Die jungen Bestien - Davide Longo - E-Book

Die jungen Bestien E-Book

Davide Longo

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Beschreibung

Ein neuer Kriminalfall aus Piemont, in dem der schweigsame Bergkauz und heimliche Menschenkenner Corso Bramard ermittelt: Bei dem Bau einer Bahnschnellstrecke zwischen Mailand und Turin werden die Überreste von zwölf Leichen gefunden, und eine Spur führt in die Zeit des italienischen Terrorismus, der Brigate Rosse. Im Turiner Herbst 1977 hatten ein paar Jugendliche den Parteisitz der rechten MSI in Brand gesetzt. Dabei war ein Mann ums Leben gekommen, der sich nachts in den Räumen aufhielt. Wussten die Jugendlichen, dass ein Mensch im Gebäude war? War alles nur ein Spiel der jungen Leute, in jenen aufgeheizten Zeiten, oder wollten sie wirklich einen Mord begehen? Niemand kennt die Antwort, die Jugendlichen sind seitdem spurlos verschwunden. Fast vierzig Jahre später suchen zwei Kommissare und ihr ehemaliger Kollege Corso Bramard nach einer Verbindung zu jenem Fall. Die Drei geraten in einen schier unbezwingbaren Strudel aus italienischer omertà und Lüge. Und doch nähern sie sich beharrlich einer Wahrheit, die von der Politik unter den Teppich gekehrt wurde.

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Davide Longo

Die jungen Bestien

Roman

 

 

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

 

Über dieses Buch

Ein neuer Kriminalfall aus Piemont, in dem der schweigsame Bergkauz und heimliche Menschenkenner Corso Bramard ermittelt: Bei dem Bau einer Bahnschnellstrecke zwischen Mailand und Turin werden die Überreste von zwölf Leichen gefunden, und eine Spur führt in die Zeit des italienischen Terrorismus, der Brigate Rosse.

Im Turiner Herbst 1977 hatten ein paar Jugendliche den Parteisitz der rechten MSI in Brand gesetzt. Dabei war ein Mann ums Leben gekommen, der sich nachts in den Räumen aufhielt. Wussten die Jugendlichen, dass ein Mensch im Gebäude war? War alles nur ein Spiel der jungen Leute in jenen aufgeheizten Zeiten, oder wollten sie wirklich einen Mord begehen? Niemand kennt die Antwort, die Jugendlichen sind seitdem spurlos verschwunden.

Fast vierzig Jahre später suchen zwei Kommissare und ihr ehemaliger Kollege Corso Bramard nach einer Verbindung zu jenem Fall. Die drei geraten in einen schier unbezwingbaren Strudel aus italienischer omertà und Lüge. Und doch nähern sie sich beharrlich einer Wahrheit, die von der Politik unter den Teppich gekehrt wurde.

Vita

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour für das beste Debüt und dem Premio Via Po. Sein Roman «Der aufrechte Mann» wurde von der Presse enthusiastisch aufgenommen, «Der Steingänger» sogar verfilmt. «Der Fall Bramard» begründet eine Krimireihe aus dem Piemont, die mit «Die jungen Bestien» fortgesetzt wird.

 

Barbara Kleiner, geboren 1952. Übersetzerin u. a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo und Paolo Giordano; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch–Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Così giocane le bestie giovani» bei Feltrinelli Editore, Mailand.

 

Die Übersetzung wurde durch ein Reisestipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2018 by Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung Katarzyna Zommer/plainpicture, Simona Abbondio/Alamy Stock Photo, Stefanie Naumann

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00038-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Family Stramb

«Nun gut, jetzt besitzt ihr die Stadt. Ja, ich will noch weiter gehen. Ich kann mir vorstellen, dass ihr ganz Italien besitzt, diese Stadt wie das gesamte Italien. Nun gut: Was werdet ihr aus Italien machen?»

«Eine ziemlich kleine, aber vollkommen ernste Sache», sagte Johnny.

Beppe Fenoglio

Erster Teil

Erster Prolog

Fünf junge Leute gehen in einem Viertel am Stadtrand auf dem Bürgersteig.

Es ist zwei Uhr nachts. Sie tragen eine schwarze Lederjacke, einen Trenchcoat aus beigem Cordsamt, einen zu kurzen grauen Mantel, einen Parka mit Pelzbesatz und einen Wollpullover in dunklen Farben. Einer von ihnen, der im Mantel, hat eine Tasche über die Schulter geworfen. Auf der amarantroten Tasche sind in Weiß zwei Zahlen aufgedruckt. Die Person, die neben ihm geht, ist die einzige Frau. Sie ist die mit dem Pullover und bewegt sich am wendigsten.

Sie biegen in eine schmale und spärlich beleuchtete Straße ein. Die Fenster der Wohnblocks und Häuser ringsum sind dunkel, die Rollläden der Geschäfte heruntergelassen, das einzige Geräusch das der Tram, die den Corso Giulio hinauffährt.

«Vielleicht sollten wir noch einmal darüber nachdenken», sagt der junge Mann im Mantel. Das Mädchen nimmt ihn bei der Hand. Keiner verlangsamt den Schritt, keiner hebt den Blick vom Boden.

Zwischen den Fassaden taucht ein niedriges Gebäude auf, ein verwahrlostes altes Haus. Erdgeschoss und erster Stock, drei vergitterte Fenster und eine kleine Tür gehen auf die Straße. Ein nahezu unleserliches ovales Schild über der Tür. Innen kein Licht, keine Bewegung.

«Die Tasche», sagt der in der Lederjacke.

Der junge Mann im Mantel gibt sie ihm. Der Reißverschluss geht mit einem trockenen Ton auf.

«Edo und Luciano, ihr kümmert euch um die Fenster. Nini und ich werfen sie hinein. Du, Stefano, geh an die Ecke und behalt die Straße im Auge.»

Stefano hängt sich die nunmehr leere Tasche wieder über die Schulter. Das Mädchen und die anderen warten darauf, dass Stefano tut, was ihm gesagt wurde. Hinkend geht er davon, als er die Ecke erreicht, blickt er auf die Lichter am Ende der Straße. Nach ein paar Sekunden dringt der Lärm eingeworfener Fensterscheiben zu ihm, es folgen eine dumpfe Explosion und eine weitere, erstickte.

Er dreht sich um: Die vier kommen auf ihn zugelaufen, während sich hinter ihnen ein erster gelber Widerschein auf dem Asphalt abzeichnet. Da läuft auch er los.

Nach ein paar Metern holen sie ihn ein. Ihre vereinten Schritte entlocken dem Straßenbelag ein grandioses Geräusch.

Sie fühlen sich bereit, im Recht, eindeutig.

So spielen junge Bestien, bevor sie entdecken, dass ihre Krallen nicht zum Spielen gemacht sind.

Kapitel 1

«Hier können Sie nicht durch.»

Arcadipane nimmt die Zigarette aus dem Mund und betrachtet die massige Gestalt in der gelben Regenkleidung, die ihm den Weg versperrt. Zwei Handbreit größer als er, obwohl seine Stiefel im Morast versinken.

«Warum nicht?»

Der Mann denkt nach. Ein langwieriger Gedanke, der Arcadipane Zeit lässt, die durch einen alten Bruch nach rechts verschobene Nase wahrzunehmen, die slawischen Backenknochen und den nicht ganz unangenehmen Mundgeruch nach Anis und Tabak. Das Ganze dreißig, fünfunddreißig Jahre alt.

«Sie haben gesagt, ich soll niemand durchlassen», wiederholt der andere unter seiner Kapuze hervor mit erhobener Stimme, um das Prasseln des Regens zu übertönen.

Arcadipane führt die Zigarette wieder zum Mund, aber der Filter ist schon mit Wasser vollgesogen. Er wirft sie weg und sieht zu, wie sie im Schlamm versinkt, von den Regentropfen mit einer Präzision getroffen, wie wenn ein Hammer auf einen breitköpfigen Nagel schlägt.

«Wer sie?»

Das Stammhirn des Mannes nimmt die vorherrschende Schwingung in der Frage wahr und gibt die Information ans Großhirn weiter, das diesen zwei Handbreit kleineren Typen, untersetzt und ohne Regenschirm, den er zwei Minuten zuvor aus einem gepflegten Alfa Quadrifoglio hat aussteigen sehen, als physisch und hierarchisch ungefährlich einstuft.

«Der mit dem Regenmantel, der Commissario», sagt er und weist irgendwohin. «Er hat gesagt, ich soll keinen durchlassen.»

Durch den Regenschleier zählt Arcadipane vier Gestalten, die unbeweglich mit dem Rücken zu ihm stehen und etwas am Boden fixieren. Unweit davon ein Bagger, ein Lastwagen und ein Kran. Die Berge und der Himmel im Hintergrund scheinen aus ein und derselben melancholischen, trägen, erstickenden, nostalgischen und ersterbenden Materie gemacht. Verdammt noch mal, denkt er. Ist es wieder so weit.

Er kramt in der Jackentasche, bis seine Finger auf deren filzigem Grund ein Lakritzbonbon ertasten. Er führt es zum Mund und beginnt es zu kauen. Nach und nach löst sich der Knoten, der ihm die Kehle zuschnürte. In den Vordergrund treten wieder die Kälte, die Säure des Kaffees, den er vor einer halben Stunde an einer Raststätte getrunken hat, und der Grund, weshalb er hier ist.

«Was baut ihr hier?», fragt er.

«Wir bauen nichts.»

«Was macht ihr dann?»

«Wir verlegen Kabel.»

«Was für Kabel?»

Der Mann versenkt die Hände in den Taschen und schweigt. Arcadipane bemerkt die Rochade. Widerwillig fährt er mit der Linken in die Lammlederjacke, die ihm die Schwiegereltern geschenkt haben, und holt den Ausweis hervor. Der Mann betrachtet das Dokument, dann Arcadipane, dann wieder den Ausweis.

Er breitet die Arme aus, wie um zu sagen: «Wie sollte ich das wissen!»

Arcadipane weiß, dass er in Wirklichkeit denkt: Warum, verdammt noch mal, hast du das nicht gleich gesagt? Aber dreihundertsechsundsechzig Lokaltermine wie dieser hier haben ihn gelehrt, dass die Leute, auch wenn sie nichts zu verbergen haben, einem Polizisten nie das sagen, was ihnen als Erstes in den Sinn kommt. Und auch nicht das, was ihnen als Zweites einfällt. Man soll sich da keine Illusionen machen: Der Müllsack geht nicht von allein zur Tonne, oder wie Bramard sagte, die Wahrheit gibt es nicht in natura, sie ist immer ein Konstrukt.

«Was für Kabel verlegt ihr also?»

«Elektrokabel», sagt der Mann. «Kabel für die Bahn.»

Arcadipane sieht sich um: Reisfelder, so weit das Auge reicht, und in einem Kilometer Entfernung die Trasse des Hochgeschwindigkeitszugs, wo eben ein Frecciarossa vorbeifährt, so unhörbar wie ein Finger auf Samt. Mailand–Turin in fünfzig Minuten. Sehr viel weiter weg, in Richtung Sonnenuntergang, ein verfallenes Bauerngehöft. Sonst nichts.

«Ich habe ihn jedenfalls nicht gefunden», sagt der Mann.

«Ach nein? Und wer hat ihn gefunden?»

«Mein Cousin Nicolae.»

«Dein Cousin Nicolae, und du heißt?»

«Roman.»

«Roman», wiederholt Arcadipane und lenkt seinen Blick auf die Gruppe hinter dem massigen Kerl. «Einer davon ist also dein Cousin, und die anderen beiden?»

«Der Kleinere ist Vincenzo. Der andere ist der Chef, Signor Coletto. Aber den haben wir erst später gerufen.»

Arcadipane nickt, während er auf seine halbhohen Schuhe schaut, von denen aus dem Schlamm nur das in Plastik gefasste Ende eines der Schnürsenkel herausschaut. Wer weiß, wie man das nennt. Wenn dieses Teil einen Namen hat, kennt Mariangela ihn bestimmt. Auch Bramard würde ihn kennen. Die einzigen Menschen, die solche Dinge wissen.

«Willst du mir etwas sagen, oder soll ich mit Signor Coletto reden?»

Der Junge kratzt sich den blonden Dreitagebart.

«Der Chef wollte jemand mit Kranführerschein», sagt er. «Da habe ich den von meinem Cousin kopiert. Aber jetzt bin ich dabei, ihn zu machen.»

«Und …»

«Eben in Italien angekommen, habe ich vier Monate wegen Beteiligung an einer Schlägerei gesessen. Der Chef weiß das nicht. Er will nur saubere Leute.»

Arcadipane schaut auf seine geröteten und vor Kälte geschwollenen Hände. Isolierband am Ringfinger, um den Ehering nicht zu zerkratzen.

Er weiß, dass er am Abend zu der kleinen Frau zurückkehren wird, die aufgeweckter ist als er und die sich seiner angenommen hat, dass er ihr erzählen wird, was vorgefallen ist, und dass sie, noch bevor er geduscht hat, miteinander vögeln werden.

Er weiß das, weil das eins der Dinge ist, die man in Gegenwart eines Toten sieht. Sogar eines Toten wie diesem hier.

Was die Leute jedoch nicht wissen, ist, dass dieser Effekt nicht anhält. Auch die Toten werden zur Gewohnheit, wenn man von Berufs wegen damit zu tun hat.

«Letztes Jahr haben wir einen verhaftet», sagt er. «An jedem Sechsten des Monats sah er, wie die Nachbarin etwas im Garten vergrub, und er kam zu der Überzeugung, das müsse die Rente sein. Als er daher Geld brauchte, ist er zu der Alten gegangen, hat ihr mit einem Schraubenschlüssel den Schädel eingeschlagen und angefangen zu buddeln. Weißt du, was er gefunden hat?»

Roman sieht ihn an, der Blick auf sanfte Weise gefährlich, so musste er dreingeschaut haben, als er frisch nach Italien kam, als er, verängstigt und allein, machte, was die Freunde ihm sagten, nämlich in den Bars handgreiflich werden, nackte Frauen anschauen gehen und einen gebrauchten BMW begehren; bis die kleine Frau, die aufgeweckter war als er, aus wer weiß welchem Grund beschloss, dem Tölpel vom Land zu helfen, der jeden Morgen mit einem versabberten Kissen und großer Lust auf Milch aufwachte.

«Dreihundertzwölf Keramikhündchen», sagt Arcadipane. «Die bekam sie jeden Monatsanfang per Post geschickt.»

Roman denkt ein paar Sekunden lang nach. Schweres Tischlerhandwerk: etwas mit Hobeln, Schraubzwingen, Gewichten und Flaschenzügen.

«Also sagen Sie es ihm? Das mit dem Führerschein und … alles andere?»

Arcadipane lässt sich einen Moment Zeit.

«Darf ich dir zwei Ratschläge geben?»

Der große Junge nickt.

«Erstens, wenn du etwas verbirgst, muss es die Mühe wert sein. Zweitens, geh immer davon aus, dass die anderen intelligenter sind als du, und du wirst sehen, du täuschst dich nur selten. Könntest du mir jetzt aus dem Weg gehen?»

Roman tritt beiseite. Arcadipane setzt seine halbhohen Schuhe in die tiefen Stapfen, die der Mann hinterlassen hat, und geht weiter. Zwanzig Meter Wasser und Schlamm, und er hat die Gruppe erreicht.

«Guten Tag, Commissario.»

Arcadipane stellt sich neben Pedrelli, ohne den Gruß zu erwidern. Er weiß, auch ohne ihn anzusehen, dass er fünfzig Jahre alt ist, ebenso viel Kilo am Leib, borstiges Haar und chronische Gastritis hat und in den letzten sechzehn Jahren keinen einzigen Tag krankgeschrieben war.

«Unsere Leute?»

«Ich habe sie Plastiksäcke holen geschickt», sagt Pedrelli. «Zusammen mit dem Direktor haben wir überlegt, dass wir eine Überdachung bauen und das Wasser vom Fundort abpumpen.»

Arcadipane mustert den «Direktor», Signor Coletto, in Regenhose und Funktionsjacke: Er hatte immer gedacht, diese Typen mit Muttermal gebe es nur auf Plakaten für piemontesische Komödien, hingegen …

«Wir haben eine Pumpe, die man an den Caterpillar anschließen kann», sagt er, «aber solang es hineinregnet …»

Arcadipane nickt, der Akzent befremdet ihn. Er betrachtet die zwei in gelber Regenkleidung: Nicolae ist etwas dicker als sein Cousin, aber vom selben Schlag; der andere hingegen, Vincenzo, ist um die fünfzig, schmächtig, mit gelber Haut und hinlänglich Sizilianer, um zu wissen, dass Schweigen keine Sünde ist.

«Also?», fragt Arcadipane und deutet auf die Grube voller Wasser, um die die vier herumstehen.

Pedrelli holt sein Notizbuch hervor, aber sofort machen sich zwei blaue Flecken auf der sorgfältig beschriebenen Seite breit. Er steckt es schnell wieder ein.

«Gegen zwölf», sagt er auswendig, «hat der Arbeiter Nicolae Popescu in der Baugrube einen menschlichen Schädel gefunden und hat dem Baggerführer gesagt, er solle anhalten. Sie haben Signor Coletto gerufen, den Baustellenleiter, der dann uns gerufen hat.»

Arcadipane blickt in die Runde. Unter ihren Kapuzen verneint oder ergänzt keiner etwas. Beim Baustellenleiter macht sein Blick halt.

«Warum haben Sie nicht die Carabinieri gerufen? Im Ort gibt es eine Dienststelle.»

«Mein Schwiegersohn ist bei der Polizei», er zieht die Schultern zusammen. «Er sagt, das ist immer besser.»

Arcadipane senkt den Blick auf die Grube, die die Ausmaße und die Farbe einer Stube hat. Das Wasser steigt weiter, und der Regen zeichnet ein Alphabet aus kleinen Spritzern darauf.

«Sind sie dort unten?»

«Nein, Commissario. In solchen Fällen wäre es Vorschrift, nichts anzurühren, aber die Arbeiter haben gedacht, wenn man sie vor Ort lässt …»

«Also?»

«Wir haben sie in den Container gebracht», kürzt der Arbeiter mit der gelblichen Haut ab.

Arcadipane folgt seinem Blick bis zu einem grauen Container. Ringsum kein Baum, kein Strauch, keine Vegetation, die der Regen benetzen und nähren könnte.

«Wann war die letzte Ausschreibung für eine Kommissarstelle, Pedrelli? Vor einem Jahr?»

«Letzten Februar, Commissario.»

Arcadipane fährt mit der Hand in die Tasche, holt ein Lakritzbonbon hervor und steckt es sich in den Mund. In dem Moment kommt ratternd der Regionalzug vorbei, auf dem Weg nach Mailand, eine Stunde und fünfzig Minuten.

«Beim nächsten Mal bewirb dich», sagt er im Weggehen, «da du Wert darauf legst, zu behaupten, der Commissario seist du.»

Kapitel 2

Sarace klopft mit dem Kuli auf das Hüftgelenk, die Beckenschaufel, die Iliosakralfuge, dann spießt er ein paar Wirbel auf und hält sie sich eine Handbreit vor die kurzsichtigen Augen hinter bläulich getönten Brillengläsern.

Distanziert besieht er diese Scheiben, durch die einst das Leben in seiner intensivsten Form floss, weich und geheimnisvoll; er betrachtet ihr Inneres, lässt sie um den Stift kreisen, was klingt wie hohles Holz, dann legt er sie wieder auf die Decke.

«Das haben sie gut gemacht, nicht wahr?», bemerkt er und deutet auf das Ganze.

Arcadipane, der auf der anderen Seite hockt, betrachtet die langen Knochen der Arme und Beine, die die Arbeiter mit dem Becken, der Wirbelsäule und dem Schädel zu einem Ganzen zusammengefügt haben, damit man eine Vorstellung von der Person bekommt. Daneben ein Häuflein kleinerer Knochen, die sie nicht hatten zuordnen können.

«Die sind wie Andorra und Liechtenstein», sagt Sarace und nickt, «wenn du nichts mit Banken zu tun hast, weißt du nie, wo sie liegen.»

Arcadipane reibt sich die Hände an der nassen Hose in dem Versuch, die von der Kälte und der Haltung tauben Schenkel etwas zu erwärmen. Außer ihnen und dem recht und schlecht zusammengesetzten Skelett befinden sich in dem Container ein leerer Schreibtisch, ein Papierkorb, ein Kerosinofen, der aus ist, und ein Schränkchen. An den Wänden zwei Karten der Gegend mit von Hand eingetragenen Katasterzeichen. Nicht gerade ein Ort, an dem man sein Wochenende verbringen wollte.

«Also?»

Sarace zieht die Einmalhandschuhe aus, knüllt sie zusammen und wirft sie in den Papierkorb neben dem Schreibtisch.

«Männlich, jung, tot. Da der Schädel am Hinterkopf ein Loch mit glattem Rand aufweist, ist es nicht abwegig zu denken, dass das Letzte, was er seinerzeit gehört hat, ein aufgesetzter Schuss war.»

Arcadipane arbeitet seit zehn Jahren mit Sarace zusammen und weiß, dass er sich ungern beim ersten Termin aus dem Fenster lehnt, so wie er auch weiß, dass er am Wochenende bei den Discepoli del Boom singt und dass er sich nicht darum schert, was die Leute von seiner Haartracht denken.

«Wann seinerzeit?», versucht er es trotzdem.

«1986», sagte Sarace, «Frühsommer, an einem Dienstag.»

Arcadipane sieht, wie er kichert, während er den Stift wieder in die Tasche seines Regenmantels steckt.

«Meines Wissens», beginnt Sarace wieder, «könnte er vor zwanzig oder achtzig Jahren gestorben sein. Das hängt von der Tiefe ab, in der er lag, von der Feuchtigkeit, von der Zusammensetzung des Erdreichs, ob er in einer Kiste oder in sonst einem Behältnis lag. Hast du immer noch Alessandra im Labor?»

«Ja.»

«Ich würde mit ihren Fotos nicht gerade einen Kalender gestalten, aber sie ist gut … Wenn du ihr unseren Freund und ein bisschen Erdreich bringst, kriegt sie womöglich was raus. Bei Knochen ist es immer schwierig, aber eine Vorstellung kann sie uns geben. Vorausgesetzt natürlich, du willst den Fall eröffnen.»

Arcadipane schaut auf.

Als sich Salace sicher ist, dass er seine Aufmerksamkeit hat, greift er nach der Ledertasche, die bis dahin schlaff wie ein alter Cocker mit Hüftgelenksdysplasie neben ihm gelegen ist.

«Sonst gibt es da dieses praktische Formular, womit wir erklären, dass die Fundstücke aus dem Krieg stammen», er zeigt das vierseitige Dokument vor. «Wir füllen es aus, packen die Knochen in eine Kiste, fügen das Formular hinzu und schicken alles an die zuständige Stelle, und die überprüfen dann in aller Ruhe, ob in der Gegend Vermisstenanzeigen aus dem Krieg und der Zeit unmittelbar danach vorliegen. Wenn keine Zuschreibung erfolgt, haben wir einen weiteren unbekannten Toten. Wenn hingegen Kinder oder Enkel Wert darauf legen, eine Lücke im Familiengrab zu füllen, bekommen die Knochen eine schöne Beisetzung. In beiden Fällen sind wir in einer Stunde zu Hause unter der heißen Dusche.»

Arcadipane betrachtet die Knochen. Sie sind nicht weiß und auch nicht gelb, sondern blassgrün, pistaziengrün.

«Könnten sie wirklich …»

«Acht von zehn.»

Arcadipane massiert sich die Schläfen, dann den Nacken. Seit Tagen drückt etwas wie die Ecke eines dicken Wälzers unten gegen seinen Schädel, genau dort, zwischen den zwei Muskelsträngen im Nacken.

«Scheißtag», er zieht die Schultern hoch, «sei’s drum …»

Sarace hält inne, um sich zu vergewissern, dass er richtig verstanden hat, und um Arcadipane, falls er richtig verstanden hat, Zeit zu lassen, seine Meinung zu ändern. Mit einem schwachen Lächeln stützt er sich dann auf die Knie und richtet sich auf.

«Mariangela und die Kinder?»

«Alles okay.»

«Mariangela geht zur Kontrolle?»

«Alle sechs Monate. Alles in Ordnung. Ja, sie sagt mir immer wieder, ich soll dir ihren Dank ausrichten.»

Sarace schnalzt mit der Zunge, um zu sagen, das sei nicht der Rede wert, dann zieht er, während er mit einer Hand das Gebilde seiner Haare festhält, mit der anderen die Kapuze der Regenjacke über die voluminöse, glänzende Tolle. Das kantige Gesicht behält auch im Neonlicht das unbeschwerte Design der Jahre, in denen es entworfen wurde.

«Ich gehe die Sachen im Wagen holen. Soll ich dir Pedrelli schicken?»

Arcadipane nickt.

Der Container füllt sich mit Maschinenlärm, Stimmen, die sagen, man solle etwas beiseiterücken, Prasseln des Regens, dem wiederholten Stottern eines Motors, der nicht anspringen will, dann geht die Tür zu, und Arcadipane ist wieder allein, ein Mann in der Stille von vier Wänden.

Er geht zum Schreibtisch, lehnt sich mit den Gesäßbacken gegen die abgerundete Ecke der Fläche und holt das Päckchen hervor: Die Zigaretten sind feucht, nur mit Mühe kann er sich eine anzünden. Die Knochen liegen dort am Boden, still, rätselhaft, pistaziengrün.

Ein faschistischer Soldat oder ein Partisan, denkt er, auf jeden Fall jung und mit jeder Menge Flausen im Kopf, und dann? Ob im Recht oder Unrecht, alle verrotten in der Erde … Verdammt.

Er will schon in die Tasche greifen, aber er merkt, dass er bereits weint, und gibt es auf. Gute zwei Minuten lang lässt er den Tränen freien Lauf, warm auf den Wangen und schon kalt am Hals, dann wischt er sich mit dem Ärmel über die Nase, zieht die Visitenkarte aus der Gesäßtasche, nimmt das Handy und gibt die Nummer ein.

«Ja», antwortet eine weibliche Stimme.

«Ich möchte mit Doktor Ariel sprechen.»

«Das bin ich, und ich bin nicht Doktor.»

Arcadipane nimmt einen tiefen Zug.

«Alles in Ordnung», kommt die Frau ihm zuvor. «Tartara hat seinen Spaß daran, sich euer Gesicht auszumalen, wenn ihr hört, dass ich eine Frau bin. Im Übrigen ist er ein alter Trottel, die besten Jahre liegen hinter ihm. Er hat mir jedenfalls Bescheid gegeben, dass Sie anrufen würden. Sie sind der mit dem komischen Namen nicht wahr? Der Polizist.»

«Arcadipane.»

«Arcadipane. Wussten Sie, dass fünfundsiebzig Prozent der Telefongespräche zwischen Menschen stattfinden, die nie mehr eine Gelegenheit haben werden, miteinander zu sprechen? Ich bin in einer Sitzung, ich habe nicht die Zeit, diese Sache zu erörtern, die gleichwohl sehr interessant ist. Wollen Sie einen Termin?»

Es klopft an der Tür. Arcadipane stößt den Rauch aus und bedeckt das Handy.

«Einen Augenblick!»

Er legt das Gerät wieder ans Ohr.

«Weinen Sie?», fragt die Frau.

«Nein.»

«Haben Sie Medikamente eingenommen?»

«Nein.»

«Also wollen Sie diesen Termin?»

Es klopft wieder.

«Herein, verdammt noch mal, herein!»

Pedrelli öffnet die Tür und tritt ein.

«Was geht da vor?», fragt die Frau.

«Nichts. Meine Arbeit.»

«Sind Sie dabei, jemanden zu verprügeln?»

«Warum sollte ich?»

«Das ist es doch, was ihr macht, oder? Ihr fahrt mit Sirenengeheul durch die Gegend, nehmt Fingerabdrücke, verprügelt jemanden, um ihn zum Reden zu bringen. ‹Gesteh, du Bastard! Deine Freunde haben schon gesungen. Willst du zwanzig Jahre absitzen für sie?›»

Arcadipane schaut Pedrelli an, der die Knochen auf der Decke anschaut, die an die Decke schauen, von wo das Neonlicht herabfällt.

«Morgen um sechzehn Uhr», sagt die Frau. «Die Adresse steht auf der Visitenkarte, die Tartara Ihnen gegeben hat. Seien Sie pünktlich, wir haben nur fünfzig Minuten», und sie legt auf.

Arcadipane streicht die wenigen Haare glatt, die um seinen Schädel einen Kranz bilden, als ob er eben nach einem langen Spaziergang in heftigem Wind nach Hause käme.

«Ich bitte um Verzeihung», setzt Pedrelli an, «ich hatte nicht verstanden …»

Arcadipane hält ihn mit einer Handbewegung auf.

«Die Grube?»

«Fast trockengelegt.»

«Schaut nach, ob etwas zum Vorschein kommt. Persönliche Gegenstände, Kleidung, eine Dose, egal was.»

«Sicher, Commissario.»

Arcadipane studiert die tadellos savoyische Haltung seines Vize, der nicht einmal Müdigkeit, durchnässte Kleidung und verdreckte Schuhe etwas anhaben können.

Als sie sich das erste Mal begegneten, war er dreiundzwanzig und bereits Bramards rechte Hand, während Pedrelli ein zwei Jahre älterer Polizeimeister war, der vom Polizeipräsidium Genua nach Turin in ihre Abteilung versetzt wurde.

Er hatte Pedrelli beobachtet, wie er eifrig die ersten Antrittsbesuche absolvierte: kurz geschorenes Haar, schmächtiges und klares Gesicht, ganz Anstand und gute Erziehung. Dann war er aufgrund von Weisungen aus der Zentrale Bramard zugeteilt worden.

«Hast du um einen Idioten angesucht?», hatte er ihn gefragt, als sie einmal allein waren.

Bramard hatte sich Tee eingegossen und weiter in irgendwelchen Akten geblättert, ohne zu antworten.

Am Abend jedoch hatte er, bevor er wie immer grußlos hinausging, die Hundeenzyklopädie offen liegen lassen, die er nach jedem Verhör und in freien Augenblicken andächtig konsultierte.

«Morgen lässt du hier im Büro einen Schreibtisch für ihn aufstellen», hatte er gesagt, während er in die Jacke schlüpfte.

Während Bramard, der Mann, der nicht verstand, der ihm aber alles beibringen sollte, was er heute von den Menschen und ihrem kriminellen Tun wusste, schon unterwegs nach Hause war, war er aufgestanden und zum Schreibtisch gegangen.

Die Enzyklopädie war auf einer Seite aufgeschlagen, die einen braunen Hund zeigte, der nichts Stolzes, Intelligentes oder Bedrohliches an sich hatte. Einen Hund mittlerer Größe.

«Ein aufrichtiger, ehrlicher Hund», hatte er dort gelesen, «wesensstark und ausgeglichen, ein verlässlicher Wachhund, ein tüchtiger Hirtenhund und ein wunderbarer Begleiter, immer an der Seite seines Herrn, wenn auch leicht misstrauisch gegenüber Fremden. Trotz seines zierlichen und bescheidenen Äußeren ist er unerschrocken, und aufgrund seines ausdauernden Charakters kann er sich bei der Jagd sogar als kühn erweisen. Wenn mit Sanftmut und Geduld angefasst, lässt er sich gut abrichten.»

Arcadipane betrachtet Pedrelli da vor ihm: triefnass, die Augen niedergeschlagen, kurz geschorenes Haar und schmächtiges Gesicht. Ganz wie damals, nur siebenundzwanzig Jahre älter.

«Weißt du, was ich sagte, wenn ich als Stellvertreter von Bramard zu einem Lokaltermin ging?»

Pedrelli hebt fragend den Blick.

«Dass ich der Verantwortliche bin», sagt Arcadipane und tritt die Zigarette unter dem Schuh aus. «Wenn sie wissen, dass du der Verantwortliche bist, hören sie auf dich.»

«Aber wo denken Sie hin», brummt Pedrelli. «Das muss doch nicht sein. Nach all den Jahren, die wir uns ertragen.»

Arcadipane zwingt sich zu einem Lächeln. Es gelingt nur ansatzweise. Er schaut durch eines der beiden Plexiglas-Fenster: Knapp oberhalb der Silhouette der Berge ein Riss in den Wolken, gelb flackernd wie eine Kerze im Innern einer dunklen Kirche.

Dreißig Jahre, denkt er.

Dreißig Jahre Morde, Ermittlungen, Bewerbungen, Pensionierungen, Kollegen, Akten, Neuzugänge, Bürowechsel, falsche Fährten, Berichte, Verurteilungen, Rückschläge, Zeugenaussagen, Kinder, ein paar lobende Erwähnungen, Prozesse, Bronchitis, Zeitungsartikel, Mittel gegen Gastritis, Fingerabdrücke, vertrauliche Hinweise, Disziplinarverfahren, Autopsien, Telefonüberwachungen, endloser politischer Ärger und betäubende Stunden des Wartens, in denen man ums Verrecken nichts anderes tun kann als warten.

«Commissario.»

Die Wolkendecke schließt sich. Auch diese einzige Kerze im Innern der Kirche verlöscht.

«Commissario?»

Der Regen auf dem Dach des Containers trommelt schneller.

«Commissario? Der Baustellenleiter fragt, wann sie die Arbeit wieder aufnehmen können.»

«Sag ihm, er soll nicht nerven. Gehen wir einen Kaffee trinken.»

Kapitel 3

In der Wohnung geht er in die Küche, öffnet den Kühlschrank und nimmt einen Schluck Mineralwasser aus der Flasche. Auf dem Tisch liegt ein Zettel. «Beim Abendessen wollten wir etwas sehr Wichtiges mit dir besprechen, aber du bist nicht gekommen. Können wir beim Frühstück mit dir reden? Es ist sehr dringend. Loredana und Giovanni.»

Arcadipane versucht, den Zettel wieder an den Obstkorb zu lehnen, wie er ihn gefunden hat, dann geht er leise ins Schlafzimmer, zieht sich aus, legt sich auf den Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt.

«Wie spät ist es?», fragt sie mit einem halben Gähnen.

«Zwei vorbei.»

Ohne sich umzudrehen, streckt Mariangela eine Hand aus und legt sie ihm auf die Hüfte.

«Du bist eiskalt. Ich wette, du hast den ganzen Tag Regen abbekommen.»

Er zieht seine Beine, die zu ihren großen und weichen Pobacken unter dem Nachthemd hinübergewandert sind, ein paar Zentimeter zurück.

«Was denn für ein Regen?», sagt er. «Es waren zwanzig Grad, und ich bin auch ein bisschen braun geworden.»

Durch die Matratze nimmt er die kleine Erschütterung wahr, sie kichert. Er braucht ihr nicht zu erklären, dass dreihundertsechsundsechzig Lokaltermine … Sie weiß es.

«Was wollen die beiden?», fragt er.

«Ich will die Überraschung nicht verderben. Hast du dich wenigstens geduscht?»

«Nein.»

«Das ist gut gegen die Müdigkeit.»

«Und was bleibt dann übrig?»

Sie schweigen. Das Zimmer ist geräumig. Der Schrank für Winter- wie Sommerkleidung, zwei fast antike Sessel und die Kommode reichen nicht, es auszufüllen. Die einzigen Dinge, die weniger als zwanzig Jahre alt sind, sind die Nachttischlämpchen. Bei Ikea gekauft. «Wir brauchen eine Beleuchtung mit beweglichem Stiel.» – «Und was heißt beweglicher Stiel?» – «Das heißt, dass ich abends lese und du nicht.»

«Wenn ich stinke, geh ich mich duschen.»

Sie steckt ihren Daumen in den Gummibund seiner Unterhose.

«Nein, du machst Krach», sagt sie und verdreht den Bund wie etwas, was man dabehalten will. Auch im Kopf behalten will.

«Essen?»

«Wir waren außerhalb der Stadt. Ich hab auf dem Rückweg gegessen.»

«Schlecht?»

«Autobahnraststätte. Das Übliche.»

«Ich hab dir was stehen lassen …»

«Ich weiß, ich habe es in den Kühlschrank gestellt. Hier alles in Ordnung?»

«Alles in Ordnung.»

«Schlafen wir also?»

Sie nickt, wobei sie den Kopf am Kissen reibt, und nimmt den Daumen aus dem Gummibund. Er betrachtet den schwachen Schimmer der Goldkette, die sie um den Hals trägt. Während ihr Atem nach und nach langsamer wird, folgt er dem Lichtstrahl auf dem umgeschlagenen Bettlaken, der Decke aus Merinowolle, die sie bei einer Vorführung gekauft haben, als die Kinder noch klein waren, auf dem abgenutzten Parkett bis zum Spalt zwischen den Jalousien der Fenstertür, hinter denen die Wohnblocks sind, die Autos, Werbeplakate und Gehsteige, die das Viertel ausmachen, in dem er von Kindheit an wohnt.

Vergangenes Jahr hatten sie eine Eingabe gemacht, um die Anzahl der Straßenlaternen zu verdoppeln: eine Frage der Sicherheit. Er wusste, dass das zu nichts nütze war, hatte aber unterschrieben. Er wollte nicht als der dastehen, der es von Berufs wegen besser weiß. Es wird zu nichts führen, hatte er sich gesagt.

Doch im Verlauf von zehn Monaten hatten sie erreicht, was sie wollten. Fünfundvierzig neue Straßenlaternen. Mit gelbem Licht. Energiesparend.

Wer noch alte Fensterläden hatte, musste sie, um schlafen zu können, reparieren oder neue Jalousien anbringen lassen. Die Drogendealer sind allerdings nicht weggezogen. Er wusste das. Ein Wechsel des Viertels ist ein langwieriger Prozess. Eine Frage der Aufteilung des Territoriums. Albaner, Rumänen, Nigerianer und jetzt sogar Chinesen. Wenn man eine Figur auf dem Schachbrett bewegt … Umgezogen sind lediglich die fünf oder sechs historischen Nutten. Bei all dem Licht genügte den Kunden ein Blick, um sich auszumalen, welcher Anstalten es bedurfte, um hochzuhalten, was von allein nicht mehr oben bleiben wollte. Der Großteil waren Stammkunden, die sie auswendig kannten, aber wenn die Arbeit um dreißig Prozent einbricht … Sie sind ein paar Häuserblocks weitergezogen. Anderer Bezirk. Weniger Licht. Vorher haben sie natürlich gefragt. Aber wer tauscht nicht gern ein Schaufenster an der Peripherie mit einem in Zentrumsnähe? An ihre Stelle kamen die aus dem Osten. Für sie würden die Laternen mindestens dreißig Jahre lang kein Problem darstellen.

«Bist du müde?»

«Todmüde.»

Mit einem Geraschel von Viskose und Baumwolle dreht Mariangela sich zu ihm um. Sie legt ihm wieder die Hand auf die Hüfte, genau an dieselbe Stelle wie vorher. Sie schaut auf seine stachligen Wangen, die sehr hohe Stirn, die großen lukanischen Augen.

«Warum schläfst du dann nicht?»

«Ich weiß nicht.»

«Etwas Unangenehmes?»

«Wenn man uns ruft, ist es nie schön.»

«Aber manchmal ist es schlimmer, oder nicht?»

Er legt seine Hand auf ihre, schwer wie der Punkt am Ende eines kurzen Satzes.

«Alles normal», sagt er und schüttelt den Kopf.

In wenigen Zentimetern Abstand liegen sich ihre beiden Gesichter gegenüber, sie betrachten sich, zur Hälfte in den Kissen versunken. Ihres zeigt im Dunkeln ein paar Jahre weniger: die Kontur der Lippen noch fest, die Augen noch fähig zur Wildheit, die Nase eher schmal als kräftig.

«Hatte Loredana noch Licht an?», fragt sie.

«Ich habe nicht nachgeschaut. Warum?»

«Sie hat noch gelernt. Vielleicht nimmt sie es ein bisschen zu ernst.»

«Sie geht ins humanistische Gymnasium, sie muss es ernst nehmen.»

«Sie muss aber auch rausgehen, ein bisschen Sport treiben. Sie ist fünfzehn. Das hat ihr ja schließlich nicht der Doktor verschrieben, dass sie überall Bestnoten haben muss.»

«Sonst würde ich unser anderes Genie auch zu diesem Doktor schicken.»

«Du bist fies.»

«Du warst doch so wütend.»

«Du nicht?»

Er zuckt mit den Schultern, aber im Liegen hat das keine Wirkung.

«Für einen Polizisten ist es normal, dass sein Kind sitzenbleibt. Für eine Lehrerin dagegen …»

Sie kratzt sich auf der Höhe des Knies, dann kehrt ihre Hand wieder dorthin zurück, wo sein Unterhemd unter dem Gummizug der Unterhose verschwindet.

«Wir müssen mit dem Trainer sprechen.»

«Warum? Hat er ihn wieder nicht drangenommen?»

«Er ist mit einem solchen Flunsch nach Hause gekommen! Ich habe lieber nicht gefragt. Ich hatte gerade aufgehört, mit Loredana zu streiten. Sie will jetzt keine Kohlehydrate mehr essen.»

«Was soll ich ihm sagen? Ihn vorladen, weil ich eine Pistole habe? Er ist der Trainer. Außerdem ist das längst ausgemacht.»

«Was ist ausgemacht?»

«Die Guten kommen in die engere Auswahl, und die anderen müssen sich eben hocharbeiten.»

«Was soll das heißen?»

«Eine Elitemannschaft, Aufstieg, vielleicht Regionalliga.»

«Aber er ist doch gut, oder?»

Er macht ein Zeichen mit zwei Fingern. Sie sieht ihn fragend an. «Er hat einen Kleinen?»

«Aber was sagst du denn da!»

Sie sieht ihn noch immer fragend an. Die Augen schwarz und wild unter der gezähmten Oberfläche.

«Er ist klein», sagt er und wiederholt die Geste mit den zwei Fingern. «Auf diesem Niveau muss man die richtige Statur haben.»

Sie fixiert einen Punkt an seinem Kinn. Würde sie ihn nicht kennen, könnte sie das für eine Kritik an den Genen halten.

«Bei der Energie, die er hat, kann er jedenfalls ein guter Spieler werden», versucht er es, «vielleicht auch ein Profi.»

«Wann?»

«Wann was?»

«Das mit dem Hocharbeiten. Wann sagen sie es ihm?»

«Die Meisterschaften haben eben begonnen, vielleicht ändern sich die Dinge mit der Zeit.»

Er bemerkt die Bewegung ihres Arms unter der Decke. Sie rückt die großen Brüste zurecht. Seit ein paar Jahren etwas schlaff. Er spürt sie jedenfalls gern an der Schulter oder am Rücken. So nebenbei. Ohne Verpflichtung.

«Bei seinem Charakter, wenn sie es ihm sagen, ist er imstande und gibt auf», sagt sie.

«Er gibt nicht auf.»

«Womöglich muss er noch einmal eine Klasse wiederholen.»

«Warum das?»

«Was für eine Erpressung soll das sein, ihn nicht zum Fußball gehen zu lassen, wenn er den Fußball aufgibt?»

«Er gibt nicht auf.»

«Wer sagt dir das?»

«Er ist ein Pitbull, er gibt nicht auf.»

«Ich mag es nicht, wenn du ihn so nennst.»

«Seine Freunde nennen ihn so. Er mag das.»

«Nenn ihn wenigstens zu Hause nicht so.»

«Ist gut.»

«Giovanni ist ein schöner Name.»

«Ist gut», er streckt sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. «Schlaf jetzt, du musst früh raus.»

Sie rückt ein wenig vor, um den Kuss entgegenzunehmen, dann kehrt sie in die Kuhle im Kissen zurück. Er legt ihr die Hand auf den Kopf. Er lässt sie dort liegen. Auch sie hat keine zarten Knochen. Im Übrigen, wenn sie zarte Knochen gehabt hätte, hätte das Leben, das sie führten, sie ihr zerbröselt. Dagegen sieh sie an, nicht einmal ein Kratzer.

«Es werden fünf Jahre sein, dass ich ihn nicht nackt sehe», sagt sie.

Er macht die Augen, die er eben geschlossen hatte, wieder auf.

«Wen?»

«Giovanni! Hast du ihn gesehen?»

«Warum sollte ich ihn nackt sehen?»

«Wenn du sagst, er hat einen kleinen Pimmel …»

«Ich habe gesagt, dass er klein ist, nicht dass er einen Kleinen hat.»

Sie sieht ihn an. Sie kratzt sich an der Nase. Auf der Seite.

«Also wissen wir nicht, was für einen er hat.»

«Wir wissen es nicht. Na und?»

«Ich sage nur, wir haben ihn großgezogen, und jetzt wissen wir das nicht.»

Er sieht sie an.

«Da wird sich vielleicht eine andere darum kümmern, nicht? Wenigstens darum. Können wir schlafen?»

Sie schließt die Augen und hebt das Kinn, lässt den Atem ausströmen.

Er betrachtet sie. Er weiß, dass sie die Teile in die Schachtel zurücklegt, auch wenn das Puzzle nicht vollständig ist. Jedes Teil einzeln, vor dem Einschlafen. Ein Vorgang, der Disziplin erfordert. Und die hat sie. Schon als Mädchen. Deshalb mögen sie alle. Weil sie ruhig ist, tolerant und voller Disziplin. Er dagegen nicht. Er ist immer ein Quälgeist gewesen, der nicht begreift, wann man aufhören muss. Die Teile zurücknehmen und in die Schachtel legen. Oder der es begreift, aber nicht tut.

«Wir verfolgen nicht den Fall», hatte Bramard eines Tages zu ihm gesagt, «es ist der Fall, der uns verfolgt.»

Es war frühmorgens, sehr neblig, vor einem Lebensmittelgeschäft, das eben seinen Rollladen hochgezogen hatte, aßen sie ein Panino mit Spanferkel. «Deshalb sind wir großartige Polizisten und schreckliche Menschen.»

«Darf ich dich etwas fragen?», fragt er sie, ohne die Augen zu öffnen.

Sie nickt. Die Geräusche des Bettes sind ein Code, den sie vierhändig ausgearbeitet haben. Die Arbeit von achtundzwanzig Jahren. In Nachtschicht.

«Wie heißt das Stück Plastik am Ende vom Schnürsenkel? Das harte Teil, das manchmal zerbricht.»

«Pinke.»

Er lächelt, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Tagsüber würde er das nicht tun. Er hat hässliche Zähne. Krumm und schief, wenn auch gesund. Große Schaufeln, schlecht verteilt. Ein Desaster. Manchmal denkt er daran, zum Zahnarzt zu gehen und sie in Ordnung bringen zu lassen, aber das scheint ihm ein aussichtsloses Unterfangen. Geld, Zeit, Schmerzen. Um einen Vorhang vor einen Haufen Schutt zu ziehen.

«Woher weißt du das?»

«Tom Cruise hat es in einem Film gesagt. Wie geht es Corso? Hast du von ihm gehört?»

«Nein. Welcher Film ist das?»

«Einer für kleine Mädchen, er würde dir nicht gefallen. Er hat jetzt eine Freundin mit Kindern, nicht wahr?»

«Ich glaube. Warum würde er mir nicht gefallen?»

«Darum. Wir könnten sie zum Abendessen einladen.»

«Sie wohnen auf dem Land.»

«Da wird es doch eine Straße geben.»

«Ich weiß nicht. Du weißt ja, wie er ist. Komm, schlaf.»

Er schließt die Augen und horcht auf ihren Atem und die Küchenuhr, die auf der Kredenz, die sie nicht einmal um eine Stunde vorgestellt haben. «Es schaut ja doch keiner drauf.»

Der Lichtstrahl, der zwischen ihnen hereinfällt, erlischt einen Moment lang. Der Kater der Nachbarn spaziert auf dem Heimweg von seiner Runde um den Häuserblock auf dem Fensterbrett vorbei. Gleich wird er durch das Türchen schlüpfen, das die Olivieros für ihn in der Fenstertür angebracht haben und das jedes Mal, wenn er hinein- oder hinausgeht, klack macht. Der Mann ist Versicherungsmakler. Vor etlichen Jahren war er in einem Schwulenlokal in eine Razzia geraten. Damals war das noch so: Verstoß gegen die öffentliche Moral, obszöne Handlungen, ohne Ende. Ein Mordsaufwand an Schreiberei, um sie am nächsten Morgen nach Hause zu schicken. Der Mann lag mit einem Jungen im Bett, den alle nur «der Maler» nannten. Bei der Vernehmung hatte Pedrelli ihn gefragt, warum, und er: «Wollen Sie seinen Pinsel sehen?» Eins von den Dingen, die man sich erzählt, wenn Kollegen in Pension gehen, die Kinder heiraten und so was. Vergangene Dinge wie: «Erinnerst du dich an diese Trattoria, wo es Katzen zu essen gab? Erinnerst du dich an den Toten auf der Böschung, den das Hochwasser dort abgesetzt hatte?» Bis du merkst, dass keiner der Zuhörenden dabei war. Und nach einer Weile weißt du selbst nicht einmal mehr, ob sie wahr sind.

Ihre Hand streichelt seine Stirn, die geschlossenen Lider, die groben Backenknochen, das massige Kinn, die zu großen Ohren. Sein ganzes blödes altmodisches Gesicht.

«Vincenzo.»

«Hm!»

«Was ist los?»

«Ich weiß nicht. Vielleicht das Zeug in der Raststätte.»

Sie rührt sich nicht, er stellt sich vor, dass sie nach Worten sucht, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nach wenigen Sekunden jedoch dringen wie ein kleiner Blasebalg ihre verlängerten Atemzüge zu ihm. Er sieht sie an: Ihre Lippen sind leicht geöffnet. Sie schläft.

Langsam gleitet er aus dem Bett, und im Schein des gelben Lichtstrahls gelangt er in den Flur. Er geht an den Kinderzimmern vorbei, die Türen sind angelehnt, das Licht ist gelöscht. Er geht ins Bad, und ohne Licht zu machen, setzt er sich auf die Kloschüssel.

Jenseits des Fensters wird die Nacht von den Laternen in Stücke zerteilt. Kein Autolärm. Nicht einmal eine Sirene.

Er lehnt sich mit der Schulter gegen die Wand, die Kühle der Fliesen an der Schläfe. Hinter der Wand hört man die Wasserspülung von Carlo Merlo im Stock darüber, der sich fertig macht, um seinen Zeitungsstand öffnen zu gehen.

Halb vier, denkt er. Verdammt.

Er streckt eine Hand in die Trommel der Waschmaschine und holt seine schlammverschmierte Hose heraus. Er sucht in der Tasche. Ein letztes Lakritzbonbon mit Flusen dran, teilweise aufgelöst.

Er steckt es in den Mund und kaut es.

Kapitel 4

«Soll ich ihn wecken?»

«Das ist keine gute Idee. Hast du die Mappe für den Kunstunterricht eingepackt, die im Flur lag?»

«Das hast du mich schon gefragt. Warum kann ich ihn nicht wecken?»

«Wartet bis heute Abend, es geht schließlich nicht um Leben und Tod, oder?»

«Doch. Wann bekommt man ihn denn mal zu Gesicht?»

«Es ist kein Honiglecken für ihn.»

«Es ist halb acht. Vielleicht liegt er nur im Bett und ruht sich aus.»

«Versuch’s.»

«Dann wird er böse. Nicht dass er uns ausweicht, weil du ihm was gesagt hast?»

«Versiegelt war mein Mund!»

«Ja, mach dich nur lustig. Und du, warum lachst du?»

«Sagst du mir, wann ich lachen darf?»

«Du willst es doch auch, oder? Warum muss immer ich allein alles durchziehen?»

«Was du nicht sagst!»

«Doch, so macht er es immer! Wenn Papa nicht da ist, spuckt er große Töne, und wenn es darauf ankommt, kneift er den Schwanz ein, immer muss ich …»

«Ach du Scheiße, die hehre Paladina …»

«Giovanni, achte auf deine Wortwahl, du bist hier nicht beim Training.»

«Ach lass ihn doch reden, blablabla … er weiß ja nicht einmal, was Paladina heißt … sie nehmen das Befreite Jerusalem ja gar nicht durch … Psychomongos!»

«Sag mir’s vor, los, ich bin ja nicht dazu imstande!»

«Jetzt übertreibt ihr aber. Und ihr seid schon zu spät dran, macht, dass ihr loskommt!»

«Mama, könntest du ihn nicht fragen?»

«Ich habe euch schon gesagt, wie ich darüber denke.»

«Das ist kein Gedanke.»

«Ach nein? In der Schweiz machen sie es seit jeher so, und schau, wie gut es ihnen geht! Wirf das nicht in den Plastikmüll, es ist Tetra Pak.»

«Ich geh ihn wecken.»

«Jetzt ist es zu spät. Ruf ihn heute an, wenn du willst.»

«Am Telefon?»

«Du machst doch alles am Telefon!»

«Ja, aber er sagt, er hat zu tun und macht Schluss.»

«Vielleicht hat er wirklich zu tun, hast du je daran gedacht?»

«Mama, wo sind die Schienbeinschoner?»

«Auf der Heizung. Packst du jetzt schon die Trainingstasche?»

«Heute bleibe ich bei Andrea, Training ist um sechs.»

«Bringst du mich zur Schule?»

«Psychomongos können nicht fahren, wusstest du das nicht?»

«Komm, ich hab ja nur Spaß gemacht.»

«Der Roller funktioniert nicht.»

«Ach, so ein Zufall. Ich geh.»

Türenknallen.

«Du hättest sie ruhig mitnehmen können, oder?»

«Aber wenn er doch nicht funktioniert!»

«Dann heißt das, dass auch du zu spät dran bist.»

«Ja, ja, ich geh schon, der 26er kommt sowieso, wann er will!»

«Wenn du um Viertel nach sieben dort wärst, wetten, dass du dann pünktlich wärst?»

«Relax, um Himmels willen! Was habt ihr denn alle heute Morgen?»

Türenknallen. Das Geräusch der Espressomaschine. Ihre Stille beim Trinken. Das Tässchen in die Spülmaschine. Ihre Absätze auf dem Flur, die näher kommen. Die Tür, die sich öffnet. Stille.

«Ich weiß doch, dass du nicht schläfst.»

«Hm, hm.»

«Versuch heute Abend da zu sein, okay?»

«Ja, ja.»

Schritte, die sich entfernen, Schlüssel, die Tür, die sich schließt. Arcadipane schiebt die Decke beiseite, die er bis zum Kinn hochgezogen hatte, zieht die Strümpfe aus, wirft sie in den Schmutzwäschekorb, geht zur Kommode und zieht frische an, mit Rhombenmuster.

In Unterhosen, Unterhemd und mit dem Handy geht er durch den Flur. Die Küche ist aufgeräumt. Mariangela mag es nicht, das Tischtuch voller Brösel zurückzulassen. Er nimmt das Espressokännchen aus dem Schrank. Während es auf dem Herd steht, könnte er hinübergehen und sich anziehen, hingegen bleibt er stehen und starrt auf das scheußliche Puzzle mit dem fehlenden Teil, das Loredana verschluckt hat, als sie zwei Jahre alt war. Zum Scherz haben sie es rahmen lassen: «Wer mit uns in der Küche isst, kennt uns gut genug, um es zu verstehen», hat Mariangela immer gesagt.

Das Kännchen blubbert. Arcadipane lässt es blubbern, weil er das Geräusch mag … Das Handy klingelt.

«Was ist los, Pedrelli?»

«Entschuldigen Sie die Uhrzeit, Commissario, aber die von der Baustelle haben angerufen, dass da noch mehr Knochen sind.»

«Sag ihnen, sie sollen sie in eine Kiste tun, und schick jemand hin, um sie abzuholen.»

«Ja, Commissario, aber anscheinend sind es viele.»

«Wie viele?»

«Der Baustellenleiter sagt, es sind noch weitere Schädel dabei.»

Arcadipane schweigt. Die Fensterläden sind offen. Der Tag draußen hat nichts mit dem gestrigen gemeinsam. Zwar scheint die Sonne nicht, aber der Himmel ist hell, der Jahreszeit angemessen.

«Schick Lavezzi und Mario, sie sollen mich abholen. Du fahr unterdessen mit drei Männern hin, riegle alles ab und sag denen, sie sollen aufhören zu buddeln. Und gib Sarace Bescheid.»

«Ich habe ihn eben angerufen. Er kommt, sobald er beim Friseur fertig ist.»

Arcadipane beendet das Gespräch. Er kratzt sich an einem Hoden, der ihm weh tut.

Lavezzi zufolge gibt es eine thailändische Methode, bei der man die Eier in die Länge zieht wie eine Scamorza, tut höllisch weh, aber danach muss es himmlisch sein. Das hängt damit zusammen, dass sie von den Unterhosen und den engen Hosen eingequetscht sind, und mit dieser Methode … Man muss aber aufpassen, sagt Lavezzi, in der Stadt gibt es nur zwei Adressen, wo das seriös gemacht wird, alles andere ist halbe «Hurerei», wie er meint. Man riskiert, mit einer schwer zu erklärenden Sache in der Notaufnahme zu landen.

Arcadipane gießt sich den Kaffee ein und kratzt sich den Bart, mit derselben Hand wie den Hoden.

Kapitel 5

Am Tag zuvor war der Ort nicht leicht zu finden gewesen, in dem Regen.

Hinter dem Dorf, das war der letzte Hinweis, den Pedrelli ihm telefonisch gegeben hatte, war er in ein paar Fahrwege eingebogen, die zu Gehöften führten, wo ein Alter ihm gedroht hatte, er werde die Carabinieri rufen, und ein Junge ihn blöde angeschaut und mit einer Zeitungsseite vor dem Gesicht herumgewedelt hatte. Wie er schließlich auf den richtigen Feldweg gekommen war, hätte er nicht sagen können. Dafür hatte ihn, als er im Regen zwischen den Feldern herumfuhr, das Bild überfallen, wie er und Mariangela das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Ein jäher und schmerzlicher Gedanke, wie eine aus der Entfernung gesehene Jugend, was ihn gezwungen hatte, rechts ranzufahren und ein wenig zu warten, ein paar Lakritzbonbons zu essen, bevor er weiterfuhr.

«Rechts abbiegen», sagt er, gleich nachdem sie die Handvoll Häuser hinter sich gelassen haben, wo er eine Trattoria wiedererkennt.

Lavezzi gehorcht. Er ist jung, wortkarg, ohne große Bildung, aber nicht dumm. Auf seinem Schreibtisch hat er fünf oder sechs Schlümpfe, die er jeden Monat austauscht, was in Kontrast zu der Tatsache steht, dass er im Haus der Bäckerei wohnt, die seine Eltern betreiben, und ein eingefleischter Bordellgänger ist, unempfänglich für jede andere Form der Beziehung zum anderen Geschlecht. Widersprüche, die aus ihm einen fähigen und nicht ganz unangenehmen Polizisten machen. Vor allem, weil er wenig spricht.

Mario hingegen, der hinter ihm sitzt, ist ganz einfach der Typ von Polizist, der den Po schon gesehen hat, als die Leute noch auf den Sandbänken bei der Piazza Vittorio badeten.

Er ist auch der Einzige da drin, der auf jemanden geschossen hat. Auf einen von Prima Linea, während eines bewaffneten Überfalls in den siebziger Jahren. Eine einzige Kugel ins Herz, während der andere mit einem Maschinengewehr wild um sich ballerte. Für ein paar Jahre wurde er in eine Kleinstadt in Mittelitalien versetzt, um ihn nicht zur Zielscheibe werden zu lassen. Nach seiner Rückkehr hatte er seinen Dienst wieder aufgenommen, ohne den anderen auf den Wecker zu fallen mit Reden wie «damals, als ich …», oder «was könnt ihr schon davon wissen, die ihr …». Er schweigt und setzt darauf, dass die weißen Haare ihre Wirkung tun. Denn er weiß, dass diejenigen, die die Sandbänke nicht gesehen haben, einer anderen Rasse angehören, sie würden das nicht verstehen.

«Bieg hier ab, dann geradeaus», sagt Arcadipane.

Lavezzi biegt in den Feldweg ein. Der Wagen gerät ins Schlingern, weil der Weg voller Morast ist und diese neuen Fiats nur Stiefkinder der alten Alfas sind. Lavezzi schaltet in einen niederen Gang und lässt den Motor hochtourig laufen. Neben dem Feldweg ist ein Bewässerungskanal. Keiner von den dreien hat Lust, sich abschleppen zu lassen.

In der Ferne taucht die Spitze eines Krans auf, dann der Greifer des Baggers, der Container und sieben oder acht Autos.

«Allem Anschein nach sind wir nicht allein», sagt Lavezzi.

Arcadipane bemerkt den Geländewagen eines Lokaljournalisten aus Turin. Ein Idiot, aber harmlos. Einer, der lang nachdenkt, bevor er etwas veröffentlicht, wobei es in seinem Fall besser wäre, er würde das Erstbeste, was ihm in den Sinn kommt, drucken. Wenn der Keller dumpfig ist, sollte man die Salami nicht zu lang darin hängen lassen.

Sie halten auf der matschigen Fläche, die mittlerweile zum Parkplatz wurde. Da sind auch der blaue Leichenwagen, der Pick-up des Baustellenleiters und drei oder vier von ihren Streifenwagen.

«Schauen wir, wie die Dinge liegen», bemerkt Arcadipane.

Sie steigen aus und gehen auf die Baustelle zu, wo etwa zwanzig Personen herumstehen. Arcadipane trägt die Jacke von gestern, die in der Nacht auf der Heizung getrocknet ist, aber er hat die Schuhe gewechselt. Mokassins. Er hatte nichts anderes.

Während er auf das zugeht, was ihm der Mittelpunkt der Sache zu sein scheint, bemerkt er zwei Männer, die mit Nicolae und Roman, den beiden rumänischen Cousins, reden und rauchen. Alle vier scheinen sich köstlich zu amüsieren.

«Commissario!», sagt Pedrelli und kommt auf ihn zu.

Arcadipane bleibt stehen und wartet auf ihn. Mario und Lavezzi ebenfalls, ein paar Schritte hinter ihm.

«Ich habe versucht, Sie anzurufen, aber Sie sind nicht rangegangen», sagte Pedrelli kopfschüttelnd. «Scheinbar übernehmen alles die Mailänder.»

Arcadipane sieht sich um, mit einem Gefühl, wie zu spät zu einer Geburtstagsfeier zu kommen, wenn auf dem Tisch schmutzige Teller und die Platten mit ein paar Beignets zurückbleiben, die die Kinder angetatscht haben oder die keiner gewollt hat, weil die Torte besser war.

«Was für Mailänder?»

Pedrelli zeigt auf einen großen Typen, viele Haare, nicht eben kurz, der die Arbeit von drei Männern in weißen Overalls beaufsichtigt, in einer großen Grube, die gestern noch nicht da gewesen war. Köfferchen, ein paar Fähnchen, Tragbahren und Metallkisten.

«Commissario Nascimbene», sagt Pedrelli. «Sie sind Spezialisten für solche Sachen.»

Arcadipane sieht den Baustellenleiter Coletto, der ganz in der Nähe ununterbrochen auf den Journalisten einredet. Die Begegnung zweier Geistesgrößen. Er zündet sich eine Zigarette an und geht zu dem weißen Zelt, wo der Mann mit den vielen Haaren das Orchester leitet.

«Nascimbene», der streckt ihm die Hand entgegen. «Entschuldige, dass ich dich nicht vorher angerufen habe, aber das ist wie beim Schiffeversenken. Du nimmst das Kästchen ein, und solange du nicht um dich schießt, weißt du nicht, wie groß das Schiff ist.»

Arcadipane ergreift die Hand, nur kurz. Er betrachtet die Grube, wo die drei Spezialisten mit gesenkten Köpfen herumhantieren. Nicht sehr tief, aber größer als die von gestern. Ein Dorfplatz.

«Was habt ihr gefunden?»

Nascimbene, knochige Schultern, große Zähne, der Typ von Hochgewachsenen, die Tennis spielen und sich im Alter eine passable Figur bewahren, betrachtet die Ausgrabung ohne sonderliche Befriedigung.

«Etwa zehn Skelette», sagt er. «Wir haben die Grube noch um sechs Meter erweitert, aber es ist nichts mehr zum Vorschein gekommen. Gewöhnlich heißt das, dass nicht mehr da ist.»

Er lässt die Hand in die Tasche seines Trenchcoat gleiten, holt ein Päckchen Kaugummi hervor und bietet Arcadipane davon an. Der deutet auf seine Zigarette. Nascimbene nimmt einen Kaugummi heraus und steckt ihn in den Mund.

«Man soll es nicht glauben, wie viele davon auftauchen», er schüttelt den Kopf. «Allein im letzten Jahr haben wir fünf gefunden. Mit einer Ausnahme alles aus dem Krieg.»

«Was für eine Ausnahme?»

«Ein kleines Dorf in der Nähe von Verona», er kratzt sich mit dem Kaugummipäckchen über dem Ohr. «Die Carabinieri rufen uns, weil auf einem Feld Knochen sind. Wir fahren hin, graben nach, fünfundzwanzig Skelette. Viele mit einem Kreuz um den Hals. Siehst du den mit den Stiefeln?», er weist auf einen der drei im weißen Overall. «Er ist in Bosnien gewesen. Massengräber so groß wie Fußballfelder. Zwei-, auch dreihundert Leichen. Er sagt zu mir: ‹Das sind Mönche.› – ‹Wie Mönche?›, sage ich. ‹Überall Ziegelsteine›, sagt er. ‹Hier war ein Kloster oder etwas Ähnliches.› – ‹Natürlich›, sage ich. Wir packen alles zusammen und fahren nach Hause. Letzte Woche ruft mich der Gerichtsmediziner an, der die Untersuchung durchgeführt hat. Die Kreuze sind mittelalterlich, die Knochen auch. Die Krypta eines alten Klosters, von dem niemand etwas wusste.»

Nascimbene steckt die Kaugummis wieder in die Tasche.

«Aber das ist ein Fall von tausend, sonst ist es das Übliche: Partisanen, Faschisten, Abrechnungen während des Kriegs oder danach. Mit Sicherheit wissen hier in der Gegend ein paar Alte noch, wer sie sind und wer sie umgebracht hat, aber wenn sie es bis jetzt nicht gesagt haben … Und auch wenn sie es sagen, sollen wir einen Prozess gegen Tote führen? Gegen Leute im Hospiz? Trotzdem Gerichtsmediziner, Spurensicherung, Identifizierung, Papierkram …»

Arcadipane denkt nach. Nascimbene sieht ihn an. Er lächelt.

«Wie erleichtert bist du?»

Arcadipane schüttelt den Kopf, um zu bedeuten, dass er nicht verstanden hat.

«Dass wir dir diese Schererei abgenommen haben.» Nascimbene kratzt sich an einer Stelle auf der Wange, wo kein Bart wächst. Eine alte Brandwunde. «Stell dir vor, ihr hättet einen Fall eröffnen müssen.»

Arcadipane zertritt die Zigarette im Schlamm und sieht auf die Hochgeschwindigkeitstrasse, auf der gerade nichts vorbeikommt. Jetzt, wo die Luft ruhig und sauber ist, sieht man hinter der Böschung den oberen Teil der Lkws, die auf der Autobahn fahren.

«Sind die Knochen da drin?», fragt er und deutet auf das Zelt hinter ihnen.

«Schon im Lieferwagen», Nascimbene schüttelt den Kopf. «Sinnlos, jetzt damit anzufangen. Wir packen alles ein und stören nicht länger. Dann versuchen wir in aller Ruhe, etwas herauszubekommen. Wenn du nichts dagegen hast, gebe ich ab morgen auch die Baustelle wieder frei. Dem Direktor pressiert’s. Entschuldige, wenn ich dich hab kommen lassen, aber es ist doch in jedem Fall besser, persönlich miteinander zu reden, oder?»

Arcadipane drückt ohne Begeisterung die rechte Hand, die Nascimbene ihm entgegenstreckt.

«Ach, fast hätte ich es vergessen», sagt Nascimbene. «Schickst du uns das, was ihr gestern gefunden habt? Die Adresse habe ich deinem Vize gegeben. Das bringt nichts, aber nur so … der Vollständigkeit halber! Ich möchte ja nicht, dass du womöglich ein Bein hast und wir den Kopf …»

Arcadipane lacht nicht.

«Okay», sagt er.

Er geht auf seine Leute zu und bedeutet ihnen, dass sie zu den Autos zurückkehren können. Alle setzen sich in Bewegung, außer Pedrelli, der auf ihn wartet.

«Sage ich Sarace, dass er nicht mehr gebraucht wird?», fragt er und tritt neben ihn.

Arcadipane nickt und macht ein paar Schritte, dann geht er plötzlich auf den blauen Leichenwagen zu. Der wachhabende Polizist steht vor den geschlossenen Türen und spricht am Handy. Vermutlich mit einer Frau, denn er wiegt sich in den Hüften und berührt sein Haar.

«Na?»

Er sieht ihn an, dann Pedrelli. Beide hat er noch nie gesehen.

«Du bist im Dienst», sagt Arcadipane. «Was gibt’s da zu telefonieren?»

Der Beamte nimmt das Smartphone vom Ohr, senkt es bis zur Tasche und lässt es darin verschwinden, alles, ohne die beiden aus den Augen zu lassen. Er ist jung, das Gesicht eines Schönlings.

«Sind die Knochen da drin? Werfen wir einen Blick darauf?»

Langsam öffnet der Beamte die Tür.