Was mir von dir bleibt - Adam Silvera - E-Book

Was mir von dir bleibt E-Book

Adam Silvera

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Beschreibung

Als Griffins erste Liebe und Exfreund Theo bei einem Unfall stirbt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Denn obwohl Theo aufs College nach Kalifornien gezogen war und anfing, Jackson zu daten, hatte Griffin nie daran gezweifelt, dass Theo eines Tages zu ihm zurückkehren würde. Für Griffin beginnt eine Abwärtsspirale. Er verliert sich in seinen Zwängen und selbstzerstörerischen Handlungen, und seine Geheimnisse zerreißen ihn innerlich. Sollte eine Zukunft ohne Theo für ihn überhaupt denkbar sein, muss Griffin sich zuerst seiner eigenen Geschichte stellen – jedem einzelnen Puzzlestück seines noch jungen Lebens. ›Was mir von dir bleibt‹ ist der neue herzergreifende Jugendbuch-Roman des New York Times-Bestsellerautors Adam Silvera.

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Seitenzahl: 466

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Adam Silvera

Was mir von dir bleibt

Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Christine Fliedner und Christel Kröning

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel History is all you left me bei Soho Teen, New York

 

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2019

Alle Rechte vorbehalten

© Adam Silvera 2017

All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.

Übersetzung: Christel Kröning und Hanna Fliedner

Lektorat: Petra Deistler-Kaufmann

Covergestaltung: Suse Kopp (unter Verwendung des Motivs von Liz Casal)

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-122-1

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

 

Für alle, denen Geschichte in Kopf und Herz festsitzt.

 

Grüße an Daniel Ehrenhaft, der mich entdeckt hat, und an Meredith Barnes, durch die mich jetzt alle finden können. Bestes Tag-Team ever.

VORWORT

Adam Silvera weiß, dass ich eigentlich nie beim Lesen weine, weshalb ich ihn nach der letzten Seite von Was mir von dir bleibt direkt angerufen habe.

Ich war in Tränen aufgelöst, ich konnte nicht mehr.

In unseren Paralleluniversen bist du noch am Leben, Theo …

Ich war ja darauf vorbereitet, dass es in dieser Geschichte um Trauer geht, aber wie bitte schön soll man sich gegen die brutale Nähe von Griffins Du-Erzählung wappnen? Da ist dieser Junge, am Boden zerstört, und er erzählt uns seine Geschichte, indem er das Wort an seine soeben verstorbene erste große Liebe richtet.

Aber genau das macht Was mir von dir bleibt, macht jedes von Adams Büchern ja gerade aus. Man kann sich nicht gegen sie wappnen. An solchen Schutzschilden mogelt ihr Autor sich einfach vorbei – und doch ist er in seinem Schreiben selbst immer derart präsent, dass man sich niemals alleingelassen fühlt. Es ist, als wenn man von dem Menschen eine Klippe hinuntergestoßen würde, der deine Hand gleichzeitig niemals loslässt.

So ein abgefahrenes Buch.

Zwei Zeitstränge, ein Universum. In der GEGENWART ist unser Held, Griffin Jennings, untröstlich nach dem Tod seines Exfreunds und weiß weder ein noch aus. Doch auch in den mit Sonnenlicht gesprenkelten GESCHICHTE-Kapiteln über die erste große Liebe ist Griffin schon Griffin. Aufmerksam und nachdenklich. Ängstlich und unsicher. Ihn treiben Leidenschaften und Zwänge um, die für die Menschen, die er liebt, nicht immer Sinn ergeben. So lebendig wird er gezeichnet, man will gar nicht glauben, dass er eine fiktive Figur ist. So rau und unmittelbar klingt seine Erzählung, man übersieht fast das meisterliche Handwerk dahinter.

Doch genau das ist Adam Silvera in Reinform: kühne Strukturentscheidungen und penible Detailverliebtheit werden praktisch unsichtbar durch die schiere emotionale Kraft seiner Stimme. Wer außer Adam könnte zwei Zeitstränge derart meisterhaft miteinander verknüpfen? Wer außer ihm könnte uns ein Geschehen erst so überzeugend darlegen, nur um ihm zehn Kapitel später einen völlig anderen Sinn zu verleihen? Und wer außer Adam könnte einen Roman derart subtil choreografieren, dass er sich so anfühlt, als würde Griffin uns einfach nur seine Geschichte erzählen? Die technische Perfektion der GESCHICHTE-Kapitel haut mich einfach jedes Mal aufs Neue um.

Dankbar bin ich aber vor allem für ihre Ehrlichkeit: für diesen chaotischen Jungen und seine Ängste, die sich original so anfühlen, als kämen sie direkt aus meinem Kopf. Ich bin dankbar für die absurd nachvollziehbaren Nerd-Monologe und die wunderschöne Verwirrung der ersten Liebe. Für den unerschrocken rückhaltlosen Kopfsprung in ein Meer aus brachialer Trauer. Und für Adam Silveras unsinkbare Stimme, die meine Hand ganz fest umschlossen hält bis zur allerletzten Seite.

 

In Liebe,

Becky Albertalli,

Autorin von Nur drei Worte – Love, Simon und Was ist mit uns

GEGENWART

Sonntag, 20. NOVEMBER 2016

In unseren Paralleluniversen bist du noch am Leben, Theo, während ich hier in der wirklichen Welt feststecke, wo heute Vormittag deine Trauerfeier stattfindet und ich an deinem offenen Sarg stehen werde. Ich weiß, dass du noch irgendwo bist und mir zuhörst. Und daher sollst du auch hören, dass ich echt angepisst bin. Du hast mir versprochen, niemals zu sterben. Dass du es dennoch getan hast, tut umso mehr weh, weil es nicht das erste Versprechen ist, das du gebrochen hast.

Lass mich zurück in unsere Vergangenheit gehen, zurück zu deinem Versprechen. Zurück in den letzten August. Und es soll echt kein Vorwurf sein, wenn ich jetzt so vieles haarklein nacherzähle. Wahrscheinlich wundert’s dich eh nicht, wir haben uns ja beide immer drüber lustig gemacht, wie verquer dein Hirn funktioniert. Wie du mit unnützem Wissen hättest Bücher füllen können, aber mit Wichtigem ständig ins Schleudern kamst – zum Beispiel dieses Jahr mit meinem Geburtstag (der 17., nicht der 18. Mai!) oder mit all deinen Abendkursen. Dabei hatte ich dir doch extra diesen coolen Terminplaner mit den Zombies gekauft (oder musstest du den etwa wegwerfen wegen Du-weißt-schon-wem?). Ich will jedenfalls nur, dass du dich so erinnerst, wie ich mich erinnere. Tut mir leid, falls es dich nervt, von der Vergangenheit zu reden, so wie damals, als du aus New York weggezogen bist. Nimm’s mir bitte nicht übel, dass ich unsere Vergangenheit noch einmal durchleben will. Geschichte ist alles, was mir von dir bleibt.

An dem Tag, als ich mit dir Schluss gemacht habe, um dich während deiner Zeit in Santa Monica nicht irgendwie aufzuhalten, haben wir einander Versprechen gegeben. Und, ja, einigen von diesen Versprechen ist es schlecht ergangen, aber gehalten wurden sie: Ich habe dich nie gehasst, obwohl du mir allen Grund dazu gabst, und du hast nie unsere Freundschaft an den Nagel gehängt, obwohl er das von dir verlangte.

Aber an dem Tag, als Wade, du und ich deine Kartons für deinen Umzug nach Kalifornien aufgeben wollten und du beinahe überfahren wurdest, an diesem Tag habe ich ernsthaft befürchtet, dass unser Endspiel nicht stattfinden würde. Dass wir nicht nur nicht sofort, sondern auch nicht in einer anderen Zeit wieder zueinanderfinden würden. Und da habe ich dich gebeten, mir zu versprechen, immer auf dich aufzupassen und niemals zu sterben.

»Meinetwegen, dann sterb ich halt nie«, hast du gesagt und mich in den Arm genommen.

Von allen Versprechen hättest du dieses am wenigsten brechen dürfen. Und nun muss ich in einer Stunde an deinen Sarg treten und mich von dir verabschieden.

Ohne dass es tatsächlich ein Abschied sein wird.

Denn du bleibst immer bei mir und hörst mir zu. Doch dir zum ersten Mal seit Juli und zum letzten Mal für immer leibhaftig ins Gesicht zu sehen, ist bestimmt mehr, als ich ertragen kann – erst recht in Gegenwart deines Neuen.

Lass uns seinen Namen heute so lange wie möglich vermeiden, okay? Um überhaupt eine Chance zu haben, heute und morgen und alle folgenden Tage irgendwie zu überstehen, muss ich ganz an den Anfang zurück, zurück zu den zwei Jungs, die sich über Puzzles gebeugt ineinander verliebten.

Schief geht’s schließlich erst ab da, als du dich entliebt hast. Nervös macht mich erst das, was nach unserer Trennung kam. Jetzt, da du jeden meiner Schritte verfolgen kannst – und ich weiß genau, dass du dir mein Leben ansiehst, um selbst alles zusammenzupuzzeln –, machen mich nicht länger nur die schlimmen Dinge verrückt, die ich schon getan habe, Theo. Vor allem macht es mich verrückt, dass ich längst noch nicht fertig bin.

GESCHICHTE

SONNTAG, 8. JUNI 2014

Heute schreibe ich Geschichte.

Die Zeit rast schneller als die Züge der L-Linie, in der ich gerade sitze, trotzdem ist alles gut, denn mir gegenüber sitzt Theo McIntyre. Den ich seit der Unterstufe kenne, seit er in der Pause meinen Blick einfing, mich zu sich winkte und sagte: »Hilf mir mal, Griffin. Ich bau Pompeji wieder auf.« Die Puzzleversion aus hundert Teilen natürlich. Ich hatte keine Ahnung von Pompeji und hielt den Vesuv für die Machtzentrale irgendeines Comicbösewichts. Theos Hände aber, die die Teile nach Farben sortierten und so die gepflasterten Straßen von den aschebedeckten Trümmern trennten, zogen mich in ihren Bann. Ich half beim Himmel und vermurkste die Wolken. Mit dem Puzzle kamen wir an dem Tag nicht weit, aber seitdem sind wir unzertrennlich.

Heute wollen wir herausfinden, ob die verborgenen Schätze auf einem legendären Flohmarkt in Brooklyn tatsächlich so überteuert sind, wie alle sagen. Also lassen wir Manhatten hinter uns und machen uns auf den Weg ans andere Ufer. Doch ob Brooklyn oder Manhattan, ob unser Schulhof oder Pompeji: Heute, an diesem geradzahligen achten Juni, werde ich unsere Spielregeln ändern. Bleibt nur zu hoffen, dass Theo danach noch weiterspielen will.

»So ganz allein zu sitzen, ist doch auch mal angenehm«, sage ich.

Tatsächlich gähnt in unserm Waggon eine fast schon verdächtige Leere. Ich hinterfrage sie nicht. Träume stattdessen davon, für immer diesen und jeden anderen Raum mit Theo zu teilen, mit diesem Alleswisser, diesem Hobby-Kartografen, Puzzle-Champion, Animationskünstler und passionierten Leutegucker. In einer vollen Bahn quetschen wir uns meist eng zusammen, drücken Hüften und Arme aneinander wie bei einer Umarmung, nur dass ich nicht so schnell wieder loslassen muss. Blöd, dass er mir heute nur gegenübersitzt, aber immerhin hab ich eine herrliche Aussicht: blaue Augen, die in allem etwas Staunenswertes finden (selbst in U-Bahn-Werbung für Zahnbleaching), blonde Haare, die bei Regen einen Hauch dunkler werden, und heute dazu das Game of Thrones-Shirt, das ich ihm im Februar zum Geburtstag geschenkt habe.

»Leute gucken ohne Leute ist gar nicht so leicht«, sagt Theo und blickt mich scharf an. »Dann muss ich wohl mit dir vorliebnehmen.«

»Auf dem Flohmarkt kriegst du bestimmt noch genug interessante Leute zu sehen. Hipster zum Beispiel.«

»Das sind doch keine Leute, das sind Poser.«

»Ach, komm schon, ein paar von denen haben echte Gefühle unter ihren Vintage-Beanies und Karohemden.«

Theo steht auf und macht einen kläglichen Klimmzug an einer der Haltestangen. Zu Höhenflügen verhilft ihm eindeutig sein Hirn und nicht sein Bizeps. Deswegen gibt er auch schnell wieder auf und schwingt dafür zwischen den Sitzen vor und zurück, als wäre er ein U-Bahn-Trapezkünstler. Wenn es nach mir ginge, würde er mit einem Salto auf den Platz an meiner Seite fliegen und basta. Aber er schwingt weiter und streckt ein Bein zum Sitz neben mir aus. Dabei rutscht ihm sein Shirt hoch, und obwohl meine Augen eigentlich seinem Grinsen treu bleiben wollen, müssen sie insgeheim seine entblößte Haut betrachten. Wer weiß, vielleicht bekommen sie nach heute nie wieder Gelegenheit dazu.

Mit einem Ruck hält die Bahn an und wir steigen aus. Endlich.

Klar, Manhattan ist unser Zuhause und deswegen zieht Theo auch nie drüber her, trotzdem weiß ich, dass er die besprayten Häuserwände hier in Brooklyn lieber mag. Auf dem Weg zum Flohmarkt zeigt er mir seine Lieblingswände, die uns heute in der Sommersonne umso farbenfroher entgegenstrahlen: ein kleiner Junge in Schwarz-Weiß, der über die bunten Blockbuchstaben des Wortes TRAUM spaziert; ein leerer Spiegel, der in einer so abgefahren perfekten Schreibschrift, dass sie der von Theo Konkurrenz macht, die Schönste im ganzen Land finden will; ein Passagierflieger, der Neptun umkreist und daher gerade irreal genug ist, um meine Flugangst nicht zu wecken; eine Handvoll Ritter, die wie die Tafelrunde um den Planeten Erde herumsitzen. Was das alles bedeuten soll, kapieren weder Theo noch ich, aber egal, wir finden’s verdammt cool.

Der Weg zu dem Flohmarkt am East River zieht sich ganz schön in dieser Hitze. Irgendwann entdeckt Theo einen Eiswagen, und wir investieren zehn Dollar in zwei Slushys, deren Geschmack aber gegen null geht, sodass wir genau genommen nur Eismatsch zu kauen bekommen.

Als wir endlich da sind, bleibt Theo vor einem Tisch voller Star Wars-Artikel stehen und dreht sich mit gerümpfter Nase zu mir um. »Siebzig Dollar für das Spielzeug-Lichtschwert da?«

Flüstern ist ein Fremdwort für Theo. Was ein echtes Problem ist.

Die Mittvierzigerin, die das Teil verkaufen möchte, blickt auf. »Ist ein Rückrufartikel«, informiert sie uns schnippisch. »Voll selten, eigentlich sollte ich viel mehr verlangen.« Auf ihrem T-Shirt sagt Prinzessin Leia: SUCHDIRWOANDERSNEJUNGFERINNÖTEN!

Theo lächelt entspannt in ihre angenervte Miene. »Hat damit einer ’nen Obi-Wan abgezogen und wem den Arm abgehaun?«

Mein Wissen über Star Wars hält sich sehr in Grenzen, das Gleiche gilt bei Theo für Harry Potter. Theo ist der einzige mir bekannte Sechzehnjährige, der nicht über unser aller Lieblingszauberer Bescheid weiß. Einmal haben wir nachts eine geschlagene Stunde darüber gestritten, wie ein Duell zwischen Lord Voldemort und Darth Vader ausgehen würde. Ein Wunder, dass wir überhaupt noch Freunde sind.

»Die Klappe vom Batteriefach bricht leicht ab und Kinder stecken sich die Dinger offenbar ständig in den Mund«, sagt die Frau gerade und spricht aber nicht mehr mit Theo, sondern mit einem ähnlich glücklosen Altersgenossen von ihr, der planlos einen R2-D2-Wecker in den Händen dreht.

»Also dann.« Theo tippt zum Abschied die Hand an die Schläfe und geht weiter.

Wir schlendern ein paar Minuten umher (sechs Minuten, um genau zu sein). »Sind wir hier fertig?«, frage ich. Es ist heiß, ich zerfließe und wir konnten uns definitiv davon überzeugen, dass viele der Schätze hier weit mehr kosten, als erlaubt sein sollte.

»Scheiße, nein, wir sind hier nicht fertig«, entgegnet Theo. »Wir können doch nicht mit leeren Händen zurückfahren.«

»Dann kauf dir halt was.«

»Warum kaufst du mir nicht was?«

»Mit dem Lichtschwert kannst du doch eh nichts anfangen.«

»Nein, Blödmann, was anderes.«

»Dann gehe ich aber recht in der Annahme, dass du mir auch was kaufst, oder?«

»Klingt fair«, stimmt Theo zu. Er guckt auf seine Sonnen-Armbanduhr des Todes, die echt gefährlich ist, das heißt im Klartext: »zum Tragen absolut ungeeignet«. Ich habe keine Ahnung, wie oder aus welchem Grund sie überhaupt hergestellt wurde, denn ihr spitzer Zeiger hat schon so viele Nichtsahnende – mich eingeschlossen – verletzt, dass Theo sie längst ins Feuer werfen und den Hersteller bis aufs letzte Hemd hätte verklagen sollen. Stattdessen trägt er sie trotzdem, weil sie eben so anders ist. »Okay, wir treffen uns in zwanzig Minuten am Eingang. Auf die Plätze, fertig …«

»Los.«

Theo stürmt davon und rennt dabei fast einen Mann mit Bart um, der ein kleines Mädchen auf den Schultern trägt. Innerhalb von Sekunden ist er außer Sichtweite. Ich überprüfe die Zeit auf meinem Handy – es ist 16:18 Uhr, gerade Minute – und flitze in die andere Richtung, tief hinein in dieses riesige Labyrinth aus käuflichen Relikten des menschlichen Alltags. Vorbei an Kisten voller ausgelatschter Turnschuhe, an einem schmuddeligen Kabinett aus verschmierten Spiegeln, an Blümchentüchern, die im Wind eines versteckten Ventilators wehen, und an Eimerchen voll Muscheln, aus denen Bastelpinsel ragen.

Die Muscheln sind ganz cool, schreien aber nicht zwangsläufig »Theo!«.

Wenig später lande ich endlich in einer Ecke, die definitiv nach Theos Geschmack ist. Hier ein Traumfänger in seinem Lieblingsgrün, dort ein ganzer Tisch voller Flaschenschiffe. Seit Kurzem verfolgt Theo die Idee, selbst so ein Flaschenschiff zu basteln, und er hat sich schon einiges dazu angelesen. Vermutlich kommt am Ende mindestens ein Flaschenraumschiff dabei raus, denn für Theo muss immer alles besonders sein. Selbst ein Flaschenschiff.

Mir bleibt noch alle Zeit der Welt, na ja, wenn der Welt nur noch zwölf Minuten bleiben. Zu blöd, dass Theo kein großer Fantasy-Fan ist, denn die Brieföffner hier sind echt cool, aber vielleicht hat er sie ja auch schon entdeckt und mir einen gekauft, am liebsten den, der aussieht wie eine Schwertscheide, oder den mit dem Knochengriff. Alles gut, mir bleibt noch alle Zeit der Welt … wobei, nein, doch nicht, denn laut Handy sind jetzt nur noch neun Minuten übrig. Krumme neun Minuten, die mich ziemlich nervös machen. Ich kratze hektisch meine schwitzigen Handflächen und renne weiter. Irgendwie gerate ich so allerdings nur wieder in eine Gegend, die mir überhaupt nicht weiterhilft. Schließlich braucht Theo, der morgens nur Cornflakes mit Orangensaft mampft, keine Töpfe oder Pfannen, um sich ein reichhaltiges Frühstück zuzubereiten, und auch Gartenwerkzeug würde er nur dann anfassen, wenn er damit Videospiele und Computerprogramme heranzüchten könnte.

Dann aber stoße ich auf den Jackpot.

Puzzles.

Blick aufs Handy: sechs Minuten noch. Meine Nervosität ist wie weggeblasen, stattdessen bin ich Feuer und Flamme. Ich hänge oft genug bei Theo rum, um zu wissen, dass er von denen hier noch kein einziges hat: eine Steampunk-Scheune mit Satellitenteilflügeln; ein von Delfinen unter Wasser gezogener Weihnachtsmannschlitten (keine Ahnung, was der gute Weihnachtsmann da alles an Geschenken geladen hat, aber Theo fällt sicher was ein); ein 3-D-Fußballpuzzle – okay, 3-D ist cool, Thema Sport allerdings weniger. Ich weiß nicht genau, wie Theo zu 3-D-Puzzles steht, egal, das hier bringt es jedenfalls nicht.

Bäm, jetzt hab ich’s. Das vierte auf dem Tisch ist es: ein dem Untergang geweihtes Piratenschiff. Von sturmhohen Wellen wird die Mannschaft teils gerade über Bord geworfen, teils will sie gerade wieder hinaufklettern, und ein einzelner Seemann klammert sich an der Planke fest. Ich weiß sofort, dass Theo sich eine absolut abgefahrene Story dazu ausdenken wird. Die Verkäuferin packt das Puzzle in eine braune Plastiktüte, ich drücke ihr statt der geforderten neun Dollar einen Zehner in die Hand und hetze Richtung Treffpunkt.

Theo wartet bereits und drückt sich auf der Suche nach Schatten gegen die Wand wie ein Vampir, der zu spät draußen ist – oder zu früh? Kann ich gut verstehen. Wir sind beide total durchgeschwitzt. Er guckt auf seine Sonnen-Armbanduhr. »Zwei Minuten vor der Zeit! Jetzt lass uns verdammt noch mal abhaun, bevor wir hier in Flammen aufgehen oder – schlimmer noch – du dir ’nen Sonnenbrand holst.«

Auf dem Weg zurück zur U-Bahn erkenne ich als einzigen Hinweis auf sein Geschenk für mich eine kleine Schachtel zwischen seinen Fingern. Ein perfekter Würfel. Was da drin ist? – Null Ahnung. Im U-Bahnhof sind wir zwar vor der Sonne geschützt, doch die Schwüle auf dem überfüllten Gleis hier unten ist in ganz eigener Weise unerträglich – als hätten wir auf einem Vulkan unser Zelt aufgeschlagen und den Reißverschluss hinter uns zugezogen. Nachdem wir irgendwie die sechs Minuten Wartezeit überlebt haben und die Bahntüren aufgegangen sind, schnappen wir den zwei College-Typen vor uns die Bank in der Ecke weg. Da die Klimaanlage auf vollen Touren läuft, fühle ich mich langsam wieder wie ich selbst.

»Geschenke?«, fragt Theo und zielt mit zwei Fingerpistolen auf meine Tüte.

»Du warst als Erster beim Treffpunkt, also musst du anfangen«, sage ich und rücke mein Bein ganz unauffällig näher an seins, sodass unsere Knie sich versehentlich berühren können.

»Mir ist nicht ganz klar, welche Logik du hier einsetzt, aber okay«, sagt Theo.

Er überreicht mir die Schachtel, und was immer drin ist, wiegt nicht viel und rutscht beim Schütteln hin und her. Ich mache sie auf und hole Ron Weasley, Harry Potters besten Freund, als Anhänger heraus.

»Was sagst du?«, fragt Theo. »Er ist ja deine Lieblingsfigur, deswegen hast du wahrscheinlich schon so einen, aber den hier fand ich trotzdem cool, vor allem, weil er so charmant abgewetzt daherkommt.«

Ich nicke. Der kleine Ron Weasley sieht tatsächlich ziemlich mitgenommen aus. Seine Haare sind nur noch teilweise rot und sein Mantel ist nur noch teilweise schwarz. Aber meine Lieblingsfigur ist Ron eh nicht. Eine Fehleinschätzung, die einem allerdings leicht unterlaufen kann, denn von den drei Hauptcharakteren mag ich Ron am liebsten – sorry, Harry, sorry, Hermine – und von denen, die nur in einem der Bücher am Leben und wichtig sind, gibt’s eh kaum Figuren zu kaufen. Nichtsdestotrotz ist Cedric Diggory mein absoluter Favorit aus der Reihe, aus allen Büchern überhaupt, um genau zu sein. Bei seinem Tod am Ende des Trimagischen Turniers habe ich viel länger geheult, als ich je vor irgendwem zugegeben hätte. Das war zweifellos mein schmerzlichster Verlust bisher. Aber schon okay, schließlich bin ich mir auch nicht sicher, welches Theos liebste Star Wars-Figur ist. Ich würde auf Yoda tippen, obwohl das selbst in meinen Ohren blöd klingt. Egal: Der Gedanke zählt.

»Der ist mega«, lobe ich. »Und doppelt hab ich ihn auch nicht, also vielen Dank.« Ich überlege, ob Rons Vorbesitzer die Bücher wohl so satthatte, dass er den kleinen Kerl hier für fünfzig Cent oder so verscherbelt hat. Tja, des einen Leid … »In Ordnung«, sage ich, »du bist dran.« Inzwischen wünsche ich mir die Leere des Waggons auf der Hinfahrt zurück, denn ich fühle mich umgeben von anonymen Zuschauern, die uns wegen der Schenkerei für ein Pärchen halten. Echt mies, dass sie falschliegen. Und umso mieser, dass Theo nach heute zudem zu verschreckt sein könnte, um überhaupt noch weiter mein Freund zu sein.

Er zieht das Puzzle aus der Tüte und reißt die Augen auf. »Geil. Achthundert Teile. Da müssen wir auf jeden Fall zu zweit ran.«

»Wie geht die Story dazu?«

Einen Moment lang ist Theo in die Betrachtung des Bildes auf der Schachtel vertieft. »Da geht’s ganz offensichtlich um die bevorstehende Zombiepiraten-Apokalypse.«

»Ganz offensichtlich. Und warum wurden die Piraten vor allen anderen infiziert?«

»Na ja, der Zombie-Virus existierte natürlich schon immer, aber die Wissenschaftler hatten ihn so weit weg vom Festland wie möglich gebunkert. Sie wussten, dass der von Natur aus dumme und gelangweilte Mensch die Hölle auf Erden lostreten würde, nur um seinem Hamsterrad von Büro zu entkommen. Deswegen lag der Virus hermetisch verschlossen auf einer abgelegenen Insel – ihren Namen verrate ich nicht, der wäre bei dir nicht sicher, Griff –, doch die Wissenschaftler hatten nicht mit dem tosenden Sturm gerechnet, der die Insel zerstörte und den Virus freisetzte, sodass er sich durch die Luft auf vorbeisegelnde Piraten übertrug. Genauer gesagt zuerst auf Kapitän Hoyt-Sumners Papageien-Weibchen und dann auf die gesamte Besatzung der Plündernden Mary.«

An diesem Punkt kann ich beim besten Willen nicht mehr ernst bleiben. »Scheiße, Theo«, frage ich grinsend, »wie kommst du bloß immer auf diese Namen?«

»Aber die stehen doch in den Lehrbüchern! Hast offenbar ganz schön was aufzuholen in Zukunftsgeschichte.«

»Wie heißt die Papageien-Lady?«

»Fulton, aber nachdem sie alle Piraten in Untote verwandelt hatte, hieß sie nur noch Moderschnabel. Auch das Schiff haben sie später umbenannt in die Blutige Brigg, was ziemlich gut getroffen ist, wenn du mich fragst.«

Wie gern würde ich mal eine Stunde in Theos Kopf verbringen, mal in Ruhe zwischen diesen vor sich hin ratternden Zahnrädchen umherklettern.

»Die Zombiepiraten haben noch genug Grips, um ihr Schiff umzubenennen?«, frage ich ihn. »Dann sind wir am Arsch.«

»Am besten verbündest du dich mit mir«, sagt Theo. »Ich weiß, wie ich uns retten kann.«

Und schon skizziert er mit Feuereifer Überlebensstrategien für die Zombiepiraten-Apokalypse. Demnach bestücken wir zu unserer Verteidigung eine hoch gelegene Festung mit Kanonen und mit Armbrüsten, die brennende Pfeile abschießen können. Kein Problem. Dank all der Fantasy-Bücher, die ich gelesen habe, fühle ich mich, als könnte ich diese Waffen wie ein Profi bedienen. Weil Theo sich aber zudem ziemlich sicher ist, bis zur Ankunft der Untoten den Schlüssel zu ewigem Schlafverzicht und damit zur Rund-um-die-Uhr-Wache gefunden zu haben, soll ich offenbar zusätzlich kochen lernen, denn das muss ja auch irgendwer machen, während Theo dafür sorgt, dass wir nicht selbst als Abendessen enden.

»Einverstanden, Griff?«

»Ich kann nicht versprechen, dass meine Kochergebnisse essbar sein werden, aber verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen.«

Theo streckt die Hand aus, ich schüttle sie und damit ist unsere Aufgabenteilung für die Zombiepiraten-Apokalypse besiegelt. Während ich ihn berühre, fängt mein Herz schnell und heftig zu pochen an.

Schnell lasse ich los. »Ich muss dir was sagen.« Die U-Bahn rattert mittlerweile lautstark über die Schienen und alle neugierigen Blicke sind abgewandert. Alle sind wieder in ihre eigenen Welten vertieft.

»Ich muss dir auch was sagen«, sagt Theo.

»Wer fängt an?«

»Schere, Stein, Papier?«

Beide spielen wir Stein.

»Sagen wir’s gleichzeitig?«, schlägt Theo vor.

»Dafür eignet sich meins nicht so gut. Fang du an.«

»Vertrau mir. Ich wette, wir haben dasselbe. Gleichzeitig ist leichter.«

Ich widerspreche nicht länger. Vielleicht ist das, was er mir sagen will, ja noch übler als mein Geständnis und vielleicht fühl ich mich dann nicht ganz so schlecht.

»Runterzählen von drei?«, fragt er.

»Von vier.«

Theo nickt schmunzelnd. »Vier, drei, zwei, eins.«

»Ich glaub, ich bin verrückt«, haspele ich, während er sagt: »Ich mag dich.«

Theo wird rot und sein Schmunzeln verschwindet. »Warte, was?« Er dreht sich von mir weg zum Fenster, aus dem er hier unten allerdings nichts sehen kann außer Schwärze und seinem eigenen Gesicht. »Ich dachte, du würdest sagen, dass du mich auch magst. Du bist doch schwul, oder nicht, Griff?«

»Ja«, gebe ich zum ersten Mal in meinem Leben zu und aus irgendeinem Grund rast mir dabei weder das Herz, noch bekomme ich heiße Wangen. Ich weiß nur, dass ich jedem anderen gegenüber gelogen hätte.

»Gut. Ich meine, cool«, sagt Theo. Kurz scheint er mit dem Gedanken zu spielen, wieder Blickkontakt herzustellen, starrt dann aber doch weiter aufs Fenster. »Warum hattest du Angst, mir das zu sagen? Also, dass du verrückt zu sein glaubst?«

»Ja, das wär die andere Sache. Womöglich hab ich Zwangsstörungen.«

»Dafür ist dein Zimmer zu chaotisch.«

»Ordnungszwang meine ich nicht. Aber ist dir aufgefallen, dass ich seit einer Weile immer links von allen gehen muss? Früher hatte ich das nicht. Und dann mein Zahlenproblem: Außer bei wenigen Ausnahmen, wie bei eins oder sieben, will ich alles in gerader Zahl haben. Lautstärke, Wecker, Mikrowelle, wie viele Kapitel ich vorm Schlafen noch lese, und sogar, wie viele Beispiele ich in einem Satz verwende. Es lässt mir keine Ruhe, ich bin ständig unter Strom deswegen.«

Theo nickt. »Ich hab mich auch schon mal so gefühlt, nur vielleicht nicht in dem Ausmaß. Ich glaube, das ist einfach ein Zeichen dafür, dass du genial bist. Wenn ich mich nicht irre, war zum Beispiel Nikola Tesla von der Zahl Drei besessen und musste oft erst dreimal um den Block laufen, bevor er ein Gebäude betreten konnte. Jedenfalls könnten diese Zwänge ganz einfach nur kleine Ticks sein, Griff.« Als Theos blaue Augen mich jetzt wieder ansehen, leuchten sie. »Lass uns das nachher mal genauer recherchieren!«

Vielleicht hat er recht. Vielleicht bin ich doch mehr als ein durchgeknallter Teenager, der sich ständig an den Ohrläppchen zupft und immer seine Handflächen kratzen muss, wenn er nervös ist. Der alle auf seiner rechten Seite haben will und nur mit geraden Zahlen arbeiten kann. Vielleicht starre ich im Moment nur durch einen Autofokus, der mir ein Detail ranzoomt und alles andere ausblendet.

»Ganz im Ernst, das macht mich seit einer Weile ziemlich fertig, weil ich nicht weiß, wer ich in ein paar Jahren sein werde. Womöglich wächst es sich zu mehr aus und verwandelt mich in einen Griffin, der zu kompliziert ist, als dass du noch mit ihm befreundet sein möchtest.« Kaum zu glauben, was ich mir hier alles von der Seele rede. Es fühlt sich surreal an, unfassbar, aber ich kann nicht aufhören. Vielleicht sind meine Krankheiten ja wie weggezaubert, wenn ich sie erst mal alle ausgesprochen habe.

Theo rutscht näher. »Ich hab genug echte Probleme, Kumpel. Ob die Zombiepiraten zum Beispiel mit Enterhaken und Musketen umzugehen wissen oder ob sie uns einfach mit Zähnen und Klauen zu Boden ringen. Du dagegen jagst mir keine Angst ein und du wirst ganz sicher nie zu kompliziert für mich sein.« Er klopft mir aufs Knie. Und lässt seine Hand eine gute Minute dort liegen. »Tut mir übrigens leid, falls ich dich gerade zum Coming-out gezwungen habe. Warte mal, bin ich der Erste, dem du’s gesagt hast?«

Ich nicke mit klopfendem Herzen. »Du hast mich nicht gezwungen. Okay, vielleicht ein bisschen, aber ich wollte es dir eh anvertrauen. Hatte bloß weder die Eier noch irgendeine Ahnung, was ich groß hätte sagen sollen. Außerdem hatte ich Schiss, dass mein Instinkt mich täuscht, was dich betrifft. Wahnvorstellungen liegen bei mir in der Familie, mütterlicherseits.«

»Du hast keine Wahnvorstellungen«, sagt Theo. »Und bist auch nicht verrückt.« Er streckt die Hand nach meiner aus und hält sie einfach fest. Ich weiß, die Welt ist noch dieselbe, und was aufsteigt, fällt irgendwann wieder auf die Erde zurück, aber mein Blick hat sich verändert, hat sich ein Stück zur rechten Seite verschoben, und nun liegt sie so vor mir, wie ich mir das schon immer gewünscht habe. Hoffentlich sage oder tue ich nichts, wodurch sie sich wieder zurückverschiebt.

Ich drücke Theos Hand, probiere aus, was auch immer wir hier tun, und beantworte damit gefühlt eine Frage, die zu stellen ich nie mutig genug war.

»Bleib bei mir, okay?«, bittet Theo.

»Ich werde wohl kaum aus einer fahrenden U-Bahn steigen.«

Theo lässt meine Hand los und ich sacke ein wenig in mich zusammen. Als hätte ich ihn gerade im Stich gelassen. »Das hab ich noch nie wem erzählt«, sagt er, »aber seit ein paar Jahren male ich mir Paralleluniversen aus. Kennst mich ja, ich frage mich eh ständig: Was wäre wenn?« Er schaut kurz weg. »Vor Kurzem nun habe ich damit angefangen, mich das öfter und öfter zu fragen. Viele dieser Was-wäre-wenns sind nur Spaß, aber viele gehen mir auch richtig nahe. Jede Nacht vorm Schlafen trage ich meine Schmierzettel und Handyvermerke dazu zusammen und sammle sie in einem Notizbuch. Hunderte von Paralleluniversen.«

Mit einem Ruck bleibt die Bahn stehen. Einige steigen aus, andere steigen ein und verschaffen uns so eine kleine Atempause. Doch gleich nachdem die Türen sich geschlossen haben, hat Theo wieder meine volle Aufmerksamkeit.

»Eine dieser Notizen hab ich mir vorhin bei der Geschenkejagd auf den Arm geschrieben«, fährt er fort. »Du musst dich allerdings noch ’nen Augenblick gedulden. Keine Spoiler, du verstehst. Also. Beim Schreiben hab ich was kapiert: In allen meinen letzten Universen taucht unweigerlich dein Gesicht auf. Und selbst wenn dir das nicht gefallen sollte, würde ich dich deshalb nicht hassen, sondern wahrscheinlich nur etwas Zeit für mich und genug Distanz zwischen uns brauchen, um mir wieder Universen ohne dich vorstellen zu können.« Theo schiebt seinen linken Ärmel hoch. Über dem Ellbogen steht was geschrieben – leicht krakelig, denn auf sich selbst schreibt nicht mal er perfekt – und das hält er mir jetzt hin: Paralleluniversum: Ich date Griffin Jennings. Punkt.

»Keine Ahnung, ob das überhaupt einen Sinn für dich ergibt, aber ich wünsche mir jedenfalls, dass es Wirklichkeit wird«, sagt Theo, während er mir noch immer den Arm hinhält, als wollte er die Buchstaben in mein Hirn einbrennen. »Wenn es unmöglich ist, akzeptiere ich das und hoffe, dass wir trotzdem noch irgendwie beste Freunde bleiben. Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, es nicht wenigstens mal zu versuchen.« Endlich lässt er den Arm sinken. »Jetzt musst du was sagen.«

Ich fühle mich in das allergroßartigste sämtlicher Paralleluniversen überhaupt katapultiert. Wie ist es möglich, dass dieses Gespräch ernsthaft stattfindet? Wie ist es möglich, dass Theo und ich wahrhaftig flirten? Das Universum und ich sind gerade absolut auf einer Wellenlänge. Aber das kann ich ihm natürlich nicht alles sagen, noch nicht jedenfalls.

»Wollte ich ja gerade«, gebe ich stattdessen zurück.

»Okay, aber wenn, dann sag nur was Gutes. Wenn’s was Blödes ist, dann halt die Klappe.«

»Mann, ich mach mir doch auch schon seit ’ner Ewigkeit tausend Gedanken. Keine Ahnung, wann ich mal mutig genug gewesen wäre, den Mund aufzumachen, aber deine Paralleluniversen hätte ich eh nicht toppen können. Ich hätte einfach nur gesagt, dass ich dich mag.«

»Hättest du nicht zumindest auch erwähnt, wie attraktiv ich bin?«

»›Attraktiv‹ scheint mir ein recht starkes Wort, aber dass man dich ganz gut angucken kann, hätte ich wohl erwähnt, klar.«

»Gut zu wissen.«

Ich sollte ihm sagen, wie gern ich ihm beim Schreiben zuhöre – dem leisen Kratzen des Bleistifts, wenn Theo sich über seine Hefte beugt – und wie neugierig ich auf die Worte bin, die er da zu Papier bringt. Ich sollte ihm sagen, wie oft ich mir ausmale, dass wir beim nächsten Übernachten keine zwei Einzeldecken mit in sein Bett nehmen, sondern uns irgendwann sogar ganz selbstverständlich eine teilen. Ich sollte ihm sagen, wie viel Spaß es mir macht, wenn er ein Riesenpuzzle gegen die tickende Stoppuhr zu schaffen versucht. Wie ich dabei immer für ihn mitfiebere, weil ich weiß, dass er es liebt zu gewinnen. Ich sollte ihm sagen, wie sehr ich es genieße, dass er sich in letzter Zeit immer öfter rechts von mir hält. Aber vielleicht kann ich all das ja genau in dem Moment sagen, wenn es gerade auch passiert.

»Warum heute, Theo?«, frage ich stattdessen.

»Wegen des Fotos, das Wade gestern von uns geschossen hat.«

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich in der ganzen Aufregung noch nicht ein Mal an Wade gedacht habe.

Er, Theo und ich sind ein Dreierteam und somit eine Kriegserklärung an mein Konzept der geraden Zahlen, aber das macht mir in diesem Fall nichts aus, vielleicht weil es zwischen uns – als die eine große Ausnahme des Universums – irgendwie immer gut funktioniert. Wie gestern Nachmittag, als wir bei Theo ein Super Smash Bros-Turnier hinlegten, in dem Theo und ich gegen Wade und den Computer spielten, weil die aus Wades Basecap gezogenen Zettel das so entschieden hatten. Es wurde knapp, denn der Computer stand auf höchstem Level und Wade kann echt gut mit Bowser, aber dann gewannen doch noch Theo und ich mit Captain Falcon und Zelda. Wir sprangen auf und umarmten uns im Siegestaumel, als hätten wir gerade einen Krieg gegen Aliens gewonnen oder, noch passender, gegen Zombiepiraten.

Da zückte Wade die Handykamera. Theo und ich versuchten, möglichst feierlich zu posieren, vergeigten das aber völlig und brachen in Gelächter aus.

»Als ich das Foto angesehen habe«, sagt Theo, »da hab ich mir gedacht: Genug ist genug. Ich will mit dir zusammen sein und das nicht erst seit gestern. Wades Schnappschuss hat mir das nur noch mal besonders heftig klargemacht.«

»Mir geht’s irgendwie genauso«, sage ich. »Und jetzt? Wie besiegeln wir das? Vielleicht mit einem Kuss oder so, aber eigentlich ist mir nicht danach.« Über den letzten Halbsatz muss ich stolpern, denn er ist rundheraus gelogen. Schnell verspreche ich mir selbst, dem Lügen abzuschwören, weil die Wahrheit so ein Glück wie dieses hier verschaffen kann, ein Glück, das unendliche Paralleluniversen eröffnet. Hätte ich mal Kaugummi dabei, aber unser Kaugummibeauftragter ist Wade. »Vielleicht schütteln wir uns einfach die Hand?«

Das tun wir, und keiner lässt los.

»Cool. Aber seltsam«, sage ich.

»Sehr cool. Sehr seltsam«, erwidert Theo. »Aber wir passen doch zusammen, oder?«

»Na klar, Theo.«

Ich kann kaum abwarten, was als Nächstes passiert.

GEGENWART

SONNTAG, 20. NOVEMBER 2016

Nach zehn Minuten geht der Wecker endlich aus, doch Moms und Dads Drohungen, meine Tür aufzubrechen, halten an. Letztes Mal, als sie so weit gegangen sind, verlor ich meine Privatsphäre für volle zwei Monate, bis mein Dad endlich das Schloss ersetzte.

Das habe ich dir, glaube ich, nie erzählt. Ist passiert, nachdem wir Schluss gemacht hatten.

»Griffin!«

»Zehn Minuten noch!«, rufe ich.

»Hast du vor einer Stunde schon gesagt«, drängt Mom.

»Und zwar sechs Mal schon«, ergänzt Dad. »Zieh dich jetzt an.«

»In zehn Minuten komme ich raus«, sage ich. »Versprochen.«

Einen schwarzen Anzug trug ich zuletzt ein paar Monate nach unserm Zusammenkommen bei der Hochzeit deines Cousins Allen auf Long Island. Bei unserer ersten offiziellen Feier also, wenn wir die Taufe deiner Schwester nicht mitzählen. Zu meiner Erleichterung hatte Wade – damals, als wir noch richtig eng befreundet waren – zu Unrecht behauptet, dass alle schwulen Hochzeiten wie Katy-Perry-Konzerte ablaufen. (Ich glaube nämlich nicht, dass meine flatternden Nerven während des ersten Tanzes mit dir den Lichtblitzen eines Stroboskops standgehalten hätten.) Als ich aber die weißen Rosen im Wintergarten dieser sonnendurchfluteten Villa erblickte, begann ich mich heimlich auf den Tag zu freuen, an dem ich dir gestylt in einem schwarzen Anzug die Hände reichen und sagen würde: »Verdammt, ja, ich will.« Damals ahnte ich es noch nicht, aber es wird das letzte Mal in meinem Leben gewesen sein, dass ich einen schwarzen Anzug trug. Heute ziehe ich ganz bestimmt keinen an.

Ich behalte an, was ich am Körper trage – okay, nicht ganz, denn ich will nicht deine Großmutter beleidigen, indem ich bei deiner Trauerfeier in Skiunterhosen aufkreuze. Den grünen Kapuzenpulli aber, den du mir an dem Nachmittag geschenkt hast, an dem wir unsere Unschuld verloren, den ziehe ich nicht aus. Zwei Tage trage ich ihn schon – länger eigentlich, fünfzig Stunden im Grunde, die allerdings hier und da mal ineinander verschwammen. Jetzt, da du fort bist, wünschte ich, ich hätte den verdammten Pulli nie gewaschen. Denn er riecht nicht mehr nach dem alten Blumenladen deiner Großmutter, trägt nicht mehr die Erdflecken, die an unsere Ausflüge in den Park erinnern. Als wärst du ausradiert.

Ich nehme zwei der vier kleinen Magnetclip-Greife, die du mir vorletztes Weihnachten geschenkt hast, und stecke sie mir an den Pulli: den einen auf Schlüsselbein-, den anderen auf Herzhöhe. Jetzt sieht es so aus, als würde der blaue hinter dem grünen her durch den Himmel jagen.

Ich schaue angestrengt auf die Uhr, warte auf die nächste gerade Minute – 09:26 – und steige aus dem Bett. Mitten ins gestrige Abendessen, das ich auf dem Boden vergessen habe, während ich an die Decke starrte und an all die Fragen dachte, die dir zu stellen ich zu viel Angst habe. Aber hey, wenn dein Tod ein Gutes hat, dann, dass du mir nichts mehr sagen kannst, was ich nicht hören will.

Tut mir leid. Ich bin ein absoluter Schwanz, so was zu sagen. Ich brauche ein Mundkondom.

Wie gern würde ich jetzt in die Wanne fallen und das Duschwasser auf mich runterregnen lassen, doch ich muss los. Als die Anzeige auf meinem Laptop von 09:31 auf 09:32 springt, raffe ich mich auf.

Die Wände in unserem Flur sind voller Fotos in billigen Rahmen, die meine Tante uns letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. So was tut meine Mom zwar als unpersönlich ab, ist aber zu nett, um sie nicht trotzdem aufzuhängen. Deswegen trinkt sie auch immer noch aus der Yoda-Tasse, die du ihr vor zwei Jahren mal ohne bestimmten Anlass gekauft hast. Meine Eltern werden dich immer in Erinnerung behalten, auch wenn deine Geschichte gerade nicht mehr an ihren Wänden hängt.

Denn alle Fotos von dir horte ich jetzt mitsamt ihren billigen Rahmen in meinem Zimmer. Im Vorbeigehen registriere ich die leeren Stellen im Flur. Hier hing das Bild von uns beiden, auf dem wir in deinem Kinderzimmer in der Columbus Avenue hocken und ein Empire State Building zusammenpuzzeln. Hier das von uns mit fünfzehn, sechzehn, auf dem du deine Arme um meine Taille schlingst, nachdem Wade darüber gewitzelt hat, dass Jungs keine Jungs umarmen können. Hier das von dir, auf dem du mir letztes Jahr von der Parkbank aus zulächelst, während ich einen Toast auf den Hochzeitstag meiner Eltern ausbringe. Und hier hingen meine zwei Lieblingsbilder, nebeneinander im selben Rahmen. Das erste geschossen von Wade, auf dem wir mit großen Augen nicht zu lachen versuchen. Und das zweite, auf dem wir uns nach unserm Coming-out auf Denise’ Geburtstagsparty strahlend umarmen.

Den Heiligenschein aus Sonnenlicht über deinem Kopf fandest du auf diesem Foto immer besonders cool. »Wie so ein hammerharter Engel der Verwüstung«, sagtest du. »Ich bin der mit dem flammenden Schwert, du kriegst die Harfe.«

Im Wohnzimmer haben meine Eltern schon die Jacken an und sitzen vor den auf stumm geschalteten Nachrichten. Dad hält einen Kuchen auf dem Schoß. Mom sieht mich als Erste und springt so abrupt vom Sofa, dass es ihr bestimmt in den Rücken fährt, besonders an so einem regnerischen Tag wie heute. Doch sie lässt sich nichts anmerken und kommt zögernd auf mich zu, unsicher, welcher Griffin sie erwartet.

»Bin startklar«, lüge ich. Hungrig bin ich. Kaputt. Ein nervliches Wrack und von »startklar« weit entfernt. Aber jetzt gilt es, einen Zeitplan einzuhalten. Die Trauerfeier ist heute. Die Beerdigung morgen. Was danach kommen soll, weiß ich nicht.

Mom streckt die Hände nach mir aus, als wäre ich ein Baby, das seine ersten Schritte auf sie zutapsen soll. Lächerlich. Hier trauert ein Siebzehnjähriger um seinen Lieblingsmenschen. Schnell nehme auch ich meine Jacke und gehe Richtung Haustür. »Warte draußen.«

Als wir alle im Auto sitzen, macht Dad das Radio an, um die Stille zu füllen. Ich starre aus dem Fenster und als wir an einer roten Ampel halten, fange ich an, Paare zu zählen. Ich darf den Verstand jetzt nicht verlieren. Zwei warm eingepackte Frauen unter einem blauen Schirm, zwei alte Typen mit Einkaufswagen vorm Supermarkt, zwei umgestürzte Bäume in einem Gemeinschaftsgarten, zwei überquellende Mülleimer.

Das Zählen hilft ein bisschen, aber nicht viel, nicht genug. Ich lasse meine rechte Hand auf den leeren Sitz neben mir fallen und stelle mir vor, dass du sie in deine nimmst. Zwei Hände.

Besser.

GESCHICHTE

MONTAG, 9. JUNI 2014

Nach der Schule gehen Theo, Wade und ich oft zu Barnes & Noble auf der Upper West Side, um dort unsere Hausaufgaben zu machen. So kurz vor den Sommerferien gibt es aber nicht mehr viel zu tun und wir haben Zeit, durch die Regale zu stöbern. Vorhin, während der letzten Schulstunde, sind Theo und Wade zusammen Bahnen auf dem Sportplatz gelaufen. Das wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, Wade von diesem Pärchen-Ding zu erzählen, das Theo und ich gerade ausprobieren. Aber Theo hat gekniffen. Ich mag keine Geheimnisse. Geheimnisse machen Menschen zu Lügnern und meine Lügenphase ist vorbei.

Von den Graphic Novels ziehen wir weiter zu den Biografien. Hierhin verschlägt es mich normalerweise als Letztes, aber da sind wir nun, dank Theo und Wade.

»Meine Memoiren sollen auch mal hier stehen«, verkündet Theo.

»Tja, Theo, dann fang mal an zu schreiben«, gebe ich zurück.

»Aber ich hab noch keinen Titel!«

»Das Grauen«, schlägt Wade vor und reibt sich die Augen, weil ihm seine neuen Kontaktlinsen zu schaffen machen. Er ist immer noch der alte Wade – kurze Haare, dunkelbraune Haut, zerknittertes T-Shirt –, aber meiner Meinung nach sah er mit Brille deutlich cooler aus.

»Und meine nenne ich Heavy Wade – Das Leben als Kraftprobe«, fährt er fort.

Theo tut, als müsste er gähnen. »Boah, Wade, das klingt nach verdammt schwerer Kost.«

Wade zeigt Theo den Finger. »Ich hol mir einen Eistee aus dem Café. Wollt ihr auch einen?«

»Gute Idee. Aber das geht auf mich.« Ich reiche Wade eine Gutscheinkarte, die ich noch von meinem Geburtstag übrig habe.

»Sicher?«, fragt Wade.

Ich nicke.

Sobald Wade außer Sicht ist, werfe ich Theo den Warum-hast-du-Wade-nichts-von-uns-gesagt?-Blick zu, aber er dreht sich nur wieder zu den Regalen um.

»Was hältst du von Theo McIntyre: Schrecken der Zombiepiraten?«, schlage ich vor, um die Stille zu überbrücken.

Er lächelt, ohne mich anzusehen. »Falls es aber gar nicht zur Zombiepiraten-Apokalypse kommt, halten die Leute das für einen Fantasyroman. Und das verbitte ich mir. Mein Dasein ist schließlich keine Fiktion, verdammt noch mal! Vielleicht sollte ich es ganz klassisch halten. Wie wär’s mit Theo: Mein Leben?«

Ich schüttele den Kopf. »Also, du bist natürlich mein Lieblings-Theo, aber der einzige Theo bist du nun auch nicht.«

Er sieht mich an. »Kennst du etwa noch mehr Theos? Sag mir sofort, wo die wohnen, damit ich diesem Wahnsinn ein Ende setzen kann!« Dabei nimmt er eine Karatehaltung ein, bereit, jeden vorbeikommenden Theo zu Kleinholz zu verarbeiten. Die Pose erinnert mich an sein Hipster-C-3PO-Kostüm letztes Jahr an Halloween. Zum T-Shirt mit Droidenkörper-Aufdruck hatte er sich die Arme und Beine mit Goldfarbe angemalt.

»Wie wär’s mit C3The-O?«

»Nee, das klingt nicht wichtig genug. Aber vielleicht nenn ich eins der Kapitel so.« Theo zieht eine Augenbraue hoch und zeigt auf mich. »Aber ich habe einen für dich: Griffin zur Linken.«

Wie gern würde ich ihn jetzt küssen. »Das ist perfekt!« Rasch gucke ich mich um – nicht dass Wade gerade um die Ecke kommt –, nehme Theo an die Hand und ziehe ihn in den nächsten Gang. Küssen werd ich ihn aber lieber doch nicht, denn ich will nichts überstürzen oder mir so vorkommen, als täten wir das hinter Wades Rücken.

»Wir müssen es Wade sagen«, flüstere ich. »Wenn du das lieber allein durchziehen willst, okay, aber wir können es gerne auch zusammen machen. Jedenfalls verlassen wir diesen Buchladen nicht, ohne das erledigt zu haben.«

»Abgemacht!«, sagt Theo und nimmt meine Hand. »Wann macht der Laden noch mal zu? Ich –«

»Whoa.« Mit einem Tablett voll Eistee steht Wade am anderen Ende des Gangs. Ich lasse Theos Hand los, als hätte ich mich verbrannt. »Whoa«, wiederholt er und kommt auf uns zu. Obwohl er eigentlich genauso groß wie Theo ist, wirkt er mit seinen hängenden Schultern jetzt wesentlich kleiner. Er schüttelt den Kopf, kriegt aber ein schwaches Lächeln hin.

»Dieses Team-Ding war schön, Jungs. Ich werd euch echt vermissen.«

Nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. »Wovon redest du?«

»Wie lange läuft das zwischen euch schon? War klar, dass das irgendwann passiert. Da könnt ihr noch so lange meine hellseherischen Fähigkeiten anzweifeln, das habe ich letztes Jahr schon kommen sehen. Nur hab ich’s niemandem erzählt.«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das auf keinen Fall.

»Du hattest eine Vision, in der Griffin und ich zusammenkommen und kurz darauf die Welt untergeht?«, fragt Theo mit merkwürdig hoher Stimme.

Wade grinst und gibt mir einen der drei Becher. »Ja, so ungefähr.«

»Deine Visionen sind irgendwie schwul, Mann. Du solltest dich mal durchchecken lassen«, witzelt Theo, während er versucht, sich wieder zu fangen.

Auch ich muss mich erst mal beruhigen und nehme einen Schluck Tee. »Warte mal, Wade, woran hast du gemerkt, dass Theo und ich aufeinander stehen? Sag jetzt nicht, weil du hellsehen kannst.«

»Dafür braucht man echt kein Hellseher zu sein, Jungs. Die Chemie zwischen euch spritzt einem ja geradezu ins Gesicht!« Stille. »Oh, verdammt, das kam jetzt irgendwie falsch rüber. Springt, meine ich! Egal. Jedenfalls habe ich nicht vor, der unsichtbare Dritte zu sein.«

Mit der Zahl Drei habe ich ja, wie gesagt, meinen Frieden geschlossen, zumindest was unser Team angeht, und ab sofort bilden Theo und ich ja sowieso eine Einheit. Aber meine neue Gleichung sollte ich Wade gegenüber vielleicht besser nicht erwähnen. »Komm schon, Wade, das bedeutet doch nicht Game Over für unser Team. Im Gegenteil, stell’s dir als neues Spiel vor, mit neuen Levels und neuen Welten.«

»Mit neuen Hindernissen für mich, wenn ich euch treffen will, und mit exklusiven Spielemodi nur für euch zwei«, entgegnet Wade.

»Du bist herzlich eingeladen, an unseren exklusiven Aktivitäten teilzuhaben«, sagt Theo und zwinkert ihm zu.

Aber Wade zählt unbeirrt sämtliche Beispiele für gescheiterte Liebesbeziehungen auf, die ihm einfallen, hauptsächlich aus Comics. Die tote Freundin in Green Lanterns Kühlschrank, das durch die Widrigkeiten des Lebens entzweite Highschool-Pärchen Cyclops und Jean Grey, Ant-Man, der The Wasp mit Insektenspray einnebelt – wow, mir war gar nicht klar, dass Ant-Man so zu seelischer und körperlicher Grausamkeit neigt! Bevor Wade ein viertes Beispiel einfallen kann, dreht Theo sich zu mir um. »Griff, ich schwöre dir hiermit feierlich, dich niemals mit Insektenspray zu vergiften. Schwörst du das auch?«

»Ich schwöre.«

»… nicht«, flüstere ich Wade auffällig unauffällig zu, um die Situation aufzulockern. Oder es wenigstens zu versuchen.

Theo nimmt sich seinen Eistee vom Tablett. »Ist dann jetzt alles klar zwischen uns?«

»Jungs, versprecht mir, dass unser Team nicht den Bach runtergeht, wenn ihr euch trennt«, sagt Wade. An seinem Tonfall erkenne ich, dass er es ernst meint. Er klingt wie damals in der Siebten, als Theo und ich ihn damit aufzogen, dass er sich seinen Namen in den Fade-Undercut hatte rasieren lassen. Eine Weile hat er mitgelacht, uns dann aber ziemlich ernst aufgefordert, es gut sein zu lassen.

»Alter, du könntest ruhig ein bisschen an uns glauben«, beschwert sich Theo. »Aber klar, ich verspreche, wir werden uns im Fall einer Trennung ganz erwachsen verhalten.«

»Du bist nicht erwachsen, du bist sechzehn«, gibt Wade zu bedenken.

»Aber ich gehe davon aus, dass die Beziehung eine Weile hält«, entgegnet Theo.

Ich atme tief durch und nehme mir fest vor, mir die gute Theo-Laune nicht von Wade verderben zu lassen. »Auch ich verspreche hoch und heilig, dass das Team nicht darunter leidet, falls wir uns trennen. Können wir uns jetzt bitte wieder auf die Bücher konzentrieren?«

Theo winkt Wade und mich zu sich und nimmt uns in den Arm. Deutlich vernehmbar flüstert er in Wades Richtung: »Wir brauchen eine Runde Gruppenkuscheln, sonst fühlt Griffin sich ausgeschlossen.«

»Ich hasse euch«, zischt Wade zurück.

Nachdem wir alle erleichtert losgelacht haben, womit die Sache zum Glück gegessen ist und die Geheimnistuerei ein Ende hat, muss ich noch lange nach den beiden weiterlächeln, vor lauter Glück über Theos Vertrauen in unsere Beziehung. Wunderbar. Ich habe also genug Zeit, um nach dem perfekten Titel für seine Memoiren zu suchen.

GEGENWART

SONNTAG, 20. NOVEMBER 2016

Nein, ich will nicht, ich will da nicht rein, Theo. Ich will mich da drin nicht von dir verabschieden.

Die Trauerkapelle an der Ecke Eighty-First und Madison wirkt wie aus Spielklötzen zusammengebaut und wegen ihrer beigebraunen Fassade irgendwie unfertig – als hätte man vergessen oder es unpassend gefunden, ihr einen gescheiten Anstrich zu verpassen. Die Entscheidung deiner Eltern, dass deine Freunde und Verwandten sich hier von dir verabschieden sollen, ist mir unbegreiflich. Zwar fällt mir gerade auf Anhieb auch kein besserer Ort ein, doch würde ich auf jeden Fall einen mit mehr Farbe aussuchen.

Na egal. Mir jedenfalls. Ich geh da eh nicht rein.

»Steigst du schon mal aus, Griffin?«

»Nein«, antworte ich. »Ich kann nicht.«

Mom zieht den Schlüssel ab und wirft ihn in ihre Handtasche. »Wir bleiben hier sitzen, bis du bereit bist.« Stur blickt sie geradeaus, wo Trauernde – von denen ich keinen erkenne – mit Kaffeebechern in den Händen Richtung Kapelle gehen. Die Glocke schlägt zehn Mal. Es macht mir nichts aus, diese Andacht zu verpassen. Ich habe sowieso nicht vor, meine Trauer so bald kleinzusingen oder wegzubeten. Mom hält Dad ihre Hand hin und er umfasst sie mit seiner, wie immer. Die Liebe meiner Eltern ist in Stein gemeißelt. Gerade bin ich zu taub, um es zu fühlen, doch all mein Vertrauen in deine und meine Zukunft verdankte ich ihrer ewig andauernden Highschool-Liebe.

Ihre beiden Hände zu sehen, während ich mir deine nur vorstellen kann, macht mich stinkwütend.

Ich steige aus und knalle die Tür zu. Kalte Herbstluft beißt durch meine Jacke und meinen Pulli. Das Atmen tut bis in die Lunge weh. Es regnet gar nicht so heftig, aber ich bin gleich klitschnass.

Auch meine Eltern verlassen die Wärme ihres zerbeulten Toyotas und gehen rechts neben mir her, respektieren diesen Zwang, der dich immer wieder fasziniert hat. Sie schweigen und ersparen mir irgendein Glückskeksgefasel. Meine Eltern wissen genau, wann sie mit mir in den Krieg zu ziehen haben und wann ich meine Schlachten allein schlagen muss.

Du erwartest mich da drin. Du, und auch wieder nicht du.

Ich schulde dir eine Verabschiedung.

Wenn du hier wärst, säße ich schon längst in meiner Bank … oh Mann, jetzt lasse ich mich tatsächlich von dir zu deiner eigenen Trauerfeier überreden. Wie verrückt ist das denn! Du warst schon immer ein Experte darin, mir Mut einzuflößen, mich die Mauern einreißen zu lassen, die ich einzureißen vermochte. Für meine unüberwindbaren Zwänge konntest du ja nichts.

Vor der Kapellentür merke ich, wie meine Eltern ein bisschen unruhig werden. Als ich mich umdrehe, sehe ich ein paar weitere unbekannte Gesichter auf uns zukommen. Vielleicht Nachbarn oder Freunde deiner Eltern, von denen du mir nur mal erzählt hast. Wenn ich sie nicht kenne, kennen sie mich auch nicht und ebenso wenig deine und meine Geschichte, daher können sie nicht wissen, wie schwer es für mich ist, diesen Scheißknauf zu drehen.

Die Anspannung steigt, aber niemand sagt etwas.

Ich prügele mich selbst zu Boden, gehe unter, will nie wieder nach oben kommen.

Doch dann öffne ich die Tür. Und betrete einen Raum voll abgestandener Luft und Trauer.

Direkt am Eingang prangt ein großes Bild von deinem Gesicht. Deine Eltern haben das peinliche Schulfoto von dir aus der Elften genommen und nicht unser Lieblingsporträt, das als Autorenfoto für deine Memoiren dienen sollte. Auf dem du so schön zurückhaltend lächelst, den Betrachter aber trotzdem verschmitzt aus deinen blauen Augen anguckst – vielleicht nicht gerade der Eindruck, den deine Eltern anderen von dir vermitteln wollen. Warum sie allerdings dieses Foto hier genommen haben, ist mir schleierhaft. Aber natürlich werde ich nichts sagen. Wer hätte schließlich an Russells und Ellens Stelle gerade den Kopf für so was.