätte berühmt werden sollen. Nicht diese dahergelaufene Food-Vloggerin, die wahrscheinlich ein Buch darüber schreibt, wie sie sich eine einjährige Auszeit gegönnt hat, um sich quer durchs Land zu schlemmen.
Ein paar Stunden später quäle ich mich aus dem Bett und mache mich fertig für das Meet-and-Greet. Ich habe ein bisschen Geld in die Hand genommen und für meine Brightsider personalisierte Armbänder besorgt, die im Dunkeln leuchten. Außerdem habe ich T-Shirts mit meinem Logo bedrucken lassen, genau wie einige Notizbücher, die sie dazu animieren sollen, sich mehr für die Celestials um sie herum zu interessieren. Es gibt da diese lokale YouTube-Ikone, Lore, und dey verdient sich eine goldene Nase bei jedem Treffen mit deren Fans. Ich dagegen meinte zu Emil, dass ich froh sein kann, wenn ich heute Nachmittag sechzig Prozent meiner Ausgaben reinkriege. Insgeheim rechne ich aber schon mit etwas mehr Einnahmen und werde mich nachher extrem feiern, falls ich die tatsächlich erziele.
Irgendwann verlasse ich unser Zimmer dann doch, um Emil reinzuholen, damit er sich auch umziehen kann. Er liegt auf der Couch und liest eine Graphic Novel. Ma schaut Nachrichten, aber ihr Blick ist seltsam leer.
»Wir müssen bald mal los«, sage ich.
»Hast du dich genug selbst gegeißelt?«, will Emil wissen.
Ich reibe mir das Kinn, aber als mir klar wird, dass Dad das immer mit seinem Bart gemacht hat, wenn ihn irgendwas beschäftigt hat, lasse ich es schlagartig bleiben. Stattdessen wende ich mich den Nachrichten zu.
»… Specter in der letzten Nacht zu Tode gekommen. Noch steht die Identität des Opfers nicht fest. Eine Stellungnahme von Senator Iron wird in Kürze erwartet«, sagt die Moderatorin von Channel One gerade.
Emil sieht von seinem Buch auf. »Sie ist gestorben?«
Vor dem Clip wird eine Warnung angezeigt, dass der folgende Beitrag potenziell verstörende Inhalte enthält. Es geht darin aber nicht um die Frau vom Straßenfest. Stattdessen wird ein Mann am Rand eines Hochhausdaches gezeigt. Genau wie die andere Specter kann er offenbar weiße Flammen produzieren, bei ihm züngeln sie jedoch an beiden Armen empor und erstrecken sich wie riesige Flügel hinter ihm, die tapfer dem Wind trotzen. Kurz zögert der Mann, dann springt er. Und die Flügel tragen ihn wirklich, er steigt höher und höher – bis ein Arm vollständig vom Körper abreißt. Der Mann brüllt vor Panik und Schmerz und trudelt wie ein abgeschossener Vogel zu Boden.
Bevor der Aufprall zu sehen ist, wird wieder die Moderatorin eingeblendet. »Die herbeieilenden medizinischen Fachkräfte fanden den Specter halb tot auf der Straße vor. Da sein Arm nachzuwachsen begann, gingen sie zunächst davon aus, er könne sich selbst heilen. Doch nur wenige Minuten später erlag das Opfer seinen Verletzungen.«
»Sein Arm ist nachgewachsen?« Emil starrt an die Decke, als hielte sie Antworten bereit. »Die Turmsängerphönixe sind die Einzigen, die Teile ihres Körpers nachbilden können, aber das dauert Stunden. Und ihr Feuer ist violett, nicht weiß.«
»Tja, gibt wohl noch einen Phönix da draußen mit dieser Fähigkeit«, gebe ich zurück. Ich kenn mich nicht ganz so gut mit Phönixen aus wie Emil. Ist aber auch nicht so, als hätte er in all seinen Hausaufgaben über mythische Kreaturen immer brilliert. »Wär nicht das erste Mal, dass Blutalchemie jemanden teuer zu stehen kommt.«
Schweigen.
Dads Alchemist*innen haben uns zwar nicht direkt das Blaue vom Himmel versprochen, aber sie fanden sich schon extrem geil, weil sie diesen Trank mit den heilenden Eigenschaften der Hydra entwickelt hatten und ihn in den Blutkreislauf kranker Menschen einschleusen konnten. Ich frage mich oft, wie viel Zeit uns wohl geblieben wäre, wenn wir Dad ohne deren »Hilfe« hätten dahinsiechen lassen.
Die Moderatorin schaltet jetzt live zu Senator Iron. Ma stöhnt auf und dreht lauter.
Der dienstältere der beiden New Yorker Senatoren, Edward Iron, hat volles schwarzes Haar, blasse Haut, die schon ein paar Botoxspritzen gesehen haben muss, und trägt eine Hornbrille. Sein Anzug hat vermutlich mehr gekostet als unsere Monatsmiete. »Die Vorfälle mit Spectern in der vergangenen Nacht, die sich beide innerhalb nur weniger Stunden in unserer Stadt ereignet haben, sind alarmierende Anzeichen für die Krise, in der sich unser Land noch immer befindet. Sollte die Kongressabgeordnete Sunstar zur Präsidentin gewählt werden, wird sie noch mehr Freiheiten und Möglichkeiten für die Ihren schaffen, während wir eigentlich dringend strengere Maßnahmen benötigen, um genau jene Schreckensnachrichten zu verhindern, mit denen viele von uns heute Morgen aufgewacht sind. Meine politischen Gegner haben immer betont, dass es sich bei Vorfällen dieser Art nur um einen Konflikt mit Spectern handelt, nicht mit Celestials, und doch hat der Blackout mich traurigerweise darin bestätigt, welche Bedrohung die Spellwalker darstellen …« Senator Iron schließt die Augen, verharrt so einen Moment und nickt dann. »Ich verspreche Ihnen, wir geben keine Ruhe, bis wir diese gefährliche Gruppierung ausfindig und dingfest gemacht haben.«
Schnitt zurück zur Moderatorin. »Wie Sie sehen, fällt es Senator Iron noch immer schwer, über den Blackout zu sprechen, bei dem er seinen Sohn Eduardo verlor. Der Junge befand sich im Januar auf einem Schulausflug im Nightlocke Conservatory, als die Spellwalker das Gebäude mit ihren Kräften zerstörten und damit sechshundertdreizehn Leben auslöschten.«
Ich stehe weiterhin zu der Theorie, die ich auch auf YouTube verbreitet habe, nämlich, dass es jemand bloß so aussehen lassen hat, als wären das die Spellwalker gewesen, um irgendwelche eigenen Pläne zu verfolgen.
Aber was weiß ich schon? Vielleicht sollte man besser einen Jahrgangsbesten dazu befragen.
Was Eduardo Iron angeht – dem heule ich keine Träne hinterher. Als er noch am Leben war, hat er Celestials runtergemacht und schikaniert, wo er nur konnte, und damit Öl ins Feuer gegossen. Es gibt geeignetere Kandidat*innen, um die man trauern kann.
Wir sind so weit und verlassen die Wohnung. Am Eingang des Parks wartet Prudencia auf uns. Endlich bringt der Tag mal was Gutes.
Prudencia Mendez trägt ein geknotetes T-Shirt zu dunkelblauen Shorts und dazu Stiefel, mit denen sie irgendwie aussieht wie eine hotte Archäologin. Wie immer hat sie die Uhr ihrer verstorbenen Mutter am Handgelenk, obwohl sie nicht funktioniert, und die schwarzen Haare zu einem langen Pferdeschwanz hochgebunden. Sie ist umwerfend. Als ich sie umarmen will, verengt sie die braunen Augen und versetzt mir einen Schubs gegen die Brust.
»Fast wäre ich nicht gekommen, aber ich wollte dich unbedingt hauen. Ihr zwei Vollpfosten hättet draufgehen können!«
»Ach Quatsch, wir können schon auf uns aufpassen«, sage ich.
»Aber feuerfest sind wir nicht«, entgegnet Emil.
Ich funkele ihn an. Verräter. »Pru, selbst du musst doch zugeben, dass es tapfer war, diesen Kampf für die Nachwelt festzuhalten. Wie ein wahrer Journalist.«
»Von wegen Journalist. Du bist ein rücksichtsloser Fanboy, der leichtfertig seine eigene und die Gesundheit seines Bruders riskiert.« Keine Spur von Ironie in ihrer Stimme. »Brighton, die paar Minuten Ruhm sind es nicht wert, dafür dein Leben aufs Spiel zu setzen.«
»Wem sagst du das? Mein Video hat noch nicht mal hunderttausend Klicks!«
»Aber das ist trotzdem ein neuer Rekord für dich!«, wirft Emil ein. »Ist noch nicht so lange her, dass du den eintausendsten Abonnenten gefeiert hast.«
»Tja, Träume werden eben auch größer.«
»Letzte Nacht war ja wohl eher ein Albtraum«, kontert Prudencia. »Einer, den ich nur zu gut kenne. Meine Eltern durch den Bannstab zu verlieren, hat mich fast kaputtgemacht. Und falls ihr mir nicht versprechen könnt, dass ihr euch in Sicherheit bringt, wenn das nächste Mal irgendwo Chaos ausbricht, kann ich euch nicht mehr in meinem Leben gebrauchen.«
Ich werde ihr jetzt nicht das Herz brechen.
»Okay, ich versprech’s.«
»Ich auch«, ergänzt Emil.
Prudencia atmet langsam aus und umarmt erst meinen Bruder, dann mich. Ich entspanne mich in ihrer Umarmung. Sie scheint mich länger zu halten als Emil – was vermutlich an diesem ganzen Läuft-da-was-oder-nicht-Ding liegt, das irgendwie seit der Highschool zwischen uns schwebt.
Nur war das Timing immer beschissen. In der Neunten und Zehnten war ich mit Nina zusammen, meiner ersten und einzigen Freundin. Die Beziehung habe ich beendet, nachdem ich mir endlich eingestanden hatte, dass ich in ihr eher eine gute Freundin sehe, in Prudencia dafür aber mehr. Bevor ich Prudencia das sagen konnte, steckte sie aber schon mitten in einem Flirt mit Dominic aus unserer Klasse. Hat’s nicht besser gemacht, dass sie sich ausgerechnet einen Celestial ausgesucht hat, der durch Schatten reisen konnte. Noch Wochen später habe ich Dominic einen Snob genannt, weil er nicht auf meinem YouTube-Kanal auftauchen wollte. Und ich werde es auf keinen Fall zugeben, nicht mal vor Emil, aber der Buzz Cut, den ich mir gerade habe schneiden lassen, hat eventuell was mit Dominics Frisur zu tun. Prudencias und Dominics Untergang war eine ungünstige Mischung aus Prudencias Tante, die Gleamer*innen gegenüber so intolerant ist, wie man nur sein kann, und Dominics Eltern, die ihn bloß andere Celestials daten lassen wollten, um ihre Gene zu bewahren. Als hätte er so jung schon Vater werden wollen. Jedenfalls hat diese Geheimniskrämerei sie ganz schön zermürbt, und sie haben sich getrennt.
Bis zu meiner Abreise sind es noch ein paar Tage, vielleicht schaffen Prudencia und ich es ja, vorher endlich was zu starten. Und finden dann einen Weg, das über die Entfernung aufrechtzuerhalten.
Wir spazieren weiter in die Whisper Fields, benannt nach Gunnar Whisper, einem spät zündenden Celestial, der sich in der Endlosen Schlacht um Fountain Stone gegen Gangs von Nekromant*innen behaupten konnte. Klar, Schulbücher schreiben den Sieg der Normalo-Armee zu, die diese wahnsinnigen Geisterbeschwörer*innen mit Juwelgranaten, Panzerhandschuhen und Bannstäben bekämpft hat – allesamt natürlich von Celestials hergestellt, auch wenn die Leute das gern vergessen. Aber ich halte mich nicht zurück und erzähle allen um mich herum von Gunnars Heldentaten. Ich bin echt stolz, dass er und ich beide aus der Bronx stammen. Die Statue zu seinen Ehren steht an dem See, an dem Gunnar mit dreiundzwanzig zum ersten Mal seine hellseherischen Fähigkeiten entdeckt hat. Normalerweise spüre ich in der Nähe immer ein Knistern in der Luft. Als wäre ich nur Augenblicke davon entfernt, herauszufinden, dass ich auch ein Celestial bin, nach dem man irgendwann einen Park benennen wird, oder dass Prudencia und ich zusammen auf dem Weg in eine deutlich coolere Zukunft sind.
Aber als ich heute auf Gunnars bronzene Statue zusteuere, verspüre ich nur nie da gewesenes Grauen. Ich habe erwartet, Dutzende Brightsider in Gunnars Schatten vorzufinden, aber ich sehe bloß … eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … sieben. Sieben Personen.
»Es ist keiner gekommen.«
»Bright, da stehen leibhaftige Fans, die dir zuwinken«, sagt Emil.
»Ja. Sieben.«
»Ist ja noch früh.«
»Und der Verkehr ist die Hölle«, sagt Prudencia.
»Habt ihr noch mehr Ausreden?« Ich zeige hoch in den blauen Himmel. »Sollen wir’s vielleicht aufs Wetter schieben?« Ich zwinge mich zu lächeln und winke meinen Fans zurück. »Na los, bringen wir’s hinter uns.«
Ich plaudere mit den sechs Brightsidern – wie sich herausstellt, ist die siebte Person bloß Begleitung – über ihre liebsten Beiträge. Je länger Emil filmt, desto unwohler fühle ich mich. Immerhin hatte ich mir ursprünglich für das Video ausgemalt, wie ich inmitten einer ausrastenden Menge stehe. Jemand von Lores Kaliber – dey ist wirklich erfolgreich – muss sich nicht damit herumschlagen, die Namen von Fans zu lernen, oder sich in lange Gespräche außerhalb der Kommentarspalten verwickeln lassen. Dafür ist dey viel zu gefragt. Aber für den Moment vergrabe ich diese unschönen Empfindungen und setze eine dankbare Miene auf, als noch ein paar mehr Leute vorbeikommen, um kurz Hallo zu sagen. Nachdem die Stunde rum ist, bleibe ich allein mit Emil und Prudencia zurück. Wir chillen am See, und ich nutze die unverkauften T-Shirts als Kissen.
»Schon klar, du hast mehr erwartet.« Prudencia taucht die Zehen ins Wasser. »Aber denen, die da waren, hast du den Tag versüßt.«
»Ich bin echt auf allen Ebenen ein totaler Loser. Ich hatte das bessere Video, und es ist nicht viral gegangen. Mal im Ernst, ich war doch mitten im Geschehen. Und jetzt war dieses Treffen ein Reinfall und … ach, egal.«
Ich bin lieber still. Rumjammern findet Prudencia bestimmt nicht so superattraktiv. Ich heul mich einfach später bei Emil aus. Ich sammle mein ganzes Zeug ein und mache mich schnurstracks auf den Weg zum Ausgang. Wir kommen an ein paar Celestials vorbei, die Strahlen-Diskus spielen. Ist im Grunde wie Frisbee, aber nicht ganz ungefährlich, weil sie gebündelte Kraftstrahlen werfen. Ich bin gerade nicht in der Stimmung, ihnen beim Angeben mit ihren Superkräften zuzusehen, also ziehe ich das Tempo an.
In den folgenden Stunden werde ich immer angespannter. Ich warte darauf, dass irgendetwas Außergewöhnliches passiert. Während ich dusche. Mich anziehe. Beim Abendessen mit Ma in Emils veganem Brooklyner Lieblingsrestaurant. Nachdem wir wieder zurück sind, verkrümele ich mich ein bisschen allein aufs Dach und starre hoch zu den schwach leuchtenden Umrissen des Crowned Dreamers. Fast bemerke ich nicht, dass Emil hinter mir die Feuertreppe hochkommt.
»Alles gut bei dir?« Er wirft mir einen Kapuzenpulli zu.
Mir ist ziemlich kalt, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen, ihn überzuziehen. »Es wird nicht passieren, oder?«
»Nein. Aber das ist auch okay. Du bist so schon ein Held, mit all den Geschichten über die Celestials von New York.«
»Ich spiele wohl eher eine unbedeutende Nebenrolle. Findest du es gar nicht schlimm, dass wir keine echten Superhelden werden?«
»Wir müssen keine Auserwählten sein oder so, um Gutes zu bewirken.«
Schweigend sitzen wir beieinander. Im Stillen bete ich zum Crowned Dreamer, er möge mein Leben verändern. Aber um Mitternacht kehre ich den Sternen den Rücken zu. Wir steigen die Feuertreppe runter, klettern durch unser Fenster und gehen direkt ins Bett. Dabei sind wir so schmerzhaft normal, so gewöhnlich wie die letzten achtzehn Jahre unseres Lebens.
Dass bei dieser Septemberhitze die Klimaanlage in der Bahn den Geist aufgibt, ist ziemlich ätzend, aber immerhin bringt sie mich zur Abwechslung mal früh genug zum Kreaturenkundemuseum, sodass ich vor Schichtbeginn noch ein bisschen Zeit habe. Bis ich endlich das kühle Innere betrete, läuft mir schon der Schweiß den Rücken runter. Aber alles okay. Mein Körper ist gut versteckt in dem Arbeitspoloshirt, das ich mir eine Nummer zu groß bestellt habe. Ich schiebe meine Tasche durch die Sicherheitskontrolle und stecke mein Namensschild an, bevor ich mir einen Augenblick gönne, um das riesige kohlrabenschwarze Fossil eines urzeitlichen Drachen zu bewundern, das von der sternengesprenkelten Decke hängt. Echt schade, dass ich nie einen echten Drachen zu sehen bekommen werde. Aber vermutlich ist es besser, dass sie ausgestorben sind, sonst müssten wir uns Sorgen machen, was passiert, wenn Alchemist*innen Drachenblut in die Finger kriegen. Falls mythische Kreaturen weiterhin im aktuellen Tempo für ihre Eigenschaften gejagt werden, sind sie bald alle Geschichte.
Zügig durchquere ich die ständig wechselnde Ausstellung, die ihrem Namen keinerlei Ehre mehr macht, seit sie das Budget des Museums drastisch gekürzt haben. Deshalb wird hier immer noch – wie im Juli – Gestaltwandlerkunst gezeigt. Den düsterkalten Basiliskensaal umgehe ich komplett. Das brauch ich echt nicht noch mal. An meinem ersten Tag musste ich in den sauren Apfel beißen, das reicht mir. Bin kein Fan von diesen Schlangen, seit sich bei unserem Zooausflug in der Sechsten ein blinder Basilisk mit gebleckten Fangzähnen auf mich gestürzt hat. Zum Glück war das Gitter dazwischen.