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In einem piemontesischen Tal wird ein Mann umgebracht: Cesare gilt als Hauptverdächtiger für den Mord an seinem Kumpanen Fausto, mit dem er jahrelang Flüchtlinge von Italien über die Berge nach Frankreich gebracht hat. Hat die Tat einen politischen Hintergrund? Und warum umgibt die Dorfbewohner eine explosive Stille? Welches Geheimnis hüten sie? Erst als eine Frau das Schweigen bricht, kommt es zu einer überraschenden Wendung und Cesare, der Steingänger, der Wahrheit gefährlich nahe ... «Ein Meisterwerk ... und sein Autor eine große Entdeckung.» (Brigitte) «Davide Longo ist einer, der dafür steht, dass es endlich wieder spannende italienische Gegenwartsliteratur zu entdecken gibt.» (KulturSpiegel) «Satz für Satz schreitet der Leser durch dieses Buch und fühlt sich am Ende wie nach einer langen Wanderung - rechtschaffen schwer und ruhig und glücklich.» (Der Tagesspiegel)
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Seitenzahl: 205
Davide Longo
Der Steingänger
Roman
Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein
Ihr Verlagsname
In einem piemontesischen Tal wird ein Mann umgebracht: Cesare gilt als Hauptverdächtiger für den Mord an seinem Kumpanen Fausto, mit dem er jahrelang Flüchtlinge von Italien über die Berge nach Frankreich gebracht hat. Hat die Tat einen politischen Hintergrund? Und warum umgibt die Dorfbewohner eine explosive Stille? Welches Geheimnis hüten sie? Erst als eine Frau das Schweigen bricht, kommt es zu einer überraschenden Wendung und Cesare, der Steingänger, der Wahrheit gefährlich nahe ...
«Ein Meisterwerk ... und sein Autor eine große Entdeckung.» (Brigitte)
«Davide Longo ist einer, der dafür steht, dass es endlich wieder spannende italienische Gegenwartsliteratur zu entdecken gibt.» (KulturSpiegel)
Für Paquita
und für Emma,
denn mit ihr kam auch sie.
«Lange vor Morgengrauen merkte ich, dass ich das, was ich herauszufinden suchte, schon immer gewusst hatte. Dass Mut stets eine Form der Beständigkeit ist. Dass ein Feigling stets zuerst sich selbst im Stich lässt. Danach fällt ihm jeder andere Verrat leicht.»
Cormac McCarthy, All die schönen Pferde
Cesare schnitt ein dünnes Stück vom Toma-Käse ab, klappte das Messer wieder zu und betrachtete durch das Fenster den langsam kommenden Abend.
Noch hoben sich die Bergkämme vor der untergehenden Sonne ab, aber unten im Tal hatten die Pinien bereits das matte Grün der Abenddämmerung. Auf der anderen Seite des Flusses lagen noch einige Heubündel auf den Feldern. Auf den Hängen schaukelte ein träger Wind die Buchen und Kastanien ins Dunkel.
Er schob sich ein Stück Brot mit Käse in den Mund und kaute so lange, bis der Käse wieder zu Milch, bis das Brot wieder zu Getreide wurde.
Nur noch schwach kam das Licht ins Zimmer. Gegen die Wände konnte man einen Küchenschrank, einen alten Kühlschrank, die Spüle und wenige andere Möbel erkennen, die mit der Zeit nachgedunkelt waren. Eine Truhe aus Kirschbaumholz lag, ein dickes Tier mit kurzen Beinen, zusammengekauert neben der Tür.
Unter dem Tisch ertönte ein Schnaufen.
Cesare senkte den Blick und sah in die Augen der Hündin. «Brav, Micol, brav», sagte er und streckte seinen Arm aus.
Die Hündin zog die Lefzen hoch und nahm die Käserinde vorsichtig mit den Zähnen, um seine Finger nicht zu streifen.
Cesare musterte sie.
Sie war eine Promenadenmischung. Den schmalen, nervösen Rücken, wie geschaffen zum Rennen, hatte sie von ihren wölfischen Ahnen. Das Braun ihrer Augen und ihre Anhänglichkeit dagegen von ihren an Arbeit gewohnten Vorfahren.
Das Telefon klingelte.
Cesare ging gemächlich zu dem alten, grauen Apparat auf der Konsole.
«Ja?»
Die Stimme des Pfarrers drang gedämpft aus dem Hörer.
«Nein, nein, Sie stören nicht.»
Während Cesare lauschte, sah er zum heiligen Josef auf der Werkbank. Daneben standen vier weitere Holzscheite, die zum Schnitzen noch zu weich waren. Bei einem konnte man erkennen, wie er Gewandfalten geübt hatte.
«Bis Ende Oktober, wenn es nicht allzu feucht ist», sagte er, zog eine Gitane aus der Hemdtasche und zündete sie an, dabei hielt er die Hand schützend vor das Streichholz. Er musste lächeln – während seiner Zeit auf See hatte er sich diese Geste angewöhnt. Selbst dreißig Jahre ohne Meer hatten nicht ausgereicht, um ihm diese Gewohnheit auszutreiben.
Der Pfarrer jammerte über den Wind, der in diesen Tagen durchs Tal fegte, dann erwähnte er eine Kirchenbank, die repariert werden musste, und all die Arbeiten, die er früher ganz allein erledigt habe, was jetzt aber nicht mehr ginge. Cesare sah ihn vor sich, in seinem immer gleichen schwarzen Gewand, die Augen fast blind, doch noch immer von lebendigem Blau, die Hände spröde wie Trockenblumen.
«Bonsoir», verabschiedete er sich schließlich, als würde das Französische höflicher klingen, dann legte er auf, und die Stille kehrte ins Zimmer zurück.
Behutsam deckte er den Tisch. Auf das Wachstuch kam ein Krug Wein, ein Baguette, ein Löffel, ein tiefer Teller und die rote Serviette mit den zwei eingestickten Monogrammen.
Er nahm den Topf vom Herd und schüttete die Suppe in den Teller. Dampf stieg zu den Deckenbalken, und die Küche füllte sich mit Majoranduft.
Er schaltete das Radio ein.
Die metallische Stimme berichtete von der Verhaftung eines Politikers und von der Hochzeit an einem Königshof mit über zweitausend geladenen Gästen.
Cesare lauschte, er blickte dabei stets auf den kleinen Ausschnitt des Gebirges und des Himmels, den das Fenster freigab, dann schaltete er das Radio aus und trank einen Schluck Wein, wie jeden Abend nach dem Essen.
Er trug das Geschirr zur Spüle, krempelte die Ärmel hoch, um abzuspülen, doch aus dem Hahn kamen nur ein paar Tropfen und das Glucksen in der leeren Leitung.
Cesare verzog den Mund.
Vor zehn Jahren war er als Einziger dagegen gewesen, den Fluss zu verbauen. Die anderen vier Parteien aus dem Dorf hatten alle unterschrieben, und so hatte die Gemeinde die Arbeiten zur Trinkwasserversorgung eingeleitet.
Zwei Monate lang hatten die Bagger das Flussbett des Cumbo Scuro ausgehoben.
Mit Karabinerhaken hatte man die Bagger am Fels gesichert. Tagsüber hatten sie beim Zerschlagen von Steinen und Bäumen geheult, abends nach Feierabend hatten sie einsam und verlassen dagestanden und ihre riesigen metallischen Münder dem Mond entgegengereckt.
Von da an verstopfte im Herbst immer wieder Treibholz die Rohre, und das Dorf hatte kein Wasser.
Cesare sah zu den Bergschuhen neben dem Ofen und überlegte, ob er jetzt noch hochgehen oder lieber bis morgen warten sollte, da ertönten aus Villar sieben Glockenschläge, die ihm sagten, wie lange es noch hell war.
Er band seine Schuhe, legte Holz nach und trat hinaus.
Die Luft war klar, aber ein trockener Wind von den Bergen bog die Wipfel der Tannen. Cesare knöpfte seine Jacke zu und sah auf den Fleck über den Bergen, die das Tal abriegelten. Wolken voller Kälte beugten sich von Frankreich herüber, so wie sich jemand aus dem Fenster lehnt und andeutet, er komme gleich herunter.
Von der Bundesstraße herauf hörte man den Bus hupen.
Cesare sah gerade noch, wie der Bus in die Straße nach Torrette einbog, dann entfernte sich das Geknatter des Diesels wieder. Zurück blieb eine Stille aus vielen kleinen Geräuschen, keines übertönte das andere.
Er dachte an Adelmo am Steuer und die anderen, die hinter ihm saßen.
Sie würden nicht allzu spät nach Hause kommen und dann mit jemandem, der auf sie wartete, zu Abend essen und dabei die sich langsam verdunkelnden Berge betrachten, schließlich würden sie in ihren Betten einschlafen, und am nächsten Tag würde sie um sechs Uhr morgens derselbe Bus zur selben Arbeit zu einem neuen Tag fahren.
Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und bevor dieser seinen Magen erreichte, pfiff er der Hündin und machte sich wieder auf den Weg in Richtung Dorf.
Er überquerte die Wiese mit Kamille und Königsfarn, dann ging er durch den Torbogen bei der Kirche, noch vor den Häusern bog er nach links querfeldein und stieß auf den kleinen Weg nach Champaneise.
Der stieg ganz gemächlich an. Den Trampelpfad hatten früher die Frauen einmal angelegt, wenn sie zum Fluss mussten, um Hanf zu hecheln. In weiten Serpentinen schlängelte er sich nach oben, so hatten sie gemütlich plaudern und den Ausblick genießen können.
Als Cesare die Säule erreichte, setzte er sich auf die Stufen, direkt unter den Kranz aus künstlichen Blumen und die Aufschrift Virgo Sanctissima.
Er zündete sich eine letzte Zigarette an, durch den blonden Rauch hindurch betrachtete er die Hütten im Dorf, ganz klein und flach lagen sie unter ihm. Seine, auf dem Grat, sah aus wie ein einzelner Schuh.
In diesen Häusern hatten ganze Generationen von Männern und Frauen das Brot selbst gebacken, den harten Wintern getrotzt und Kinder großgezogen, die einmal genau dasselbe tun würden. Jetzt waren ihre Hütten nur noch leere Schneckenhäuser. Nach dem Krieg waren die meisten von ihnen nach Frankreich ausgewandert, ein paar nach Argentinien, eine Familie nach Deutschland. In den folgenden Jahren waren dann auch die restlichen ins Tal gezogen, in die Nähe der Fabrik, in der sie mittlerweile arbeiteten.
Cichin war der Letzte gewesen. Vor zwei Jahren hatte er sein Vieh verkauft und war runter ins Heim gezogen. Seitdem hatte Cesare keinen mehr zum Kartenspielen.
Die Hündin kam und schlich nervös um ihn herum.
«Sitz!», sagte Cesare – wenn er rauchte, musste alles um ihn herum absolut ruhig sein –, und die Hündin setzte sich.
Weiter unten hörte man das Fahrzeug der Zollbeamten, die die Grenzschranke geschlossen hatten und nun wieder ins Tal fuhren. Der Bach floss langsam und still und schmiegte sich den Kurven der Straße an.
Cesare nahm einen tiefen Zug, mit einem Finger berührte er die Frau, die auf der Gitanes-Schachtel tanzte.
Wie immer dachte er an Adele.
Als die Zigarette aufgeraucht war, hatten die Wolken, die er zuvor in der Ferne gesehen hatte, den Abendhimmel aufgezehrt.
Hinter den letzten Hügeln veränderte das Gebirge sein Gesicht. Das Gras wuchs dichter, und vereinzelte Holunderbüsche drangen in das immer gleiche Gelb und die immer gleichen Felsen.
Der Pfad führte weiter bergauf, vorbei an Mauern, die die Leute aus dem Tal hochgezogen hatten, um dem Wald ein Stück Land zu entreißen. Seit sich keiner mehr um die Terrassen kümmerte, wucherten darauf wilde Brombeeren und Brennnesseln. Die Steine begrenzten noch immer den Hang, Verteidigungslinien aus vergangenen Zeiten, die dem Feind nicht trotzen konnten.
Der Ruf eines Mäusebussards gellte durchs Tal.
Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, hob Cesare den Blick. Die Wolken oberhalb der Grenze schienen sich nicht zu bewegen, doch das enge Kreisen eines Raubvogels deutete auf einen Wechsel der Jahreszeit hin. Die Hündin lief voraus, die Schnauze knapp über dem Boden, sie folgte irgendeiner Fährte und kümmerte sich gar nicht um die Amseln und Drosseln, die sie aufscheuchte und die aufgebracht aus den Sträuchern flogen.
Nach zwei Kehren mischten sich Eichen und Kastanien unter die Buchen, ein dumpfes Rauschen aus der Tiefe stieg nach oben und kündigte den Bach an. Da verließ Cesare den Pfad, folgte einem Weg, den er von früher kannte, und nahm eine Abkürzung, die auf einen dichtbewachsenen Fleck zuführte.
Als er diesen Weg das erste Mal genommen hatte, war er sechs gewesen.
Er konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern, an die grauen Schürzen der Frauen, an den Geruch des verfaulenden Hanfes und das rote Fell des kleinen Hundes, den er damals hatte, dessen Name ihm jetzt aber nicht mehr einfiel, weil danach noch so viele andere Hunde gekommen waren.
Als er den Fluss erreichte, blieb er stehen und betrachtete das Wasser in der Tiefe.
Die Strömung hatte sich hier in den Felsen gefressen, wie ein Messer, das Polenta teilt, und ein dichtes Gewirr aus Birken, Akazien und Farn war auf der verletzten Stelle gewachsen, ohne sie zu heilen. Ungefähr zwanzig Meter weiter unten bildete das Trinkwasserreservoir ein kleines Becken, in dem sich das bisschen Licht von oben spiegelte.
Cesare kraulte der Hündin den Nacken.
«Warte hier.»
Er ergriff einen Ast, schlug sich einen Weg durch den Farn und stieg hinunter zum Bach.
Ab und zu mischte sich ein säuerlicher Gestank unter den Moschusduft. Cesare dachte, vielleicht ein verendetes Tier, das zum Trinken an den Bach gegangen war und dann keine Kraft mehr gehabt hatte, um wieder hochzusteigen. In ein paar Tagen würden Füchse und Marder die Stelle wieder säubern, und der Winter würde sich um die letzten Reste kümmern und sie dem Gebirge zurückgeben.
Als er beim Becken war, überlagerte der Verwesungsgestank jeden anderen Geruch.
Cesare sah sich um.
Das Wasser des Beckens war ruhig und dunkel. Am Rand wuchs Farn, der nass glänzte. Oben schaukelte das Laub leise im Wind. Hier unten wehte kein Lüftchen.
Er zog eine Gitane aus seiner Hosentasche, die er für den Abend eigentlich gar nicht mehr vorgesehen hatte.
Als er den Kopf ein wenig neigte, um die Zigarette anzuzünden, tauchte etwas aus dem Wasser auf.
Cesare kniff die Augen zusammen, und im Widerschein der Flamme erblickte er den bleichen und aufgedunsenen Bauch des Mannes. Kurz darauf kam auch das Gesicht zum Vorschein. Es hatte die Farbe gestockter Milch.
Cesare betrachtete die schwarzen Haare, die sich mit der Strömung bewegten, und fühlte, wie sich der Schatten um ihn legte.
Der Körper schaukelte sanft, das Rohr hatte die Beine verschluckt, wie ein Mund, der beim Essen allzu gierig gewesen war. Die Arme waren an mehreren Stellen gebrochen und unnatürlich nach unten geknickt.
Er senkte den Blick und starrte wer weiß wie lange auf seinen eigenen Atem, der in der kalten Luft kondensierte.
Die einzigen Laute aus dem Tal waren das Gurgeln des weißen Schaumes, der sich zwischen den Steinen im Kiesbett aufbäumte, und der Ruf einer Eule aus dem Wald, die die Nacht ankündigte.
Cesare ging einen Schritt nach vorn, um das Gesicht des Mannes zu betrachten.
Faustos rechtes Ohr baumelte nur noch an einem dünnen Stück Haut. Eine kleine Forelle schwamm dicht um ihn herum, immer wieder öffnete und schloss sie ihre Lippen.
Eine Tasse Milch in der Hand, die Augen vom Schlaf ganz verklebt, stand Sergio auf dem Balkon und sah, wie die grauen, dichten Wolken auf das Tal drückten. Vom Wind, der sie herangetragen hatte, war nur noch das Rauschen der Blätter zu hören. Durch die Stofffetzen und das herumwirbelnde Laub sah der Hof aus wie eine Piazza nach dem Wochenmarkt. Ein paar dumm gackernde Hühner stelzten um den Misthaufen herum, die anderen Tiere hatten den Wechsel der Jahreszeit gespürt und waren im Stall geblieben.
Er trank einen Schluck, kramte in seiner Hosentasche, zog eine völlig zerknitterte Zigarette heraus und steckte sie sich an. Aus dem großen Becken unter dem Kirschbaum drang das monotone Gluckern des Wassers. Unten im Tal sahen die Häuser von Sampeyre aus wie Hundewelpen, die sich eng aneinanderschmiegen, um sich vor der Kälte zu schützen.
«Sergio», schrie jemand, die Stimme kam von unten, schon war sie wieder weg.
Sergio sah seine Katze Pona an, die auf der Motorhaube des Traktors schlief. Sie war genauso alt wie er und, soweit er sich erinnern konnte, immer schon blind und taub gewesen. Er nahm einen tiefen Zug. Unter den Fingern fühlte er seinen Bart, der gewachsen war und an seine Lippen grenzte.
Dann wieder: «Sergio», diesmal etwas schroffer.
Sergio stellte die Tasse ab, schwang sich übers Geländer, seine langen Beine federten ihn ab, sodass er mit einem dumpfen Ton im Hof landete. Beim Aufprall öffnete Pona die Augen, schloss sie aber gleich wieder, da sie sich wohl ihrer Blindheit bewusst geworden war.
Er drehte sich um, mit wenigen Schritten war er an der Stalltür. Er stützte sich an einem Balken ab und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Geruch nach Mist und Milch schlug ihm entgegen. Der Stall war ein langer, gewölbter Gang. Die Kühe zermalmten das saftige morgendliche Gras; wenn Hände aneinanderreiben, hört es sich genauso an. Ganz hinten war ein Mann über einen großen Kupferkessel gebeugt.
«Bring die Schnur auf den Traktor. Du musst das Heu zusammenbinden.»
Sergio betrachtete die Arme seines Vaters. Im Schummerlicht, das durchs Fenster fiel, waren es zwei gespannte Seile, das Gesicht war ein mit Stoff bezogener Stein.
«Es regnet doch gar nicht.»
Sein Vater durchquerte den Stall, dann säuberte er mit dem Lappen, den er am Gürtel trug, eine Tränke.
«Los, mach schon, es wird bald schneien», sagte der Vater nach einer Weile.
Sergio musterte die ausgelatschten Schuhe. Die Kuh, gleich neben der Stalltür, sie war ziemlich alt und klein, reckte ihren Hals und versuchte, mit ihren weichen Lippen an dem Strick zu knabbern. In ihrem linken Ohr hing die gelbe Plastikmarke mit der Nummer des Stalls und dem Namen des Bauern.
Irgendetwas im Hof erregte wohl ihr Interesse. Talina war durchs Tor gekommen, sie lief jetzt auf das Haus zu. Sie ging langsam. Die linke Hand auf den Stock gestützt, die rechte – kranke – in der Schürze versteckt.
«Ist dein Vater da?», fragte die Frau.
Sergio bemerkte ihren seltsamen Geruch nach Ziege und Kampfer. Ihre Augen mussten früher einmal tiefblau gewesen sein, was mit der Zeit verblasst war. Auch die kleinen Blümchen auf der Schürze schienen gealtert.
Aus der hintersten Ecke des Stalls ertönte die Stimme des Vaters, der sie aufforderte, doch hereinzukommen. Die Frau antwortete mit einer Redensart im Patuà-Dialekt, die irgendetwas mit Alter und Winter zu tun hatte, dann warf sie Sergio einen strengen Blick zu und ging die Stufe zum Stall hinunter.
Sergio warf seine Kippe auf den Boden, ganz verkrampft stand er da.
«Grüß dich, Nelino», hörte er die Alte sagen.
In der Ferne leuchteten zwischen den Häusern von Sampeyre ein paar Lichter, Rauchschwaden stiegen aus den Schornsteinen auf und vermischten sich mit dem Grau des Himmels.
Als er den Stall betrat, kniete der Vater gerade neben einer Kuh und nahm den Verband von ihrem Bein. Talina stand etwas abseits und sah ihm aufmerksam dabei zu. Im Widerschein der Gaslampe hatte ihr Gesicht die Farbe von Heu.
Sergio ging zu dem alten Tisch an der Wand und holte die Schnur aus der Schublade. Mit dem Messer schnitt er armlange Stücke ab.
Das verletzte Tier war eine Friesländerin und hieß Roma. Eines Abends war sie mit einer gerissenen Sehne von der Weide zurückgekommen. Der Vater hatte sie zwar genäht, aber mit der Zeit hatten der Mist und die Fliegen die Wunde infiziert, und seitdem hob das Rind sein Bein immer an, selbst beim Schlafen.
«Wir sind heute Morgen mit einem großen Unheil aufgewacht», sagte die Alte nach einer Weile.
Mit einem Ruck riss Nelino das Pflaster vom Bein. Vor lauter Schreck kackte das Tier, ein säuerlicher Geruch verbreitete sich in der Luft.
«Ich bin hier oben ja immer der Letzte, der was erfährt», sagte Nelino und untersuchte das eitrige, geschwollene Bein.
Talina stützte sich auf ihren Stock. Die Kühe waren fertig mit Wiederkäuen, im Stall lag nun die drückende Stille ihres Atmens. Eine hörte man trinken.
«Habt Ihr noch nicht von dem Toten gehört?»
Schlagartig drehte sich der Vater um und starrte die Frau an. Sergio ließ das Messer sinken.
Die Alte kaute auf irgendetwas herum. Auf ihrer Unterlippe war ein dunkler Fleck, als hätte man einen Kieselstein eingenäht.
«Der Franzose hat ihn beim Cumbo Scuro gefunden», fuhr sie fort. «Wenn der nicht zufällig oben gewesen wäre, hätte er vielleicht den ganzen Winter über dort gelegen.»
Das Rind, dessen Wunde nun offenlag, stöhnte leise auf. Nelino, noch immer Talina anstarrend, streckte eine Hand nach dem Tier aus und strich ihm über den Schenkel. Es wurde etwas ruhiger.
«Und wer ist es?», fragte er auf seine trockene Art.
Talina zuckte mit den Schultern.
«Angeblich dieser Fausto aus Caldane.»
Sergio drehte sich zum Fenster hin, er wollte nicht, dass man sah, was sich da gerade auf seinem Gesicht abspielte. Das Morgenlicht draußen war klar und scharf. Vom Himmel fielen nun weiße Flocken.
Im Stall herrschte so lange Schweigen, bis der Vater das Feuerzeug aufschnappen ließ.
«Solche Leute sterben nicht in ihrem Bett», hörte er sie noch sagen.
Auf der anderen Seite des Flusses sammelten sich die Heubündel auf den gemähten Feldern, die sie von der Pfarrgemeinde gepachtet hatten. Schon ein bisschen Schnee reichte aus, und das Heu fing an zu faulen.
Sergio fürchtete sich vor dem Schweigen hinter ihm und drehte sich um. Talina und der Vater blickten sich im Halbdunkel an.
«Jedem das Ende, das er verdient», meinte die Alte.
Nelino nickte.
Dann sah Sergio, wie die Frau ihre verkrüppelte Hand aus der Schürze zog und sich ganz schief bekreuzigte.
»Einen caffè lungo?»
Cesare nickte und setzte sich auf den Barhocker.
Lino drehte sich zur Espressomaschine, ließ mit einem doppelten Klick das Kaffeepulver herunter, ein metallisches Krächzen, und das Gebräu ergoss sich in die weiße Tasse.
Cesare knöpfte seine Jacke auf.
Einer der beiden alten Männer in der Ecke schielte ihn über die Karten hinweg an. Der andere, das Gesicht hinter seinem Glas versteckt, kippte einen Schluck Sambuca hinunter. Ansonsten war kein Mensch in der Kneipe, die Neonröhren über dem Billardtisch brannten nicht.
«Weiß man schon, wie’s passiert ist?», fragte Lino und stellte die Tasse vor ihm auf den Tresen.
Cesare trank den Kaffee schwarz, drehte sich zu der großen Glasscheibe hin und sah auf die Piazza. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Der Schnee überdeckte schon langsam ihre Farben.
Er hätte ja sagen können, Fausto sei hingefallen, weil er nicht aufgepasst habe, oder er habe Schmerzen gehabt, und so hätten seine Beine nachgegeben. Doch Lino wusste sehr genau, Typen wie Fausto fallen nicht einfach hin, ihre Beine geben nicht einfach nach! Er hätte höchstens sagen können, dass Fausto beschlossen hatte, als Letztes diesen Felsen und dieses Waldstück zu sehen.
«Nein, noch nicht», sagte er und verlangte nach einer Schachtel Zigaretten.
Die Tür ging auf.
«… so ein halber Zigeuner», war nur noch zu hören, und als die beiden Frauen Cesare sahen, verstummten sie.
Lino grüßte, damit es nicht ganz so peinlich war. Es waren zwei Schwestern aus Villar, die eine war mit einem Förster verheiratet, die andere war ledig und pflegte ihre alte Mutter.
Die Frauen bestellten Tee und setzten sich möglichst weit weg vom Tresen. Sie tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dann stierten sie wie gebannt auf die Bushaltestelle, als würden sie ihren Blick so lange nicht von ihr losreißen können, bis der Bus käme.
«Wie alt war er denn?», fragte Lino und streckte Cesare die Gitanes hin.
«Fast einunddreißig.» Er entfernte die Folie von der Packung und schob sich den Filter zwischen die Lippen.
Ein langgezogenes Röcheln kam aus der Ecke hinter der Theke.
Wie ein Soldat oder eine Heiligenfigur saß Minot in seiner Nische beim Telefon und fuhr mit der gelblichen Zunge über ein Zigarettenpapier. Die Hände hatten die gleiche Farbe wie der helle Tabak, den er gerade drehte.
«Er kann’s nicht lassen», sagte Lino, um das Thema zu wechseln.
Cesare sah zu dem Alten, der sich über die Flamme eines Streichholzes beugte.
«Es hätte ihm doch längst geschadet – so lange, wie der schon raucht.»
Lino fragte seinen Vater, ob er das gehört habe, und Minot antwortete mit einem zufriedenen Grinsen, wie immer, wenn er die Stimme seines Sohnes vernahm, der mit ihm sprach. Beim ersten Zug schien der Rauch aus sämtlichen Falten seines Gesichts zu strömen.
Cesare erinnerte sich, wie Minot vor dreißig Jahren – er war weder verheiratet gewesen, noch hatte man ihn jemals mit einer Frau sprechen sehen – im Dorf aufgetaucht war, mit diesem wenige Monate alten Säugling im Arm.
Die nächsten Tage hatte jeder seine Version zum Besten gegeben. Schließlich war ein Händler aus Mondovì, der durch die Täler zog und Esel verkaufte, mit der Wahrheit herausgerückt: Minot hatte eine Hure aus Cuneo neun Monate lang mit Geld überschüttet, damit sie ihm diesen Sohn austrage.
Jedem anderen hätte man das Leben zur Hölle gemacht, aber Minot gab den Männern immer Wein und damit den Frauen ihren lieben Frieden, weil so ihre Männer nicht ständig zu Hause herumhockten, außerdem spendete er jedes Jahr der Kirchengemeinde eine Flasche Wein, der halb zum Essen getrunken wurde, halb als Messwein diente. Deswegen, und weil er sein Pferd für die Prozession zur Verfügung stellte, hatte es keiner gewagt, ihn schief anzuschauen. Schon bald hatte er eine Amme gefunden, und zwei Wochen später, eines frühen Morgens, war die Taufe auch schon beschlossene Sache, mit Patentante, Patenonkel und zwei Verwandten von auswärts.
Cesare ließ die Asche auf den Boden fallen.
Vor dem Tresen war frisches Sägemehl ausgestreut. An solchen Dingen merkte man, dass das Dorf schon fast zu Frankreich gehörte.
Lino starrte wie gebannt aus dem Fenster.
Cesare drehte sich um, zwischen den dichtfallenden Schneeflocken konnte er die Umrisse von fünf dicken Autos sehen, die in der Mitte der kleinen Piazza geparkt waren, ein jedes mit einem angehängten Wohnwagen.
«Sinti», sagte einer der beiden Alten.
Cesare betrachtete die gelben Nummernschilder.
«Oben hat es bestimmt schon über einen Meter», sagte Lino.
In dieser Nacht war Cesare auf dem Weg ins Dorf an den Zollbeamten vorbeigefahren, als sie gerade den Grenzübergang schlossen, und bei dem vielen Schnee auf seiner Windschutzscheibe hatte er sich gedacht, jetzt wird es aber höchste Zeit, denn genauso viel Schnee legt sich gerade auf Faustos Körper.
Als er im Dorf war, war er gleich zur Wache gegangen und hatte geklingelt.