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Ein atmosphärischer Kriminalroman, der zwischen einem einsamen piemontesischen Bergdorf und der lärmenden Kino- und Politikmetropole Rom spielt: «Longo ist einer der fabelhaftesten Schriftsteller Italiens.» Die Welt In einem verlassenen Alpendorf wird ein Filmproduzent und Bruder eines ehemaligen Democrazia-Cristiana-Politikers tot in seinem Jaguar aufgefunden. Seine Frau, eine frühere Schauspielerin, in die eine ganze Generation verliebt war, ist spurlos verschwunden. Für die Ermittlungen muss sich Commissario Arcadipane, eigentlich Turiner, in dem einsamen Bergdorf, das aus einer Handvoll Häuser besteht, niederlassen. Dort warten misstrauische Bewohner und ein Rätsel auf ihn, das ihm Kopfzerbrechen bereitet. Ein zu komplizierter Fall, um nicht seinen alten Freund und Mentor Corso Bramard um Hilfe zu bitten sowie die ebenso undisziplinierte wie unverzichtbare Isa Mancini. Beide befinden sich gerade in einer schwierigen Phase ihres Lebens. Möchten sie gemeinsam die Wahrheit ans Licht bringen, wird es nötig sein, in alten Geheimnissen und neuen Machenschaften zu wühlen und ein komplexes Geflecht aus politischen Intrigen zu entwirren. Und am Samstag wird abgerechnet. «Viel mehr als ein Krimi, aber nie weniger. Davide Longo gehört zu den spannendsten italienischen Schriftstellern.» FAZ
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Seitenzahl: 703
Davide Longo
Kriminalroman
In einem verlassenen Alpendorf wird ein Filmproduzent und Bruder eines ehemaligen Democrazia-Cristiana-Politikers tot in seinem Jaguar aufgefunden. Seine Frau, eine frühere Schauspielerin, in die eine ganze Generation verliebt war, ist spurlos verschwunden. Für die Ermittlungen muss sich Commissario Arcadipane, eigentlich Turiner, in dem einsamen Bergdorf, das aus einer Handvoll Häuser besteht, niederlassen. Dort warten misstrauische Bewohner und ein Rätsel auf ihn, das ihm Kopfzerbrechen bereitet.
Ein zu komplizierter Fall, um nicht seinen alten Freund und Mentor Corso Bramard um Hilfe zu bitten sowie die ebenso undisziplinierte wie unverzichtbare Isa Mancini. Beide befinden sich gerade in einer schwierigen Phase ihres Lebens. Möchten sie gemeinsam die Wahrheit ans Licht bringen, wird es nötig sein, in alten Geheimnissen und neuen Machenschaften zu wühlen und ein komplexes Geflecht aus politischen Intrigen zu entwirren. Und am Samstag wird abgerechnet.
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour für das beste Debüt und dem Premio Via Po. Sein Roman «Der aufrechte Mann» wurde von der Presse enthusiastisch aufgenommen, «Der Steingänger» sogar verfilmt. «Der Fall Bramard» begründet eine Krimireihe aus dem Piemont, die mit «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» und «Am Samstag wird abgerechnet» fortgesetzt wird.
Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u. a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano, Davide Longo; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch–Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «La vita paga il sabato» bei Einaudi editore s.p.a., Torino.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«La vita paga il sabato» Copyright © 2022 by Davide Longo
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Diego PH/Unsplash; Janos Fietzek
ISBN 978-3-644-01748-1
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Absonderlichkeit ist die Form des Schönen, wenn das Schöne verzweifelt ist.
Antoine Volodine
Den Kopf auf dem Kissen, den Körper zusammengekauert wie in einer primitiven Grablege, starrt Arcadipane auf das Handy, das zum dritten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten den Sockel der Nachttischlampe erleuchtet, den Schlüsselbund, die Pistolentasche und einen dunklen Kreis auf dem Nachtkästchen von einer sehr heißen Tasse oder einem sehr heißen Glas.
Er bräuchte nur die Hand auszustrecken und das Handy auszuschalten oder ranzugehen, aber er weiß, wer ihn um diese Zeit anruft und warum, also tut er, was ein Mann in seinem Alter, seinem Beruf und seiner horizontalen Lage tun kann: Zeit schinden. Dreißig Jahre bei der Polizei haben ihn gelehrt, dass die Sekunden in der Nacht wie antike Münzen sind, die darauf angegebene Zahl hat nichts mit ihrem effektiven Wert zu tun.
Das schwache fluoreszierende Leuchten des Handys hört auf und lässt wieder Dunkelheit und Stille einkehren. Es ist ein gutes Viertel, in dem er schläft, keine frisierten Auspuffe, keine Leute, die grölend aus üblen Kaschemmen kommen, keine Betrunkenen oder Zuhälter. Nur ein paar Transvestiten der alten Schule: Arbeitszeit von dreiundzwanzig bis zwei Uhr, kurze Woche nach deutschem Vorbild, per königlichem Dekret zugeteilte Straßenecken und Halbparterre in Eigentum, Professionelle, die sich prostituieren, seitdem ihnen der erste Flaum spross, der sofort ausgerupft wurde, und die Übermütige, Witzbolde und Junkies auf der Suche nach Kleingeld in Schach halten. Im Übrigen kosten eine Schere, ein Schraubenschlüssel und eine Dose Pfefferspray weniger als ein Beschützer, und notfalls sind sie schneller zur Hand.
Das Handy fängt wieder an.
Arcadipane gibt ihm fünf, vier, drei, zwei Sekunden, ergreift es, steht vom Bett auf und geht ruhig in Richtung Bad. Was er noch weiß, ist, dass die am anderen Ende es so lang läuten lassen wie notwendig. Der letzte Gedanke des Mannes in Zivil ist, dass man wirklich bescheuert sein muss, wenn man gezwungen wird, um fünf Uhr sechsundzwanzig vom Bett aufzustehen, er weiß tatsächlich viele Dinge, also geht er ins Bad, schließt die Tür und tritt seinen Dienst an.
«Was ist?»
«Ich bin’s, Pedrelli, Commissario.»
«Ich hatte gehofft, es wäre Edwige Fenech», sagt er und setzt sich auf die Toilette, ohne den Deckel hochzuklappen, «aber dieses Luder hält mich hin.»
«Sie haben recht, Commissario, die Fenech ist immer …»
«Pedrelli, es ist halb sechs Uhr morgens, kommen wir zur Sache.»
«Gewiss, Commissario. Es gibt einen Toten.»
«Ach was?»
«Das wäre nicht unsere Zuständigkeit, aber der Generalleutnant hat angerufen und ausdrücklich verlangt, dass Sie sich darum kümmern. Er hat verboten, am Telefon darüber zu reden. Wenn Sie herunterkommen wollen, ich stehe mit dem Dienstwagen vor Ihrem Haus.»
Arcadipane streckt die Hand nach den Kleidern aus, die er für Fälle wie diesen am Fenstergriff aufhängt. Er kramt in der Tasche der Lammfelljacke, die ihm seine Ex-Schwiegereltern geschenkt haben, bis er mit den Fingern die kleine Raute mit den abgerundeten Ecken ertastet, die er sucht. Er genießt ihre gummiartige und raue Konsistenz, die luftige Natur eines Fusels vom Grund der Tasche, den er nicht mitnimmt, dann packt er das Lakritzbonbon, Sucai, und steckt es in den Mund.
«Eine Angelegenheit außerhalb unseres Distrikts», sagt er kauend.
«Außerhalb des Distrikts.»
«Nicht unsere Zuständigkeit, aber der Generalleutnant …»
«Vor einer Stunde hat er persönlich angerufen und verlangt, so schnell wie möglich vor Ort zu sein.»
«Und Botta und Lavezzi?»
«Sind schon unterwegs, Commissario.»
«Mit dem Alfa?»
«Mit dem Alfa», Pedrelli senkt die Stimme, weil er ahnt, worauf Arcadipane hinauswill.
«Während du vor meinem Haus stehst.»
«Seit etwa zwanzig Minuten, aber Sie haben nicht ge…»
«Womit?»
Pedrelli schweigt.
«Zwei neue Alfa, Pedrelli! Zwei neue Alfa haben sie uns gegeben, und du nimmst nach wie vor diesen Scheiß-Peugeot. Nein, sag’s doch, sag’s doch, dass du mir übelwillst! Wir versetzen ihnen ein paar Schläge mit dem Hammer, wenn dir das lieber ist, oder wir überlassen sie einen Monat lang denen vom Überfallkommando, dann vergeht dir die Angst, dass sie einen Kratzer abbekommen.»
«Aber nein, Commissario, es ist wegen all der Technik …»
Während er der Rechtfertigung seines Vize lauscht, erkundet Arcadipane das Gesicht, das ihm der Spiegel über dem Waschbecken zurückwirft: der zerdrückte Haarkranz um den kahlen Schädel, der Zweitagebart, der schon sprießt, die tief liegenden Augen, die steinzeitliche Stirn, die Haut, die im Licht der Straßenlampen, das durchs Fenster hereindringt, dunkel wirkt. Ein bisschen wie bei Lombroso. «Commissario?»
«Hm!»
«Haben Sie gehört?»
Arcadipane steht auf und klappt die Klobrille hoch, dann besinnt er sich, wo er ist, und setzt sich wieder.
«Ich habe gehört, ich habe gehört. Bring diesen ollen Peugeot zum Largo Duca degli Abruzzi!»
«Aber ich …»
«Stehst vor meinem Haus, ich weiß», Arcadipane trocknet sich mit Papier ab, eine jüngste Errungenschaft, erleichtert durch die Positur, «aber ich sage dir, du sollst zum Largo Duca degli Abruzzi kommen», er klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter und beginnt sich anzuziehen. «Egal, ob du jetzt in Gedanken wieder deine drei Pünktchen setzt, okay?», er schlüpft in die Hose. «Du denkst darüber nach, während du kommst», er knöpft das Hemd zu. «Mach jetzt voran, denn ich bin mittlerweile schon gewaschen, gekämmt und angezogen.»
«Sicher, Commissario, ziehen Sie etwas Warmes an, ich habe aus der Zentrale Galoschen für alle beide mitgenommen.»
Arcadipane hält den Reißverschluss am Hosenschlitz auf der Hälfte an.
«Galoschen? Wohin zum Teufel fahren wir, Pedrelli? Ins neunzehnte Jahrhundert?»
«In die Berge, Commissario … aber ich habe nichts gesagt.»
«Wovor hast du Angst? Dass die CIA uns ausspioniert?»
«Das ist ein Lied.»
«Was?»
«Die CIA spioniert uns aus, das ist ein Lied von Eugenio Finardi.»
«Aber wen schert Eugenio Fidenco, vorwärts. Und lass den Motor laufen, sei nicht knickerig, um für den Staat Geld zu sparen.»
Arcadipane beendet das Gespräch, dreht den Wasserhahn auf, wäscht sich die Hände und wischt sich nass damit durchs Gesicht, das er heiß und voller Auswüchse findet, wie eine Knolle, die in einer Steinwüste gewachsen ist. Die Jacke hängt im Flur. Socken und Schuhe am Fuß des Bettes.
Er kommt aus dem Bad und nähert sich ihr vorsichtig, setzt sich auf die Bettkante und macht sich ans Werk. Die Bettdecke hinter ihm bewegt sich.
«Bist du wach?»
«Hmhm.»
Er schlüpft in die Mokassins, geht zur Kommode und nimmt seine Sachen. Eine Handbreit über seinem Kopf sieht er die Seile, die unter der Decke verlaufen wie die Oberleitungen von Trambahnen.
«Es ist ein Anruf gekommen», er verteilt die vier Sucai auf die zwei Taschen, «ich muss weg.»
«Hmhm.»
«Kannst du Trepet bis zum Nachmittag behalten?»
«Hmhm.»
Er geht zum Sessel, neben dem der Hund schläft, und beugt sich über die formlose Masse.
«Du, mach keine Sperenzchen, verstanden?», flüstert er, aber nicht zu sehr, weil er will, dass sie es hört.
Trepet lässt ein unwilliges nächtliches Knurren hören, dann das Schlapp, schlapp, wie er es macht, wenn er seine Hoden leckt.
«Okay», sagt Arcadipane, indem er sich aufrichtet. «Ich ruf dich an, wenn ich komme, um ihn abzuholen. Schlaf jetzt.»
«Hmhm.»
Nachdem er die Jacke angezogen hat, tritt er hinaus auf den Treppenabsatz und schließt die Tür hinter sich. Er hat einen Bund Schlüssel in der Tasche, die nicht zu diesem Schloss gehören und auch nicht zu jener anderen Wohnung, zu der er ab und zu unwillkürlich, wenn er in Gedanken ist, zurückkehrt. So ist es also um ihn bestellt, sagt er sich, während er die Treppe hinuntersteigt.
Auf der Straße erwartet ihn das kalte und öde Turin, das dem Morgengrauen vorausgeht. Er schnuppert und erkennt den Geruch wieder, der ihn als Amme begleitet, wenn auch nicht zur Welt gebracht hat. Ein wilder, schnörkelloser Geruch nach Schlamm, Stein, Eisen, Blei und Unterholz. Wenn man von einem Viertel ins andere wechselt, können Reihenfolge und Intensität variieren: mehr Eisen im Borgo Dora, Blei in Mirafiori, Stein im Zentrum, Schlamm in der Nähe des Po und Unterholz von Santa Maria del Monte dei Cappuccini aus aufwärts, aber die Haut von Turin setzt sich aus diesen fünf Elementen zusammen. Er weiß das. Weil er diesen Geruch mit dem ersten Tropfen Muttermilch in sich aufgenommen hat, etwas, an das man sich nicht erinnert und das man doch nie vergisst.
Als er die Ampel am Largo erblickt, beschleunigt er den Schritt. Er hätte Pedrelli die genaue Adresse nennen können, im Übrigen, wenn man ein Geheimnis wahren will, kann man es mit ins Grab nehmen oder es einem Piemontesen anvertrauen, was so ungefähr dasselbe ist, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass …
Ein weißer Hund kommt um die Straßenecke und rettet ihn vor einem Gedanken, den er nicht zu Ende hätte führen können. Es ist ein Pit Bull oder etwas Ähnliches, stämmig, dreißig Kilo schwer, und er kommt auf dem Gehweg auf ihn zu gelaufen.
«Verdammt …», kann er gerade noch denken, als eine Frau um dieselbe Ecke biegt.
«Slash, Slash!», ruft sie und rennt ihm hinterher.
Der Hund war gerade damit beschäftigt, an einem Laternenpfahl zu schnüffeln, er dreht sich nach der Frau um und trottet weiter mit dem euphorischen Gang von Jugendlichen, die nicht wissen, wohin sie unterwegs sind, und trotzdem gut drauf.
«Halten Sie ihn auf!», schreit die Frau. «Halten Sie ihn auf!»
Arcadipane beugt sich hinunter und streckt die Hand aus. Der Hund legt die letzten Meter schlenkernd zurück, unentschieden, ob er die Liebkosung annehmen oder weiterlaufen soll. Er hat ein schönes weißes Fell mit milchkaffeebraunen Flecken und kein Halsband. Als er nah genug ist, legt Arcadipane ihm die Hand auf den Kopf. Der Hund tänzelt um ihn herum, schnüffelt an ihm, stupst ihn, er spielt.
Die Frau hat sie eingeholt.
«Halten Sie ihn bitte!», keucht sie und lehnt sich erschöpft an ein Haustor.
Arcadipane betrachtet ihr Gesicht in der Farbe von Vuitton-Handtaschen, den Morgenmantel, ein esoterisches Medaillon um den Hals, die hochtoupierten Haare, zwischen denen der blanke Schädel aufblitzt. Alles in allem betrachtet scheint sie einem Schönheitswettbewerb der Sechzigerjahre entsprungen zu sein, durch einen Nebenfluss, der fünfzig Jahre gebraucht hat, um im Hier und Jetzt anzukommen.
«Hat er kein Halsband?», fragt er sie.
«Nein, ich habe ja keins!», sagt sie und greift sich an die Stirn.
«Als er durch die Tür lief, bin ich umgekommen vor Angst, ich sah ihn schon vor ein Auto laufen, und ich musste meinen Sohn anrufen» – jetzt ist die Hand auf der Brust –, «er hat ihn für ein paar Tage bei mir gelassen, aber … Heilige Muttergottes, was für ein Hund» – jetzt ist die Hand auf dem Bauch –, «lassen Sie ihn nicht los, um Himmels willen. Ich kann ihn nicht mehr einfangen.»
Arcadipane umarmt den Hund, der sich nicht wehrt, abgesehen davon, dass er ihn abzuschlecken versucht.
«Dann kommen Sie und halten ihn, ich muss weiter.»
Die Frau macht einen Schritt, und der Hund versucht zu entkommen. Arcadipane hält ihn zurück, indem er ihn fester packt.
«Sehen Sie!», wimmert die Frau, die, wenn sie Flüssigkeit in sich hätte, wahrscheinlich weinen würde. «Er macht, was er will, und dabei hat er eine Kraft! Helfen Sie mir!»
Arcadipane schaut auf den Platz, wo er Pedrellis amarantroten Peugeot zu erkennen meint.
«Wo wohnen Sie?»
«Um die Ecke, in der Via Colombo, schauen Sie, ich hatte nicht mal die Zeit, mir etwas …»
Arcadipane hat keine Lust zu sehen, was die Frau keine Zeit hatte anzuziehen. Er weiß nur, dass die spirituelle Miss Pergament es auf keinen Fall alleine schafft, dass der Generalleutnant nie persönlich anruft und dass eine Summe von Fehlern manchmal dazu führt, dass eine Dummheit zu begehen die einzige Möglichkeit ist. Also begeht er sie.
Kaum spürt der Hund, dass ihm der Boden unter den Pfoten fehlt, lässt er sich gegen Arcadipanes Brust fallen, der ihn nun mit entschiedener Bewegung auf die Schulter wuchtet.
«Und?», bedeutet er der Frau, die ihn mit halb offenem Mund anstarrt.
«Kommen Sie, kommen Sie», fasst sie sich.
Ein Lkw-Fahrer, der in diesem Moment die Straße entlangfährt, dreht den Kopf und betrachtet die Person im Morgenmantel, die dahingeht, gefolgt von einem Mann, der einen Hund trägt, aber vermutlich zählt diese Prozession nicht zu den zehn merkwürdigsten Dingen, die er gesehen hat, denn er schaut wieder auf die Straße, ohne langsamer zu werden.
Die Ecke ist in etwa zwanzig Metern Entfernung. Arcadipane spürt das Gewicht des Tiers, das sich friedlich an seine Schulter schmiegt, den rosa und warmen Bauch an seinem Hals, das kindliche Pochen des Welpenherzens in seinem rechten Ohr. Er sieht sich zwanzig Jahre früher an einem kalabrischen Strand in der Schläfrigkeit eines frühen Abends am Meer, eine Hand unter dem Kopf und die andere auf dem Rücken der viermonatigen Loredana, die auf seinem Bauch liegt; dann einige Zeit später auf dem Rückweg von einer verlorenen Fußballpartie, den sechsjährigen Giovanni trösten, der in einem Wagen, der nicht ihrer ist, mit ihm auf der Rückbank sitzt und weint, mit dem Kopf auf seinen Beinen einschläft, die Tränen durchnässen ihm die Hose, die Handfläche auf dieses von Wut und Schlaf warme Köpfchen gelegt.
Arcadipane, der beim Erinnern die Augen geschlossen hat, spürt etwas Warmes den Rücken hinunterrinnen. Wenig, aber zweifellos flüssig.
«O verdammt …», sagt er, ohne stehen zu bleiben, während der Hund voll des Dankes den Schädel auf seiner Schulter zurechtrückt.
Die Frau, die bisher reuig den Bürgersteig erforschend vorausgegangen war, dreht sich um.
«Er macht’s», nickt sie, «er macht’s», dann biegt sie um die Ecke und geht auf eine kleine Tür zu, die sie aufschließt, um zu verstehen zu geben, dass die Arbeit an der Wohnungstür endet.
Zehn Minuten später kommt Arcadipane bei ebendiesem Türchen wieder heraus. Die meiste Zeit hat er in der Wohnung der Frau verbracht und die zehn Euro abgelehnt, die sie ihm um jeden Preis als Entschädigung geben wollte, sowie mit noch mehr Nachdruck das Unterhemd und das Hemd des Ehemanns – Gott hab ihn selig –, die sie ihm nach einer Wäsche, die er im Bad vornehmen konnte, auch nur obenherum, anbot.
Pedrelli wartet am vereinbarten Ort mit dem amarantroten Peugeot und ausgeschaltetem Motor.
«Guten Tag, Commissario. Ich habe eben abgestellt, da Sie sich verspäteten.»
«Fahr los», sagt Arcadipane und legt den Sicherheitsgurt an.
Pedrelli kontrolliert, ob die Fahrbahn frei ist, und setzt den Wagen in Bewegung. Er trägt eine uni Windjacke über einem mausgrauen Anzug mit hellblauem Hemd und granatroter Krawatte. Die Haare immer kurz, immer ordentlich gescheitelt auf dem Streichholzkopf.
«Jetzt kannst du mir sagen, wohin wir unterwegs sind, oder nicht?»
«Nach Clot, Commissario», sagt Pedrelli und nickt, die Augen aufmerksam auf die Straße gerichtet.
«Und wo zum Teufel ist das?»
«Im Alve-Tal.»
«Und das wiederum?»
«In der Provinz Cuneo, das Navi gab anderthalb Stunden Fahrzeit an.»
«Botta und Lavezzi brauchen mit dem Alfa anderthalb Stunden. Wenn wir Glück haben, sind wir zum Mittagessen dort. Können wir wenigstens die Heizung einschalten, oder ist das eine deiner Yoga-Praktiken gegen das Altern?»
«Immer zu Scherzen aufgelegt, Commissario!»
«Um sechs Uhr früh kommt das spontan.»
Pedrelli stellt den roten Hebel auf fünf. Das Maximum wäre sechs, aber wir wollen ja nicht übertreiben, dann legt er die zweite Hand wieder auf das Lenkrad, exakt in Position 9 und 15.
«Was wissen wir über den Toten?»
«Nichts. Der Generalleutnant hat gesagt, wir würden vor Ort aufgeklärt.»
Arcadipane bringt die Füße unter dem Handschuhfach an die Lüftungsstutzen, aus denen Wärme auszuströmen beginnt. «Da sieh an.»
«Ich glaube, es ist wegen der verschwundenen Frau.»
«Warum? Gibt es da auch eine verschwundene Frau?»
«Die Frau des Toten. Aber auch darüber werden sie uns …»
«… vor Ort aufklären.»
Pedrelli bringt den Kopf Richtung Windschutzscheibe und schnuppert.
«Haben Sie was dagegen, wenn ich die Heizung ein wenig niedriger stelle? Eine Katze muss auf die Kühlerhaube gepinkelt haben. Sie spüren die Wärme des Motors, aber dann wird man den Gestank nicht mehr los …»
«Mach sie aus, mach sie aus», sagt Arcadipane und dreht den Kopf zur Seite, um an sich zu riechen, «so hole ich ein bisschen Schlaf nach.»
«Gewiss, Commissario, ich wecke Sie, kurz bevor wir ankommen.»
«Gut, weck mich vor Ort, so lassen wir uns aufklären», bestätigt Arcadipane, während er ganz lässig die rechte Hand zur Kurbel des Fensters gleiten lässt. Nur einen Spaltbreit.
Nachdem er auf der Umgehungsstraße von Cuneo von einem zögerlichen Überholmanöver zuungunsten einer Ape erwacht ist, hat Arcadipane in der folgenden Dreiviertelstunde nacheinander das Fenster hochgekurbelt, Mariangela eine Nachricht geschickt, um die monatliche Ablieferung des Unterhalts, die für diesen Vormittag vorgesehen war, aufzuschieben, eine zweite Nachricht an Loredana gesendet des Inhalts «Wie ist die Prüfung gelaufen?» und Smiley, Antwort «Sie ist übermorgen», wütender Smiley, vier Sucai gelutscht und mit der Sehnsucht eines schweizerischen Söldners an die Wärme des Betts und dieses warmen Körpers gedacht, von dem er noch nicht weiß, ob …
«Wir müssten fast da sein», sagt Pedrelli zum dritten Mal, während er den Peugeot im furiosen Wechsel vom ersten und zweiten Gang über die Haarnadelkurven hochjagt. Das einzige Anzeichen von Zivilisation ist eine Wasserleitung, unter der sie hin und wieder durchfahren, wobei sie reflexartig den Kopf einziehen. Im Übrigen ist alles, was sie sehen, vergilbtes Gras, Kiefern und Felsen, nachdem sie die letzte standardmäßig ausgestattete Ortschaft mit Rathaus, einer Piazza, einem Kriegerdenkmal und zwei Bars hinter sich gelassen haben.
«Da ist es!», Pedrelli zeigt auf das Ortsschild.
Eine Kehre noch, und sie haben Clot vor sich: eine Handvoll Häuser, eher alt als antik, eine Piazza, ein Hotel und ein Gebäude, das eine Schule oder ein Schlachthof sein könnte. Was zwischen sie und diese Gottesgaben tritt, ist ein Typ mit Leuchtweste, der mit einem dieser Wimpel bei Radrennen Zeichen macht.
Arcadipane richtet sich in dem Sitz auf, der ihn verschluckt hat, und kurbelt das Fenster herunter.
«Seid ihr von der Polizei?», fragt der Typ, der das Gesicht von Chuck Norris und den Körper eines Asketen hat.
«Wir sind von der Polizei, wohin müssen wir?»
Der Mann beugt sich vor, um den Fahrer zu sehen.
«Fahrt hinauf nach Chiossi», und er weist in die Richtung, «dort findet ihr die Schotterstraße nach Gias Vej. Ihr erkennt sie, weil da Leute von der Forstverwaltung bei den Absperrungen sind.»
Arcadipane schaut dorthin, wo das Tal sich öffnet und der blaue Himmel auf perverse Weise dazu einlädt hinaufzufahren.
«Wie lange braucht man?»
«Mit dem hier?», sagt der Mann und stützt sich mit dem Ellbogen auf das Wagendach.
Arcadipane mustert ihn. Der Mann nimmt den Ellbogen zurück.
«Zwanzig Minuten», sagt er und dann, nachdem er sich in Sicherheitsabstand gebracht hat: «Wenn euch nicht beim ersten Loch die Ölwanne kaputtgeht.»
Pedrelli lenkt den Wagen über den Platz bis zu einer der zwei Straßen, welche die Kontinuität der Gebäude unterbrechen. Steinhäuser mit abblätterndem Putz, ein paar gusseiserne Balkongeländer, ein bisschen Holzvertäfelung, aber ohne Angeberei. Das Hotel stammt, wie die Schule oder was immer das ist, aus den Sechzigerjahren und kündet von der ungesunden Schwärmerei des Architekten für Glasbetonbauweise. Die Buchstaben an der Fassade besagen Sosta del pellegrino, aber es gibt an dem Platz keine Kirche oder Kirchturm, der sich über das Dorf erhebt.
«Es ist wirklich ein abgelegener Ort», sagt Pedrelli, als wären sie ein Paar auf der Suche nach einem Feriendomizil.
Die eingeschlagene Straße entpuppt sich nach wenigen Minuten als Militärstraße, das erkennt man an der Geduld, mit der sie sich dem Berghang anschmiegt, eine Mischung aus höherer Ingenieurskunst, Größenwahn und Arbeitskosten gleich null. Obwohl es Ende Oktober acht Uhr morgens ist, liegt das Licht auf allen Dingen fahl und schon winterlich.
Der Jeep steht neben ein paar Absperrungen. Zwei Männer von der Forstbehörde steigen aus. Der jüngere, um die fünfunddreißig, hat die Augen von einem, der Diskotheken inmitten von Maisfeldern frequentiert; der um zehn Jahre ältere dagegen scheint sich eben abgeschminkt zu haben. Beide sind wohl irgendwann mal mager gewesen.
«Commissario Vincenzo Arcadipane», er zeigt den Ausweis vor, «und das ist mein Vize.»
Der Nachtschwärmer nähert sein Gesicht dem Dokument und nickt, aber statt die Absperrung zu entfernen, steckt er die Hände in die Taschen.
«Es muss ein ganz schöner Schlamassel passiert sein dort oben, hm?»
Arcadipane schaut ihn an, dann den Kollegen.
«Was wisst ihr davon?»
«Weniger als nichts», sagt der andere, den das Abschminken offenbar gar nicht entspannt zu haben scheint. «Wir frieren uns hier seit vier Stunden den Arsch ab, und man sagt uns nichts.»
Vom Akzent her sind beide heimische Produkte, aber der Ältere ist vom Schlag derer, der sich in der Bar die Zeitung zurücklegen lassen, um damit den Ofen anzuheizen, während der Jüngere auf den Lokalteil und auf den Sportteil gelegentlich doch einen Blick wirft, gerade so viel, um auf dem Laufenden zu sein und mitreden zu können.
«Fest steht», sagt er, «dass ihr ein schönes Heer da hinaufbringt! Da außer euch Berechtigten keiner hinfährt, könnten wir vielleicht …»
«Die Straßensperre entfernen und tun, was man euch gesagt hat?»
Der Forstbeamte kratzt sich unter der Mütze am Kopf, wahrscheinlich, um der Hand etwas Harmloses zu tun zu geben. Der andere, der der lebende Beweis dafür ist, dass ein Scheißcharakter sich durch Schönheitsoperationen nicht bessern lässt, ist zu den Absperrungen gegangen. Arcadipane hat das Handy rausgeholt.
«Ist hier kein Netz?»
«Nein, vom Dorf aufwärts ist kein Empfang», sagt der Jüngere in dem gefährlichen Ton, den er in der Diskothek anschlägt, wenn nach zwei Uhr früh der Alkoholspiegel der Männer hoch und die Gruppe der Frauen auf wenige Exemplare geschrumpft ist.
«Sind die Carabinieri oben?», fragt Arcadipane, der weiß, dass er jetzt seine volle Aufmerksamkeit hat.
«Ja, sie waren als Erste da.»
«Wenn sie von hier sind, haben sie Satellitenverbindung, nehme ich an.»
«Wir und sie haben sie.»
«Ihr Glücklichen», sagt Arcadipane lächelnd. Der junge Mann beginnt ihm jetzt sogar zu gefallen. «Es wird den ganzen Tag viel zu tun sein, lasst euch ablösen oder heißen Kaffee bringen.»
«Danke», sagt der junge Mann, «alles in Ordnung so.»
Arcadipane nickt, kurbelt das Fenster wieder hoch und macht Pedrelli Zeichen loszufahren. Der Peugeot fährt zwischen den geöffneten Absperrungen durch, während der ältere Forstbeamte zufällig anderswohin schaut.
«Sag nichts …», bemerkt Arcadipane.
Pedrelli gehorcht und konzentriert sich auf die zu vermeidenden Schlaglöcher im Boden.
«… ich arbeite daran.»
«Verlieren Sie nicht den Mut, Commissario, man braucht Zeit und Geduld, um die emotionale Haltung zu den Dingen zu verändern. Um die Wut zu verwandeln und unserem inneren Kind zu erlauben …»
«Ich habe gesagt, ich arbeite daran, Pedrelli, fahr zu.»
«Gewiss, Commissario.»
Clot verschwindet und taucht unter ihnen wieder auf, die Häuser zur Hälfte von der Sonne beschienen und zur anderen von dem Staudamm beschattet, der sich ein paar Kilometer weiter oben erhebt wie die Hand eines betrunkenen Vaters. Die Kirche, die man zunächst nicht sah, sieht man jetzt, abseits und mit dem Dorf nur durch einen Pfad verbunden. Dahinter gibt sich ein Viereck gepflegter Wiese als Friedhof aus.
«Da ist Lavezzi», sagt Pedrelli und lenkt den Wagen auf den Hang, wo der Mann auf sie wartet.
Lavezzi, eng anliegende Samthose, Lederjacke und Timberland-Stiefel, macht ihnen Zeichen, sie mögen auf der leicht abschüssigen Wiese neben dem Subaru Forester der Carabinieri parken, neben dem Alfa, den sie hätten benutzen können, und einer Handvoll anderer Fahrzeuge, darunter ein Lieferwagen. Er hat das neutrale Gesicht, mit dem er gewöhnlich morgens in die Zentrale kommt oder diese nach zehn Stunden Dienst wieder verlässt. Vorstehende Backenknochen, Nase, die etwas Weibliches hat, und Boxerkinn.
Arcadipane hat ihn seit rund fünfzehn Jahren in seiner Truppe, und doch weiß er von ihm nur, dass er in einer Einzimmerwohnung über der elterlichen Bäckerei wohnt, dass er in Gefühlsdingen kurze käufliche Kontakte in bar oder als Darlehen mit variablem Zinssatz vorzieht und dass er einst Schlumpf-Figuren sammelte, um sie dann für dreitausendzweihundert Euro an einen Banker aus Ivrea zu verkaufen. Ein ausgezeichneter Polizist, wenn es darum geht, jemanden zu beschatten, während er bei Verhören mit drei abschneidet und mit vier minus, sobald unter den Zeugen oder Verdächtigen Frauen zwischen sechzehn und fünfundfünfzig Jahren sind.
«Guten Morgen, Commissario», grüßt Lavezzi ihn, «haben Sie gesehen, was für ein Aufgebot?»
Arcadipane betrachtet den Jaguar, der in der Mitte der Wiese steht, Fahrertür und Kofferraum offen. Rund um den Wagen sind im Abstand von einem Meter in drei konzentrischen Quadraten Laufplanken angebracht worden, zwanzig Zentimeter über der Erde. Die rot-weißen Bänder sperren einen weiteren Bereich ab. Er muss vor Sonnenaufgang von den großen Scheinwerfern beleuchtet worden sein, die an die Generatoren auf dem Lieferwagen angeschlossen sind. Auf dem Gelände bewegen sich ein Dutzend Leute: die von seiner Einheit, die vom Polizeipräsidium Cuneo und die von der Kriminaltechnik. Mit Erleichterung erkennt Arcadipane den schlaffen Hintern von Amedeo Sarace, der zur Hälfte in dem zu untersuchenden Auto steckt.
«Wer ist der Glückliche?», fragt er.
«Terenzio Fuci», liest Lavezzi, «siebenundachtzig Jahre, wohnhaft in Rom, Via del Babuino, Eigentümer der Filmproduktionsfirma Veronica Film.»
«Nie gehört», sagt Arcadipane, während er zu dem Wagen hinabsteigt, der wie ein Magnet all die Leute, ihn inbegriffen, angezogen hat. «Wer ist das, eine Art Filmstar?»
«Nicht eigentlich», sagt Lavezzi, «sein Bruder war Amilcare Fuci.»
«Wer? Der Politiker?»
Lavezzi blättert in seinem Notizbuch.
«Zwischen 64 und 73 zweimal Minister und graue Eminenz der Democrazia Cristiana bis zu seinem Tod 1988.»
«Okay, jetzt wissen wir, warum der Generalleutnant um vier Uhr früh zum Telefon gegriffen hat. Sonst noch was?»
«Der Gefreite Labarbuta», Lavezzi zeigt auf einen Carabiniere, der sie aus etwa zwanzig Metern Entfernung beobachtet, «war als Erster zur Stelle nach einem anonymen Anruf in der Station Alve um 23 Uhr 46, der einen Toten meldete, hier an diesem Ort namens …», er blättert in seinem Notizbuch, «Gias Vej, aber ich bin mir nicht sicher, ob man das so ausspricht.»
«Lassen wir es gut sein. Also?»
«Die zwei Carabinieri, die gegen eins hier eintrafen, fanden den Wagen, wo er jetzt steht …»
«Was für ein Wagen ist das?», fragt Arcadipane, wobei er sich bückt, um unter dem Absperrband durchzugehen. «Was hast du, Pedrelli? Schaffst du’s, oder müssen wir dich tragen?»
«Ein Jaguar XJ 40, Baujahr 89, 6 Zylinder. Dieser hier obendrein ist eine limitierte Edition, Ledersitze in Milchkaffeebraun, Instrumentenanzeige nur in Englisch, eins von den Autos, die nie an Wert verlieren.»
«Haben die Carabinieri Tür und Kofferraum offen vorgefunden?»
«Nein, alles zu, Scheinwerfer und Motor aus, an war nur die Innenbeleuchtung. Wegen des Anrufs, des Autotyps und des ungewöhnlichen Orts sind der Gefreite und sein Untergebener näher rangegangen und haben gesehen, dass die Hände des Mannes ans Lenkrad gefesselt waren, also haben sie die Tür geöffnet und den Tod festgestellt. Die Geldbörse war in der Innentasche des Mantels auf dem Rücksitz. Darin sechshundertdreißig Euro in bar, drei Kreditkarten, zwei EC-Karten und die Ausweispapiere. Botta hat versucht, das iPhone zu entsperren, das in der Manteltasche war. Von der Ehefrau dagegen keine Spur und keine persönlichen Gegenstände.»
Sie gehen hintereinander auf einer der Laufplanken. Pedrelli ist Letzter, merkwürdig verlangsamt. In etwa zehn Metern Entfernung kann Arcadipane das Opfer auf dem Fahrersitz sehen. Sarace hebt den Kopf an, um den Hals zu untersuchen. Wissend, dass dies ein Moment ist, in dem er niemanden in der Nähe haben will, hält er inne.
«Sind wir sicher, dass die Ehefrau bei ihm war?»
«Sicher nicht, aber …», Lavezzi blättert, «sie sind gestern Abend in Clot angekommen, wo sie ein Zimmer gebucht hatten. Sie haben im Hotelrestaurant gegessen, und dann gegen halb zehn hat der Wirt sie hinausgehen, ins Auto einsteigen und vom Platz aus die Straße nehmen sehen, die in dieser Richtung hinaufführt. Die Ehefrau saß auf dem Beifahrersitz.»
«Apropos, Commissario», setzt Pedrelli an, aber Sarace zieht den Kopf aus dem Wageninneren, er sieht sie und macht ihnen Zeichen, näher zu kommen.
«Später, Pedrelli», sagt Arcadipane und geht auf das Auto zu. «Aber was hast du? Du bist ja bleich wie die Wand.»
Als er bei dem Wagen angekommen ist, wartet er, dass Sarace die Gummihandschuhe abstreift.
«Hey, Amedeo, wie geht es dir?» Sie geben sich die Hand.
«Ich bin hundertfünfzig Kilometer von zu Hause weg. Weißt du, dass es Leute gibt, die meinen Beruf an weniger entfernten Orten als diesem hier ausüben?»
«Das ist der Vorteil, wenn man sich einen Namen gemacht hat.»
«Was du nicht sagst! Wie geht es Mariangela?»
«Ausgezeichnet, seitdem sie mich nicht mehr um sich hat.»
«Das war Teil der Ratschläge, die ich als Arzt geben zu müssen meinte. Hat sie schon einen neuen Freund?»
«Etwas mehr als das.»
«Das ist das Beste in solchen Fällen, also bin ich sicher, dass du nicht daran gedacht hast. Besser so, man hat noch genug Zeit, sich mit der harten Wirklichkeit des Verfalls zu konfrontieren. Grüß sie von mir, und sag ihr, wenn es nicht im Widerspruch zu meiner Ethik gestanden wäre, hätte ich mich selbst ins Spiel gebracht.»
«Wird gemacht. Reden wir von der Arbeit?»
Sarace bringt seine toupierten Haare in Ordnung, die durch das Dach im Inneren des Wagens zusammengedrückt worden sind: Er ist hässlich wie zu Zeiten, als Hässlichsein sogar so etwas wie ein Türöffner sein konnte. Die Zeiten von Nicola di Bari, um genau zu sein. Nicht von ungefähr tritt der seit fünfundzwanzig Jahren jeden Freitag und Samstag als Solostimme in einer Band auf, die die Provinzlokale Over Sixty bespielt, wie Dik Dik, Pettenati, Camaleonti, Ricky Shayne, Bokes, Fred Bongusto, Don Backy, Califano. Der blaue Anzug und das gebauschte Hemd unter dem Mantel zeugen davon, dass der Anruf am vorigen Abend ihm nicht einmal die Zeit gelassen hat, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.
«Der Mann ist tot», sagt er, nachdem er etwas getan hat, das in seinem Beruf nur jemand tun kann, der kurz vor der Pensionierung steht, nämlich sich am Schauplatz des Verbrechens eine Zigarette anzuzünden, «aber wenn du eine Zweitmeinung willst, kannst du ein sechsjähriges Kind befragen. Im Übrigen kann ich dir sagen, dass er erwürgt wurde, Zeitpunkt zwischen einundzwanzig und ein Uhr nachts, momentan kann ich keine genaueren Angaben machen. Was ich dir allerdings sagen kann», und er deutet auf den Hals des Mannes, der jetzt sichtbar ist, weil Sarace den Kopf hochhält, «ist, dass, um ihn zu erdrosseln, fast mit Sicherheit ein Elektrokabel verwendet wurde, wie das, mit dem seine Hände gefesselt sind. Siehst du den dunkelroten Fleck am Hals? Man nannte es Flachdraht, die zwei Drähte liefen parallel in dieser Art Ummantelung. Wurde bis in die Siebzigerjahre verwendet, dann änderte sich die Norm. Aufgrund einer komplizierten Überlegung, die du nicht verstehen würdest und die ich erst gar nicht versuchen will, dir zu erklären, könnte ich wetten, dass die Hände post mortem ans Lenkrad gefesselt wurden. Was bedeutet, dass dieses Kabel», er deutet auf den schmutzig weißen Flachdraht, der um die Hände des Mannes geschlungen ist, «das Mordwerkzeug sein könnte.»
Arcadipane betrachtet Terenzio Fuci: alt, starr, offen stehender Mund, dichtes und welliges graues Haar. Von den vier Dingen beneidet Arcadipane ihn nur um eines, überdies entspricht der maßgeschneiderte Wollanzug, den der Tote trägt, nicht seinem Geschmack. Die Füße in Wildlederschuhen sind fest gegen die Pedale gedrückt, die Beine gestreckt in dem, was ein letztes Aufbäumen gewesen sein muss.
«Sein Mörder saß hinter ihm?»
«Mit Sicherheit, und das Interessante ist, dass er den Draht nicht zugezogen hat.» Mit Kraft schiebt er den Rumpf des Mannes nach vorn. «Wie du siehst, im Nacken keine Würgemale, die sind nur am Hals zu sehen. Wäre er dreißig Jahre jünger gewesen, hätte er sich womöglich losmachen können, aber das Alter, die Panik, die Atemnot … das ist Teil der animalischen Reflexe, sich dem Gevatter zu überlassen, der uns alle erwartet, oder sich zu wehren. Es ist eine Frage von Sekunden, man kann nie sagen, was wir in einer Situation wie dieser tun würden.»
«Amen.»
«Das ist wohl angebracht.»
«Und sonst?»
«Ich hatte zunächst nicht darauf geachtet, aber bemerkst du diesen Geruch? Vielleicht hat er sich im Augenblick des Hinscheidens voll gepinkelt. Das kommt vor.»
«Sonst noch was?», fragt Arcadipane und tritt beiseite.
«Ein bisschen Blut, aber wenig, auf dem Sitz der Ehefrau, willst du es sehen?»
«Wenn wir schon so arschfrüh aufgestanden sind …»
Auf einer der Planken gehen sie um den Wagen herum. Sarace zieht einen Gummihandschuh an, den er in der Manteltasche hatte, und öffnet die Beifahrertür. Er weicht einen Schritt zurück, um Arcadipane das Vergnügen des Do it yourself zu lassen. Der Fleck ist klein, aber gut sichtbar in der Mitte des Ledersitzes.
«Sicher, dass es Blut ist?»
Sarace beschränkt sich darauf, sein Zigarettenetui aus der Tasche zu holen, um etwas Asche dort hineinfallen zu lassen.
«Und es ist nicht von dem Toten?»
«Das ist noch nicht untersucht worden, aber Terenzio Fuci weist weder Wunden oder Abschürfungen auf, noch Spuren von Blut an Mund, Nase oder Ohren. Es sei denn, es handelt sich um einen älteren Fleck, was ich jedoch bezweifle … In ein paar Stunden wissen wir, ob das Blut von Fuci, der Ehefrau oder dem Mörder stammt. Ich setze auf die Frau.»
«Nach der wir suchen, nicht wahr, Lavezzi?»
«Bisher haben wir die Umgebung durchkämmt und einen Teil des Waldes, aber ohne Ergebnis. Der Zivilschutz und die Carabinieri stellen Suchtrupps zusammen, um den Radius zu erweitern, und jeden Moment müssten die Suchhunde eintreffen.»
Arcadipane steckt ein Sucai in den Mund und zerkaut es, er nimmt das Innere des Wagens in Augenschein, den Kamelhaarmantel auf dem Rücksitz, die vier Münzen auf der Ablage unter der Handbremse, einen Parkschein, den runden, rot-gelben Anhänger mit der Wölfin, der vom Schlüssel herabhängt, die nach einer Seite ausgehakte Sonnenblende, wahrscheinlich verschoben in dem Versuch, sich loszumachen, ein Programmheft der Oper Rom, das auf die Bodenmatten gefallen ist, den vollen Aschenbecher, aus dem der Stummel einer Zigarette herausragt: eine von diesen dünnen, wie sie diejenigen bevorzugen, die sich den Anschein geben wollen, nicht so zu rauchen wie alle anderen. Und dieser Blutfleck vom Umriss eines Kaffeetässchens.
Das ist der Moment, in dem er weiß, dass er denken muss wie Bramard, da er ihn nicht bei sich haben kann, seinen Ex-Chef, Mentor, Freund und nach vielen Jahren immer noch ein von Geheimnis umgebenes Objekt.
Corso Bramard, der auf dem Schauplatz des Verbrechens auftauchte und beiseitetrat. Bramard, der fragte, aber nicht zu viel. Der keine Hypothesen aufstellte und nicht laut nachdachte. Der keine voreiligen Schlussfolgerungen zog, auch wenn er einen blutbesudelten geständigen Täter und das in einer Plastiktüte sichergestellte Tatmesser vor sich hatte. Schauen, überlegen und die Karten in der Hand behalten. Der Versuchung widerstehen, auf die Frage, weshalb man überhaupt hier sei, zu antworten, sei es wegen des Gehalts oder, wie in ihrem Fall, aus einer Art Manie heraus. Oder: «Wer war es?» Diese Frage ist immer falsch, wenn man sie am Anfang stellt. Denn sie blendet, wie in die Sonne zu schauen, es endet damit, dass du sie nicht mehr siehst, und wenn du den Blick abwendest, entgeht dir auch der Rest. Das hat Bramard ihn gelehrt in den Jahren, in denen sie zusammengearbeitet haben, oder besser gesagt, in denen er ihn hat arbeiten sehen. Da ist immer eine kleinere und bescheidenere Frage, von der man ausgehen kann. Eine Frage, die in diesem Fall lautet: Was machten Fuci und seine Frau an diesem Ort, nachts, in einem Jaguar mit Nummernschild Rom?
Das würde Bramard sich fragen, wenn er dort wäre, und das fragt Arcadipane sich, während er sein Sucai kaut.
Er denkt an Bramard, von dem er monatelang nichts gehört hat. Am Leben muss er sein, sonst hätte er es erfahren, aber wie es ihm geht … Im Grunde ist es immer so zwischen ihnen gewesen. Sogar die Male, wenn sie sich nach beendeter Arbeit spät in der Nacht am Tresen einer Bar wiederfanden, wussten sie beide, dass es da nichts gab, was es wert gewesen wäre, besprochen zu werden. Das zu tun, hätte den eigentlichen Grund zunichtegemacht, weshalb sie um diese Zeit zusammen waren: ein Zeitpolster zu schaffen, bevor man nach Hause ging. Deshalb waren die Orte, an denen Tod und Schlechtigkeit verhandelt wurden, nach Dienstschluss immer voller Leute. Tatsache ist, dass in diesen Fällen reden bedeutet, der Dummheit, die von der Müdigkeit herrührt, Tür und Tor zu öffnen, dem «Wer hat mehr gesehen?», dem Versuch, sich davon zu überzeugen, dass die fortgeschrittene Zeit keine Wirkung mehr auf einen hat, dem Zynismus, der hemmungslosen Melancholie, der Niedergeschlagenheit, der Bosheit. Also trinkt man lieber schweigend neben einem Freund oder Kollegen.
«Commissario?»
Arcadipane dreht sich zu Pedrelli um.
«Das ist Vera Ladich!», sagt Pedrelli.
«Vera Ladich wer?»
«Die Frau von Terenzio Fuci ist Vera Ladich!», sagt Pedrelli. «Seit zehn Minuten versuche ich, Ihnen das zu sagen, Scheiße noch mal!»
Arcadipane sieht seinen Untergebenen an, der seit dem 13. Mai 1992 kein Schimpfwort in den Mund genommen hat, dann den Jaguar, die Laufplanken, die Scheinwerfer und den Lieferwagen mit der Hundestaffel, der eben neben dem Peugeot geparkt hat.
«Aber Vera Ladich ist …»
Ein Militärhubschrauber fliegt über ihnen und verschluckt die zweite Hälfte des Satzes.
Sie beobachten ihn, wie er einen Kilometer weiter unten über die Wassermasse fliegt, die gegen die dünne Staumauer drängt, eine Ellipse über dem See dreht, zu dem die Hänge des Tals sacht absinken, und wieder aufsteigt, um den nördlicheren Teil abzusuchen.
«Wie wurde sie noch genannt?», fragt Sarace und nimmt einen letzten Zug aus der Zigarette.
«Mademoiselle le look», flüstert Pedrelli.
«Mademoiselle le look», sagt der Mediziner und nickt, dann drückt er die Kippe aus und steckt das Zigarettenetui ein, wie um zu sagen, dass er seinen Teil getan hat, jetzt ist Arcadipane dran.
Das Zimmer ist ein Rechteck, drei mal vier Meter, eingerichtet mit schlichten Möbeln, die eher an ein Haus am Meer denken lassen als an ein Drei-Sterne-Hotel im Gebirge. Lokales Tannenholz, aber keine Schnörkel oder sonstiger Schnickschnack wie in Gaststuben üblich. Das Bett ist ein Doppelbett, der Schrank, in dem eine Moncler-Daunenjacke und ein Poncho aus Alpaka hängen, ist zweitürig. Auf der Kommode stehen zwei kleine Koffer in Standardmaßen 55 × 20 × 4, und im Bad ohne Dusche, aber mit Badewanne gibt es ein leeres Schränkchen und zwei Etageren, wo Terenzio Fuci und Vera Ladich ihre jeweiligen Toilettentaschen abgestellt haben.
«Ich wollte einen Moment mit Ihnen sprechen», sagt Pedrelli und geht auf Arcadipane zu, der über das Bett gebeugt in Augenschein nimmt, was Botta zusammengetragen hat. Er macht sich jetzt im Bad zu schaffen.
«Ist es dringend oder sachlich zwingend?»
«Keins von beiden, Commissario.»
«Dann können wir es aufschieben. Nachrichten von den Suchtrupps?»
«Nichts.»
Arcadipane sieht auf die Uhr. Dreizehn Stunden sind vergangen. Eine unsinnige Zeit, um einem Mörder auf die Spur zu kommen, besorgniserregend im Fall einer entführten, verletzten oder in den Wäldern verlorenen Frau. Eine Katastrophe, wenn diese Frau Vera Ladich ist.
«Neuigkeiten von Lavezzi?»
«Er ist noch vor Ort, sie untersuchen Fußabdrücke und Reifenspuren. Ich versuche, ihn anzurufen.»
Pedrelli geht aus dem Zimmer. Wie alle Piemonteser ließe er sich lieber in aller Öffentlichkeit die Hämorrhoiden operieren, als im Beisein von jemand anderem zu telefonieren.
«Nichts Relevantes, Commissario», sagt Botta, aus dem Bad kommend, «nur gängige Medikamente und Hygieneartikel, wenn Sie selbst einen Blick darauf werfen wollen …»
«Nein, schauen wir uns lieber an, was du hier hingelegt hast.»
Botta geht zum Bett, wo er ein Dutzend Gegenstände ausgebreitet hat, die er aus Koffern, Kommoden und Schubladen genommen hat. Er ist eine Handbreit größer als Arcadipane, also von normaler Statur, schlank, immer gut angezogen, aber nie elegant. Er ist zweiunddreißig Jahre alt, aber genauso gut könnte er fünfzig sein, denn er gehört zu dem Typ Mensch, die aus irgendeinem Grund beim Firmungsfoto stehen bleiben. Sie wachsen heran, sie bekommen Bart, Krawatte, Ausbildung, Erfahrungen und dreizehntes Monatsgehalt; einige, wie Botta, befassen sich sogar mit menschlichem Dreck, machen Rafting, haben den Segelschein, eine Verlobte und eine Pistole, bleiben aber immer der Junge von zwölf Jahren, während seine Altersgenossen schon vor den Traualtar treten. Da ist nichts Schlimmes dabei: Er ist ein Goldjunge, der mit der Zeit auch ein guter Polizist werden wird. Und dann sind methodische Typen wie er, sauber, ohne viel Heckmeck, in der Mannschaft ein Geschenk des Himmels.
Schließlich und endlich sind wir alle an irgendeiner Kante des Lebens ins Stocken geraten. In Arcadipanes Fall ist ein Fünftel 1975 in diesem Hotel in Andorra geblieben, ein weiteres Fünftel in einer Wohnung im vornehmen Turin, in die sie mit der Sittenpolizei eindrangen, ein Fünftel die Momente gemeinsamer Arbeit mit Bramard, ein weiteres Fünftel auf einem Bürgersteig neben einer Frau, die er nie zuvor gesehen hat und die stirbt, und das letzten Fünftel teilt sich auf alles Übrige auf. So gesehen, ist es komisch, dass die Personen, die du liebst, mit denen du Wohnung und Bett teilst, Jahre und Sorgen …
«Commissario?»
Die mit der Firmung wie Botta sind jedenfalls eine Kategorie für sich. Mindestens die Hälfte der Persönlichkeit, die sie sind, ist auf diesem Foto geblieben. Wie bei den Kriminellen. Niemand wird kriminell, wenn eine Hälfte von ihm nicht in dem Augenblick gefangen geblieben ist, den er nicht hätte erleben sollen: eine Demütigung, erfahrene, gesehene oder ausgeübte Gewalt, Entzug, Neid, unerlaubte Lust, als unverdient gefühltes Glück. Verstehst du diesen Moment, verstehst du den Kriminellen. Alles Dinge, die er ins Visier genommen hat in …
«Commissario?»
«Hm!»
«Im Scheckheft sind alle Ausgaben vermerkt, aber abgesehen davon, dass Fuci ein akkurater Typ gewesen sein muss, sehe ich keine Einträge, die uns sonderlich weiterbringen.»
«Einträge.»
«Dann sind da zwei Romane, ich glaube von der Frau, Visitenkarten eines Augenarztes, eines Restaurants, einer Kunstgalerie, einer Werkstatt, die Sofas und Sessel neu polstert, alle in Rom. Vitamine, ein homöopathisches Schlafmittel. Diese Mappe hier mit alten französischen Zeitschriften. Schlüssel, ich nehme an, zu ihrer Wohnung. Aber keine digitalen Geräte.»
«Ist das schwerwiegend?»
«Im Mantel von Terenzio Fuci haben wir ein iPhone gefunden, Zeichen dafür, dass er mit der Technik vertraut war, aber im Zimmer gibt es weder Computer, Tablet noch elektronischen Organizer. Der Wirt hat gesagt, dass die Frau, als sie hinausgingen, eine normale Damenhandtasche bei sich hatte, sonst nichts. Vielleicht haben Personen dieser Schicht Mitarbeiter, die sich um alles kümmern. Ich kenne keine Personen dieser Schicht.»
«Nein, ich auch nicht. Hat man das Handy entsperren können?»
«Ja, vor allem berufliche Nachrichten oder von Freunden. Einige Kontakte überprüfen wir, aber in keinem Gespräch deutet er etwas von diesem Ort oder einer Reise an. Das leichte Gepäck lässt vermuten, dass sie beabsichtigten, maximal zwei oder drei Tage von Rom weg zu sein. Bleibt die Tatsache, dass wir nicht wissen, weshalb sie hier waren.»
Arcadipane nickt.
«Du hast gesagt, da sind französische Zeitschriften?»
Mit seinen Händen eines Zwölfjährigen, lang, weiß und ohne Harm, schlägt Botta die Mappe mit steifem Deckel auf.
«Es sind achtzehn Nummern von ‹Le milieu du siècle›, ich glaube, das ist eins dieser Blätter, die Fortsetzungsromane publizierten. Die Hefte stammen alle von Samstag, zwischen November 1852 und März des folgenden Jahres. Daraus setzte sich offenbar dieser Roman zusammen …»
Botta blättert in der ersten der Zeitschriften. Sie bestehen aus wenigen Seiten in großem Satz, wie Beilagen mit Sonderangeboten eines Einkaufszentrums, nur ohne Farbe und ohne Preise. Dafür, dass es hundertfünfzig Jahre alt ist, ist das Papier nicht einmal sehr vergilbt.
L’histoire d’une jeune femme pas du tout désolée.
«Was heißt das?»
«Soweit ich weiß, ist das Französisch. Geschichte einer jungen Frau, die nicht verzweifelt, verfasst von … Philippe Rouen.»
«Ist das von Wert?»
«Ich weiß nicht. Ein Freund meines Vaters hat ein Buchantiquariat. Ich kann mich informieren.»
«Frag den Freund deines Vaters. Aber was macht denn Pedrelli mit diesem Telefon?»
Schritte im Flur. Das Hotel hat Böden und Treppen aus Holz. Die Wände sind weiß mit mehr oder weniger schönen Bildern, fast alles Tuschezeichnungen. In Nischen ein paar kleine Skulpturen. Wenigstens keine Hirschgeweihe oder ausgestopfte Tiere. Keine Hängelampen, nur Wandleuchten mit roten Stoffschirmen.
Pedrelli kommt bei der Tür herein, er hat das Satellitentelefon in der Hand.
«Ich habe mit Lavezzi geredet, vielleicht sprechen Sie besser direkt mit ihm.»
Arcadipane streckt die Hand nach dem Telefon aus, das an die ersten schnurlosen Telefone erinnert.
«Im Haus funktioniert die Satellitenverbindung nicht, Commissario.»
Sie öffnen die Tür zu dem kleinen Balkon, der zur Rückseite hinausgeht. Arcadipane knöpft die Jacke zu. Die Sonne steht noch hoch, scheint aber resigniert auf das Tal herab.
«Lavezzi? Hörst du mich? Okay, sprich.»
Pedrelli sieht, wie das Gesicht seines Vorgesetzten beim Zuhören nach und nach finsterer wird.
«Was ist denn das für eine Geschichte?»
Arcadipane schüttelt den Kopf zu seinem Vize gewandt, der hat im Lauf von zwanzig Jahren Lebensgemeinschaft Spiegelneuronen, so groß wie Biberratten, entwickelt, tut nun also das Gleiche und wirkt verzagt.
«Aber haben sie gründlich gearbeitet, sind wir da sicher?» Schweigen. «Einverstanden, aber bevor wir hier abziehen, will ich noch eine Überprüfung. Und ruf die Hunde zurück. Sie sollen von dort noch mal anfangen. Ich will ja nicht, dass sie vor lauter Ziegen, Kühen und Eichhörnchen verrückt werden. Halt mich auf dem Laufenden, verstanden? Jede halbe Stunde, um zwei bist du hier, wir müssen den Ort auf den Kopf stellen.»
Arcadipane gibt Pedrelli das Telefon zurück und legt die Hände auf das Geländer. Etwa zehn Meter von dem Balkon entfernt beginnen die Häuser, anspruchslos und alle gleich. Auf den Dächern Steinschindeln. Keine Erneuerungen in letzter Zeit, wenige Dachrinnen. Einst mochte das Dorf über den Daumen gepeilt zweihundert, zweihundertfünfzig Einwohner gezählt haben. Die Gässchen machen es nur zu Fuß zugänglich.
«Ein tristes Los», sagt er.
Pedrelli schweigt und wartet.
«Rund um den Wagen gibt es auf der ganzen Wiese keinen Schuhabdruck, abgesehen von denen des Gefreiten und seines Kollegen. Und die einzigen Reifenabdrücke sind die vom Jaguar und vom Forester der Carabinieri.»
«Und der Mörder?»
«Geflügelt.»
«Gevögelt?»
«Mit Flügeln.»
Pedrelli sieht ihn an und kichert. Arcadipane befürchtet schon das Schlimmste.
«Da mussten sie aber große Flügel haben, um die Ladich davonzutragen.»
Arcadipane betrachtet dieses Männlein, das mehr oder weniger seine Statur hat, aber die Hälfte seines Leibesumfangs und seiner Probleme. Nach fünfzig Jahren Leben in Turin hat er sich noch nicht mit der Tatsache abgefunden, dass der Humor der Piemontesen wie alte Elektroheizungen nur zwei Stufen kennt: aus oder an. Kein Temperaturregler. Und Pedrelli ist nicht der Typ von Elektroheizung, die du dir bei minus zwanzig Grad wünschst.
«Hören Sie, Commissario, wo wir nun einen Moment Zeit haben …»
«Sicher haben wir einen Moment Zeit, Pedrelli, und einen ermordeten Toten, der im Quirinal zu frühstücken pflegte, eine verschwundene Schauspielerin, in die die halbe Welt verliebt war, einen Schauplatz des Verbrechens voller Schlamm, aber ohne einen Abdruck; sechs vom Mossad ausgebildete Hunde, die die Spur von Vera Ladich aus zwei Metern Abstand vom Wagen nicht erschnüffeln, einen Hubschrauber, der sinnlos seine Kreise zieht, mich, der ich nach Pisse stinke, und den Generalleutnant, der jede Stunde anruft … Und ob wir einen Moment Zeit haben, Pedrelli, wenn du willst, hol nur das Sudoku hervor, rufen wir auch Botta dazu, der ja fast so etwas wie ein Steuerberater ist!»
Pedrelli schaut auf die Staumauer, während er das große Telefon in seine Windjacke gleiten lässt.
«Tut mir leid wegen Ihres Problems …»
«Welches Problem?»
«Mit über fünfzig passiert das schon mal … Aber es gibt natürliche Heilmittel dagegen. Ich kann meinen Kräuterfachmann fragen, ohne Namen zu nennen, natürlich. Ich lasse alles anschreiben, als wäre es für mich.»
Als Arcadipane begreift, fährt er sich mit der Hand über den Kopf, der sich glühend anfühlt.
«Hör mal, Pedrelli, tu so, als hätte ich dein Angebot angenommen, hm! Ist der Wirt unten?»
«Gewiss, er wartet am Ausschank.»
«Dann gehe ich hinunter, und du kommst mit mir.»
«Gern, Commissario.»
«Freu dich nicht zu früh, das könnte deiner Haut schaden. Während ich mit ihm rede, informierst du dich, ob es in diesem gottverlassenen Kaff etwas gibt, wo man Kleider oder Ähnliches kaufen kann, einverstanden?»
«Brauchen Sie einen Hut? Im Peugeot habe ich …»
«Ich weiß schon, was ich brauche, können wir jetzt gehen?»
Der Eigentümer des Hotels heißt Ottavio Claro, er ist fünfzig und schön. Die Ehefrau Marta ist neunundvierzig und ebenfalls schön. Arcadipane hat das bemerkt, als er eintrat, während sie sich ohne allzu viel Erklärungen die Schlüssel aushändigen ließen: Die Durchsuchung habe Vorrang, zumal sie hofften, ein Element zu finden, das den Mord und das Verschwinden aufklären könne.
Als er sich dem Schanktisch nähert, ist Arcadipane überzeugt, die Schönheit des Mannes sei letztinstanzlich entschieden, aber nein. Claro trägt einen Bart wie ein amerikanischer Gründervater und hat die gegerbte Haut des Alpinisten, klare, reine Augen. Die Frau, die an der Tür zur Küche erscheint, erhöht den Einsatz noch. Keine Schminke, keine Kosmetik, die Haare sogar ein wenig in Unordnung, und doch …
«Braucht ihr mich auch?», fragt sie mit einer Stimme, die weder weiblich noch hart ist, nur vollkommen ihre.
«Die Straße ist gesperrt, meine Tochter ist nicht in der Schule, sie ist zu Hause.»
Arcadipane betrachtet diese beiden groß gewachsenen, schönen, trainierten und sichtlich funktionierenden Körper. Körper, wie sie einst einmal auf eine halbe Million zustande kamen, jetzt ein bisschen häufiger, aber dennoch nicht so spontan und unverfälscht. Zwei Körper, die sich in diesem Fall zu einem Paar zusammengetan hatten. Für die Tochter würde man einen Platz hinter Panzerglas im Louvre reservieren müssen.
«Ja, Signora, wir haben die Straße gesperrt. Das war notwendig. Ich spreche mit Ihrem Mann, Sie halten sich bitte zur Verfügung. Danke.»
Marta Claro nickt, ohne zu lächeln, weil die Umstände das nicht verlangen und weil sie das nicht braucht. Ottavio Claro stützt die Unterarme auf die Theke, sie kommen aus dem karierten Hemd hervor, weder muskulös noch mager, genau richtig, wie alles Übrige.
«Ich höre», sagt er aus Berufsroutine.
«Haben Sie Terenzio Fuci und Vera Ladich eingecheckt? Wenn ja, um wie viel Uhr?»
«Unmittelbar nach ihrer Ankunft.» Ottavio Claro holt unter dem Schanktisch eine kleine Konsole mit Tastatur hervor, gibt etwas ein und schaut auf den Bildschirm. «Das war um 17.18 Uhr.»
«Wenn Sie eine Kopie der Ausweise gemacht haben, könnten Sie sie mir bitte zeigen?»
Der Mann öffnet eine Schublade und leistet der Aufforderung Folge. Arcadipane kontrolliert die Daten, die übereinstimmen, und hält sich bei dem Personalausweis von Vera Ladich auf, geboren 1944 in Basovizza, italienische Staatsbürgerin, wohnhaft in Rom in der Via Babuino etc. Beruf: eine Lücke mit zwei Gedankenstrichen. Das Foto, nur wenige Jahre alt, lässt ihr im ernsten Ausdruck und in den großen Augen alle verdiente Gerechtigkeit widerfahren.
«Wussten Sie, wer sie waren? Vor allem die Frau?»
«Inwiefern?» Ottavio Claros Stimme ist kaum männlicher und weniger neutral als die seiner Frau. Jede Silbe ein eingeschlagener Nagel.
«Ob Sie wussten, wer sie waren und was sie im Leben so machten.»
«Nein.»
«Hat es Sie nicht verwundert, dass sie zu dieser Jahreszeit aus Rom kamen?»
«Wir haben nicht viele Gäste, aber es ist immer noch ein Hotel. Wer eins braucht, kommt gewöhnlich von auswärts.»
«Richtig, und haben sie Ihnen den Grund ihres Aufenthalts genannt? Oder haben Sie ein zusätzliches Formular, mit dem Sie das erfragen?»
«Sie haben es nicht gesagt, und wir fragen nicht danach.»
Arcadipane betrachtet das Päckchen Tabak, das aus der etwas westernmäßigen Jeans des Mannes hervorschaut.
«Meinem Kollegen haben Sie gesagt, das Zimmer sei reserviert gewesen.»
Ottavio Claro geht zum Analogen über und nimmt ein Heft zur Hand. Er beugt sich darüber und blättert darin, die Haare sind oben am Kopf andeutungsweise ein wenig schütter. Wenn Arcadipane größer wäre, könnte er die lichte Stelle sehen und einen Mangel an ihm feststellen.
«Vor zwei Wochen, am 13. Oktober, hat die Signorina Brocani angerufen, um auf den Namen Veronica Film, Rom, sechs Zimmer zu reservieren. Für zwei Nächte.»
«Wie sechs? Wie viel Zimmer haben Sie denn insgesamt?»
«Sechs. Sie wollte das ganze Hotel und das Restaurant mieten. Sie hat für zweiundzwanzig Personen Vollpension bestellt, was unsere maximale Kapazität ist. Am Tag darauf kam die Überweisung, und ich habe Zimmer und Restaurant reserviert.»
«Und haben Sie sich nicht gewundert, als sie dann nur zu zweit erschienen?»
«Ich habe gefragt, ob die anderen noch kommen würden. Herr Fuci sagte mir, beim Film käme so etwas öfter vor. Er hat nichts von Rückerstattung erwähnt, und ich hätte sie ihm auch nicht gewähren können.»
«Und dann?»
«Dann habe ich ihnen das Zimmer gezeigt, die Frau hat gesagt, das sei in Ordnung so; und sie haben gefragt, was es zum Abendessen gibt. Ich habe typische regionale Gerichte vorgeschlagen, sie haben gesagt, auch das sei in Ordnung, und ich habe sie dann gegen acht am Tisch wiedergesehen.»
Pedrelli kommt durch die Tür herein, die eine kleine, unaufdringliche Glocke hat. Arcadipane bedeutet ihm mit dem Blick, er solle ruhig bleiben und warten. Links vom Tresen und der Tür liegt der Speisesaal mit einem Dutzend Tischen, alle gedeckt.
«Gibt es in dieser Zeit Touristen?»
«Nicht viele, aber es geschieht immer wieder, dass jemand wegen der Fresken in der Kirche kommt, Kunsthistoriker oder Studenten, die eine Dissertation über den Meister von Clot schreiben. Wenn Sie wollen, hier ist ein Prospekt.»
Arcadipane sieht nur flüchtig hin.
«Und dann sind da die Techniker vom Staudamm. Sie kommen einmal in der Woche zur Wartung der Anlage, einmal im Monat zur Überprüfung der Turbinen und einmal im Jahr zur planmäßigen Wartung und Inspektion. Das Hotel wurde 1959 zur Beherbergung des Personals gebaut, das das Wehr errichtet hat, wir haben also ein Abkommen. Mein Vater hat es gepachtet, und wir haben den Vertrag mit der Nachfolgegesellschaft erneuert.»
«Eine komplizierte Sache.»
Der Mann holt den Tabak aus der Tasche und beginnt, sich eine Zigarette zu drehen.
«Nicht so sehr. Wer wegen des Staudamms kommt, erhält eine Ermäßigung von zwanzig Prozent, die anderen nicht. Das ist alles.»
Arcadipane beobachtet schweigend die Hände bei der Fertigstellung des Produkts. Er weiß, dass auch Pedrelli hinter ihm den Blick nicht vom harmonischen Zusammenspiel dieser Finger wendet. Zum Glück wird die Zigarette nicht ganz perfekt, aber die Art, mit der er sie in die Brusttasche steckt … ah, die wohl!
«Also», fängt Arcadipane wieder an, «werden Sie ausreichend Gelegenheit gehabt haben, die beiden Gäste während des Abendessens zu beobachten.»
«Ja, ich habe sie bedient. Meine Frau kümmert sich um die Küche.»
«Ich hoffe nur, dass sie schlecht kocht.»
Der Mann begreift nicht. Auch bei ihm steht der Regler des Heizöfchens auf null. Irgendetwas sagt ihm, dass es im Dorf in dieser Hinsicht nicht viel zum Warmhalten gibt.
«Wie sind sie Ihnen vorgekommen? Haben sie miteinander gesprochen? Haben sie geschwiegen? Komplizenhaft, gelangweilt, verärgert, Meinungsverschiedenheiten? Ein Gefühlsumschwung, eine Geste, die Ihnen aufgefallen ist? In Ihrem Beruf werden Sie häufiger Paare beobachten. Daraus, wie sie sich bei Tisch benehmen, lassen sich eine Menge Dinge ableiten, nicht wahr?»
Ottavio Claro nimmt die Zigarette aus der Brusttasche, befeuchtet ein Ende mit den Lippen und steckt sie wieder weg.
«Ich bin kein großer Beobachter», schließt er, «sie kamen mir normal vor. Er hat ein paar Bemerkungen zu mir gemacht …»
«Was für Bemerkungen?»
«Ich erinnere mich nicht genau.»
«Das habe ich mir gedacht.»
«Er hat jedenfalls mehr geredet. Sie war freundlich, aber reserviert. Er hatte mehr Appetit, die Signora dagegen hat keinen Hauptgang genommen. Am Schluss haben alle beide meiner Frau Komplimente gemacht.»
«Haben sie Sie an den Tisch gerufen?»
«Nein, sie sind ins Zimmer hinaufgegangen, und als sie wieder herunterkamen, haben sie am Tresen einen Kaffee getrunken, sie einen koffeinfreien Americano. Meine Frau hat aus der Küche herausgeschaut, und sie haben ihr gesagt, dass sie gut gegessen hätten, dann sind sie hinausgegangen.»
Arcadipane bemerkt, dass sie jemand aus der Küche beobachtet. Ein kleines Mädchen mit roten Haaren, sieben oder acht Jahre alt. Sehr schön, aber man hätte sich mehr erwartet.
«Das ist unsere Tochter Ester.»
«Hallo Ester.»
«Hast du eine Pistole?»
«Brauchst du etwas, Ester?», fällt der Vater ihr ins Wort. «Sonst geh zur Mama in die Küche.»
«Nein, lassen Sie sie. Ich habe auch mal kleine Kinder gehabt, auch wenn ich mir da jetzt nicht mehr so sicher bin.»
«Ottavio hat ein Gewehr», sagt Ester.
«Ach ja, und wer ist dieser Ottavio?»
Das Mädchen zeigt auf den Mann, mit dem Arcadipane spricht.
«Ah, das wird er für die Bärenjagd benutzen!», sagt er, dann zum Vater gewandt: «Aufgeweckt, hm! Schön, dieses Den-Vater-beim-Namen-Nennen, sehr modern.»
«Das ist, weil ich adoptiert bin», sagte Ester, «und auf Bären schießt man nicht. Sie waren vor uns da. Man muss sie respektieren.»
Unter den grünen Augen des Mädchens, die ihn unvoreingenommen, aber auch mitleidlos mustern, sucht Arcadipane in seinen Taschen nach einem Sucai und findet keins. Er begnügt sich damit, den Finger an die Lippen zu führen, der ein wenig Zucker und einen Hauch von Geschmack angenommen hat.
«Geh und sag der Mama, sie soll die Zimmer für die Herren herrichten», sagt Ottavio Claro. Und dann zum Commissario: «Ihr Kollege» – und er deutet auf Pedrelli, der immer noch an der Tür steht – «hat mich gebeten, Panini vorzubereiten, weil ihr unterwegs essen werdet.»
«Sicher, sicher, Panini sind gut. Eine letzte Sache, während Sie mir einen Kaffee machen. Für den Kollegen nichts, er ernährt sich makrobiotisch.»
«Vielleicht einen Tee», sagt Pedrellis dünne Stimme.
«Einen Tee also, aber lassen Sie ihn nicht zu lange ziehen.»
Ottavio Claro dreht sich um und zeigt ihnen das pythagoreische Dreieck seines Rückens. Er klopft aus, befüllt, zieht den Hebel.
«Als Terenzio Fuci und Vera Ladich gestern Abend hinausgingen, wie waren sie da angezogen?»
«Das habe ich vorhin schon Ihrem Kollegen gesagt.»
«Ich weiß, sagen Sie es mir noch mal», bemerkt Arcadipane trocken. «Wissen Sie, die Verständigung zwischen uns ist nicht so gut.»
Der Mann bemerkt die Veränderung im Tonfall. Das sieht man an den Schultern, sie heben sich kaum merklich, er dreht sich aber nicht um. Eine Minute der Stille tritt ein, gerechtfertigt durch die Prozedur des Tee-Aufgießens. Pedrelli nutzt sie, um an den Tresen zu kommen. Ottavio Claro stellt die Tasse und das Teekännchen hin. Pedrelli kann auswählen zwischen grünem Tee, schwarzem Tee und English Breakfast.
«Der alte Herr trug einen eleganten Mantel und einen Anzug, Jackett und Hose in Grün. Sie eine Jacke, vielleicht Rentier, auf jeden Fall Leder, eine Wollmütze und einen lachsfarbenen Schal. Die Hose war kariert.»