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Nach seinem großen, sprachgewaltigen Italienpanorama «Der aufrechte Mann», das ein ganz anderes Italien zeigt, als wir es kennen, kehrt Davide Longo nun wieder in seine engere Heimat, in die piemontesischen Berge, zurück. «Der Fall Bramard» schließt an seinen Roman «Der Steingänger» an, der Davide Longo in Deutschland bekannt gemacht hat und in dem es auch, wie im «Fall Bramard» um einen außergewöhnlichen Kriminalfall im Piemont ging. Corso Bramard lebt in einem Dorf am schönsten Wanderweg der Alpen, der GTA, «Grande Traversata delle Alpi». Doch unaufgeklärte Verbrechen lasten auf den Bewohnern. Bramard, ein schweigsamer charismatischer Kauz, war als Kommissar einem Frauenmörder auf der Spur. Kurz vor der Aufdeckung jedoch wurde seine eigene Frau zum Opfer, seine Tochter verschwand. Zwanzig Jahre später meldet sich der Mörder mit einem anonymen Brief und einem Zitat aus dem Song «Story of Isaac» von Leonard Cohen bei ihm wieder. Bramard, der inzwischen Lehrer geworden ist und eine zarte Liebesbeziehung zu der in der Dorfbar arbeitenden Rumänin Elena unterhält, nimmt die Herausforderung an. Er begibt sich auf die Suche nach dem Mann, der sein Leben beinahe zerstörte, setzt die einzelnen Erinnerungen der Talbewohner an die letzten zwei Jahrzehnte akribisch zusammen, bis es zu einer in jeder Hinsicht überraschenden Begegnung kommt. Ein spannungsgeladener Roman über die Nähe von Schönheit und Verbrechen und über Verletzungen, die man jahrelang in sich trägt, bis der Moment kommt, sich ihnen zu stellen und sie zu überwinden. Davide Longo ist neben Paolo Giordano, Andrea Bajani und Michela Murgia einer der renommiertesten italienischen Autoren der jüngeren Generation. Die literarische Kraft, existenzielle Atmosphäre und sprachliche Dichte von Longos Prosa hinterlassen unauslöschliche Leseeindrücke.
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Seitenzahl: 298
Davide Longo
Der Fall Bramard
Roman
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Ihr Verlagsname
Nach seinem großen, sprachgewaltigen Italienpanorama «Der aufrechte Mann», das ein ganz anderes Italien zeigt, als wir es kennen, kehrt Davide Longo nun wieder in seine engere Heimat, in die piemontesischen Berge, zurück. «Der Fall Bramard» schließt an seinen Roman «Der Steingänger» an, der Davide Longo in Deutschland bekannt gemacht hat und in dem es auch, wie im «Fall Bramard» um einen außergewöhnlichen Kriminalfall im Piemont ging.
Corso Bramard lebt in einem Dorf am schönsten Wanderweg der Alpen, der GTA, «Grande Traversata delle Alpi». Doch unaufgeklärte Verbrechen lasten auf den Bewohnern.
Bramard, ein schweigsamer charismatischer Kauz, war als Kommissar einem Frauenmörder auf der Spur. Kurz vor der Aufdeckung jedoch wurde seine eigene Frau zum Opfer, seine Tochter verschwand.
Zwanzig Jahre später meldet sich der Mörder mit einem anonymen Brief und einem Zitat aus dem Song «Story of Isaac» von Leonard Cohen bei ihm wieder. Bramard, der inzwischen Lehrer geworden ist und eine zarte Liebesbeziehung zu der in der Dorfbar arbeitenden Rumänin Elena unterhält, nimmt die Herausforderung an. Er begibt sich auf die Suche nach dem Mann, der sein Leben beinahe zerstörte, setzt die einzelnen Erinnerungen der Talbewohner an die letzten zwei Jahrzehnte akribisch zusammen, bis es zu einer in jeder Hinsicht überraschenden Begegnung kommt.
Ein spannungsgeladener Roman über die Nähe von Schönheit und Verbrechen und über Verletzungen, die man jahrelang in sich trägt, bis der Moment kommt, sich ihnen zu stellen und sie zu überwinden.
Davide Longo ist neben Paolo Giordano, Andrea Bajani und Michela Murgia einer der renommiertesten italienischen Autoren der jüngeren Generation. Die literarische Kraft, existenzielle Atmosphäre und sprachliche Dichte von Longos Prosa hinterlassen unauslöschliche Leseeindrücke.
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut «Scuola Holden» unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher für Kurzfilme. Für seinen Roman «Der Steingänger» erhielt er mehrere Preise, darunter den Premio Grinzane Cavour, den Premio Via Po und den Premio Scritture Giovane. Sein Roman «Der aufrechte Mann» wurde von der Presse enthusiastisch aufgenommen.
Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Sie übersetzte u.a. Primo Levi, Ippolito Nievo und Italo Svevo. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis.
Für Sandro, für Dario,
Freunde, Lehrer
With a deep distrust and a deeper faith.
Beppe Fenoglio
Die angelehnte Tür der Hütte im Wald. Der hingestreckte Körper im durchsichtigen Licht des Nachmittags. Das Muster der Schnitte auf dem nackten Rücken. Schwarze Haare ringsum verstreut.
Ein paar unsichere Schritte, in dem Versuch, es nicht zu glauben, dann auf die Knie fallen und so verharren, die Hände nutzlos an den Seiten herabhängend, nicht aufhören hinzuschauen, wie vielleicht Hektor den Blick nicht senken konnte angesichts des Furors, mit dem Achill sein Herz zum Stillstand brachte.
Das Klingeln des Weckers erreichte Corso im Schlafsack liegend, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, damit beschäftigt, den eigenen Atem zu beobachten, der in der kalten Luft kondensierte und in die Höhe stieg, bis er sich im Dunkeln verlor.
Ein, vielleicht zwei Stunden vorher hatte ihn der Schrei eines Tiers aus dem Schlaf gerissen, und einmal wach, hatte er ihm reglos gelauscht, hatte sich etwas im Sterben oder in den Wehen Liegendes vorgestellt, bis der Schrei verstummt und nur noch das Rauschen des Windes geblieben war.
Mit einer gezielten Handbewegung stoppte Corso den Weckruf und sah auf seine Cyma, die er am Handgelenk trug. Sie zeigte ein Uhr siebenundfünfzig. Der Wind hatte sich gelegt, und von außerhalb des Zelts kam jetzt eine Stille aus minimalen Geräuschen.
Er blickte auf das Buch, das er am Abend zuvor aufgeschlagen neben der Feldflasche hatte liegen lassen, die Seiten nach unten gekehrt und ungleich verteilt wie Flügel eines Vogels, dem es bestimmt ist, im Kreis zu fliegen.
Auf den letzten Zeilen erzählte die Frau ihrem Mann, der eben von einer langen Reise zurückkam, dass ihre Tochter während seiner Abwesenheit immer brav und folgsam gewesen sei, aber fast nichts gegessen habe und jedes Mal, wenn man ihr etwas vorschlug, sich angewöhnt habe zu antworten «gar nicht daran zu denken». Der Mann hörte auf dem Sofa sitzend zu, dann zog er sich die Schuhe aus und sagte etwas, was das Problem nicht löste.
Corso massierte sich den Nacken. Zwei Tropfen Kondenswasser liefen an der Zeltwand herunter wie Insekten mit durchscheinendem Panzer. Dann holte er Hosen und Strümpfe aus dem Schlafsack, packte alles in den Rucksack und trat hinaus.
Draußen hüllte das Mondlicht alle Dinge in ein einheitliches Grau.
Er zündete den Kocher an, den er im Schutz eines Steins abgestellt hatte, und während die Flamme keuchte, ging er zum See hinunter, wo er den Topf füllte und sich das Gesicht wusch. Auf dem Wasserspiegel, der kaum größer war als ein dörflicher Tanzplatz, breiteten sich Kreise in der Farbe des Mondlichts aus, doch schon als er aufstand, um zum Zelt zurückzugehen, war die Wasseroberfläche wieder dunkel und reglos.
Er hängte einen Teebeutel in den Topf und betrachtete die Berge ringsum: Gipfel kaum über dreitausend Meter hoch, uralt, ohne jähe Erhebungen, durchzogen von Nickeladern, die das Wasser geschwärzt hatte.
Er musterte den Gipfel, dessentwegen er gekommen war. Am Abend zuvor hatte er im Licht der untergehenden Sonne eine gewisse Schönheit darin zu entdecken geglaubt, eine jener Schönheiten, die Geduld verlangen, um sie zu begreifen. Jetzt dagegen schien er ihm bloß ein Dreieck kalter Finsternis.
«Bist du wirklich böse?», fragte er ihn.
Der Berg starrte ihn schweigend an, die Silhouette spitz wie sein Name mit fünf Buchstaben. Corso nickte beifällig, bald würde man es ja sehen. Er ging ein paar Schritte zur Seite, öffnete die Hose und urinierte. Die Nacht über ihm war rein, die Wolken fern und still. Wenige Sterne leuchteten am dunkleren Teil des Himmels.
Er versteckte das Zelt, den Schlafsack und den Kocher unter einem Stein am Fuß der Felswand, dann warf er einen letzten Blick auf das Geröllfeld, das er überquert hatte, und nahm die Steigung in Angriff.
Die ersten paar Meter ging er langsam, fast nachlässig, um dem Körper Gelegenheit zu geben, zu begreifen, was ihm abverlangt wurde. Der kalte, aber nicht vereiste Fels gab den Fingern genau das, was er versprach, und so glitt sein Geist bald in den weißen Raum, dessentwegen er gekommen war: ein stilles Zimmer ohne Türen mit einem einzigen Bild darin und alle Zeit der Welt, um ihm auf den Grund zu gehen.
Er bemerkte, dass er nah beim Gipfel war, als er das Metallkreuz sah, das ein Sturm vor Jahren ausgerissen hatte. Jetzt hing es kopfüber nach unten, nur mehr von einer der Vertäuungen gehalten.
Er kletterte seitlich daran vorbei, und mit ein paar Griffen war er auf dem Gipfel.
Er holte die Thermosflasche aus dem Rucksack, goss sich Tee ein und betrachtete das Geröllfeld am Fuß des Berges: Vereinzelte Farne im blauen Mondlicht wirkten wie die Rücken von Kaltblütern, ein Tier neben dem anderen, vor Jahrhunderten zum Sterben hierhergekommen, auf den Friedhof, den der Stammesvater ausgesucht hatte. Dahinter das vollkommene Opalgrün des Sees, der Weg, der Wald und schließlich die Straße, wo neben der Brücke sein Auto stand, klein und kompakt wie ein Ziegelstein. Von dort oben betrachtet, wirkte jedes Ding still und erwartungsvoll, wie es gewesen sein musste, bevor sich das Leben entfaltete.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wo der Schweiß zu Staub erstarrt war.
Er dachte an die letzten Seiten der Romans: die Frau in der Mitte des Zimmers und der Mann, der ihr auf dem Sofa sitzend zuhört, die Füße auf einem niedrigen Glastisch. Hinter ihnen eine Skala von hellen Farbtönen; nüchtern und unauffällig, wie alle Räume des Hauses.
Er stellte sich vor, diese Treppe hinaufzusteigen und den Flur entlangzugehen bis zu einem Zimmer, wo hinter einer angelehnten Tür ein vierjähriges Mädchen im Schlaf lag, das linke Bein aus der Decke rausgestreckt.
Er malte sich aus, hineinzugehen und sich neben sie zu setzen; eine Locke ihres hellen Haars beiseitezuschieben und die Kuhle hinter dem Knie zu streicheln, wo die sehr dünne Haut das Blau der Venen durchschimmern ließ; den Kopf auf das Kissen zu legen und so liegen zu bleiben, das Gesicht wenige Zentimeter von ihrem entfernt, den leisen Hauch zwischen ihren Lippen zu spüren, bis er in seiner Brust schmerzhaft dunkel etwas würde schlagen spüren, wie ein zweites Herz.
Danach aufstehen, zum Fenster gehen und beim Anblick der Scheinwerfer des Autos vor dem Haus realisieren, dass ihm, war er erst einmal draußen, weder mehr erlaubt sein würde, das Kind zu sehen, noch, etwas von ihm zu erfahren. Nie mehr.
Corso sprang auf, den Mund zu einem Laut aufgerissen wie ein Ertrinkender. Die Dunkelheit ringsum kam ihm ungeheuerlich vor, und der Wunsch zu springen durchfuhr ihn, doch dann beruhigte ihn der Anblick der einzigen Wolke, die vom Meer herkam, einsam, langsam, unschuldig. Er hörte auf, zu zittern und den Namen des Mädchens mit den Lippen festzuhalten.
Im Osten, fern in der Ebene, leuchteten klar und deutlich die Lichter von Ortschaften, deren Namen er mit ein bisschen gutem Willen hätte hersagen können, und hinter diesen geometrischen Mustern die leuchtende Masse der großen Stadt.
Er warf einen letzten Blick darauf, dann schnallte er sich den Rucksack um und begann den Abstieg.
Wind war aufgekommen, und im Osten änderte die Nacht allmählich ihre Farbe. Ganz in der Ferne, auf der französischen Seite, stieg Hundegebell auf, wie der Anfang von etwas.
Rasch ging er die Kehren des Saumpfads hinunter, zwischen Erlengehölzen, aus denen kleine Vögel aufflogen, die dort geschützt vor der Eule die Nacht verbracht hatten. Wenige Wochen zuvor waren Kühe auf diesem Weg gegangen, und in der Luft stand der Geruch nach kaltem Mist. Von irgendwo im Dunkeln kam das gleichförmige Rauschen eines Baches.
Als er etwa noch hundert Meter vom Fluss entfernt war, erkannte er die Umrisse eines kleinen Jeeps, der neben seinem Polar parkte. An den Kühler gelehnt stand ein Mann, in Grau und Blau gekleidet, mit einer Mütze auf dem Kopf. Er sah in seine Richtung. Das Gewehr, das er über der Schulter trug, reflektierte das blasse Mondlicht mit einer Zartheit, die schläfrig machte.
Die letzten Meter legte er ohne Eile zurück.
Der Mann erwartete ihn am Brückengeländer und blickte nun in die Gischt unter dem Brückenbogen. Als Corso bei ihm war, holte er das Päckchen aus der Jackentasche und bot ihm eine Zigarette an. Auf Corsos Nein hin hob er das Gesicht zur Mondscheibe.
«Sind Sie verheiratet?», fragte er.
Sein Körper war hager, und die Haare hatten dasselbe Grau wie die Uniform. Mittleres Alter.
Corso sagte nein.
«Das haben Sie gut gemacht», sagte der Mann, wobei er zwischen den unregelmäßigen Zähnen den Rauch ausstieß. «Frauen, die diese Orte verstehen wie wir, gibt es nicht.»
Er hielt die Glut der Zigarette in der Höhlung der Hand versteckt, auch wenn sie nicht auf einer Schiffsbrücke waren und kein Lüftchen wehte.
«Von woher steigen Sie ab?»
«Vom Picca.»
«Der oberhalb vom Eisenbergwerk?»
«Gegenüber.»
Er nahm einen tieferen Zug von der Zigarette.
«Ich habe einen Bruder, er ist Pfarrer in Comiso. Wir sehen uns selten», sagte er, «aber noch jedes Mal habe ich ihn gefragt, warum er die Soutane gewählt hat. Und er antwortet mir immer, wem es nicht gegeben ist, der kann diese Freude, unserem Herrn zu dienen, nicht verstehen.» Er schnipste die Kippe weg, sodass sie in den Fluss flog. «Deshalb frage ich Sie nicht, was Sie dort oben machen.»
Corso nickte zustimmend, was zugleich eine Verabschiedung sein sollte, und ging auf seinen Wagen zu. Der Mann gelangte zu ihm, während er die Kletterschuhe aufschnürte und mit den Füßen das Gras ringsum bewegte, als ob er etwas verloren hätte, was nicht wirklich verdiente gesucht zu werden.
«Da liegt ein toter Steinbock unter dem Picca, haben Sie den gesehen?»
Corso zog die Bergsteigerhosen aus und schlüpfte in die Jeans.
«Nein.»
Der Förster schaute in Richtung Tal, wo das Licht im Zunehmen begriffen war.
«Zwei aus Savona haben ihn abgeschossen, und dann waren sie nicht imstande, ihn sich zu holen. Als ich ihnen die Gewehre abnahm, sagte der eine zu mir, ich solle ihn nicht aufregen, er wäre herzkrank.» Er spuckte aus. «Da trauert man doch den Wilderern von einst nach, die auf einen schossen.»
Corso schloss seine Sandalen.
«Guten Tag», sagte er.
Während er von dem kleinen Platz wegfuhr, sah er, wie der Mann sich noch eine Zigarette anzündete. Er behielt ihn im Rückspiegel im Auge, bis das Rot der Glut vom Dunkel verschluckt wurde, das der Tag noch nicht besiegen konnte, dann öffnete er das Fenster und streckte den Ellbogen hinaus.
Den Steinbock hatte er am Abend zuvor gesehen, als die untergehende Sonne das Schneefeld, auf dem das Tier lag, gelb einfärbte. Vor dem Zelt sitzend, hatte er ihn lang beobachtet, aber die ganze Zeit über war der Steinbock reglos dagelegen, den Kopf talwärts, mittlerweile aus demselben Stoff wie die Steine und Knochen, auf die er wenige Tage zuvor noch getreten war. Ein junger Bock oder ein Weibchen, hatte er gedacht.
Er schaltete das Autoradio ein, und ein paar Kilometer lang hörte er ein altes Lied von Françoise Hardy. Die Worte taten ihm nicht gut, die Melodie tat ihm nicht gut und auch das Gesicht der Hardy nicht, das er nicht aus dem Kopf bekam. Trotzdem hörte er es ganz an.
Als die Straße in eine Ansammlung niedriger Häuser eintauchte, schaltete er das Radio aus, verlangsamte und hielt schließlich vor dem letzten Gebäude, an dem das gelbe Schild prangte, das ein öffentliches Telefon anzeigte.
Seitdem dieses Schild angebracht worden war, hatte die Telefongesellschaft zweimal den Namen gewechselt. In den Fenstern war kein Licht, und wäre da nicht aus dem Inneren ein arabischer Singsang gekommen, hätte man gesagt, das Haus sei seit Jahren verlassen.
Er stieg aus dem Wagen, nahm einen Kieselstein und warf ihn an eins der Fenster, dann drehte er sich um und wartete. Das gegenüberliegende Haus war in städtischer Manier hergerichtet: unter dem Balkon zwei zum Auslaufen umgedrehte Fässer, ein Rennmotorrad und eine Hundehütte, aus der eine Eisenkette herauskam, die ausgereicht hätte, einen Dampfer festzumachen.
«Komm herein», erklang eine trockene Stimme.
Corso stieg die drei Stufen hinauf und befand sich in einem Raum mit einer Theke und sechs Tischen, an den Wänden die Köpfe von Wildschweinen, Steinböcken, Gämsen und kleineren Tieren, die der Ausstopfer in gerissenen oder stolzen Posen festgehalten hatte. Am Fußboden Fliesen mit einem kleinen Blumenmuster, und hinter einer Falttür erahnte man einen Fernseher und eine alte Getreidedreschmaschine.
Corso setzte sich auf einen der Hocker an der Theke.
Der magere, große Mann stellte eine Tasse unter den Schnabel der Espressomaschine. Er schien aus einem Krankenhaus entwichen, dank einer versehentlich offen gelassenen Tür, ohne Zeit gehabt zu haben, sich die weißen Haare zu kämmen oder den Schlafanzug auszuziehen.
«Weißt du, wer es auch so gemacht hat wie du?», fragte er.
Corso suchte nach der arabischen Musik, die er von draußen gehört hatte, aber in dem Lokal herrschte Stille.
«Nino Oggero», antwortete der Alte sich selbst. «Ein verrückter Kerl, der allein loszog, ohne was zu sagen, bis er eines Tages nicht mehr wiederkam. Wir haben eine Woche gebraucht, um ihn zu finden. Er war vom Traverso gefallen und hatte sich die Wirbelsäule gebrochen. Der Mutter haben wir es nicht gesagt, aber er hatte keine Fingernägel mehr, so sehr hatte er gekratzt, um hochzukommen.»
Er stellte den Espresso auf die Theke.
«Er war so festgefroren», er schlug mit den Fingerknöcheln auf die Holzplatte, «dass wir ihn nicht einmal mit der Schaufel loseisen konnten. Wir mussten ein Feuer machen und sehen, ob wir ihn nach einer Weile losbekämen, aber die, die nachts beim Feuer Wache hielten, haben geschlafen, und am Morgen waren die Haare von Nino Oggero dahin. Seit die Mutter ihn mit diesem verkohlten Schädel im Sarg sah, läuft sie nur noch in die Kirche.»
Corso trank einen Schluck Kaffee.
«Waren beim letzten Mal nicht die Füße verbrannt?»
Der Alte musterte ihn missmutig, dann sah er auf den Hund, der unter einem der Tische lag. Draußen vor den Fenstern war der Himmel nun weitgehend hell.
«Was guckst du denn so?»
Schuldbewusst schlug der Hund die Augen nieder.
«Wenn ich ihn draußen lasse, klagt er, weil er Rheuma hat», der Alte schüttelte den Kopf. «Wenn ich ihn drinnen lasse, klagt er, weil er seiner Natur nach draußen sein will. Genau betrachtet müsste ich ihn mit einer Schaufel in den Wald bringen, und noch genauer betrachtet müsste jemand dasselbe mit mir machen. Willst du was essen?»
«Was hast du?»
«Wildschwein ist übrig.»
Corso ging auf die Toilette, zog den Pullover und das kurzärmelige Hemd aus und wusch sich mit dem Stück Seife, das am Waschbecken lag. Er kratzte das getrocknete Blut von der Wunde, die er sich unten am Daumen zugezogen hatte, und wickelte sein Taschentuch herum.
Als er wieder in den Schankraum kam, trug er ein sauberes T-Shirt.
«Bei der Brücke war ein neuer Förster», sagte er, während er sich wieder auf den Hocker setzte.
Aus der Küche hörte man das Brutzeln von Öl. Nach einer Weile schob der Alte mit dem Ellbogen den Vorhang beiseite und stellte einen Teller auf die Theke, auf dem Fleisch in einer quecksilberfarbigen Soße schwamm. Er stellte einen Brotkorb neben den Teller.
«Er sagt, er hat zwei Wilderer aus Savona auf frischer Tat ertappt.»
«Na klar!», nickte der Alte.
Corso brockte Brot auf den Teller.
«Ist es nicht so?»
«Die zwei wissen nicht einmal, wie rum man ein Gewehr hält.»
Corso nahm eins der Gläser, die auf der Spüle zum Abtropfen standen. Der Alte füllte es einen Finger hoch mit Tamarindensaft und verdünnte ihn mit Wasser. Jetzt hatte das Getränk dieselbe granatrote Farbe wie die Trikots der Spieler auf dem Foto, das an der verspiegelten Schankwand lehnte.
«Weißt du, warum man ihn hierher versetzt hat?»
Corso schüttelte den Kopf.
«Sein Schwager war in der Wiederaufforstung tätig, und er hat ihm Arbeit verschafft. Da man ihn nicht auf frischer Tat ertappt hat, hat man ihn zu uns geschickt.»
Corso nahm eine Gewürznelke aus dem Mund und legte sie an den Tellerrand. Gewürznelken hatte er noch nie gemocht.
«Was hat das mit den beiden aus Savona zu tun?»
«Nur um dir zu sagen, was für ein Typ das ist», schnaubte Cesare. «Sicher hat er den Steinbock geschossen, dann hat er bemerkt, dass er ihn nicht holen konnte, da hat er die zwei gefunden, die im Wald Lämmchen und Wolf spielten, und hat sie angezeigt, so ist dabei auch noch etwas für ihn herausgesprungen.»
«Was soll das heißen, sie spielten …», setzte Corso an, aber da sah er Cesares unverschämtes Grinsen und verstand. Obwohl ihm jedes seiner Jahre einzeln ins Gesicht geschrieben stand, leuchtete aus seinen Augen eine jugendliche Frechheit.
Er leerte den Teller.
«Bevor du gehst, will ich dir etwas zeigen», sagte Cesare, als er bemerkte, dass Corso im Begriff war aufzustehen.
Sie gingen durch die Hintertür unter ein Vordach, wo der Alte ein paar Gasflaschen und eine alte Kühltruhe stehen hatte. Der Hund folgte ihnen, wobei er traurig an Corsos Fußknöcheln schnupperte. Das Licht hatte den Dingen Form verliehen, aber noch keine Farben.
Der Alte öffnete die Kühltruhe und holte ein in Nylon gewickeltes und mit Kordel verschnürtes Teil heraus. Bevor er es zum Auspacken auf den Boden legte, herrschte er den Hund an, er solle weggehen.
«Schöne Arbeit, hm?», sagte er.
«Ist das ein Schaf?»
«Dick und fett dazu.»
Wären da nicht ein paar Fleischfetzen gewesen, hätte man es für eine Decke halten können, die etliche Tage lang auf einer stark befahrenen Straße gelegen hat.
«Ich hätte nicht geglaubt, dass es Hunde gibt, die imstande sind, so etwas anzurichten.»
«Es gibt sie auch nicht.»
Corso sah den Alten an.
«Es ist ein Paar und ein Junges», erklärte der. «Manche sagen, sie kommen vom Apennin, aber ich bezweifle das. Vor ein paar Jahren hat man sie im Mercantour ausgesetzt, und meiner Meinung nach sind sie über die Grenze gekommen.
Corso betrachtete das zerfleischte Tier.
«Hat noch niemand auf sie geschossen?»
«Das darf man nicht. Wir müssen die Kadaver aufheben, und sie werden sehen, ob sie uns eine Entschädigung geben.»
Sie wickelten den Kadaver wieder ein und legten ihn zurück in die Kühltruhe. Aus der Ecke, wo er sich niedergelassen hatte, folgte der Hund ihnen mit Blicken, während sie zur Theke zurückkehrten. Ein Auge war trüb, aber das andere schien dessen Licht übernommen zu haben.
«Ich geh jetzt», sagte Corso.
Der Alte holte eine Stofftüte unter der Theke hervor.
«Soll ich dir noch mehr mitbringen?», fragte Corso.
«Ja, aber bring mir welche, die nicht so lang sind und in denen es warm ist; du bringst immer lange Bücher, in denen es kalt ist.»
«Was schulde ich dir fürs Essen?»
«Mit den Büchern sind wir quitt.»
«Geschenkt sind die aber nicht.»
«Mach mich nicht wütend.»
Kaum war er draußen, hörte er, wie Cesare hinter ihm den Riegel vorschob. Er machte ein paar Schritte in Richtung auf das Auto, dann kehrte er noch einmal um. Die Tür ging sofort auf.
«Als ich ankam, habe ich arabische Musik gehört.»
Cesare wollte die Hände in die Taschen stecken, aber der Pyjama hatte keine.
«Ich habe mir eine Parabolantenne zugelegt.»
«Um arabisches Fernsehen zu schauen?»
«Ich sehe es gern, wenn Frauen angezogen tanzen. Das erinnert mich an frühere Zeiten.»
«Ist das alles?»
«Einen anderen Grund gibt es nicht. Und jetzt geh, du hast mir schon genug von meiner Zeit gestohlen.»
Als Jean-Claude Monticelli das Tier mit mächtigem Lärm durchs Gebüsch brechen sah, kalkulierte er rasch, wie viel Weg es vor sich hatte, bis es im Wald verschwinden würde, und ergötzte sich an seinem wilden Lauf.
Seit über zwei Stunden erwartete er ihn hier: Es war ein Eber, der Rücken reichte einem Kind bis an die Schulter, die Beine waren leicht angewinkelt, um die Vorwärtsbewegung zu begünstigen. Ein Block kalter Lava, durch eine Explosion horizontal vorwärtsgeschleudert.
Dann hörte er Hundegebell näher kommen und schoss.
Was das Tier spürte, war vermutlich eine ungewohnte Wärme an der Schulter, nichts, was es von seiner Bahn oder seinem Vorhaben abbringen konnte.
Jean-Claude Monticelli schoss noch einmal, und diesmal kam ein Schwall schwarzer Flüssigkeit aus dem Hals des Wildschweins, das nachgab, noch ein paar Meter weiterlief und dann auf seinen Beinen stehen blieb, die lächerlich zu tänzeln begannen. Sobald das Tier aber die Hunde aus dem Unterholz hervorkommen sah, fing es sich wieder und senkte den Kopf, um die Stoßzähne in die richtige Position zu bringen.
Als die vier Treiber das verletzte Tier sahen, riefen sie die Meute zurück, die gehorchte, mit Ausnahme von zwei jungen Hunden, die vom Geruch des Bluts erregt waren.
Da feuerte Jean-Claude rasch hintereinander zwei Schüsse ab. Der eine traf den Beagle Harrier im Sprung, er überschlug sich zweimal in der Luft, bevor es ihn fast entzweigerissen auf den Boden warf. Der andere traf den schieferfarbenen Spürhund am Kopf, der auf unspektakulärere Weise zu Boden sank.
Der Eber starrte sie an, dann brach er zusammen, mit einem dumpfen Schlag, wie wenn eine Matratze vom ersten Stock hinuntergeworfen wird.
Monticelli ging näher hin. Er war nicht größer als andere Wildschweine, die er erlegt hatte, aber auch jetzt, da das Leben aus ihm wich, war seine Haut vor Kraft gespannt und glänzend. Der Schweiß hatte im Fell Salzspuren hinterlassen. Der Penis war erigiert.
Er beugte sich vor und berührte die Wunde am Hals, aus der warm das Blut austrat, schwach gepumpt von den letzten Schlägen des Herzens.
In etwa zehn Metern Entfernung standen die Treiber im Kreis, hatten ihre Hunde an die Leine genommen und redeten miteinander. Einer von ihnen trug einen Bastard auf den Schultern: Am frühen Morgen hatte der Hauer des Wildschweins ihm die Rippen durchbohrt und ihm ein schnelles, sauberes Ende beschert. Die beiden, die Jean-Claude erschossen hatte, würden schwerlich so viel Aufmerksamkeit bekommen.
Er erhob sich und machte dem Anführer Zeichen, er solle näher kommen. Mit dem Gewehrlauf fuhr er am Hals des Wildschweins entlang, um zu verdeutlichen, dass er den Kopf als Trophäe wollte.
«Und fünfhundert Euro für die zwei Hunde», sagte er.
Als der Mann den anderen, die nun rauchten, das auf Rumänisch wiedergab, senkten sie die Köpfe zum Zeichen des Dankes.
Corso bog in den Fuhrweg ein, und nach ein paar Kurven erschien das Haus, das am Hang klebte wie das Schulterstück an der Schulter eines Soldaten. Ein Bauernhof wie viele: L-förmiger Grundriss, nach Süden ausgerichtet, die Wohnräume im kurzen Trakt, Stall und Heuschober im langen, spiegelbildlich gegenüberliegend ein Schuppen.
Er brachte den Wagen unter dem Vordach zum Stehen, wo einst die landwirtschaftlichen Werkzeuge und Fässer untergebracht waren, und ging auf das Gebäude zu. Der Gesamteindruck war der von einem Ort, wo das Leben Zwischenstopp gemacht hatte, um sich dann anderswohin zu wenden. Corso lebte seit fünfzehn Jahren hier. Als er herzog, hatte er sich darauf beschränkt, das Dach richten zu lassen, ein paar Zimmer auszumalen und die unbenutzten Gebäudeteile zu verrammeln, damit keine Tiere hineinkamen. Alles Übrige war so, wie die Mutter es ein Vierteljahrhundert vorher zurückgelassen hatte: Feuchtigkeitsflecken an der cremefarbenen Fassade, schiefe Regenrinnen und das langsame Vorrücken der Gräser zwischen den Ziegelsteinen.
Als er den Hof überquerte, bemerkte er die Spuren, die das Motorrad des Briefträgers im Staub hinterlassen hatte. Es war ein ungewöhnliches Frühjahr, trocken, beständig und schläfrig wie ein Sommer. Nur die Rebstöcke schienen dankbar für diese Wärme.
Er ging am Briefkasten vorbei und nahm jeweils zwei Treppenstufen auf einmal. Der frische Geruch von Salpetersäure umfing ihn. Er stellte den Rucksack und die Tüte mit den Büchern neben dem einzigen Sessel ab, ging an den Spülstein, trank ein Glas Wasser und trat ins Schlafzimmer.
Aus dem alten Schrank holte er eine Ledertasche hervor, zog ein Etui heraus, einige Plastikhüllen und ein Paar Latexhandschuhe, die er anzog, während er erneut die Küche durchquerte.
Das Geräusch des Schlüssels im Schloss des Briefkastens hallte im Hof und darüber hinaus wider. Er betrachtete die rote Briefmarke und den Umschlag mit der maschinegetippten Anschrift, dann nahm er den Brief an sich und ging wieder hinein.
Am Tisch sitzend öffnete er den Umschlag mit dem Briefmesser, das er dem Etui entnommen hatte, und las die zwei Zeilen in der Mitte des Blattes. Sie waren mit Füllfeder geschrieben, in einer großzügigen, aber nüchternen Handschrift. Er steckte das Blatt wieder in den Umschlag und verschloss ihn in einer der Plastikhüllen, die er bereitgelegt hatte.
Während er sie beiseiteschob, hörte er das Gebell der Bracke, die die Besitzer der Gärten auf dem Hügel dort als Wachhund hielten.
Durch das Fenster, das nach hinten hinausging, sah er den Onkel und Elio durch die Überreste des Weinbergs herunterkommen, wie zwei gealterte Partisanen mit den Kleidern am Leib, in denen sie von zu Hause fortgegangen waren. Der Onkel trug Gummigamaschen und einen grauen Schlosseranzug, während Elio in Jagdjoppe und khakifarbenen Hosen wie ein mit Fallschirm abgesprungener Engländer wirkte. In dem staubigen Grau der Vegetation war sein dichtes Haar von blendendem Weiß.
Als Corso aus dem Haus trat, waren die zwei schon im Hof.
«Es ist ein Verbrechen, dass du einen Weinberg wie den hier verkommen lässt», sagte Elio.
Corso warf einen kurzen Blick auf den Hügel, wo die Pfähle inmitten des Gestrüpps kaum zu erkennen waren. Dann drückte er die Hand, die Elio ihm reichte. Der Onkel und er begrüßten sich mit einem Kopfnicken.
«Wie geht’s deinem Sohn?»
Elio sagte, abgesehen von den Minen sei die Situation ruhig, dann setzte er ein Lächeln auf, das nichts mit dem zu tun hatte, was er gesagt hatte, und blickte wieder zum Weinberg.
Er war etwa zehn Jahre älter als Corso und zehn Jahre jünger als der Onkel, verwitwet und Eigentümer einer Weinkellerei. Außer der Weinkellerei blieben ihm noch ein Sohn, der als Soldat in Afghanistan war, und eine Tochter, die in Luxemburg verheiratet war und an Ostern und zur Weinlese nach Hause kam.
Nach dem Tod seiner Frau vor acht Jahren hatte er unter einer Form von Schwermut gelitten, die ihm die Lust am Essen und an der Arbeit geraubt hatte. Da hatte die Tochter ihn mitgenommen und von einem vietnamesischen Akupunkteur behandeln lassen. Ein Außenstehender hätte jetzt von ihm sagen können, dass er ein Mann im Frieden mit sich selbst sei, zielbewusst, mit viel Haaren für sein Alter.
«Elio ist in einer Angelegenheit gekommen», sagte der Onkel.
Elio sah weiterhin zum Weinberg.
«Vielleicht setzen wir uns besser einen Augenblick.»
Als sie drinnen waren, füllte Corso die Espressokanne und stellte sie auf die Flamme. Elio und der Onkel nahmen am Tisch Platz. Abgesehen von dem Kühlschrank, dem Herd, dem Ofen, dem Sessel und der Spüle gab es keine größeren Gegenstände in dem Raum und auch nichts Kleineres wie einen Aschenbecher oder Wandschmuck. Die Fenster hatten keine Gardinen. Die Fliesen am Boden waren schadhaft.
«Es gibt viele in meinem Alter», begann Elio, «auch Ältere, die einmal in der Woche in den Nachtclub gehen oder ins Bordell. Sie kommen ohne eine Lira wieder heim, aber zufrieden, und sie tun gut daran. Ich dagegen, wenn ich morgens um sechs nicht im Weinberg bin und am Abend um sechs nicht im Keller, scheint mir das ein vertaner Tag. So bin ich nun mal, jeder nach seiner Art.»
Er sah Corso an, dann blickte er auf seine Finger, die ihm auf dem gemusterten Wachstuch halfen, seine Rede zusammenzusetzen.
«Mit der Zeit aber», hob er wieder an, «stellt man fest, dass man die Befriedigung teilen muss, sonst wird sie zu Essig. Daher habe ich mir gesagt, wenn unser Herr nicht gewollt hat, dass Caterina unser Glück bis zur Neige teilt, so kann ich es vielleicht mit jemand anderem teilen.»
Brodelnd kam langsam der Kaffee hoch. Corso nahm die Espressokanne vom Feuer, goss den Kaffee in die Tassen und stellte den Zucker auf den Tisch. Die beiden Männer nahmen jeder einen Löffel voll.
«Wer ist sie?»
Elio sah den Onkel an, dann Corso.
«Die Rumänin aus der Bar.»
Corso nahm die Tasse hoch und trank.
«Sie trägt einen Ehering», sagte er, indem er die Tasse mit der Hand umschloss wie einen kleinen Vogel, den man noch behüten muss.
Elio nickte: «Der Mann ist mit dem Geld verschwunden, das sie für den Hausbau in die Heimat schickte. Keiner weiß, was aus ihm geworden ist, aber man kann davon ausgehen, dass er sich nicht mehr melden wird. Das hat die Frau eines meiner Arbeiter gesagt, die aus demselben Ort stammt. Die Kinder sind vorerst bei der Großmutter, aber sie möchte sie nach Italien holen.»
«Hast du schon einmal mit ihr gesprochen?»
Elio zuckte mit den Achseln.
«Ein paar Worte, als sie zur Lese kam. Sie machte mir den Eindruck von einer, die keine Flausen im Kopf hat. Ich weiß, dass sie, wenn sie mit der Bar fertig ist, auch die Turnhalle in der Schule putzt. Ich für mein Teil bin bereit, sie zu mir zu nehmen und ihre Kinder zur Schule zu schicken, solange sie wollen. Sie kann in der Kellerei arbeiten oder in der Bar, ganz wie sie will, und wenn die Papiere in Ordnung sind, bin ich dafür, die Sache zu legalisieren. Die Kellerei vermache ich Cristina und Davide, aber es soll ihnen an nichts fehlen.»
Corso trug seine Tasse zum Spülbecken und wandte sich zum Fenster. Jenseits der Landstraße waren keine Weinberge, sondern Felder und ein paar Bäume zur Markierung der Grenzen. Auf der anderen Seite des Hofes standen in einer Ecke des Schuppens die zwei Traktoren nebeneinander, die keiner gewollt hatte, wie Mutter und Kind, die sich nicht ähneln.
«Es ist nicht mehr üblich, einen Heiratsvermittler zu schicken», sagte er. «Es ist besser, wenn du selbst mit ihr redest.»
Lange Zeit herrschte in dem Raum eine Stille, wie drei Männer sie verbreiten können, die sich viel zu sagen hätten, aber keine ihnen gemäße Art finden, das zu tun. Endlich schob Elio den Stuhl zurück.
«Wenn es ein Bad gibt, würde ich es gern kurz benutzen.»
Corso wandte sich um und zeigte auf die Tür, dann schaute er wieder hinaus. Drei Kinder radelten mit ihren Mountainbikes auf der Straße um die Wette. Als er durch die Wand das Wasserrauschen im Waschbecken hörte, verlagerte der Onkel sein Gewicht, und der Stuhl knarrte.
«Als wir deinen Vater in Mango abholen gingen», sagte er, «haben die Roten nur noch auf den Befehl vom Kommando gewartet, ihn an die Wand zu stellen. Wir waren zu fünft: der alte Graglia, die beiden Oggeros, Elios älterer Bruder und ich. Es gab nicht viele, die drei Tage nach Kriegsende Lust hatten, ihre Haut zu riskieren, für einen, der eine Woche vorher noch auf sie geschossen hat, aber Elios Bruder ist als Erster hinter Breda auf den Karren gestiegen. Er wusste, dass die Roten, wenn die Dinge schlecht liefen, die erste Salve auf den abfeuern würden, der hinter Breda stand, aber er hat sich trotzdem hinter ihn gestellt.» Er machte eine Pause, um die Toscano in den anderen Mundwinkel zu schieben. «Das wäre gut für sie. Das liegt bei denen in der Familie, die richtigen Dinge zu tun.»
Die Badtür öffnete sich, und Elios Schritte durchquerten den Raum. Corso hörte, wie er sich wieder setzte. Das letzte der drei Kinder war hingefallen und schaute den anderen beiden nach, die davonfuhren, ohne sich umzusehen.
«Ich weiß, dass das nicht üblich ist», sagte Elio, «aber ich bin mir sicher, wenn du mit ihr redest, können wir die Dinge regeln.»
Corso schaute weiterhin auf die Straße, wo der kleine Junge wieder aufs Rad gestiegen war und nun nur mit dem rechten Bein wie wild auf das Dorf zu strampelte.
Bei seinem letzten Besuch war der Bahnhof von großen weißen Planen verhüllt gewesen und der Weg zum Ausgang ein Labyrinth aus Hinweistafeln. Jetzt, da die Hüllen gefallen waren, glich Porta Nuova allen anderen großstädtischen Bahnhöfen: Rigipswände, künstliche Beleuchtung, Buchhandlung, Bar, Modegeschäfte, Sushi-Bar, ein Supermarkt und große Marken wie überall. Von der kahlen, würdevollen savoyischen Schalterhalle, in der wie immer der schläfrige Verkehr vom Corso Vittorio widerhallte, war nichts geblieben als die sehr hohe Decke über großen Glasflächen, die viel Licht einfallen ließen.
Er nahm eine Straßenbahn und stieg auf der schattigen Seite eines von der Sonne beschienenen runden Platzes aus.
Die Hände in den Taschen, die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, betrachtete er das Denkmal, die Oberleitungen und die Bänke, wo er als Student, Ehemann und später als Vater gesessen war.
Er hatte diese Stadt geliebt, vom ersten Tag an, als er seinen Fuß in sie setzte, bis zu jener Nacht, da er eben auf einer dieser Bänke sitzend auf den praktischsten Weg sann, sich aus der Welt zu schaffen. Zwischen diesem Tag und jener Nacht lag fast sein ganzes Leben, oder zumindest der Teil davon, der zählte.
Er überquerte die Straße, bog in die Stichstraße ein, die auf einen Ziegelbau zulief, und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock bis zu der Eingangshalle, die aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte und von großen Schaukästen mit Erlässen und Verlautbarungen verschandelt wurde. In dem Pförtnerhäuschen aus Plexiglas saß ein junger Mann in Uniform, der wie ein prähistorischer Vogel wirkte. Er hob die Augen vom Bildschirm.
«Ja bitte?»
Corso setzte an, etwas zu sagen, doch ein Husten lenkte den Blick von beiden zu einer Tür, wo ein untersetzter Mann mit dunklem Teint im Türrahmen lehnte und sie ansah.
«Ist es wieder so weit?»
Corso nickte. Der Mann hustete noch einmal und bedeutete ihm zu folgen.
Sie gingen durch den Korridor, der Mann um seinen niedrig gelegenen Schwerpunkt pendelnd, stämmige kurze Beine, ungraziös wie bestimmte für grobe Arbeiten gebaute Maschinen; Corso zwei Schritte hinter ihm: groß, sehnige Beine, die Schultern breit, um die leicht gebeugte Rückenmuskulatur zu halten.
Während sie vorbeigingen, hob der eine oder andere von der alten Garde den Blick von den Akten und beobachtete sie, wie sie hinter den Glaswänden der Büros vorübergingen. Oder er tippte den Jüngeren auf die Schulter, um zu sagen, sieh an, wer da ist, aber stets schweigend, wie wenn ein Menschenzug vorbeigeht, an dessen Anfang oder dessen Ende ein Unglück steht.