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In dieser fesselnden Fortsetzung nimmt Adam Silvera seine Fans erneut mit in ein New York, in dem einige Menschen mit magischen Kräften geboren werden, andere diese jedoch gewaltsam aus dem Blut magischer Kreaturen stehlen. Als Brighton nach dem Kampf mit den Bloodcastern die verhängnisvolle Entscheidung trifft, das Unsterblichkeit versprechende Reaper-Blut zu trinken, ändert sich alles: Plötzlich steht Brightons Leben auf dem Spiel. Auf Emils Jagd nach einem Gegenmittel, das nicht nur seinen Bruder rettet, sondern ihn auch von seinen eigenen ungewollten Phönixkräften befreit, muss er tief in die Vergangenheit eintauchen, der er entkommen will. Und obwohl er die Hilfe der Spellwalkers jetzt mehr denn je braucht, zerbrechen ihre Reihen an Maribelles Rachedurst. Der Kampf um den Frieden spielt sich wie ein kompliziertes Schachspiel ab, und Emil beginnt zu begreifen, dass er möglicherweise die ganze Zeit gegen den falschen Feind angetreten ist.
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Seitenzahl: 698
Adam Silvera
Infinity Reaper
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Christine Fliedner und Christopher Bischoff
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Infinity Reaper bei Quill Tree Books, ein Imprint von HarperCollins Publishers, New York
Deutsche Erstausgabe
© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2021 by Adam Silvera
Published by Arrangement with Adam Silvera
All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Übersetzung: Hanna Christine Fliedner und Christopher Bischoff
Lektorat: Maike Frie
Coverillustration: Kevin Tong
Coverüberarbeitung: Niklas Schütte
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03880-165-8
www.arctis-verlag.com
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Für jene, die aufgeben wollen: Kämpft weiter.
Besonderer Dank geht raus an Becky Albertalli und Elliot Knight, die zwar nicht immer anwesend, aber stets bei mir waren.
Gleamkraft – Überbegriff für außergewöhnliche Fähigkeiten, die schon seit Anbeginn der Zeit existieren und der Öffentlichkeit bekannt sind.
Gleamer*innen – Personen, die Gleamkraft anwenden. Das können sowohl Celestials als auch Specter sein.
Celestials – Auch bekannt als die Himmlischen. Woher Celestials genau stammen, ist ungeklärt. Sie besitzen Kräfte, die mit den Sternen und anderen Himmelskörpern in Zusammenhang stehen. In manchen Fällen zeigen sich diese Kräfte schon bei der Geburt, in anderen erst im Laufe des Lebens. Die Bandbreite der Fähigkeiten ist groß. Wenn Celestials Gleamkraft anwenden, leuchten in ihren Augen Himmelskörper aus den verschiedensten Ecken des Universums, ihr Erkennungszeichen. Besonders hervorzuhebende Gruppierung: die Spellwalker.
Specter – Sechzig Jahre vor Beginn dieser Geschichte wurde eine alchemistische Methode entwickelt, um mithilfe des Blutes mythischer Kreaturen Nicht-Celestials ebenfalls übermenschliche Fähigkeiten zu verleihen. Gleamer*innen, die ihre Kräfte durch Blutalchemie erhalten haben, nennt man Specter. Ihre Fähigkeiten beschränken sich auf die der Kreatur, deren Blut sie in sich tragen. Man erkennt sie an der typischen Aureole einer Sonnenfinsternis in den Augen, wenn sie Gleamkraft anwenden. Besonders hervorzuhebende Gruppierung: die Bloodcaster.
Bannblitze/Bannwerk – Alchemistisch aus dem Blut von Celestials hergestellte Munition von z.B. Bannstäben oder Banngeschütztürmen.
Bannsichere Westen – Designt, um Gleam-Attacken abzuwehren.
Bannstäbe – Waffen, die Bannblitze abfeuern. Meist, aber nicht ausschließlich, von Polizei und Anti-Gleam-Einheit genutzt.
Der Blackout – Name für die Tragödie im Nightlocke Conservatory. Auch: der Tag, an dem sich die Welt verdunkelt hat. Durch ihre Verstrickung in die Ereignisse des Blackouts werden die letzten Gründungsmitglieder der Spellwalker von einigen als Terrorist*innen bezeichnet.
Die Bounds – Ein Hochsicherheitsgefängnis für Gleamer*innen.
Der Crowned Dreamer – Eines der Ur-Sternbilder, das nur
alle sechsundsechzig Jahre für einen Monat am Himmel auf-
taucht und in diesem Zeitraum Gleamkraft verstärkt.
Cloaked Phantom – Ein weiteres Ur-Sternbild, das Wandel begünstigt.
Ewigkeitsender/Enderklinge – Ein Dolch, der einen Phönix endgültig tötet, sodass er nicht mehr wiedergeboren werden kann.
Gleamkliniken – Einrichtungen zur medizinischen Behandlung von Gleamer*innen.
Juwelgranaten – Edelsteine, die mit natürlichen/elementaren Sprengstoffen versetzt sind.
Klinge des Vergessens – Dolch, der Geister endgültig töten kann.
Ur-Sternbilder – Spezielle Sternbilder, die Einfluss auf die Kräfte von Gleamer*innen haben, besonders auf Celestials. Diese Konstellationen begünstigen auch die Transformation von Personen in Specter durch Alchemist*innen.
Emil Rey – Wiedergeborener Phönixspecter. Kann graue und goldene Flammen heraufbeschwören, die Gefühle von Phönixen erspüren und fliegen. Außerdem hat er die Fähigkeit zu Selbstheilung und Wiedergeburt. Auch bekannt als Feuerschwinge und Infinity Son.
Brighton Rey – Content Creator des Online-Formats/YouTube-Kanals Celestials of New York. Hat das Reaper-Blut getrunken, um die kombinierten Kräfte eines Phönixes, einer Hydra und zweier Geister zu erlangen.
Maribelle Lucero – Celestial mit der Fähigkeit, zu schweben.
Iris Simone-Chambers – Celestial mit übermenschlicher Stärke und einer nahezu bannsicheren Haut, die sie gegen die meisten Gleam-Attacken schützt. Noch relativ neue Anführerin der Spellwalker.
Atlas Haas (†) – Celestial mit der Fähigkeit, Wind und Wirbelstürme heraufzubeschwören.
Wesley Young – Celestial, der mit Hypergeschwindigkeit rennen kann.
Eva Nafisi – Celestial mit der Fähigkeit, andere zu heilen. Dabei muss sie allerdings deren Schmerzen absorbieren.
Prudencia Mendez – Celestial mit Telekinesekräften.
Carolina Rey – Mutter von Brighton und Emil. Keine Kräfte bekannt.
Ruth Rodriquez – Celestial, die Klone von sich selbst erschaffen kann.
Bautista de León (†) – Wiedergeborener Specter mit Phönixblut und der Fähigkeit, goldenes Feuer heraufzubeschwören, sich selbst zu heilen, wiedergeboren zu werden und sich an sein vergangenes Leben zu erinnern. Gründer der Spellwalker.
Sera Córdova (†) – Celestial, Alchemistin und Hellseherin. Gründungsmitglied der Spellwalker.
Ness Arroyo – Specter mit Gestaltwandlerblut. Kann sein Äußeres nach seinem Willen verändern.
Luna Marnette – Brillante Alchemistin und Gründerin der Bloodcaster. Keine Kräfte bekannt.
Dione Henri – Specter mit Hydrablut. Kann zusätzliche Extremitäten ausbilden oder abgetrennte Körperteile nachwachsen lassen.
Stanton – Specter mit Basiliskenblut. Verfügt über Schlangensinne, kann giftige Säure und lähmende Dämpfe ausstoßen.
June – Specter mit Geisterblut. Kann durch feste Objekte hindurchphasen und von anderen Besitz ergreifen.
Senator Edward Iron – Präsidentschaftskandidat und Gleamkraftgegner. Keine Kräfte bekannt.
Barrett Bishop – Chefarchitekt der Bounds. Kandidiert als Vizepräsident. Keine Kräfte bekannt.
Kongressabgeordnete Nicolette Sunstar – Präsidentschaftskandidatin und Celestial. Kann gleißend helles und heißes Licht erzeugen.
Senatorin Shine Lu – Celestial mit der Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Kandidiert als Vizepräsident.
Halo-Knights – Gruppe von Menschen, die ihr Leben dem Schutz von Phönixen widmen.
Tala Castillo – Halo-Knight. Keine Kräfte bekannt.
Wyatt Warwick – Halo-Knight. Keine Kräfte bekannt.
Nox – Obsidianphönix mit hervorragenden Fährtenlesefähigkeiten.
Roxana – Blitzheulerphönix mit der Fähigkeit, Gewitter heraufzubeschwören.
Keon Máximo (†) – Alchemist und Specter mit Phönixblut und der Fähigkeit, graues Feuer heraufzubeschwören, sich selbst zu heilen und wiedergeboren zu werden. Er ist der Kopf hinter der Blutalchemie, die gewöhnlichen Leuten Kräfte verschafft, und wurde selbst der erste aller Specter.
Kirk Bennett – Kurator der Phönix-Ausstellung im Kreaturenkundemuseum. Keine Kräfte bekannt.
Dr. Billie Bowes – Celestial, die Illusionen erzeugen kann.
Der SilverStarSlayer – Konservativer YouTuber.
Anti-Gleam-Einheit – Der Regierung unterstelltes Spezialeinsatzkommando, dafür ausgebildet, Gleamer*innen außer Gefecht zu setzen, die ihre Kräfte missbrauchen.
Doch wahre Herrscher werden nicht geboren.
Wir werden vom Leben gemacht.
Marie Lu
»Das Bündnis der Rosen«
Ich trinke das Reaper-Blut bis zum letzten Tropfen, während ich zum Crowned Dreamer hinaufschaue.
Das Elixier riecht nach versengten Leichen und schmeckt wie Eisen und Kohle. Das Blut des Jahrhundertphönixes, der Goldfellhydra und der toten Geister liegt mir so schwer auf der Zunge wie Schlamm. Mir brennt die Kehle, und ich bin kurz davor, den Rest auszuspucken, zwinge mich jedoch, es ganz herunterzuschlucken, denn dieses Reaper-Blut wird den Lauf der Geschichte verändern. Ich hatte nicht das Glück, mit Kräften geboren zu werden – als Celestial. Aber jetzt, da ich die Fähigkeiten dieser Kreaturen in mich aufgenommen habe, wird die Welt mich als ihren neuen Helden willkommen heißen: ein einzigartiger, unsterblicher Specter.
Ich lasse das leere Fläschchen fallen, und es rollt zu meinem Bruder, der verwundet am Boden liegt. Emil schaut mich an wie einen Fremden, während ich mir die Lippen ablecke und sie mit dem Handrücken trocken wische. Gerade will ich ihm aufhelfen, da stolpere ich und falle auf die Knie. Meine Sicht verschwimmt. Es ist, als würden sich alle hier im Garten der Alpha Church of New Life erst langsam und dann immer schneller und schneller und schneller um mich drehen. Unzählige Fingerspitzen meine Haut streifen. Ich atme so verzweifelt ein wie noch nie zuvor, als hätte mich jemand gewürgt und endlich losgelassen. Bevor ich so richtig in Panik ausbrechen kann, bin ich von Licht umgeben.
Ich leuchte. Zwar nicht annähernd so hell wie der Crowned Dreamer über mir, aber ich fühle mich trotzdem wie mein eigenes Sternbild, Brighton der Strahlende, der Strahlende König oder wie auch immer man es nennen will. Keine Ahnung, ob alle Specter dieses warme, weiße Licht erleben, wenn sie ihre Kräfte bekommen. Die Einzigen in meinem Umfeld, die ich fragen könnte, sind Sonderfälle, die sich nicht daran erinnern können – Emil, der mit seinen Phönixkräften wiedergeboren wurde, und Maribelle, die erst vor wenigen Stunden herausgefunden hat, dass sie keine gewöhnliche Celestial ist. Schließlich war ihr leiblicher Vater ein Specter – niemand Geringeres als der Gründer der Spellwalker –, und somit ist sie die erste bekannte Celestial-Specter-Hybridin. Aber auch ich bin besonders. Ich spüre es, spüre diese Veränderung in mir, selbst als das Leuchten erlischt.
Emil ist benommen, doch dann verzerrt sich seine Miene vor Schmerzen. »Hil… Hilf mir«, keucht er. Emils Brust ist mit dem blauen Blut des toten Phönixes Gravesend beschmiert, aber es ist sein eigenes rotes, das aus der Wunde fließt, um das wir uns dringend kümmern müssen. Immerhin hat keine Geringere als Luna Marnette, die Ober-Alchemistin und Erfinderin des Reaper-Bluts, das ich gerade getrunken habe, ihm einen Ewigkeitsender in den Bauch gerammt. Sie muss Emil mit dieser Enderklinge so tief durchbohrt haben, dass er nicht einmal seine Phönixkräfte zur Selbstheilung anzapfen kann.
Ich stütze Emils Kopf. »Ich bin bei dir, Bro.«
Ich zucke zusammen, als hier draußen im Kirchgarten plötzlich Bannwerk explodiert. Der Kampf ist nicht vorbei, nur weil mein Bruder im Sterben liegt. Es scheint, als würden die Bloodcaster und ihre Akolyth*innen nicht eher Ruhe geben, bis alle Spellwalker tot sind. Inmitten der Kämpfenden entdecke ich meine Freund*innen Prudencia, Wesley und Iris, die Anführerin der Spellwalker. Trotz ihrer angeborenen Kräfte haben sie Mühe, Stanton, den Specter mit dem Blut und den Kräften eines Basilisken, und Dione, die Specter mit der Schnelligkeit einer Hydra und den dazu passenden zusätzlichen Armen, in Schach zu halten.
Dann bemerke ich Maribelle, unsere mächtigste Mitstreiterin, die mit absoluter Mordlust in den Augen neben Luna hockt. »Du hast meine Eltern und meinen Freund umbringen lassen, damit du ewig leben kannst. Jetzt werde ich dabei zusehen, wie du verblutest.«
Luna verliert immer mehr das Bewusstsein, während sie in die Sterne starrt, als könnten sie ihr noch immer Macht verleihen. Daraus wird nichts. Ihr silbergraues Haar klebt ihr auf der schweißnassen Stirn, und sie presst das Loch zu, das ich ihr mit meinem Bannstab in den Bauch gesprengt habe. »Du wirst nicht … du …« Luna versucht zu sprechen, verschluckt sich aber immer wieder an ihren eigenen Worten. Das löst bei mir einen Flashback aus: Dad, der sich an seinem eigenen Blut verschluckt. Es ist so schlimm, dass ich mich wegdrehe, obwohl Luna jedes Fitzelchen Schmerz verdient hat.
Im Gegensatz zu Luna muss ich dank des Reaper-Bluts den Tod nie wieder fürchten.
Mein Bruder allerdings schon.
»Maribelle! Maribelle, wir müssen Emil ins Krankenhaus bringen.«
Wie aus dem Nichts taucht plötzlich June auf – kreidebleiche Haut, silbrig glänzendes Haar, große leere Augen. Sie ist eine Specter mit Geisterblut, die einzige Bloodcaster mit diesen Kräften, glauben wir jedenfalls. Außerdem hat sie von Maribelle Besitz ergriffen und sie dazu gebracht, Atlas zu töten, die Liebe ihres Lebens und einen meiner absoluten Lieblings-Spellwalker. Ich rufe immer wieder Maribelles Namen, aber es ist, als ob ihr Rachedurst mich auf stumm schaltet. Sie ist nicht zu bremsen, hebt die Klinge des Vergessens auf, einen Dolch aus Knochen, mit dem man Geister auslöschen kann, und jagt die junge Killerin durch den Garten.
Als ich Maribelle zu Hause von meinem Plan erzählt habe, Luna das Reaper-Blut zu stehlen, hat sie ihn mir nicht ausgeredet. Sie will, dass Luna machtlos stirbt, und ich will überhaupt nicht sterben. Wir gehen also beide siegreich vom Platz. Aber das alles ist für mich bedeutungslos, wenn Emil nicht ebenfalls überlebt. Ich muss ihn von hier wegbringen. Ich versuche, ihn hochzuheben, aber das ist echt nicht so einfach. Es ist, als hätte er Steine in seiner bannsicheren Weste versteckt. Schade, dass übermenschliche Stärke keine meiner neuen Fähigkeiten ist. Es gelingt mir trotzdem, Emil auf die Beine zu hieven, und er legt seinen Arm um meine Schultern.
Ein Akolyth rennt mit einer Axt auf uns zu und trampelt dabei über die Hydra, die für den Zaubertrank geköpft wurde. Seine Füße sind jetzt voller gelbem Blut. Ich rechne fest damit, dass er auf dem Gras ausrutscht, aber er hält sich aufrecht. Zwar kann Emil uns nicht beschützen, doch das ist okay. Ich werde sein Held sein, so wie er im letzten Monat meiner war. Ich atme tief ein, strecke einen Arm aus und stelle mir vor, wie Phönixfeuer herausschießt. Der Akolyth kommt immer weiter auf uns zu. Ich halte meinen Arm weiter bereit und konzentriere mich darauf, wie sehr ich ihn ausschalten will, und plötzlich wird er wie von Geisterhand weggeschleudert.
Wie habe ich das gemacht? Sind das die Kräfte des Geisterblutes?
Mir wird klar, dass nicht ich dafür verantwortlich bin, als Prudencia an unserer Seite auftaucht und in ihren Augen leuchtende Sterne umherflitzen. An den Augen, die wie Portale in verschiedene Winkel des Universums aussehen, kann man Celestials erkennen, allerdings nur, wenn die Person gerade ihre Kräfte einsetzt. Seit wir sie in der Highschool kennengelernt haben, hat Prudencia uns nur ihre schönen braunen Augen gezeigt, und jetzt rettet sie uns hier den Hals und kämpft mit uns in diesem Krieg. Sie hat eine Platzwunde an der Stirn, und schimmerndes Celestialblut rinnt an ihrer Wange herunter.
»Was ist passiert? Wer hat dich verletzt?«, frage ich.
Prudencia winkt ab und begutachtet Emils Wunde. »Wir müssen ihn dringend medizinisch versorgen lassen.«
Es ist erst ein paar Stunden her, dass wir beide uns das letzte Mal in der Nova gesehen haben, der ehemaligen Grundschule für Celestials, die uns als Zufluchtsort gedient hat. Iris hat mir verboten, weiter auf Missionen mitzukommen, und obwohl Prudencia mich gebeten hat, nicht länger mein Leben zu riskieren und bei meiner Familie zu bleiben, bei ihr zu bleiben, bin ich Maribelle gefolgt wie ein echter Held.
In der Nähe stöhnt Luna vor Schmerz.
»Wow«, sagt Prudencia. »Wir haben sie also wirklich aufgehalten?«
Sie muss das Wichtigste verpasst haben, während sie um ihr Leben gekämpft hat. Meinen großen Auftritt, wie ich Luna mit dem letzten Bannblitz in meinem Stab niedergestreckt, Emil gerettet und das Reaper-Blut getrunken habe. Sogar das Leuchten. Diese Momente waren legendär, und sie hat sie verpasst. Ich hätte eine Kamera aufstellen sollen, um später alles online zu stellen, damit es die ganze Welt sehen kann.
»Ich habe sie erledigt«, sage ich und deute auf den stählernen Bannstab auf der Erde.
Weder bezeichnet sie mich als Held, noch lobt sie mich sonst irgendwie für meine gute Arbeit.
Laut brüllend stürmt Iris wie ein Quarterback durch eine Horde Akolyth*innen und schaltet sechs von ihnen aus, bevor sie uns erreicht. Ihr grün gefärbter Buzz Cut ist blutverschmiert und ihre Fingerknöchel sogar noch mehr. Sie hat eindeutig all die Spatzenhirne umgehauen, die geglaubt haben, sie könnten es mit einer der stärksten Celestials der Stadt aufnehmen. »Die Anti-Gleamer*innen sind auf dem Weg«, sagt sie keuchend. »Ich habe schon über zehn gezählt, aber da kommen sicher noch mehr. Zeit zum Rückzug.«
Die Anti-Gleamer*innen strömen durch das Gartentor der Kirche, gepanzert mit ihren meergrünen Schutzrüstungen, zielen mit ihren Bannstäben auf uns alle – egal ob Celestial, Specter oder menschliche Akolyth*innen, die gern mehr wären – und bombardieren uns mit Bannwerk in allen Farben. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt für meine Geisterfähigkeiten, in Erscheinung zu treten, um durch die massive Backsteinmauer hinter uns zu phasen, uns vielleicht sogar hinüberzuteleportieren, aber ich verspüre nur schmerzhafte Übelkeit und Schwindel, also lasse ich mich mit Emil zu Boden fallen, während die Bannblitze über unsere Köpfe hinwegschwirren. Iris springt nach vorn und schirmt uns ab, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre dunkelbraune Haut ist resistent gegen diese Art von Bannwerk. Prudencia nutzt ihre telekinetischen Kräfte, um weitere Bannblitze abzulenken, wobei sie darauf achtet, sie nicht zurück auf die Anti-Gleam-Einheit zu werfen.
Im Januar dieses Jahres wurden die verbleibenden vier Gründungsmitglieder der Spellwalker für einen Terroranschlag, der als Blackout bekannt wurde, verantwortlich gemacht. Wie wir inzwischen wissen, steckten in Wahrheit die Bloodcaster dahinter. Nur haben die Anti-Gleamer*innen das wohl nicht mitbekommen – man hat sie damit beauftragt, die neue Generation der Spellwalker zu eliminieren, obwohl nichts davon deren Schuld ist. Anders als die Spellwalker retten die Bloodcaster jedoch keine unschuldigen Menschenleben. Schon merkwürdig, dass die Anti-Gleam-Einheit nicht intensiver versucht, sie dingfest zu machen.
Wesley rast auf uns zu und kommt schlitternd zum Stehen. Seine Größe und der kräftige Körperbau erinnern mich an einen meiner Lieblingswrestler aus der Kindheit, nur dass der Typ nicht Wesleys braunen Dutt hatte. Allerdings hatte der Wrestler definitiv häufiger ein blaues Auge und eine dicke Lippe, so wie Wes jetzt. »Ich sag’s nur ungern, Leute, aber wir sitzen gerade ganz schön in der Klemme.«
»Echt? Ist mir gar nicht aufgefallen«, spottet Iris, während sie einen Blitz abwehrt.
Überall im Garten sind Pfützen aus blauem, gelbem, grauem und rotem Blut. Ich war zwar noch nicht hier, als das Massaker losging, aber trotzdem ist der Anblick des Hydrakopfs, der mit der Zunge aus seinem riesigen Maul hängend aus leeren Augenhöhlen gen Himmel starrt, oder des toten blauen Phönixes verstörend.
Plötzlich stürzt Dione sich auf einen Trupp Anti-Gleamer*innen. Mit ihren sechs Armen schlitzt sie einem die Kehle auf, bricht einer anderen das Genick, schlägt einem weiteren zwischen die Augen und entreißt zweien ihre Bannstäbe und erschießt sie damit.
Langsam wird dieser Garten zu einem Friedhof.
»Prudencia, gib mir Deckung!«, ruft Iris, während sie beginnt, auf die Backsteinmauer einzuschlagen. »Wes, schnapp dir Maribelle!«
Ich drehe mich um und sehe, wie Maribelle mit der Klinge des Vergessens zustößt und June immer wieder verfehlt, während das Mädchen ständig in ihrer Nähe auftaucht und verschwindet. Wesley stürmt heran und muss sofort wieder einen Schritt zurückweichen, um nicht erstochen zu werden. Er versucht, Maribelle sanft wegzuziehen, aber sie beachtet ihn kaum, also packt er sie an den Beinen, wirft sie sich über die Schulter und rennt zurück zu uns.
»Lass mich runter!«, schreit Maribelle und versucht, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Wir gehen nicht ohne dich«, erwidert Wesley.
Maribelle hämmert ihm den Knochengriff des Dolches in den Rücken, bis er sie loslässt. Sie schaut sich um, als June plötzlich aus dem Boden auftaucht und ihre Hände schützend auf ihre Anführerin Luna legt. Maribelle schleudert die Klinge. Sie fliegt pfeilschnell auf sie zu, doch June und Luna lösen sich noch schneller in die Nacht auf.
»Sie ist entkommen – sie sind beide entkommen!«
Ein Bannblitz verfehlt sie nur knapp, und Maribelle wirbelt herum, um die Gefahr einzuschätzen. Noch mehr Anti-Gleamer*innen versuchen, sie zu erledigen. Sie hat eindeutig die Nase voll, denn in ihrem einen Auge flackert ein fliegender Komet und im anderen die Aureole einer Sonnenfinsternis auf. Dunkelgelbe Flammen züngeln von ihren Fäusten bis zu ihren Ellbogen, und sie wirft ihren Angreifer*innen das Feuer entgegen. Als Stanton, der Basilisken-Specter, auf das restliche Elixier zustürmt, reagiert sie in Sekundenschnelle und zielt mit einem Feuerpfeil auf den Kessel. Das gesamte Reaper-Blut geht in Flammen auf.
»Beeil dich!«, treibt Prudencia Iris an. Ihre Kräfte reichen nicht mehr aus, um all das Bannwerk abzuwehren, und weitere Trupps treffen mit voll aufgeladenen Stäben ein.
Mit einem mächtigen Schlag durchbricht Iris die Mauer und hinterlässt ein Loch, das groß genug ist, dass alle hindurchpassen.
»Gravesend«, murmelt Emil schwach.
»Gravesend ist tot«, sage ich.
»Lass sie nicht zurück.«
Natürlich interessiert sich Emil für den Leichnam eines Phönixes. Als hätten wir gerade nichts Besseres zu tun, als Gravesend zu holen, um hinterher aus ihren Federn eine Stola zu machen. Es hagelt noch mehr Bannblitze, und ich schnappe mir Emil, um ihn hier rauszubringen. Als Iris sieht, wie ich mich abmühe, übernimmt sie und trägt Emil mit Leichtigkeit auf den Rücksitz ihres Jeeps.
»Wo ist Eva?«, frage ich. Eva ist Iris’ Freundin und selbst eine mächtige Celestial. Emil braucht dringend ihre Heilkräfte.
»Eva ist mit deiner Mutter und ein paar anderen auf dem Weg nach Philadelphia«, antwortet Iris.
»Ich habe eine Kontaktperson in der Lynx-Klinik«, sagt Wesley neben der Fahrertür. »Dort können wir sicher auf Diskretion zählen.«
Prudencia springt auf den Beifahrersitz. »Wir brauchen was Näheres. Er verliert zu schnell Blut.«
Wesley zermartert sich den Kopf. »Aldebaran! In der Aldebaran-Klinik gibt es gute Leute.«
»Zeig uns den Weg«, sagt Iris.
Wesley rennt zu Fuß voraus, und Iris gibt Gas. Ich schaue aus dem Rückfenster und sehe, dass Maribelle hinter uns hergleitet. Ich weiß nicht, wann sie zurückkommen will, um Atlas’ Auto zu holen, mit dem wir heute Abend hierhergefahren sind, und es ist mir auch egal. Emil fallen die Augen zu, und ich verpasse ihm einen Klaps zum Wachwerden.
»Emil, komm schon. Bro, guck mich an.«
Ich war so damit beschäftigt, alles aus diesem Bannstab rauszuholen, dass ich gar nicht gesehen habe, wie Luna meinen Bruder mit dem Ewigkeitsender aufgeschlitzt hat. Wäre ich mein eigener Bannstab, meine eigene wandelnde Waffe, hätte ich selbst unbegrenzte Macht, um mit Gegner*innen fertigzuwerden. Mir schießt das Blut in den Kopf, wenn ich Emil in diesem Zustand sehe. Er wird nicht sterben. So darf das nicht enden.
»Ich hätte früher hier sein sollen.«
Prudencia dreht sich vom Beifahrersitz nach hinten um. »Du hättest gar nicht erst aus der Nova abhauen sollen. Wir hatten keine Ahnung, ob du überhaupt noch lebst.«
»Ich war mit Maribelle zusammen. Sie wurde auch rausgeschmissen.«
»Niemand hat dich rausgeschmissen, Brighton.«
Ich schaue hinunter zu Emil.
Prudencia schüttelt den Kopf. »Du willst jetzt nicht ernsthaft deinem Bruder Vorwürfe machen, während er gerade verblutet? Du bist besser als das, Brighton.«
»Ist doch wahr! Er hat mir verboten, an der nächsten Mission teilzunehmen. Du übrigens genauso, Iris.«
Iris konzentriert sich auf die Straße und weicht anderen Autos aus, um mit Wesley mitzuhalten. »Komm mir bloß nicht so, während ich hier mein Bestes gebe, um das Leben deines Bruders zu retten.«
»Du hättest dir Zeit für mein Training nehmen sollen!«
»Leider war ich zu beschäftigt damit, den Rest der Stadt zu retten«, sagt Iris.
Vor dem Fenster rauscht das Leben vorbei. Menschen sitzen auf Balkonen und Feuerleitern und bestaunen den Crowned Dreamer, obwohl die Behörden alle aufgefordert haben, drinnen zu bleiben, bis er verblasst ist. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Sternbildern wie dem Großen Bären oder dem Jäger, die nur bestimmte Kräfte stimulieren, ist der Crowned Dreamer ein Ur-Sternbild, das alle Gleamer*innen, Celestials und Specter gleichermaßen stärkt. Wenn man den Medien glaubt, sind die Himmlischen heute das Problem. Dabei sind es Alchemist*innen wie Luna, die solche Ur-Sternbilder brauchen, um Menschen in Specter zu verwandeln.
»Ganz ehrlich? Du bist mir nicht mehr überlegen«, sage ich.
»Ganz ehrlich? Ich habe keinen Bock auf einen Schwanzvergleich mit dir«, erwidert Iris und lenkt nach links.
Im Schein der vorübergleitenden Straßenlaternen betrachtet Prudencia meine Lippen, und man sieht förmlich, wie sich eine Frage in ihr formt. »Du wirst doch nicht etwa … Brighton, du hast doch nicht …«
»Irgendjemand musste doch endlich mal Mut beweisen«, antworte ich.
Prudencia wirkt, als wollte sie mir eine runterhauen. »Hör auf, Mut mit Übermut zu verwechseln! Das Elixier könnte dich umbringen!«
Ich lasse niemanden mit mir reden, als wäre ich ein Volltrottel, nicht einmal Prudencia. Ich weiß doch, dass ähnliche Elixiere schon an Menschen getestet wurden. Unmittelbar nachdem der Crowned Dreamer am ersten September erschienen war, meinem achtzehnten Geburtstag, haben sich die Spellwalker auf die Jagd nach Spectern gemacht, die die Kräfte mehrerer Kreaturen in sich aufgenommen hatten – eine absolute Premiere. Und Emils Kräfte haben sich bei einem Kampf gegen einen von ihnen gezeigt.
»Bei den anderen Spectern hat es funktioniert«, sage ich.
Prudencias Blick ist mir unangenehm. »Meinst du etwa wie bei Orton, der in seinem eigenen Feuer verbrannt ist? Brighton, dein eigener Vater ist gestorben, weil sein Blut die Hydra-Essenz nicht vertragen hat und …«
»Ich weiß, warum mein Vater gestorben ist!«
»Warum spielst du dann so mit dem Feuer? Genau dieses Verhalten ist der Grund, warum Iris dich nicht mit in die Schlacht nehmen wollte! Du hältst dich für unheimlich stark, aber Emil ist einer der stärksten Gleamer*innen auf unserer Seite, und jetzt schau ihn dir an!«
»Stell dir doch nur mal vor, was ich tun kann, wenn meine Kräfte erst einmal wirken! Feuer heraufbeschwören, durch Wände gehen, Körperteile nachwachsen lassen, superschnell rennen. Fliegen! Vielleicht kann ich dann sogar von Menschen Besitz ergreifen und …«
»Verdammte Sterne noch eins, dass du es cool fändest, von Menschen Besitz zu ergreifen, lässt dich nicht besonders gut dastehen. Diese Kräfte gehören nicht dir. Das Elixier ist für Luna gebraut worden, mit dem Blut ihrer Eltern. Es könnte starke Nebenwirkungen haben. Du bist so verantwortungslos …«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du irgendetwas in der Richtung je zu Emil gesagt hättest!«
»Emil hat es sich nicht ausgesucht, ein Specter zu werden, und er arbeitet intensiv an einer Lösung, wie er diese Kräfte wieder loswerden kann, während du dich auf diese gefährliche Gleam-Mixtur gestürzt hast, als gäbe es kein Morgen, obwohl sie dich womöglich umbringt.«
Ich stehe zu dem, was ich Emil gesagt habe.
Lieber würde ich machtlos sterben, als ihm bei all dem zuzusehen, was ich nicht kann.
Wir fahren auf einen Parkplatz, und Iris bremst so stark, dass ich Emils Kopf stützen muss.
Die Aldebaran-Klinik für Gleam-Medizin ist von außen knallrot und ringförmig. Durchs Autofenster sehe ich Wesley, schwitzend und schnaufend, der am Eingang mit drei Ärzt*innen spricht.
Die Gruppe eilt mit wehenden mitternachtsblauen Umhängen auf uns zu. Behutsam wird Emil auf eine Trage gehoben. Ich schwöre, zwei von ihnen bewundern ihn wie einen Promi. Tatsächlich ist Emil inzwischen quasi ein Promi, vor allem unter Celestials, seit er mehrmals viral gegangen ist. Glück für ihn, dass wir nicht in einem normalen Krankenhaus sind, wo die Angestellten ihm vielleicht Handschellen anlegen würden, bis die Anti-Gleam-Einheit eintrifft, um ihn in die Bounds zu sperren.
Wie aus dem Nichts ertönen Schritte hinter mir – es ist Maribelle, die landet. Sie hat die Aufmerksamkeit einer Ärztin auf sich gezogen, die sie böse anfunkelt, was allerdings nicht selten vorkommt. Maribelles Mutter, Aurora, wurde gefilmt, wie sie mit einer Juwelgranate das Nightlocke Conservatory in die Luft gejagt hat, und seither haben es die Himmlischen schwerer, in Frieden zu leben. Aber so, wie diese Ärztin sie ansieht, könnte man meinen, Maribelle hätte das Gebäude höchstpersönlich in die Luft gejagt. Die Heilerin schaut weg und taxiert alle anderen. Iris, Wesley und Prudencia sind schon ziemlich angeschlagen – blutend, schmutzig, mit blauen Flecken. Ich bin gut weggekommen, niemand hat mich verletzt. Es ist fast, als könnte ich schon phasen. Ich war sehr vorsichtig und wachsam, denn ein Mal von den Bloodcastern als Geisel genommen worden zu sein, war mehr als genug für mich.
Gerade als sich die Aufzugtüren schließen, hole ich die Mediziner*innen ein, die sich um Emil kümmern.
»Nur für Angehörige«, sagt ein Arzt.
»Er ist mein Bruder.«
Jetzt hat er natürlich keine so große Klappe mehr. Ganz ehrlich, wer ihn kennt, sollte ja wohl auch mich kennen. Emil ist ja nur durch meinen YouTube-Kanal berühmt geworden.
Bald werden mich alle kennen.
Der Aufzug fährt ganz nach oben, in den vierzehnten Stock. Die Lichter im Flur sind warm und hell und erinnern mich daran, wie ich auf der Bühne meine Highschool-Abschlussrede gehalten habe. Etwas benommen stolpere ich, fange mich aber wieder. Die Ärzt*innen rollen Emil in ein Einzelzimmer mit weißen Wänden, großen Fenstern und vor allem einer Decke, die sich öffnen lässt. Solche Zimmer sind Standard in den meisten Gleamkliniken, damit der Nachthimmel die Celestials heilen und kräftigen kann – ebenso wie Specter, wenn auch in geringerem Ausmaß.
Dieser Arzt lässt sich viel Zeit damit, Emils bannsichere Weste aufzuschneiden. Ich brülle ihn an, er solle sich verdammt noch mal beeilen, mein Bruder sei mit einer Enderklinge niedergestochen worden. Emil ist bleich im Gesicht, und ich bleibe in seiner Nähe und halte seine Hand, selbst als mich jemand bittet, ihm Platz zu machen, aber mein Bruder muss spüren, dass ich bei ihm bin. Eva könnte Emil in wenigen Augenblicken das Leben retten. Doch die Spellwalker nehmen sie nie mit an die Front. Die Heilerin zu verlieren, wäre ein großer Verlust für uns und ein großer Gewinn für unsere vielen Feind*innen. Zu meiner Erleichterung scheint aber die eine Ärztin selbst eine mittelmäßige Heilkraft zu besitzen. Sie ist in Aktion zwar nicht so farbenfroh wie die von Eva, die wie ein Regenbogen leuchtet, aber das gedämpfte rote Licht hilft, Emils Blut zu regenerieren. Langsam, aber stetig. Nur scheint sie nicht stark genug zu sein, die Wunde vollständig zu schließen. Vermutlich müssen sie ihn auf altmodische Weise nähen.
Ich wünschte, Emil und ich könnten uns gegenseitig heilen, so von Kräften zu Kräften.
Von dem ganzen Blut wird mir schwindelig. Ich sollte mich hinsetzen und etwas Wasser trinken, denn das hier erinnert mich zu sehr an Dads Tod. Emil wollte gar nicht kämpfen, aber ich habe ihn gedrängt. Der Raum dreht sich, wenn ich darüber nachdenke, dass Emil sterben könnte. Er hat es verdient, zu leben. Komm schon, er ist jemand, der nicht mal einen toten Phönix zurücklassen möchte. Die Lampen an der Wand werden immer dunkler. Mir scheint der Crowned Dreamer jedenfalls keine Kraft zu schenken. Mein Griff um Emils Hand lockert sich, und ich stolpere rückwärts.
Ich habe Dad einmal gefragt, wie es sich anfühlt, mit der Blutvergiftung zu leben. Er meinte, es wäre alles dabei: Schüttelfrost, Hitzewallungen, Schwindelgefühl, Herzrasen. Manchmal wurde sein Atem knapper, so wie meiner gerade, er bekam immer weniger Luft. Am ehesten kann ich diese Atemnot mit meinen Angstzuständen vor Prüfungen vergleichen oder, noch schlimmer, mit denen, wenn Dad von einem Krankenhausaufenthalt mit einer noch kürzeren Lebenserwartung nach Hause kam.
Ich breche zusammen und schaue vom Boden aus zu dem schwächer werdenden Crowned Dreamer hinauf. Als sich meine Lider senken, habe ich dieses Blut-und-Knochen-Gefühl, dass das Reaper-Blut mir kein ewiges Leben beschert, sondern den Gifttod.
Wer will ich sein? Der Gefangene des Senators in der Welt da draußen oder Gefangener in den Bounds?
Unter Deck bietet der Senator mir an, etwas frische Luft zu schnappen, um über meine bevorstehende große Entscheidung nachzudenken. Sein Faustschlag ins Gesicht, die Tritte, der Betäubungsblitz, den dieser Anti-Gleamer mir vor Stunden verpasst hat, und das Schlingern des Schiffs, das auf die Insel zuhält – mein Gleichgewichtssinn ist wegen alldem ziemlich durcheinander, als ich die schmalen Stufen hinaufsteige und das Deck betrete.
Zwei schwarz gekleidete Männer bewachen die Treppe, und obwohl wir uns gut kennen, schenken sie mir beide keinerlei Beachtung. Der Sicherheitschef des Senators, Jax Jann, erinnert mich mit seinem muskulösen Oberkörper und den langen Armen und Beinen immer an einen Olympia-Schwimmer. Er hat dichte Augenbrauen und rote Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt. Er ist der beeindruckendste Telekinetiker, den ich je kennengelernt habe – solange er in der Nähe ist, wird kein Schuss eines Attentäters dem Senator auch nur einen Kratzer zufügen können. Der andere, Zenon Ramsey, hat dunkelblonde Haare, die seine Augen komplett verdecken, sodass die Leute glauben, er wäre nicht bei der Sache, obwohl er in Wahrheit mehr sieht als die meisten anderen. Er hat die seltene Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen – im wahrsten Sinne des Wortes. Soviel ich weiß, funktioniert das nur innerhalb eines gewissen Umkreises, aber mehr braucht man auch nicht, um ein Grundstück zu bewachen.
Der Senator hat schon immer Himmlische eingestellt, um unsere Familie zu beschützen. Celestials als Bodyguards zu haben, während er aktiv gegen die Community vorgeht, kam mir immer wie ein spezieller Zaubertrick vor, bis ich erfahren habe, wie gut sie bezahlt werden, um ihn vor dem Tod zu bewahren. Das ist mehr, als ich von mir als Bloodcaster behaupten kann, der immerhin daran gearbeitet hat, Luna unsterblich zu machen.
Jax und Zenon waren nicht überrascht, mich zu sehen, obwohl ich ja angeblich im Nightlocke Conservatory in tausend Stücke zerfetzt wurde. Das heißt, der Senator muss sie eingeweiht haben.
Wie viele andere wissen noch darüber Bescheid, dass der Senator versucht hat, seinen eigenen Sohn umbringen zu lassen, um die Spellwalker wie eine Gefahr für die Gesellschaft aussehen zu lassen?
Selbst wenn es eine Möglichkeit gäbe, Jax und Zenon auszuschalten und auf einem Rettungsboot zu entkommen, verrät mir ein schrilles Kreischen hoch oben am Himmel, dass ich es nicht sehr weit schaffen würde. Ein Phönix, viermal so groß wie ein Adler, stürzt sich hinunter zum Fluss, und sein kristallblauer Bauch streift die Oberfläche, während er nach Eindringlingen oder Ausbrechern sucht. Dieser Phönix mit den feuchten indigoblauen Federn ist ein Himmelsschwimmer, was ich deswegen erkenne, weil der Senator einmal von einem Jagdausflug mit dem Kopf eines solchen Exemplars nach Hause gekommen ist – womöglich hängt er noch immer in seinem Büro in der Villa.
»Was für ein Anblick«, sagt der Senator, während er mir zum Bug des Schiffes folgt.
Zuerst denke ich, er meint den Phönix, doch er starrt geradewegs auf unser Ziel. Die Bounds von New York sehen von außen so aus, als hätte man alle vier Türme eines Schachspiels zusammengeschoben. Diese Türme haben keine Fenster, damit die Inhaftierten von den Sternen abgeschnitten werden, was ihre Fähigkeiten einschränkt. Am grausamsten ist es für die Celestials, die in Einzelhaft gesteckt werden, denn sie werden so tief unter die Erde verfrachtet, dass es sich anfühlt, als gäbe es nicht einmal mehr Sterne.
Ich habe es selbst miterlebt.
Der Senator hat mich hierher mitgenommen, nachdem meine Mutter getötet worden war.
Wir haben die Bounds besichtigt, damit ich mir ein Bild machen konnte, welch kreative Formen der Bestrafung die Vollzugsmitarbeitenden entwickeln mussten, um die Inhaftierten mit Kräften abzuschotten. In einem Stockwerk schwammen zwei Männer in Wassertanks, bloß noch den Kopf über der Oberfläche, sodass sie atmen und essen konnten – was die Ausscheidungen anging, so war das persönliches Pech. Die Flammen des Feuerbeschwörers wurden sofort gelöscht, und falls der Blitzwerfer seine Gleamkraft anwenden wollte, tja, dann kam das einer Hinrichtung gleich. In einer anderen Etage waren Elektrofallen rings um eine Zelle installiert worden, um eine Frau, die sich selbst zu einer Pfütze schmelzen konnte, an der Flucht zu hindern. Ihr Zellennachbar war ein Mann, der sich gegen jede Oberfläche tarnen konnte, daher hatten die gefängnisinternen Ingenieur*innen Sprinkler installiert, die verschiedene Farben versprühten, um ihn immer im Auge behalten zu können.
Der Letzte, den wir an diesem Tag besucht haben, war ein Sträfling in einer Isolationszelle. Man hatte ihn inhaftiert, weil er seine Heizkräfte dazu benutzt hatte, das Blut seiner Familie zum Kochen zu bringen. Die Schreie, die durch die Gänge hallten, haben mir so viel Angst gemacht, dass ich mich hinter meinem damaligen Bodyguard Logan Hesse versteckt hielt. Aber als ein Wachmann die Tür öffnete, wurde mir klar, dass es dazu keinen Grund gab. Hände, Knöchel und Taille des Gefangenen waren mit Eisenketten gefesselt. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Widerstand, und wir haben ihn wie ein Tier im Zoo begafft. Am nächsten Tag wurde der Celestial tot in seiner Zelle gefunden, rote Handabdrücke waren auf seinem Gesicht eingebrannt. Als der Senator mir von dieser Neuigkeit erzählte, hat er den Inhaftierten verspottet, indem er seinen Suizid nachahmte. Und ich habe mich darüber kaputtgelacht, bevor ich mich wieder an meine Hausaufgaben setzte.
Ich hasse, wer ich war.
Das Boot legt am Pier an.
Die Insel ist bekannt für ihre Tücken, wie Sandbasilisken, die darauf warten, Menschen in einem Stück zu verschlingen, aber als der Senator den Strand betritt, vertraue ich darauf, dass er mehr Informationen darüber hat als ich. Gerade überlege ich, ob ich für den steilen Aufstieg über zerklüftete Felsen bis hinauf zum Gefängnis bereit bin, als ein älterer Mann hinter einer Baumgruppe hervortritt. Die Taschenlampe, die ihm den Weg weist, erhellt seine Gesichtszüge, und ich erkenne ihn sofort.
Er leitet diese Insel.
Barrett Bishop ist ungewöhnlich blass, als käme er nur nachts nach draußen. Das letzte Mal habe ich ihn am Morgen des Blackouts gesehen. Inzwischen hat er etwas mehr Falten um die Augen, und die Haare, die ihm bis auf die Schultern reichen, sind stärker ergraut. Die rotbraune Jacke seines dreiteiligen Anzugs sitzt zu locker, aber er schert sich nicht so um Äußerlichkeiten wie der Senator. Dieser Gegensatz hat im Wahlkampf für sie beide bisher ganz gut funktioniert. Der Senator ist der adrette Kandidat, der sich am besten für das Amt des Präsidenten eignet, aber Bishops bodenständige Ausstrahlung und seine Erfahrung als Chefarchitekt der Bounds haben ihn quasi zur Traumbesetzung für das Amt des Vizepräsidenten gemacht. Ihre Anhänger*innen jubeln ihm bei jeder Kundgebung zu, selbst wenn er noch so gefährliche Dinge sagt.
»Edward«, sagt Bishop mit seiner heiseren Stimme und nickt dem Senator zu. Dann richtet er die eisblauen Augen auf mich. »Wie ich sehe, hast du deinen Geist mitgebracht.«
»In der Tat«, sagt der Senator.
Bishop leuchtet mir ins Gesicht und spielt mit dem Lichtstrahl herum, als wäre ich eine gelangweilte Katze, bevor er die Taschenlampe ausschaltet. »Was machen wir mit dem Geist? Begraben wir ihn in den Tiefen der Bounds?«
»Das ist seine eigene Entscheidung«, antwortet der Senator.
Die kleinen Leuchtpunkte vor meinen Augen verblassen, und Bishops Grinsen lässt vermuten, dass er mich zu seinem persönlichen Gefangenen machen will. Es wäre schon Strafe genug, mich eingesperrt in einer Zelle sitzen zu lassen, um all meine Fehler zu bereuen. Aber die gleamfeindlichen Strafvollzugsarchitekt*innen müssen ihre Dominanz zur Schau stellen. Sie müssen uns immer und überall beweisen, dass unsere Kräfte mit gewöhnlichen Mitteln bezwungen werden können. Sie haben eine düstere Fantasie und genug Hass in sich, um abends nach Hause zu gehen, ohne sich wie Monster zu fühlen.
Diesen Hass hatte ich auch einmal.
Nach unserem damaligen Rundgang durch die Bounds hat mich der Senator gefragt, wie ich den Mann bestrafen würde, der meine Mutter getötet hat, sollten wir ihn jemals aufspüren. Der Celestial hatte meiner Mom durch eine Illusion vorgetäuscht, er wäre eine ihrer Freundinnen, bevor er sie umgebracht hat. Ich habe den ganzen Tag über diese Frage nachgedacht und dem Senator beim Abendessen geantwortet, dass ich den Himmlischen auf einen Stuhl binden, seine Familie dazuholen und sie alle vor seinen Augen töten würde. Keine Illusionen. Nur die Realität.
»Es geht doch nicht, dass wir einfach Menschen ermorden«, hat der Senator geantwortet.
Doch das war eindeutig gelogen. Schließlich hat er meinen Tod orchestriert und ihn unschuldigen Celestials in die Schuhe geschoben. Was nicht geht: dass man ihn mit blutigen Händen erwischt.
Was tue ich jetzt?
Ich fand es schon furchtbar, wie der Senator mich früher benutzt hat, um andere Jugendliche davor zu warnen, dass alle Celestials gefährlich sind, aber was er jetzt mit mir vorhat, ist noch viel extremer. Vorhin auf dem Schiff hat er verlangt, ich solle meine Gestaltwandlerfähigkeiten nutzen und mich als Kongressabgeordnete Sunstar und Mitglied ihres Teams ausgeben, um der Begeisterung, die man ihrer Präsidentschaftskandidatur entgegenbringt, einen Dämpfer zu verpassen. Zwar kenne ich die genauen Details des Plans nicht, aber falls ich mich irgendwo in der Öffentlichkeit als sie ausgeben soll, gelingt es mir vielleicht zu fliehen.
Diesem Labyrinth hier hingegen entkomme ich unmöglich – vier Türme mit mehreren Stockwerken, bewaffnete Wachen und Fallen in Hülle und Fülle.
Ich wende mich dem Senator zu, um ihm seine Antwort zu geben, und der schwächer werdende Crowned Dreamer spiegelt sich in seiner Brille. Ich habe keine Ahnung, was heute Abend bei dem Unsterblichkeitsritual passiert ist. Hoffentlich hat Emil seinen Bruder gefunden und ist mit dem Phönix entkommen, und hoffentlich ist er nicht für diesen Vogel gestorben. Wenn ich je eine Chance haben will, ihn wiederzusehen, muss ich so berechnend und geduldig sein, wie Luna es ihr ganzes Leben lang gewesen ist.
Ich muss ein Bauer werden, der den König schlägt. Den Mann überlisten, der ohne einen einzigen Gestaltwandlerknochen im Leib die Welt an der Nase herumführt.
»Ich werde für dich arbeiten«, sage ich.
»Kluge Entscheidung, Eduardo«, sagt der Senator und klatscht kurz in die Hände, wie um den Deal zu besiegeln.
»Schade, ich hatte mich schon drauf gefreut, aus deiner Gefangenschaft ein kleines Spielchen zu machen«, sagt Bishop. »Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.«
»Dann fahren wir wohl nach Hause«, sagt der Senator.
Nach Hause. Die kalte Villa ist schon seit dem Blackout nicht mehr mein Zuhause. Es ist ein Käfig der völlig anderen Art. Aber wenn ich mich ruhig verhalte und darauf warte, dass der Senator die Tür einen Spaltbreit offen lässt, kann ich rausschlüpfen und nie wieder zurückschauen.
Hoffentlich kann ich entkommen, bevor ich dem Senator helfe, Präsident zu werden.
Vor Monaten – wie vielen genau, weiß ich nicht mehr, vier, vielleicht fünf – stand an einer Straßenecke eine Celestial und hat angeboten, gegen Geld in die Vergangenheit oder Zukunft zu blicken. Normalerweise bin ich für so was nicht verzweifelt genug, aber um die Wahrheit hinter dem Tod meiner Eltern ans Licht zu bringen, war mir jedes Mittel recht. Atlas hat mich gewarnt, ich solle mir keine zu großen Hoffnungen machen. Ich hätte mehr auf sein Bauchgefühl vertrauen sollen. Mamá meinte immer, ich würde dazu neigen, mich im Nebel meiner Gedanken zu verirren, und jemand so Bodenständiges wie Atlas könnte gut für mich sein. Diese Celestial war jedenfalls ebenso nutzlos wie ihre Kristallkugel, und doch habe ich inzwischen meine Antwort: June, die Specter mit Geisterblut, hat von meiner Mutter Besitz ergriffen und ihr den Blackout in die Schuhe geschoben, damit das Land den Glauben an die Spellwalker verliert.
Und später hat June auch von mir Besitz ergriffen und mich dazu gebracht, Atlas zu töten.
Ich brauchte ein bisschen Zeit für mich, also habe ich mich aufs Dach der Aldebaran-Klinik verzogen. Jetzt baumeln meine Beine vierzehn Stockwerke über dem Boden, und das Licht des Crowned Dreamers bringt meine Haut ein letztes Mal zum Kribbeln, bevor er endgültig mit dem Nachthimmel verschmilzt. Das war’s dann. Lunas letzte Chance, unsterblich zu werden. Ich hätte nichts gegen ein paar Kisten Sternschnuppenwein und schachtelweise Glutkuchen zum Dank für die Wunder, die Brighton und ich heute vollbracht haben.
Ein Geschenk konnte ich immerhin abgreifen. Ich drehe und wende es zwischen den Fingern: Die Klinge des Vergessens ist wundervoll. Nicht, weil sie so hübsch wäre. Bei den Sternen, nein. Der ungewöhnliche Dolch sieht aus wie ein verrottender Knochen und ist grau gefleckt vom Blut all der Geister, die damit erledigt wurden – zuletzt Lunas Eltern. Er ist außerdem unerwartet schwer, ähnlich wie die Kristallkugel, die ich quer durch das mit Samt dekorierte Zimmer geschleudert habe, sobald mir klar geworden war, dass die Weissagungen der Celestial reiner Schwindel waren, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nein, die Klinge des Vergessens ist wundervoll, weil ich mit dieser Waffe June ein für alle Mal ins Jenseits befördern kann.
Ich bin völlig erschöpft, habe müde Knochen, wunde Muskeln und blaue Flecken. Zum letzten Mal habe ich die Augen zugemacht, als ich vor Stunden im Kreaturenkundemuseum über dem toten Atlas zusammengebrochen bin, kurz nachdem meine neuen Kräfte sich mir und allen um mich herum mit einem riesigen Feuerring offenbart hatten. Aber ohne Atlas kann ich heute Nacht nicht schlafen. Ich fühle mich wie in den langen, düsteren Nächten nach dem Blackout, als ich alle von mir gestoßen habe, selbst Iris, meine damals noch beste Freundin, die ebenfalls ihre Eltern verloren hatte. Doch dann wurde Atlas zu einem Lichtblick. An manchen Nachmittagen brauchte ich ihn, um überhaupt aus dem Bett zu kommen. An anderen fand ich selbst die Kraft dazu. Im Moment jagt mir der Gedanke, mich ohne Atlas in irgendein Bett zu legen, eine Heidenangst ein.
Der kühle Wind pustet mir die dunklen Haare aus dem Gesicht. Ich wünschte, Papá wäre hier, um sie mir zu flechten, wie früher. Aber das ist er nicht.
Der Tod sitzt mir im Nacken und nimmt mir alle, die ich liebe.
Mamá, Papá. Atlas. Finola, Konrad.
Und es hätte nicht so kommen müssen. Hätte ich gewusst, dass die beiden Gründungsmitglieder der Spellwalker in Wahrheit meine leiblichen Eltern waren, wäre mir auch klar gewesen, dass meine Schwebefähigkeit nur ein Vorgeschmack auf das war, wozu ich durch die von Bautista de León geerbten Phönixkräfte in der Lage bin. Mir wäre klar gewesen, dass die außergewöhnlich gute Intuition, die mich am Leben hält, eine Art sechster Sinn ist, eine Abwandlung von Sera Córdovas hellseherischen Fähigkeiten, die sie mit Visionen vor drohenden Gefahren warnten. Ich hätte meine Kräfte trainieren und Mamá und Papá aufhalten können, bevor sie losgezogen sind, um die Welt zu retten. Bevor sie unsere Bewegung um Jahre zurückgeworfen haben.
Ich hätte meine Kräfte nutzen können, um Atlas zu beschützen.
Während ich darauf warte, was mit Emil ist und ob Brighton sich dazu entscheidet, weiter mit mir Jagd auf die Bloodcaster zu machen, kann ich genauso gut Atlas’ Auto holen, das ich ein paar Blocks entfernt von der Alpha Church of New Life geparkt habe. Noch habe ich keine Scheide für die Klinge des Vergessens, und sie ist zu dick, um in meinen Stiefel zu passen, daher verstecke ich sie in der Innentasche meiner bannsicheren Weste.
Durch einen pyramidenförmigen Eingangsbereich kehre ich ins Innere zurück. Zwei der Ärzt*innen beäugen mich argwöhnisch, als könnte ich jeden Moment das ganze Gebäude in die Luft jagen. So, wie es meine Mutter angeblich mit dem Nightlocke Conservatory getan hat. Die beiden sind noch relativ jung, wahrscheinlich nur wenig älter als ich, also erinnern sie sich vielleicht nicht daran, dass die Spellwalker vor acht Jahren Millionen an Spendengeldern gesammelt haben, um Dutzende Gleamkliniken mit der neuesten Technik auszustatten. Die Leute haben für Fotos mit meinen und Iris’ Eltern gut bezahlt. Und Iris und ich haben uns wie Prinzessinnen gefühlt, wenn Spender*innen uns um persönliche Grüße und Glückwünsche für ihre oder die Kinder von Bekannten gebeten haben. Das meiste Geld kam jedoch von den Menschen, die wissen wollten, wie es ist, zu fliegen – und nicht bloß das, sondern obendrein mit den in jenen Tagen noch beliebten und berühmten Spellwalkern. Wozu Fallschirmspringen, wenn die Luceros mit einem eine Runde um den Block brausen konnten?
Perfektion ist ein Mythos, und auch damals war nicht alles perfekt, aber ich würde für diese Zeiten töten.
Ich werde für diese Zeiten töten.
Das Weinen höre ich schon, ehe ich um die Ecke biege. Prudencia sitzt auf dem Boden, das Gesicht in den Händen vergraben, und schluchzt. Emil hat es wohl nicht geschafft. Ich weiß, er hatte ein gutes Herz. Trotzdem kommt es mir irgendwie fair vor. Hätte Emil June nicht laufen lassen, als ich sie in der Apollo-Arena endlich geschnappt hatte, würde Atlas noch leben.
»Ist Emil tot?«, frage ich.
Prudencia bringt kaum einen vollständigen Satz raus und macht sich nicht die Mühe, die Tränen aus ihren braunen Kulleraugen abzuwischen. »Ich … weiß es nicht. Die Ärzt*innen sind noch dran. Aber Brighton … Er ist auch bewusstlos. Ein anderes Team versucht gerade, ihn zu retten.«
Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Brighton und Emil ihre engsten Bezugspersonen. Auch Prudencias Eltern wurden getötet, und auch sie ist jetzt kurz davor, alle Menschen zu verlieren, die ihr etwas bedeuten. Sie ist nur in diesen Krieg verwickelt, weil sie ihren besten Freunden zur Seite stehen wollte. Ob sie bei den Spellwalkern bleibt, wenn die beiden sterben? Oder geht sie womöglich zurück zu ihrer gleamfeindlichen Tante? Das steht wohl in den Sternen.
»Noch gibt es Hoffnung«, versichere ich ihr. Und das meine ich auch so. Ich verschwende keinen Atem für leere Phrasen. »Es kommt häufiger vor, dass Specter kurz nach der Einnahme der Essenzen das Bewusstsein verlieren. Der Körper muss sich erst an die neue Situation gewöhnen. Und das Reaper-Blut ist noch mal auf einem ganz anderen Level. Ich wette, Brighton schafft das.«
»Aber Brighton sollte gar kein Specter sein«, entgegnet Prudencia.
Tja, niemand sollte ein Specter sein. Ich auch nicht. Aber Emils Pläne, diesen kräftebindenden Trank zu brauen, an dem Bautista und Sera kurz vor ihrem Tod gearbeitet haben, scheinen mir zum Scheitern verurteilt. Selbst für erfahrene Alchemist*innen ist es unheimlich schwer, jemanden in eine*n Specter zu verwandeln, aber diese Aufgabe ist nichts im Vergleich zu dem Versuch, alle Specter wieder zu ganz gewöhnlichen Menschen zu machen. Dieser Stern ist längst vom Himmel gefallen, wie es so schön heißt.
»Brighton hat seine Entscheidung getroffen«, antworte ich.
»Und es war deine Entscheidung, ihm dabei zu helfen. Dafür würde ich dich am liebsten durch diese Wand schleudern … Aber ich kenne ihn zu gut. Selbst wenn du ihm nicht geholfen hättest, wäre er aufgetaucht. Wahrscheinlich hast du eher dafür gesorgt, dass er nicht vorher draufgeht.« Prudencia starrt auf ein Poster an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigt Celestials, die übers Wasser rennen, und soll beruhigend wirken. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass es gerade den gewünschten Effekt auf Prudencia hat. »Was waren seine Gründe? Dafür, das Reaper-Blut zu trinken?«, fragt sie.
Als Brighton mir seinen Plan eröffnet hat, habe ich direkt das durchschaut, was die meisten Menschen – sogar Prudencia – fälschlicherweise für Charme halten. »Er meinte, er müsse derjenige sein, der das Elixier trinkt. Für mich sei es zu riskant, weil wir noch nicht genug über die Blutbeschaffenheit von Leuten wie mir wissen, die gleichzeitig Celestial- und Specter-Eigenschaften haben.«
»Ja, klar, als wäre sein Risiko nicht genauso groß gewesen. Als wäre sein Vater nicht gestorben, weil dessen Körper die Hydra-Essenz nicht vertragen hat. Ganz zu schweigen davon, dass Luna das Elixier mit dem Blut der Geister ihrer eigenen Eltern zubereitet hat oder dass das Ganze völlig ungetestet war. Er wusste das alles und hat es trotzdem getan!«
Sie hyperventiliert. Das erinnert mich an die Wochen nach dem Tod meiner Eltern, als ich manchmal so sehr geheult und geschrien habe, dass Atlas, Iris und die anderen kein Wort verstanden haben.
»Er wird sterben«, keucht Prudencia.
»Vielleicht. Für Gleamer*innen ist Lebenszeit ein kostbares Gut. Hat dich das der Tod deiner Eltern nicht gelehrt?«
Sie steht auf. »Was willst du damit sagen?«
»Ich habe Atlas nie irgendwas verschwiegen. Du hattest deine Gründe, Brighton nichts von deinen Kräften zu erzählen, das verstehe ich. Aber was glaubst du, wie es sich für ihn angefühlt haben muss, dass du Iris – einer völlig Fremden – dein großes Geheimnis zuerst anvertraut hast?«
»Ich wollte nicht von ihm für seine Zwecke eingespannt werden. Man muss sich doch nur anschauen, wie er Emil dazu benutzt hat, selbst berühmter zu werden. Außerdem sind Brighton und ich nicht wie du und Atlas.«
»Stimmt. Ich war offen und ehrlich zu der Person, die ich liebe. Du nicht.«
Prudencia verdreht die Augen. »Du kennst mich nicht.«
»Du bist mit auf Missionen gekommen in dem Wissen, dass du deine Fähigkeiten vielleicht offenbaren musst, um Brighton zu beschützen.«
»Und Emil!« Sie bebt. Dieser Kampfgeist könnte sich gegen die Bloodcaster als nützlich erweisen, sollte sie sich ernsthaft für den Krieg entscheiden.
»Ganz ehrlich: Wärst du wirklich zu all diesen Einsätzen mitgekommen, bei denen mehrere Spellwalker auf Emil aufgepasst haben, wenn Brighton nicht dabei gewesen wäre?«
Prudencia holt tief Luft. Ihr liegt noch irgendwas auf der Zunge, aber sie schluckt es runter und geht. Sich vor der Wahrheit zu verstecken, scheint ihr Ding zu sein.
Wenn Wesley mich nicht von June weggezerrt hätte, würde ich ihn fragen, ob er mitkommt, um Atlas’ Auto zu holen. Aber weil ich deshalb sauer auf ihn bin, nehme ich die Treppe, um weder ihm noch Iris über den Weg zu laufen. Draußen erhebe ich mich in die Lüfte, und mit dem Rauschen des Windes im Ohr gleite ich durch die nächtlichen Schatten.
Bis zur Kirche brauche ich nicht lange. Ich bin wachsam, denn davor steht ein Panzer der Anti-Gleam-Einheit, und in der Nähe parken ein Krankenwagen und einige Polizeiautos. Wahrscheinlich bringen sie gleich die Leichensäcke mit den Akolyth*innen raus. Die Polizei nimmt gerade die Aussagen von Augenzeug*innen auf. Ob die wohl auch so übertreiben, wie so viele in der Vergangenheit?
Ich schließe Atlas’ Auto auf. Aber bevor ich mich zurück auf den Weg zur Aldebaran-Klinik mache, um zu hören, ob sich Brightons Zustand verbessert hat, hole ich die Weinflasche mit Atlas’ Asche aus dem Handschuhfach. Mit meinen neuen Kräften habe ich ihn eigenhändig eingeäschert. Das wäre einer Ballade würdig, doch eher sterbe ich, als zuzulassen, dass ein*e Dichter*in diese Geschichte in die Finger bekommt.
Ich bin nicht gerade eine Geister-Expertin. Noch haben wir kaum die Klingen mit ihnen gekreuzt. Ich kannte bisher lediglich die offensichtlichen Tatsachen: dass Geister nur unter dem Nachthimmel erscheinen oder dass sie bloß umherspuken, wenn sie brutal ermordet wurden. Aber durch Lunas Ritual habe ich etwas Wertvolles erfahren. Und zwar können auf Nekromantie spezialisierte Alchemist*innen diese rastlosen Seelen heraufbeschwören. Dafür brauchen sie nur etwas, das den Geistern vor ihrem Tod gehörte, und die Anwesenheit der Person, die sie getötet hat. Im größeren kosmischen Zusammenhang scheint das den Geistern gegenüber ungerecht. Aber wenn es ein Gutes hat, dass June ausgerechnet von mir Besitz ergriffen hat, um Atlas einen Bannblitz ins Herz zu jagen, dann, dass ich dadurch ebenfalls als seine Mörderin zählen dürfte.
Doch alles zu seiner Zeit. Zuerst räche ich ihn und werde dafür auch zu ihrer Mörderin.
Ich drücke mir die Flasche mit Atlas’ Asche an die Brust und träume von der Nacht, in der ich seinen Geist heraufbeschwören und ihn in Frieden zu den Sternen schicken kann.
Mein Bruder ist der reinste Albtraum.
Auf den Straßen wimmelt es nur so vor Anti-Gleamer*innen, die Bannblitze in die Nacht jagen, während ihre Panzer von goldenen Flammen verzehrt werden. Brighton schwebt sogar noch über den höchsten Wolkenkratzern. Dort verharrt er und bewundert sein Chaos. Die Augen in seinen drei Köpfen sind so dunkel wie schwarze Löcher, und aus seinen sechs Handflächen ergießen sich Ströme von Phönixfeuer. Ich fliege hinauf, um ihn zu rammen, ihn zum Aufhören zu bewegen, aber er ist unantastbar. Ich gleite einfach durch ihn hindurch. Also schwebe ich vor seinem Gesicht herum, flehe ihn an, das Ganze zu beenden, doch die Antwort ist bloß ein grausames Lachen aus allen drei Mündern. Niemand wird ihn daran hindern, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Als ich endlich genug Mut gesammelt habe, um mein eigenes Feuer heraufzubeschwören und meinen Bruder zu stoppen, richtet Brighton einen regelrechten Flammensturm gegen mich und …
Stöhnend werde ich wach. Ich atme heftig.
Mein Bruder war ein Albtraum. Das war alles. Nur ein Traum. Brighton würde nie auf die dunkle Seite wechseln. Das war alles nur in meinem Kopf.
Bruchstücke von Gesprächen fallen mir ein, aus einem Streit zwischen Brighton und Prudencia, aber weder er noch sie sind bei mir. Ich befinde mich allein in einem Raum mit blendend weißen Wänden und grellem Licht, das mir in den Augen schmerzt. Deshalb wende ich das Gesicht zur durchsichtigen Decke und blicke hinaus in den Nachthimmel. Keine Ahnung, wie spät es ist oder welcher Tag überhaupt. Aber ich entdecke weder den Crowned Dreamer noch seinen Abglanz in der Dunkelheit. Nicht ein einziger leuchtender Punkt dieses Sternbilds ist zu sehen. Es ist selten und wird erst wieder am Himmel erscheinen, wenn ich ein alter Mann bin, vorausgesetzt, ich lebe so lange. Vielleicht erspäht es auch mein nächstes Leben, oder das übernächste, oder das wievielte auch immer es sein wird, bevor mich jemand mit einem Ewigkeitsender ein für alle Mal vernichtet.
Dieses Bett hier ist zu hart, und mir ist heiß, also schlage ich die Decke zurück. Erst da fällt mir auf, dass ich kein Oberteil trage. Auf meinem Bauch, wo Luna auf mich eingestochen hat, ist getrocknetes Blut verschmiert. Die Wunde hat sich geschlossen, sieht aber merkwürdig aus – die Haut dort wirkt stark gedehnt und andersfarbig. Jemand muss mich geheilt haben. Vermutlich nicht Eva. Eva lässt Wunden nämlich so zuheilen, dass man zweimal hingucken muss, um die Narben überhaupt zu entdecken. Außerdem hätte sie den gesamten Schmerz absorbiert, ich aber fühle ein dumpfes Pochen und Ziepen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin wirklich dankbar, dass irgendwer mich zusammengeflickt hat. Mir wird bloß gerade klar, wie viel Glück wir haben, eine so mächtige Heilerin wie Eva an unserer Seite zu haben.
Um die neueste Wunde herum sind immer noch die Narben der Schnitte zu erkennen, die Ness mir beigebracht hat, um Luna und der Gang vorzugaukeln, er wäre ihnen gegenüber weiterhin loyal. Sie werden wohl nie ganz verschwinden. Aber Ness hat das nur getan, um mir das Leben zu retten. Und als er endlich die Chance hatte, in die Anonymität zu entkommen, wurde die Nova angegriffen, und er ist zurückgekehrt, um mich ein zweites Mal zu retten. Dabei hat ihn die Anti-Gleam-Einheit geschnappt, und ich bezweifle, dass er fliehen konnte. Höchstwahrscheinlich ist er inzwischen tot. Dabei bin ich es nicht wert, dass man für mich stirbt.
Es klopft leise. Ich sehe zur Tür. Eine kleine Ärztin betritt den Raum. Ihr Gesicht ist mit Sommersprossen übersät, und rote Locken fallen ihr über die von ihrem mitternachtsblauen Umhang bedeckten Schultern. Als sie meinen Blick bemerkt, weiten sich ihre knallgrünen Augen. »Emil Rey.« In ihrer Stimme schwingt so etwas wie mütterlicher Stolz mit. »Ich bin Dr. Bowes. Es war mir eine Ehre, Teil des Teams zu sein, das … das an Ihnen … ähm, an dir gearbeitet hat.« Ein rosa Hauch überzieht ihre Wangen, und sie schüttelt den Kopf, als wollte sie den Raum verlassen und später wiederkommen, um von vorn anzufangen.
»Hi. Danke …« Diese ersten Worte sind noch nicht viel, aber sie fühlen sich rau in meiner Kehle an.
»Ganz ruhig.« Dr. Bowes reicht mir einen Becher Wasser mit einem Metallstrohhalm.
Ich trinke, und zwischendurch stellt sie mir Fragen, die ich mit so wenigen Worten wie möglich beantworte: Den Schmerz verorte ich auf einer Skala von eins bis zehn bei sieben. Ja, ein etwas sanfteres Licht wäre schön. Ich bin am Verhungern, ernähre mich vegan. Ich bin ziemlich platt. Sie dimmt die Beleuchtung und weist jemanden an, mir etwas zu essen zuzubereiten. Ich ziehe mir die Decke wieder bis unters Kinn. Zum letzten Mal war mein Oberkörper so exponiert, als Ness die Schnittwunden auswusch, die er mir selbst zugefügt hat. Und das mit geschlossenen Augen, weil er wusste, dass ich mich unwohl in meinem Körper fühle und das nicht abschalten kann, trotz all der wichtigen Dinge, die ich um die Ohren habe. Dr. Bowes muss mein Unbehagen gespürt haben, denn sie hilft mir in einen Patientenkittel – senfgelb mit schwarzen Sternen darauf. Eine Sache weniger, um die ich mir Gedanken machen muss.
»Emil, die Behörden brauchen einen Bericht darüber, was heute Abend geschehen ist.« Dr. Bowes zieht sich einen Stuhl ans Bett.
»Die Bloodcaster.«
Sie nickt. »Iris hat das bereits erwähnt, während wir sie behandelt haben. Soweit ich weiß, steht sie mit deiner Mutter in Kontakt und hat ihr geraten, sich erst einmal fernzuhalten.« Klingt sinnvoll, ist aber bestimmt ultraschwierig für Ma. »Ich danke dir für deinen Einsatz für unser Land, Emil. Um das auf sich zu nehmen, muss man sehr tapfer sein. Ich glaube, ich könnte das nicht. Selbst mit deinen Kräften. In meiner Jugend habe ich Bautista und die frühen Spellwalker kämpfen sehen. Damals, als sie noch beliebte Held*innen waren. Und natürlich wahnsinnig berühmt.« Dr. Bowes lächelt wehmütig und legt sich eine Hand aufs Herz. »Nach Bautistas Tod habe ich wochenlang geweint. Erst Jahre später habe ich seine Poster abgenommen.«
So, wie sie mich anschaut, frage ich mich, ob sie über meine vergangenen Leben Bescheid weiß. Aber das kann nicht sein. Die Öffentlichkeit hat keine Ahnung, dass Wiedergeburt für Specter mit Phönixblut überhaupt möglich ist, da Specter nicht als dieselbe Person wiedergeboren werden. So, wie sie über Bautista redet, wäre es vermutlich kein Problem, ihr zu gestehen, dass ich dessen Reinkarnation bin. Schwieriger sieht es mit meinem anderen früheren Leben aus, Keon Máximo – der Alchemist, der als Erster zum Specter wurde. Darüber möchte ich lieber Stillschweigen bewahren. Ich habe es bisher nur einer einzigen Person erzählt, die keine direkte Rolle im Kampf zwischen Spellwalkern und Bloodcastern spielt: meinem alten Chef im Museum, Kirk Bennett. Der mich dann verraten hat, für seinen eigenen wissenschaftlichen Ruhm.
Also spiele ich den Unbeteiligten. »Er war ein echter Held.«
»Genau wie du. Mein Sohn ist total stolz auf mich, weil ich einem Spellwalker helfe. So was hörst du wahrscheinlich öfter, aber er ist dein größter Fan. Wir haben schon angefangen, sein Kostüm für Halloween zu basteln. Er geht als du.«
Gefühlt rauscht sämtliches Blut, das im Garten dieser Kirche nicht aus mir rausgesprudelt ist, in mein Gesicht. Ein paar Jahre lang haben Brighton und ich uns an Halloween auch als Spellwalker verkleidet. Er war natürlich Bautista, wegen dieser Alpha-Männchen-Vorrecht-des-größeren-Bruders-Haltung, und ich habe mir dann Lestor Lucero ausgesucht, auch weil ich ihn gut aussehend fand, das will ich gar nicht abstreiten. Und wo sind wir jetzt? Brightons Fantasie ist heute Nacht mit ihm durchgegangen, und er hat das Reaper-Blut getrunken, damit er zu den Spellwalkern gehören kann. Und ich bin quasi Bautistas echter Nachkomme. Diese Leben waren nie nur Kostüme. Und doch wird Dr. Bowes Sohn in meine Rolle schlüpfen, dabei könnte ich noch vor Halloween tot sein. Und was dann? Wird er so um mich trauern wie seine Mutter um Bautista? Er kennt mich doch gar nicht, und sie hat ihn nicht gekannt. Dieser Kreislauf aus Bewunderung und Trauer gehört durchbrochen.
Trotzdem bedanke ich mich hastig. Das ist alles, was ich zustande bringe.
»Wo ist denn mein Bruder?«