Schlichte Wut - Davide Longo - E-Book

Schlichte Wut E-Book

Davide Longo

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Beschreibung

Die piemontesischen Commissari Bramard und Arcadipane stehen vor einem ungewöhnlichen Fall: Ein vorbestrafter Junge wird verdächtigt, in der Turiner U-Bahn eine kolumbianische Immigrantin niedergeschlagen zu haben. Es gibt Aufnahmen von Überwachungskameras, die ihn am Tatort zeigen. Alles spricht für ihn als Täter, nur Commissario Arcadipane riecht, dass hier etwas nicht stimmt. Er holt sich Rat bei seinem ehemaligen Kollegen Corso Bramard. Die beiden sind ein unschlagbares Team. Die Spur führt zu einem sinistren Online-Spiel, in dem jemand junge Menschen dazu bringt, verbotene Dinge zu tun. Schreckliche Dinge. So weit der Fall. Aber da sind auch noch die familiären Umstände. Mit kühler Präzision beschreibt Longo die Melancholie einer Männergeneration, die es nicht hingekriegt hat, Beruf und Familie zu vereinen, nun die Rechnung dafür bekommt und nachzudenken beginnt. Alles eingetaucht in die einzigartige Longo-Stimmung, in piemontesische Regentage voller Tristesse und Poesie. 

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Davide Longo

Schlichte Wut

Ein Krimi aus dem Piemont

Roman

 

 

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

 

Über dieses Buch

Die piemontesischen Commissari Bramard und Arcadipane stehen vor einem ungewöhnlichen Fall: Ein vorbestrafter Junge wird verdächtigt, in der Turiner U-Bahn eine kolumbianische Immigrantin niedergeschlagen zu haben. Es gibt Aufnahmen von Überwachungskameras, die ihn am Tatort zeigen. Alles spricht für ihn als Täter, nur Commissario Arcadipane riecht, dass hier etwas nicht stimmt. Er holt sich Rat bei seinem ehemaligen Kollegen Corso Bramard. Die beiden sind ein unschlagbares Team. Die Spur führt zu einem sinistren Online-Spiel, in dem jemand junge Menschen dazu bringt, verbotene Dinge zu tun. Schreckliche Dinge.

So weit der Fall. Aber da sind auch noch die familiären Umstände. Mit kühler Präzision beschreibt Longo die Melancholie einer Männergeneration, die es nicht hingekriegt hat, Beruf und Familie zu vereinen, nun die Rechnung dafür bekommt und nachzudenken beginnt.

Alles eingetaucht in die einzigartige Longo-Stimmung, in piemontesische Regentage voller Tristesse und Poesie.

Vita

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Grinzane Cavour und dem Premio Via Po. Schlichte Wut ist der dritte Band seiner Krimireihe aus dem Piemont, die mit Der Fall Bramard begann und mit Die jungen Bestien fortgesetzt wurde.

 

Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u.a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.

Impressum

Die italienische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Una rabbia semplice» bei Giulio Einaudi editore s.p.a., Turin.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Una rabbia semplice» Copyright © 2021 by Davide Longo

Covergestaltung Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung Ladiras/Depositphotos, J.Diegoph/unsplash

ISBN 978-3-644-01213-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Serena

 

«Le jardin reste ouvert pour ceux qui l’ont aimé.»

Gott sei Dank hatten wir Angst vor nichts.

Jack London

1.

Arcadipane schiebt den Dienstausweis und eine Zwanzig-Cent-Münze beiseite und ertastet endlich das letzte der Lakritzbonbons, die er am Tag zuvor bei Elsa gekauft hat. Behutsam zieht er es heraus, streift die Flusen vom Grund der Tasche ab, steckt es sich in den Mund und wartet auf den Moment, in dem die Zuckerkristalle an der Oberfläche zergehen und das Lakritz mit Orangenöl Wirklichkeit wird. Eine Sache von drei Sekunden, dann steigt er aus, schließt seinen Alfa 33 ab und geht quer über den Hof auf die Glastür zu, die auf höheren Befehl im letzten Monat angebracht wurde.

Auf dem Betonsockel markiert eine aufgeklebte Linie die Stelle, an der die Überwachungskamera das Bild aufzeichnet und sich die Tür öffnet. Arcadipane steht da und wartet. Nichts.

«Verdammt.»

Er macht einen Schritt vorwärts. Nichts. Einen Schritt rückwärts. Nichts: Das Teil starrt ihn weiterhin mit seinem roten Auge von oben an, gleichgültig gegenüber seinen einen Meter und achtundsechzig mal neunundachtzig Kilo. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, sechzehn Uhr und drei Minuten, während ein letzter Sonnenstrahl in den Hof fällt und in die zwei Meter Vorzimmer dringt.

«Aber da soll doch einer …»

Er drückt das Gesicht an die Scheibe, wobei er sein Spiegelbild ignoriert, das verschwitzte Gesicht, die schlecht rasierten Wangen, die wenigen und zerrauften Haare, die in ihren urzeitlichen Höhlen versunkenen Augen. Fratamico thront in der Pförtnerloge wie das Jesuskind in seinen Windeln, den Kopf über den Computer gebeugt, bestimmt in seine Geschäfte mit Aquarien, Heizstäben und Wasserschildkröten vertieft.

«Scheißding …»

Arcadipane schaut zu den Fenstern hoch, die auf den Hof gehen. Niemand. Scheinbar. Aber wie viele hat er sich in den letzten Wochen unter dieser Überwachungskamera winden sehen, begleitet vom Grinsen der Kollegen hinter den Jalousien? Es gibt sogar ein Video, das jemand auf YouTube gestellt hat. Erst recht, wenn der Gelackmeierte dieser Arsch ist, der dir anschafft, geh hierhin, geh dorthin, mach den Bericht fertig, wie konntest du das nur vergessen … Ein gefundenes Fressen.

Er holt das Handy aus der Tasche und hält es unter die Überwachungskamera, tut so, als würde er eine Netzverbindung suchen. Nichts.

«Verdammt noch mal …»

Jetzt, sagt sich Arcadipane, schieße ich auf dieses Dingsda, geh rauf ins Büro und unterschreibe, dass an seiner Stelle ein Rollladen angebracht wird, eine Toiletten-Falttür, eine Schwingtür, ein … Die Tür öffnet sich.

In der Eingangshalle empfängt ihn der ungesunde Geruch von öffentlichen Gebäuden in der Übergangszeit: ein paar Heizkörper, die wer weiß warum noch an sind, billige Putzmittel, abgestandene Luft, Kaffee aus dem Automaten und Schuhsohlen.

«Ist sie nicht aufgegangen?», sagt Fratamico, den Finger noch auf dem roten Knopf für Öffnen.

«Was redest du denn da? Jeden Morgen stehe ich zehn Minuten vor der Tür, bis sich entscheidet, ob ich durchgelassen werde oder nicht! Sollten nicht die kommen, die sie montiert haben?»

«Sind sie auch. Und sind wieder gegangen», sagt Fratamico. «Ihrer Ansicht nach funktioniert das Teil millimetergenau. Man muss sich nur an den richtigen Punkt stellen.»

«Am besten schon drinnen, was?»

Fratamico sieht ihn an in Erwartung höherer Erleuchtung.

«Hör mal», befreit Arcadipane ihn von der Aufgabe, «lass sie offen. Es hat dreißig Grad hier.»

«Gewiss, Commissario. Immer offen.»

Arcadipane nimmt die Treppe, der Lift ist kaputt, geht durch den Flur, beantwortet die Grüße mit minimalistischer Gesichtsmimik, geradlinige zweiundfünfzig Meter beruhigende Heuchelei, dann erreicht er sein Büro, tritt ein und lässt die Tür offen. Ein Zeichen. Und tatsächlich kommt nach wenigen Sekunden Pedrelli, schließt die Tür hinter sich und setzt sich nicht, weil er sich nie setzt.

«Der Junge ist unten, Commissario. Wir haben ihn heute früh abgeholt, wie Sie gesagt haben.»

Arcadipane betrachtet den Mann, der seit zwanzig Jahren sein Vize ist: immer im Hemd, immer mit Scheitel, immer Piemontese, immer pünktlich, nie krankgeschrieben, immer anständig, immer altmodisch, immer nervig, immer, immer, was würde ich machen ohne ihn.

«Wie hat er reagiert?», fragt er.

«Er ist anstandslos mitgekommen. In der Wohnung war nur die Mutter. Sie weinte, aber nur ein wenig. Sie glaubt sicher, es geht um die übliche Drogendealerei.»

Arcadipane nimmt die Akte mit dem grünen Aktendeckel, die seit gestern spätabends auf seinem Schreibtisch liegt. Darauf steht in Druckbuchstaben U-BAHN, so wie jemand schreibt, der sich dabei nicht wohlfühlt. Also er.

«Erst schauen wir uns noch mal die Aufzeichnung an», sagt er und steht auf.

Diesmal grußlos gehen sie wieder durch den Flur, der vor sechs Jahren angelegt wurde, um die Büros nach amerikanischem Vorbild zu gestalten: nur durch eine Glasscheibe voneinander getrennt. Arcadipane schwerfällig wie ein Traktor, Pedrelli schmal und leicht wie ein Page. Zu ihrer Linken die Schreibtische der Kollegen, zwei oder drei pro Einheit: Die anderen sind draußen unterwegs, denn der Job des Polizisten wird zur Hälfte fürs Gehalt ausgeübt, zur Hälfte draußen.

Der Videovorführraum ist im Halbparterre. Francos Reich. Man braucht sich nicht anzumelden. Er ist immer da. Wenn er nicht an dem Material arbeitet, das ihm die Staatsanwälte rüberschieben, gestaltet er Videos von Hochzeiten, Firmungen, Rallyes und Fußballspielen. Damit verdient er sich was dazu, und niemand hat etwas dagegen einzuwenden, denn er macht seine Sache gut, ist pünktlich und entgegenkommend. Das bisschen Strom und die Abnutzung der Geräte werden den Staat schon nicht ruinieren.

Er sitzt am Bildschirm. Rötliche Haare und jungenhaftes Aussehen, auch wenn er sechsunddreißig Jahre alt ist, zwei Kinder hat, einen Abschluss in Informatik und so viel Verstand, dass er keine Karriere machen will.

Arcadipane setzt sich auf den Drehstuhl.

«Kann ich sie noch mal sehen?»

Franco klickt, und die Aufnahme, die er auf dem Bildschirm parat hatte, startet. Oben im Bild erscheint ein Timer mit Datum und Uhrzeit. Es beginnt bei zweiundzwanzig Uhr sechzehn, die Sekunden laufen schnell, wie Sekunden das so an sich haben. Eine Gestalt erscheint oben an der Rolltreppe. Franco hält sie in der Bildschirmmitte fest.

«Das ist er in der U-Bahn-Station Lingotto.»

Arcadipane streckt den Kopf vor. Franco vergrößert das Bild.

«Noch größer wird’s unscharf», sagt er, «so ist es am besten.»

Arcadipane schiebt sein Gesicht noch weiter vor, dann zurück auf der Suche nach der richtigen Entfernung. Der Typ trägt eine Kittelbluse, die in der Taille von einem Gürtel gehalten ist, und Strandbermudas mit vielen Blumen. An den Füßen Militärstiefel. Und er zieht sich eine Maske über.

«Wegen der Maske seid ihr sicher?»

Franco legt die Finger auf eine kleinere Tastatur. Ein anderer Bildschirm, der bisher dunkel war, geht an. Da ist eine Maske zu sehen, weiß, Augen, Nase und Mund dunkel, die Gesichtszüge zu einer Grimasse verzerrt. Die Bilder haben eine sehr gute Auflösung.

«Das ist der Horrorfilm, in dem sie zum ersten Mal benutzt wurde, danach wurde sie in einer Reihe von schwachsinnigen Filmen wieder verwendet. Du findest sie im Netz, in Supermärkten, in Schreibwarengeschäften. Ich würde sagen, es kennt sie mehr oder weniger jeder.»

Arcadipane lehnt sich zurück, dreht sich nach rechts und links, wippt auf und ab.

«Okay, jetzt zeig mir, wie er rauskommt.»

Franco arbeitet an der Tastatur, bis anstelle des vorigen Bilds in der U-Bahn-Station ein anderes erscheint: derselbe Typ, die Maske auf, er fährt die Rolltreppe hinauf. Franco hält das Bild an. Er zeigt auf den Timer.

«Principe d’Acaja, das sind elf Stationen. Zehn Uhr achtunddreißig. Warte- und Fahrtzeit mitgerechnet, das passt», er vergrößert das Bild, «und das ist der Kimono. Der Name des Fitnessstudios ist gut zu erkennen.»

Arcadipane legt die Hände vor den Mund, als wollte er hineinblasen. Er starrt auf die dunkle Schrift auf dem hellen Stoff.

«Der Besitzer des Fitnessstudios?»

«Ein seriöser Typ», sagt Pedrelli, der hinter ihm stehen geblieben ist, «Meister alter Schule, im Milieu kennen ihn alle. Er sagt, der Junge kommt seit zwei Jahren. Er weiß von den Vorstrafen, aber im Studio benimmt er sich gut. Er hat auch Wettkämpfe gewonnen. Keine Probleme mit den Kollegen.»

«Haschisch? Marihuana?»

«Er dealt vor seiner alten Schule und vielleicht auch in der Diskothek, wo er arbeitet, aber im Studio anscheinend nicht.»

Arcadipane steht auf, streift Franco an der Schulter, was seine Art ist, sich zu bedanken, und geht hinaus.

Sie steigen die Treppe ein Stockwerk hinunter, dann noch eins. Alles schweigend, denn ein älterer Boxer und sein Assistent haben sich auf dem Weg von der Umkleide zum Ring nicht viel zu sagen. Arcadipane macht dem Wachposten ein Grußzeichen und tritt als Erster ein. Pedrelli hinter ihm.

Der Junge sitzt an dem Tisch in der Mitte des Zimmers, das quadratisch scheint, aber in der Breite fehlen sechzehn Zentimeter. Er ist achtzehn, die Haare an den Seiten rasiert, oben in der Mitte etwas Schopf. Das übliche Arschgesicht aus den Mietskasernen.

Arcadipane geht an den Tisch und legt die Aktenmappe darauf ab.

Der Junge scheint nicht dick, aber er trägt eine weite Jacke. Arcadipane schaut seine Handgelenke an und sieht, dass sie kräftig sind, solide Mechanik, Material, das nicht bricht. Der Hals ist schlank, aber sehnig. Er stellt ihn sich vor dem Klub vor, bei dem er arbeitet, ein Scheißladen für Großkotzige, schwarze Lederjacke, Stiefel, der Blick hart und Knopf im Ohr. Die älteren Rausschmeißer hänseln ihn ein bisschen, ein bisschen halten sie ihn unter Kontrolle. Probleme hat es, scheint’s, keine gegeben. Oder jedenfalls keine Anzeige. Aber von solchen Lokalen kommen nie Anzeigen. Das wird intern geregelt.

Arcadipane rückt den Stuhl zurecht und nimmt Platz. Er schlägt die Akte auf und blättert sehr ruhig darin.

«Ich warte seit fünf Stunden hier!», bemerkt der Junge.

Arcadipane braucht ihn nicht anzusehen, er kennt das auswendig: gestylte Augenbrauen, zorniger Blick, kein Ohrring. Wahrscheinlich auch keine Tattoos. Vielleicht ein bisschen Fascho. Oder jedenfalls mit Tendenz dazu.

«Es war viel Verkehr», sagt er nur, während er ein Blatt Papier vors Gesicht nimmt, als ob er nicht gut sähe.

«Luca Apostolo. Was für ein Nachname ist das denn, Apostolo?»

«Ein Nachname. Könnt ihr mir verraten, was ich verdammt noch mal hier soll?»

Arcadipane nimmt ein anderes Blatt und hält es Pedrelli hin, der einen Schritt hinter ihm stehen geblieben ist.

«Was hältst du davon?», fragt er, ohne ihn anzusehen.

Nicht eben unbefangen liest Pedrelli.

«Ist das nicht merkwürdig?», hilft Arcadipane ihm.

«Ein bisschen», antwortet der Vize schüchtern.

Arcadipane legt das Blatt wieder in die Akte. Er klappt sie zu. Die Szene gelingt mal besser, mal schlechter.

«Sonntag nach zehn Uhr abends bist du an der Station Lingotto in die U-Bahn gestiegen und bei Principe d’Acaja wieder ausgestiegen. Was wolltest du in dem Viertel? Gab es da einen Maskenball? Oder läufst du gern auf diese Art verkleidet herum?»

Der Junge schaut nach der Seite, wo nichts ist. Im ganzen Raum gibt es nichts außer dem Schreibtisch, zwei Stühlen, der Tür und einem Spiegel, von dem jeder weiß, welche Funktion er hat.

«Weißt du, wer Dolores Mendes ist?»

«Nein», versetzt der Junge knapp.

Arcadipane holt die Zigaretten aus der Jacke, die er weder im Büro ausgezogen hat noch in dem Videoraum und die er auch hier nicht ausziehen wird. Sein Körper ist den Wechsel von warm und kalt gewohnt, von Schwitzen und Abkühlung. Seit mindestens zwanzig Jahren hat er kein Fieber. Und damals war das wegen der Muscheln.

«Das ist eine Frau, die jeden Abend um halb zehn bei Trofarello in die U-Bahn steigt, von Porta Nuova aus bis Principe d’Acaja fährt und um elf Uhr eine Philippinerin in der Pflege eines alten Bankdirektors ablöst, der jetzt mit Ausschüttungen anderer Art zu tun hat. Das bis um elf Uhr morgens, bis die Philippinerin wiederkommt. Das macht sie jeden Tag, einschließlich Samstag und Sonntag, für achthundert Euro, die sie fast alle an die Familie ihrer Schwester schickt, die … wo wohnt sie, Pedrelli?»

«In Kolumbien.»

«In Kolumbien. Hast du je einem alten Mann die Windeln gewechselt?»

Der Junge dreht sich nicht um, spricht nicht.

«Das macht sie üblicherweise, und daran ist nichts besonders Aufregendes, aber letzten Sonntag steigt sie aus der U-Bahn, geht um die Ecke und trifft auf einen Vollidioten, der sie zu Boden wirft, gegen den Kopf tritt und dann abhaut. Ein paar Personen, die am Fenster waren, sagen, dass er nicht einmal versucht hat, ihr die Handtasche zu rauben. Er hat sie geschlagen und basta. Und sie sind sicher, dass er einen Kimono trug, geblümte Bermudas, Stiefel und eine Maske. Sie kann das nicht bestätigen, weil sie im Koma liegt.»

Scheinbar hat der Junge keine Miene verzogen, aber er hat sie doch verzogen. Die Pupillen sind kleiner, als ob es im Raum heller geworden wäre. Die Augenbrauen haben eine andere Neigung, und die Farbe der Lippen ist anders, weil der Druck, mit dem sie aufeinandergepresst werden, anders ist.

«Das ist nicht wahr.»

Arcadipane raucht und lässt dabei eine fast sexuelle Wollust erkennen.

«Was ist nicht wahr? Dass du so angezogen warst? Dass die Mendes im Koma liegt? Oder dass auch der letzte Idiot weiß, dass es in der U-Bahn Überwachungskameras gibt?»

Der Junge schluckt, als ob der Speichel sich einen völlig neuen, einen jungfräulichen Kanal bahnen würde.

«Warum sollte ich sie schlagen? Ich weiß nicht einmal, wer das ist!»

«Pedrelli?»

«Ja, Commissario?»

«Wie oft waren wir schon in diesem Raum?»

«Oft.»

Arcadipane legt die Hände auf den Schreibtisch, die Ellbogen auf der Aktenmappe. Wenige Zentimeter von seinen Fingern entfernt liegen die des Jungen.

«Weißt du, warum die meisten, die an deinem Platz sitzen, getan haben, was sie getan haben?»

Der Junge denkt nicht. Er kann nicht denken. Eine Katze, die in den Brunnen gefallen ist, denkt an nichts. Sie springt und krallt sich an die Wände. Wenn sie nachdächte, würde sie das nicht tun. Sie würde verstehen, dass es sinnlos ist. Sie würde Energie sparen.

«Sie wussten es nicht», sagt Arcadipane. «Sie wussten nicht, warum sie es getan hatten.»

Er lehnt sich zurück, blättert wieder in der Akte. Es sind Fotos eingeheftet, aber ihn interessieren mehr die Seiten mit dem Stempel vom Jugendgericht, vom Sozialamt und vom Polizeipräsidium.

«Du wirst gern handgreiflich, sitzt gern in der Fankurve, hältst dich gern an Orten auf, wo es mitunter zu Schlägereien kommt, und du hast auch schon zwei Jugendstrafen wegen Drogendelikten auf dem Buckel. Um das Maß vollzumachen, hast du bei der zweiten Festnahme einem der Beamten die Nase gebrochen.»

«Und was die mir getan haben? Steht das irgendwo geschrieben?»

«Es ist mir scheißegal, was die dir getan haben», sagt Arcadipane ruhig. «Das ist nicht einmal die Hälfte von dem, was wir dir diesmal antun werden.»

Der Junge verschränkt die Arme und macht ein finsteres Gesicht. Ein Stück Scheiße. Ein Junge, den man auf einer Insel aussetzen und nach zehn Jahren wieder abholen sollte, um zu sehen, ob wenigstens die Natur etwas hat ausrichten können, denn wenn man sich auf das Jugendamt oder das Gefängnis verlässt …

«Das ist lang her», sagt er, «jetzt mach ich was anderes.»

«Ein anderer Klub, wo du dealst? Der Pausenhof der Schulen, wo du Joints verkaufst? Das Fitnessstudio, wo du Pillen verteilst?»

«Im Fitnessstudio verteile ich überhaupt nichts. Und ich habe mit der Frau da nichts zu tun!»

Arcadipane lacht und entblößt seine hässlichen Zähne.

«Und ob! Gleich nachher hören wir die zwanzig weiteren Personen, die am Mittwoch an der Station Principe d’Acaja zehn Minuten vor der Mendes ausgestiegen sind, im Kimono deines Fitnessstudios und mit der Maske, die wir bei dir zu Hause gefunden haben.»

Der Junge hört auf, gegen die Brunnenwand zu springen. Er denkt nach.

«Das war eine Wette», sagt er.

«Ich verstehe nicht.»

«Eine Wette», wiederholt er verärgert darüber, Erklärungen abgeben zu müssen. «Ich sollte mich wie ein Idiot verkleiden und ein paar Stationen fahren. Das ist alles.»

«Eine Wette mit wem?»

Er senkt den Kopf, fährt mit dem Zeigefinger auf seiner Seite an der Tischkante entlang.

«Mit meiner Freundin.»

«Mit deiner Freundin. Du hast mit deiner Freundin gewettet, dass du dich als Idiot verkleiden und einer armen Frau den Schädel einschlagen würdest?»

«Nein», brüllt er, dann beruhigt er sich, senkt wieder den Kopf. «Nur, mich so zu verkleiden.»

«Was für eine Scheißwette ist das denn?»

Er zuckt mit den Achseln.

«Eine Dummheit. Um ihr zu zeigen, dass ich sie liebe. Sie sagte, ich hätte nicht den Mut.»

«Und die Maske?»

«Die haben wir in einem Film gesehen, wir mussten lachen.»

«In der Tat lachen wir uns hier halb tot.»

«Ich habe euch gesagt, dass ich das nicht war», sagt er und sieht Pedrelli an. «Ich bin bei der Haltestelle angekommen, bin ausgestiegen und nach Hause gegangen.»

«Wie?»

«Zu Fuß.»

«Bis nach Barriera?»

«Ja.»

«Verkleidet wie zu Karneval!»

«Die Maske habe ich abgenommen und den Kimono ausgezogen. Die Wette war, mit der U-Bahn zu fahren.»

«Und wie konnte deine Freundin wissen, dass du wirklich gefahren bist? Du konntest sagen, du wärst gefahren, und es dann nicht tun. Oder war sie bei dir?»

«Nein.»

«Also?»

«Wir vertrauen uns.»

«Ihr vertraut euch.»

«Ja.»

«Wenn sie in der Zeitung las, dass ein so und so Verkleideter eine arme Frau verprügelt hatte, vielleicht vertraute sie dir dann noch mehr.»

«Ich hab der nichts getan», er springt auf, «und jetzt lasst mich gehen!»

Der Junge bebt am ganzen Körper. Arcadipane weiß, dass er auf ihn losgehen oder anfangen könnte zu weinen. Wenn er weint, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er schuldig ist, von neunzig auf fünfundneunzig. Wenn er auf ihn losgeht, auf siebenundneunzig. Ihm ist das im Großen und Ganzen egal. Es ist, wie eine Dose Bohnen von der einen oder anderen Seite zu öffnen: Für den Dosenöffner ist es dieselbe Arbeit. Beides geht gut, wenn man weiß, worauf man hinauswill.

Der Junge dagegen beginnt, mit den Fäusten auf den Tisch zu hauen.

«Wenn ihr mich nicht gehen lasst, schlag ich alles kurz und klein! Scheiße!»

Arcadipane sieht ihm zu, bis er erschöpft auf den Stuhl zurücksinkt. Er weiß, dass Pedrelli einen Schritt zurückgewichen ist, aber er verübelt ihm das nicht, das ist bloß eine unwillkürliche Reaktion. Wie wenn man die Augen schließt, wenn jemand nah vor dem Gesicht in die Hände klatscht.

Er beginnt, die Papiere in die Aktenmappe zu schieben.

«Wir gehen jetzt raus», sagt er, «zehn Minuten, um uns zu erholen, denn du hast uns wirklich durcheinandergebracht. Du bleibst hier und denkst darüber nach, wo du die Maske gekauft hast, und über all die anderen Dinge, die wir dich fragen könnten, okay?»

Er und Pedrelli verlassen den Raum und gehen durch den Flur aufs Treppenhaus zu. Lavezzi und Botta kommen aus dem Raum hinter dem Spiegel. Sie flankieren sie, Arcadipane schaut auf die Uhr.

«Ich muss für zwei Stunden weg. Wenn ich wiederkomme, knöpfen wir ihn uns noch einmal vor. Du, Pedrelli, lass unterdessen den Haftbefehl ausstellen, die Voraussetzungen dafür sind da. Wenn der Staatsanwalt Probleme macht, rufst du mich an, okay? Aber nur, wenn er Probleme macht. Sonst sehen wir uns in zwei Stunden. Ihr beide dagegen: Handy des Jungen, ausgehende wie eingehende Anrufe, Bewegungsprofil, Cell-ID, alles. … Schauen wir nach, ob er Videos oder Fotos verschickt hat und an wen. Und gebt Franco den Computer, den ihr bei ihm zu Hause beschlagnahmt habt. Sagt ihm, er soll eine Autopsie davon machen.»

«Diese Freundin?», fragt Lavezzi.

«Findet raus, wer sie ist, wo sie wohnt, aber verhört sie noch nicht. Wir holen sie morgen früh um sieben und bringen sie hierher. Ohne ihr was zu sagen. Ich hab jetzt eine Familienangelegenheit, lässt sich nicht verschieben. Wir sehen uns in zwei Stunden. Schreibt die Überstunden auf.»

«Wo?», fragt Botta, der tüchtig ist, aber noch jung.

Pedrelli und Lavezzi steigen grinsend die Treppe hinauf.

Arcadipane bleibt stehen und mustert ihn, diesen jungen Botta. Er hat es eilig, aber zu sehen, wie jemand etwas dazulernt, ist doch immer eine schöne Sache.

2.

Sie schob beiseite, was im Weg war, und Lui war in ihr drin.

«Stoß zu, Idiot», sagte sie und biss ihn in die Schulter, um nicht zu schreien. «Stoß zu!»

Und so tat er, preisend die Kraft der Lenden, die ihm vom Herrn verliehen, bis unter ihrem zustimmenden Stöhnen der Ruf des Wiedehopfs laut wurde. «Hai, hai!» Da packte er sie an der Taille und wuchtete sie, wie der Bauer die Ernte von der Erde auf den Karren hievt, von den Kisten hoch und setzte sie, ohne sich aus ihr zurückzuziehen, auf den Säcken ab, wo sie unter langem Jubel dem Allerhöchsten dankte.

«Ich geh jetzt, Carlo fängt vielleicht seine Tour an und bringt etwas ins Lager», sagte sie schließlich, als sie satt war. «Ich geh zuerst raus, wir sehen uns in der Bar.»

Lui wartete und dachte ohne Stolz, dass er gut gehandelt hatte, indem er Trost spendete, wo Trost von ihm erbeten wurde. Dann ging er raus und begab sich an den vereinbarten Treffpunkt, wo die Frau unter anderen Ungläubigen stand, bar jeden Grolls. Sie empfing ihn mit einem Kuss auf die Wange, als ob nichts vorgefallen wäre zwischen ihnen, denn so war es vereinbart und notwendig.

«Nimm dir Milch oder was du willst», sagte sie. «Geht auf meine Rechnung.»

Er trank die Milch, die ihm dargeboten wurde, taub für die Worte, die unrein waren an diesem Ort und dicht wie die Sünden. Und als sie sich gestärkt hatten, setzten sie sich und betrachteten das Treiben auf dem Platz, und sie wies auf ihren Mann, der an einem der Stände Handel mit Gemüse trieb, wie es seine Gewohnheit war.

«Schau nur, wie er den Gockel spielt, der Mistkerl», sagte sie. «Er meint, ich weiß nicht, dass er in zwanzig Jahren den halben Markt gevögelt hat. Aber jetzt zahl ich es ihm heim …», bei diesen Worten hob sie ihr Glas Wein, um auf die Gerechtigkeit anzustoßen, die sie wie ein flammendes Schwert nahen sah. Er tat desgleichen mit der Milch, die rein und deshalb gesegnet war. Dann kam die Stunde, da sie gehen musste, denn auszubleiben wäre unschicklich gewesen. Da stand sie auf, lächelte, die Welt betrachtend, in die sie zurückkehrte, und sagte: «Ich weiß nicht, ob ich gut daran tue, es dir zu sagen, du bist jung, aber ich bin sechzig Jahre alt, und ich habe diese Welt gesehen, als sie noch zu retten war. Jetzt dagegen ist alles heruntergekommen. Alles ruiniert mittlerweile.»

Und er stimmte ihr zu, denn die Wahrheit war seine Fessel.

3.

Arcadipane kreist wie üblich im Karree, ohne einen Parkplatz zu finden, dann parkt er vor der Einfahrt der Kfz-Werkstatt, von der er weiß, dass sie seit fünfundzwanzig Jahren geschlossen ist. Ein Gruß für Tonino, der die Aschenbecher im Außenbereich der Bar leert, dann die Schmalseite des Wohnblocks, die Auslage des Käsehändlers, die Ecke, wo am Boden die Umrisszeichnung eines alten Pissoirs zu sehen ist, der Schneider mit seinem Ladenschild «Änderungen», und er steht vor der Haustür.

Erst als er auf der Suche nach den Schlüsseln mit der Hand in die Tasche fährt, erinnert er sich. Er läutet.

«Ich bin’s.»

Während der Lift hochfährt, kommt ihm das Liedchen in den Sinn, das Loredana immer trällerte, wenn sie morgens gemeinsam aus dem Haus gingen. «Hinauf die Nummer fünf! Hinab die Nummer null!» Seither hat sich nicht viel geändert: dasselbe eidechsengrüne Linoleum, dieselben Siegellacktüren (in den sechziger Jahren war ein Aufzug gehobene Ausstattung), und unter dem Spiegel winzig klein: «Sailor Moon reißt dir den Arsch auf und nicht umgekehrt», mit Taschenmesser eingeritzt von dem Jungen aus dem Stock drüber, der sich kiloweise Comics für Mädchen reinzog und jetzt den größten Salon für Autofetischisten in der Stadt betreibt.

Der Aufzug hält auf dem Treppenabsatz, wo die angelehnte Tür mit dem Finger in der Wunde rührt: Das ist keine Tür, für die er einen Schlüssel hat, nicht mehr. Er klopft.

«Komm rein, ich bin in der Küche.»

Arcadipane zieht im Flur die Schuhe aus, ein Fuß mit dem anderen, so, wie er Giovanni gesagt hatte, dass er es nicht machen sollte, weil die Schuhe davon kaputtgehen. Dann betrachtet er im Garderobenspiegel das Abbild eines fünfundfünfzigjährigen Mannes mit einer zu schweren Jacke, Dreitagebart und blauen Strümpfen, die vorne vom Schweiß dunkel gefärbt sind.

Bis vor drei Jahren hätte er an diesem Punkt mit den Schultern gezuckt, hätte den Schuhschrank geöffnet und die Filzpantoffeln angezogen, die die Kinder ihm zu Weihnachten geschenkt hatten. Anfangs hatte er es nicht gut gefunden, Filzpantoffeln als Weihnachtsgeschenk zu bekommen, noch dazu mit Absatz, doch dann hatte er sie lieb gewonnen. Wo sie wohl abgeblieben waren? Ganz hinten oben im Schrank, wo man nicht hinkommt? Keller? Abfalleimer? Oder in einer der Schachteln, die er nie ausgeräumt hat? Sie waren bequem und außerdem das einzige graue Kleidungsstück mit einer Blume in Relief darauf, das er je besessen hatte, unglaublich, wie die Füße auch im Sommer …

«Vincenzo?»

«Ja, ich komme.»

Mariangela kehrt ihm den Rücken zu und gießt etwas, das gekocht hat, in die Spüle, sie trägt ein ärmelloses Kleid in Knielänge. Eine Dampfwolke umgibt sie wie ein Heiligenschein, ein vulkanischer Nebel, der sich nach und nach auflöst und sich in winzigen Tröpfchen auf ihrer warmen Haut niederschlägt, die aber offenbar nicht warm genug ist. Arcadipane sieht, wie sie sich umdreht und ihn mit dem Lächeln anlächelt, das sie sich in den letzten zwei Jahren zugelegt hat: eine Hecke, die der Nachbar, der sich stets nach deinem Befinden erkundigt, eines Tages anfängt, freundlich am Rand zu bearbeiten, scheinbar mehr aus Gründen der Schönheit denn aus der Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen, aber unterdessen …

«Was für ein verrückter März», sagt sie und fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. «Heute hatte es in der Klasse dreißig Grad.»

Arcadipane schaut auf die Sehne, die die Kathete zu ihrer nackten Achselhöhle bildet. Wenige Zentimeter völlig harmlosen Fleisches für den, der nicht weiß, dass diese Linie zwei Fingerbreit weiter unten ansteigt und, verdeckt vom Kleid, in den Brustansatz übergeht. Arcadipane hingegen weiß das. Deswegen bemerkt er nicht, dass sie die Spitzen nachgeschnitten hat, eine dunklere Tönung verwendet hat, Amerikanisch Mahagoni, und nur einen Ohrring trägt, der andere ist im Pullover hängen geblieben, den sie im Schlafzimmer ausgezogen hat, um bequemer kochen zu können.

«Ja, schrecklich heiß», sagt er und nickt, während er den Umschlag vom Zwölften des Monats aus der Jacke zieht und auf den Küchentisch legt.

Mariangela macht die übliche Geste, die «danke» besagt, pünktlich und zuverlässig, aber auch, warum kannst du dich nicht entschließen, einen Dauerauftrag einzurichten, wie alle, wenigstens hast du einen Beleg für die Überweisung, das ist in deinem eigenen Interesse. Im Übrigen brauchst du nicht den Umschlag als Vorwand, um vorbeizukommen, ein Anruf genügt, und du bist immer willkommen, das weißt du. Weiß ich das? Sicher weißt du das. Und warum muss ich dann anrufen? Aus einer Art von Respekt. Respekt? Sicher, Respekt vor der Privatsphäre. Ist gut, aber vielleicht komme ich lieber am Zwölften des Monats vorbei, ohne anzurufen. Wie du willst, du bist am Zwölften so willkommen wie an jedem anderen Tag. Allerdings musst du anrufen. Ja, wenn nicht der Zwölfte ist, rufst du besser an. Aus Respekt vor der Privatsphäre. Ja, aus Respekt vor der Privatsphäre …

«Vincenzo? Woran denkst du?»

«Nichts, da ist dieser Fall … Es ist spät geworden. Trepet?»

«Der Kleine! Wären da nicht die festlichen Begrüßungen, wenn wir heimkommen, und ein paar herumliegende Haare, könnte ich glatt vergessen, dass er da ist.»

Arcadipane sieht den Hund an, der auf seinem Kissen liegt und, den Kopf zwischen den Beinen und den hinteren Beinstumpf zur Decke gestreckt, seinen schwarzen Hoden leckt. Im Alter hat er ein paar Kilo zugelegt, und das Fell ist aschgrau geworden, abgesehen von der weißen Blesse eines alten Provinzgigolos könnte er bei schlechter Beleuchtung wie ein Klumpen trockenen Teers erscheinen, ein gusseiserner Ofen, der Motor eines Fiat Seicento oder irgendeine andere graue und schwere Sache, die man keine Lust hat hochzuheben.

«Also begrüßt er euch festlich?», fragt Arcadipane.

«Und ob!» Mariangela hat die Bohnen in eine Schüssel gefüllt. «Loredana sagt, er hört mich schon beim Aufzug. Aber hast du nicht gesagt, er sei halb taub? Wie alt ist er jetzt?»

Arcadipane sieht den Hund an, der nun zur Behandlung des anderen Hodens, des weißen, übergegangen ist.

«Im Hundezwinger sagten sie, er sei zehn … fünf sind vergangen … Und das Kissen?»

«Was ist mit dem Kissen?»

«Zerfetzt er es nicht?»

«Wo denkst du hin! Wenn ich es wasche, platziert er sich vor der Waschmaschine wie Romeo unter dem Balkon. Er gibt es nur frei, wenn Loredana schlafen geht und er sich auf ihr Bett legt.»

Arcadipane mustert noch immer den Hund, der eigentlich seiner sein sollte, als Mariangela die Jalousie an der Tür zum Balkon hochzieht und die Küche vom scheidenden Licht des Spätnachmittags durchflutet wird. Ein Lichtstrahl, der plötzlich die Schlafcouch orange färbt, auf der die Verwandten geschlafen haben, als sie wegen des Besuchs bei einem Facharzt in den Norden kamen, die Stühle mit Strohgeflecht, das die Katze einer Kollegin von Mariangela zerrissen hat, und die Möbel, die sie zur Hochzeit geschenkt bekommen haben, solide Stücke, die Verzierungen in Handarbeit, Holz, das noch wirklich Holz ist, so wechselt man sie nie aus und so lebt man halt mit der Schranktür, die nicht schließt, den Tesaspuren, die die Kinder hinterlassen haben, und diesem pyramidenförmigen Flaschenkorb, den du nie benutzt hast, den …

«Vincenzo?»

«Ja, ich habe mich gefragt, wie Loredanas Prüfung gelaufen ist.»

«Welche Prüfung?»

Arcadipane hebt beide Hände, wie um zu sagen, ist doch klar, oder auch, was zum Teufel weiß denn ich, welche Prüfung: Das ersterbende Licht bürstet meinen Magen von innen mit einer Drahtbürste, siehst du das nicht?

«Die in romanistischer», brummt er, «Propädeutik. Vielleicht warte ich auf sie, so frage ich sie selbst, was meinst du?»

«Mir ist es recht, aber heute Abend ist sie beim Sport.»

«Ah, macht sie auch Sport?»

«Dienstag und Donnerstag Pilates, Mittwoch und Freitag Spinning, du weißt ja, sie bildet sich ein, zu dick zu sein. Seit sechs Monaten lege ich die Quittungen für das Fitnessstudio zu den Ausgaben», und sie weist auf den Briefumschlag am Tischrand, «ich dachte, du hättest es bemerkt.»

Arcadipane hat noch immer die Arme erhoben, die Handinnenflächen nach oben: Was das Leben mir bringt, ich nehme es an, mit entblößter Brust trotze ich dem Sturm. Mariangela lächelt wieder auf besagte Weise und beginnt, den Feta-Käse in Würfel zu schneiden.

«Das sage ich nicht, um dich zu trösten», sagt sie, um ihn zu trösten, «aber ich sehe sie auch wenig in letzter Zeit. Sie hat die Universität, das Fitnessstudio, Freunde, und wenn sie zu Hause ist, schließt sie sich in ihrem Zimmer ein, um zu lernen. Giovanni ruft mich wenigstens ein paar Mal die Woche an, so nagle ich ihn fest und bringe ihn zum Reden. Hast du ihn noch mal bei einem Spiel gesehen? Ich glaube, das würde ihn freuen. Carpi ist schließlich nicht so weit weg.»

Arcadipane steckt die Hände in die Taschen und schaukelt auf dem Stuhl vor und zurück auf der Suche nach einer Antwort. Zum ersten Meisterschaftsspiel ist er hingegangen, vor sechs Monaten, dann haben sie eine Pizza gegessen, auch wenn er nach dem Spiel mit der Mannschaft zu Abend hätte essen müssen, zur Stärkung des Teamgeists, aber an diesem Abend hat er eine Ausnahme gemacht. Ja, er schien glücklich. Warum ist er dann nicht wiedergekommen, um seinen Sohn spielen zu sehen? Warum weiß er nicht, dass Loredana Spinning macht und erinnert sich nicht an ihre Prüfungen? Was hat er sonst zu tun, außer zu arbeiten und sich an diese Dinge zu erinnern? Wo bleiben die Stunden, die er nicht mit seinen Fällen zubringt? Er müsste in der Stadt Plakate anbringen mit seinem Konterfei und der Aufschrift «Vermisst». Vielleicht ruft jemand an und sagt, dass er an dem und dem Abend dort und dort war, dass sie das und das gemacht haben und er mit jemand anderem geredet hat. Und dieser verdammte Stachel am Mageneingang, der ihn bei jedem Schlucken quält, ein Zoll, ein Wechsel, ein Durchgang, die Lakritzbonbons sind auch aus, und den Säureblocker hat er zu Hause. Zu Hause? Ist das ein Zuhause?

«Ich gehe einen Moment ins Bad», sagt er, «wenn du nichts dagegen hast.»

Mariangela, die den Feta unter den Bohnensalat gemischt hat, sagt: «Na klar, es ist ein bisschen unaufgeräumt, ich muss die Wäsche machen, erschrick nicht.» Und so betritt er das Bad und setzt sich auf die Kloschüssel, ohne den Deckel hochzuklappen, nur um Luft zu schöpfen, auf den Magen zu drücken, das Fenster mit den Milchglasscheiben aufzumachen und das Panorama zu betrachten, das er auswendig kennt: Mietskasernen mit Fliesen und Rohziegel, unansehnlich, mit illegalen Veranden, hässlich von Anfang an und mit jedem Anstrich schlimmer, aber wenigstens etwas, das sich nicht ändert, das bleibt, das Viertel, in dem er aufgewachsen ist. Wie oft ist er auf diesem Klo gesessen und hat diese Fassaden angesehen, nachts, frühmorgens, unter verschiedener Beleuchtung und bei unterschiedlichem Regen. Wohin sind all die Jahre mit wenig Geld, kleinen Kindern und drückenden Sorgen? Jetzt, da es ihn geradezu wehmütig stimmt, den Kredit abbezahlt zu haben, jetzt, da er gerne ein paar Raten zahlen würde, nur um sich besser zu fühlen. Wenn er wenigstens weinen könnte wie vor fünf Jahren, da hat er geweint. Jetzt weint er nicht. Er weint nicht einmal, wenn er daran denkt, wie er, ein pummeliges Kind aus dem Süden, den Freunden auf dem Pausenhof sagte, dass ihm Juventus Turin wirklich gestohlen bleiben könne und dass er Fußball überhaupt nicht so mochte. Auch beim Gedanken an dieses Hotel in Andora mit der ersten Freundin weint er nicht. Auch nicht, wenn er an diesen Abend denkt: «Vincenzo, setz dich, wir müssen reden». Deswegen hat er Magenweh und staut sich alles in ihm, und seine Arbeit ist keine, die zur Entspannung beiträgt. Deshalb und aus anderen Gründen, die er nicht intelligent genug ist zu benennen, schließt er das Fenster, steht vom Klo auf, geht zu dem Schränkchen und sucht den Säureblocker, der früher einmal hier war, über den Binden und unter den Schmerzmitteln, und da sieht er ihn.

Den scheiß Rasierpinsel.

 

Als er in die Küche zurückkommt, ist das orangefarbene Licht erloschen, und die Möbel sehen ganz anders aus. Mariangela schließt den Kühlschrank, schaut ihn an, sieht die Blässe, das Zittern des linken Augenlids und begreift.

«Setz dich einen Moment, Vincenzo.»

Er schaut ein paar Sekunden auf den Teil der Wand, wo bis vor einem Jahr das große Puzzle aus zehntausend Teilen der Insel Stresa gehangen war, gerahmt nach unzähligen Abenden der schläfrigen Grabungsarbeiten mit den Kindern, die dich nicht wegließen, auch nicht im Tausch für Comics oder im Haus zu zündende Knallfrösche. Jetzt hängt an der Stelle des Puzzles ein abstraktes Bild, viele Linien, die nirgendwohin führen, wie das Bewegungsprofil von einem, der sich in einem Einkaufszentrum verlaufen hat. Er setzt sich.

Auch Mariangela setzt sich, ans andere Ende des Tisches. Zwischen ihnen der gelbe Umschlag.

«Ich habe dir gesagt, dass ich nicht die Absicht habe zusammenzuziehen, solange Loredana im Haus ist, und das kann ich dir bestätigen. Ich verspüre nicht die Notwendigkeit. Aber Gian Pietro ist dieses Jahr stellvertretender Leiter, es kommt vor, dass es abends spät wird und er am nächsten Morgen bei Öffnung der Schule präsent sein muss. Das ist alles.»

Arcadipane sieht sie an und fragt sich, wie sie das kapiert hat. Eine Frage, die nicht lange vorhält, weil er die Antwort seit jeher weiß: weil sie eine geistesgegenwärtige Frau ist. Sie war es in den Jahren ihres gemeinsamen Lebens, sie ist es den Kindern gegenüber, sie ist es gegenüber ihren Schülern. Deshalb kennt sie ihn, Loredana und Giovanni wie ihre Westentasche. Deshalb kennt sie ihre Schüler und weiß mit ihnen umzugehen. Weil sie präsent ist. Mariangela Spataro? Presente. Immer. Und er nicht.

«Vincenzo?»

«Hm?»

«Es gefällt mir nicht, dich so zu sehen.»

«So wie?»

«Zwei Jahre sind vergangen, seitdem wir diese Entscheidung getroffen haben, du solltest weiterleben, dir Gesellschaft suchen, auch nur, um mit jemandem zu reden. Wie lang ist es her, seit du dich mit jemandem unterhalten hast? Warum trinkst du nicht ein Gläschen mit Corso?»

«Corso ist Alkoholiker, er trinkt nicht.»

«Du weißt, was ich meine. Warum besuchst du ihn nicht? Es ist nicht gesagt, dass ihr immer über Beweisstücke, Motive und Befunde der Spurensicherung reden müsst. Ihr wart nicht nur Kollegen, ihr wart Freunde.»

Arcadipane brummt etwas, aber in Wirklichkeit tut er so, als würde er ein Lakritzbonbon kauen, denn das bräuchte er jetzt. Vielleicht, weil sie einen Schlaganfall befürchtet, rückt Mariangela an ihn heran und nimmt seine Hand.

«Auch für mich war es schwierig, Vincenzo. In gewisser Weise ist es das immer noch. Aber da sind die Kinder, auch wenn sie groß sind, da ist die Arbeit, die Menschen rundherum. Auch du bist nicht allein, du hast eine schwierige Arbeit, die du liebst, und die Kinder sind auch für dich da.»

«Ich habe aber keinen Gianpiero.»

«Gian Pietro … und du bist ungerecht, wenn du das sagst. Als wir unsere Entscheidung trafen, war er nur ein guter Freund, erst nachher ist da etwas entstanden.»

«Du sagst immer wieder ‹wir haben eine Entscheidung getroffen›, aber ich habe überhaupt nichts entschieden.»

«Du hast das nicht in dem Moment entschieden, aber du hattest das schon entschieden, viel früher. Aber vielleicht hast du recht, keiner von beiden hat es entschieden, ein Feuer beschließt nicht auszugehen …», sie lässt seine Hand los, lächelt und lehnt sich gegen die Rückenlehne. «Siehst du, du machst, dass ich mich anhöre wie ein Schlager aus den Sechzigern. Warum gehst du nicht wieder zu dieser Therapeutin, die dir vor fünf Jahren geholfen hat? Sie hat ganze Arbeit geleistet, es ging dir besser, du fühltest dich leichter.»

«Um sechshundert Euro, und sie war verrückt. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.»

«Nun, vielleicht hatte sie etwas unorthodoxe Methoden, aber …»

«Sie war verrückt. Eher lass ich mir eine Magen- und Darmspiegelung gleichzeitig machen.»

Mariangela schüttelt den Kopf, öffnet ein Schränkchen und holt eine bunte Metalldose hervor.

«Das sind chinesische Heilkräuter», sie stellt die Dose vor ihn hin, «sie dienen zur Entspannung der Magenmuskulatur, zum Abbau der Verspannungen in der Abdominal- und Lumbalmuskulatur und zur Lockerung der Halswirbelsäule. Es ist, als würde man einen Schlüssel umdrehen und das Band, das deinen Körper von Kopf bis Fuß durchzieht, gibt nach. Du nimmst das zweimal täglich mit heißem oder kaltem Wasser. Du wirst sehen, es hilft.»

Arcadipane wiegt die Dose in der Hand, sie ist erstaunlich leicht.

«Ist das legal?»

«Es ist teurer als gewisse Drogen, aber es ist legal. Mir hat es sehr geholfen, ab und zu trinke ich noch eine Tasse davon.»

Arcadipane dreht die Schachtel in den Händen: getrocknete Blätter stoßen raschelnd gegen das Blech.

«Hat Gianpiero dir das gegeben?»

«Gian Pietro … und es spielt keine Rolle, wer es mir gegeben hat. Ich biete dir etwas an, was mir gutgetan hat. Ich sage nicht, dass es das Problem lösen wird, aber bevor du weiterhin diese Bonbons voller Zucker lutschst …»

«Okay, danke. Ich geh jetzt, im Präsidium wartet jemand auf mich.»

«Ist es wegen der Frau in der U-Bahn?»

«Deswegen.»

«Habt ihr ihn gefasst?»

Arcadipane macht eine vage Geste mit der Hand, dann stehen sie gleichzeitig auf, sie begleitet ihn zur Tür, er zieht die Schuhe wieder an, sie gibt ihm Trepets Leine, die er nicht benutzt, eine Tüte Pedigree, die er ihm nicht geben wird, dann ist der Moment da: ein Kuss auf die Wange? Zu intim. Ein Kuss auf jede Wange? Zu verwandtschaftlich. Überhaupt kein Kuss? Kälte. Gewöhnlich löst sie die Situation, indem sie etwas sagt.

«Übrigens war die Prüfung in Philosophischer Propädeutik letzten Monat, Loredana hat mit Auszeichnung bestanden. Und in vierzehn Tagen hat sie Romanische Philologie.»

«Sie ist immer noch tüchtig», sagt er, schon vor der Tür.

«Ja, sehr tüchtig», sagt sie lächelnd und hebt die Hand. Er tut desgleichen von der Aufzugtür aus, und die Situation löst sich, nicht unangenehm, nicht hässlich, nicht plump. Ihr Verdienst, wie immer.

Als sich der Aufzug in Bewegung setzt, atmet Arcadipane zweimal tief durch, holt das Handy aus der Tasche und schreibt, bevor er es vergisst: «Kompliment für die Auszeichnung in Philologischer Propädeutik und alles Gute für die kommende Prüfung in Philologie des Romans.»

Im Erdgeschoss ist die Antwort da: «Danke, Papi, nett von dir, dass du daran gedacht hast. Ausgerechnet am 12.! Hahaha!»

Arcadipane tritt auf die Straße hinaus, wo der Sonnenuntergang in der Luft nur eine Schwingung zurückgelassen hat, die Spur von etwas, das vor Zeiten einmal schön war. Es ist noch nicht dunkel und doch in gewisser Weise schon Nacht, und die Geschäfte lassen die Rollläden herunter, und die Straßenlaternen gehen an, das Viertel holt die Ruder ein.

Arcadipane macht nachdenklich ein paar Schritte und grübelt über dieses «Hahaha» nach, dann dreht er sich um.

«Von wegen festliche Begrüßung!»

Trepet, der im gewohnten Abstand von zwei Metern ebenfalls stehengeblieben ist, schenkt ihm den gelangweilten Blick von jemand, der dich kennt und nicht kennt, dann wendet er sich dem Schaufenster der Chinesischen Massage zu, in dem unentwegt die Leuchtschrift «Open» blinkt.

Bastard, denkt Arcadipane während er sich wieder in Bewegung setzt.

Sie kommen an der geschlossenen Schneiderei vorbei, dem leeren Außenbereich von Tonino, an der Umrisszeichnung der Gemeindearbeiter, die das gewaltsame Ende des Pissoirs bescheinigt, bis Arcadipane, schon in Sichtweite seines Alfa 33 Quadrifoglio, seinen Blick den großen Schaufenstern des Autosalons zuwendet und sein und Trepets Spiegelbild in ihrem aufeinander abgestimmten und schwankenden, proportional so ähnlichen Gang erblickt. Da verspürt er einen bösartigen, tiefen Stich im Magen. Zusammengekrümmt vor Schmerz schaut er auf die Uhr: zwei Minuten vor sieben.

Als er das Lebensmittelgeschäft betritt, Trepet hechelnd hinter ihm, ist es sieben Uhr drei Minuten. Elsa wickelt die sechs Stücke Käse aus der Theke in Plastikfolie. Der unnatürlich gelbe Fontina hat an der Seite einen Riss, ein Mund, der zu rufen scheint: «Nein, da hinein will ich nicht!»

Das macht keinen Unterschied. Elsa ist seit 1993 taub.

Geld hatte sie für die Zähne oder die Prothese. Im Verkauf muss man ansehnlich sein.

4.

Es ist zehn nach elf, als er aus dem Vernehmungsraum kommt.

Nach drei Stunden Schmoren und dieser zweiten Runde hatte er sich mehr erhofft, doch der Junge rückt von seiner Version nicht ab: Er gibt die U-Bahn-Fahrt zu, erkennt sich auf der Videoaufnahme, aber was die Frau angeht, ist es immer dieselbe Leier. «Ich kenne sie nicht, ich war’s nicht, was verdammt noch mal wollt ihr von mir.»

Die einzigen Fortschritte gegenüber dem Nachmittag sind ein Selfie, das Apostolo in der U-Bahn gemacht und der Verlobten geschickt haben will, und ein Anruf von ihr, den er angibt, auf dem Heimweg auf der Höhe des Supermarkts im Corso Vercelli empfangen zu haben, also gegen Viertel nach elf, wenn er wirklich zu Fuß unterwegs war. Die genaue Uhrzeit hängt natürlich davon ab, wie schnell der Kerl gegangen ist. Die Anruflisten werden ergeben, ob das stimmt, aber den Zeugen zufolge hat der Angriff auf die Mendes gegen zweiundzwanzig Uhr fünfzig stattgefunden, also deckt ihn der Anruf des Mädchens, wenn es ihn denn gegeben hat, wie ein Stück Konfetti den Arsch.

Arcadipane geht auf die Toilette im Zwischengeschoss, tritt an eines der drei Urinale an der Wand und verrichtet. Als er sich umdreht, sieht er Pedrelli am Waschbecken, der den Inhalt eines Tütchens in einen ausziehbaren Becher schüttet, den er eben gefüllt hat.

«Wollen Sie eins?»

«Was ist das?»

«Säureblocker.»

Arcadipane schüttelt den Kopf, tritt an das andere Waschbecken und wirft sich ein wenig Wasser ins Gesicht. Es kommt ihm so vor, als wäre er hundert Jahre auf den Beinen.

«Wenn Sie mich nicht mehr brauchen …», sagt Pedrelli und schiebt den Becher wieder zusammen.

«Geh nur, geh. Um wie viel Uhr hast du den anderen gesagt, dass sie morgen früh kommen sollen?»

«Um halb sieben, dann gehen wir das Mädchen holen.»

Arcadipane nickt, trocknet sich ab und wirft das Papiertuch in den Korb.

«Kein Trara. Das ist ein besseres Viertel, und ich will keine Anwälte bei der Sache. Wir bringen sie hierher, hören sie an, und wenn nichts Schwerwiegendes dabei ist, schicken wir sie wieder nach Hause. Wenn nötig, bringen wir sie hin oder schauen uns ihr Zimmer an, okay?»

«Gewiss, Commissario.»

«Geh jetzt, du hast dich kaum hingelegt, da musstest du schon wieder raus.»

«Sie auch, Commissario, schlafen Sie, Sie kommen mir ein bisschen …». Pedrelli nimmt noch ein Papiertuch und trocknet sich die schon trockenen Hände ab. Dabei sieht er teils auf das Tuch, teils auf Arcadipane.

«Es ist spät, Pedrelli, wenn es noch was gibt, raus damit.»

«Das sind ja Privatangelegenheiten, Commissario, ich würde mir nicht erlauben, wenn ich nicht nach so vielen Jahren … Ich sage ja nicht eine Freundschaft wie mit Bramard, aber doch eine Bekanntschaft, ein Austausch, ein …»

«Pedrelli, ich zieh mir schon den Pyjama an.»

«Ich habe bemerkt, dass Sie während des Verhörs viele gegessen haben …», und er weist auf die prall mit Bonbons gefüllte Tasche in Arcadipanes Jacke, «woraus ich geschlossen habe, dass Sie wieder angefangen haben.»

«Als Schlussfolgerung taugt das nicht viel, würde ich sagen, da ich nie aufgehört habe.»

«Das stimmt, aber die Menge.»

«Die Menge.»

«Dreiundzwanzig in zwei Stunden, wie vor fünf Jahren, vielleicht ist das nicht der richtige Zeitpunkt, Sie haben Sorgen. Da braucht man sich nicht zu schämen, auch ich …»

«Ja, ich erinnere mich, deine Tochter Nicoletta machte mitten im Studium mit einem sechzigjährigen Eis-Magnaten das vierbeinige Tier, du konntest nachts nicht schlafen, du hast einen Psychologen aufgesucht, und alles ist wunderbar ausgegangen: Deine Tochter hat einen braven Freund gefunden, hat das Studium beendet, und der alte Drecksack ist an Herzinfarkt gestorben. Das Universum ist wieder in Ordnung gekommen, und du bist so eine Art Buddha geworden, der mit anderen Beknackten sonntags in den Wald geht, Bäume umarmt und Hosianna singt, aber wenn du jetzt wieder zu weinen anfangen musst, wie damals, als du mir von deiner Tochter und dem alten Schwein erzählt hast, dann hast du fünf Minuten, keine einzige mehr, denn, ehrlich gesagt, ich halte mich kaum noch auf den Beinen. Ich hör dir zu, los, jetzt sind wir wenigstens nicht in der Trattoria.»

Pedrelli starrt ihn an.

«Er ist nicht an einem Infarkt gestorben.»

«Aber er ist tot, oder?»

«Ja, aber vor zwei Jahren stand in der Zeitung, nach langer, schwerer Krankheit, also gibt es da weder eine Beziehung zu seinem Verhältnis mit Nicoletta noch zu meinem spirituellen Weg.»

Arcadipane holt ein Lakritzbonbon aus der Tasche und legt es sich genüsslich zwischen die Lippen, lässt es gut sichtbar dort liegen, halb drin, halb draußen, bevor er es demonstrativ zerkaut.

«Ich sag dir eins, Pedrelli», und er kaut, «merk dir das.»

«Gewiss, Commissario.»

«Es gibt drei Dinge, die ich seit über zwanzig Jahren um mich habe: meine Kinder, meinen Alfa und dich. Da liegt es auf der Hand, dass ich, wenn ich diese anderen Dinge liebe, unglaublicherweise auch für dich etwas fühlen muss, aber pass auf … wenn du dich noch einmal unterstehst, die Bonbons zu zählen, die ich bei der Arbeit esse … ich schwör’s dir, dann schicke ich dich nachts auf Streife ins Nigerianer-Viertel, Wochenende und Feiertag inklusive, ist das klar?»

«Gewiss, Commissario, Hauptsache, Sie haben meine Besorgnis verstanden. Sie werden sich schon zu helfen wissen.»

«Sicher weiß ich mir zu helfen. Können wir jetzt bitte schlafen gehen? In fünf Stunden sind wir wieder hier.»

«Einverstanden, Commissario, aber ich glaube, ich werde mir im Fernsehen den Sonderbericht über das Konklave ansehen.»

Arcadipane schaut ihn an.

«Es wird ein neuer Papst gewählt», erklärt Pedrelli.

«Wieso? Ist der vorherige tot?»

«Nein, er ist zurückgetreten.»

«Ich wusste nicht, dass der Papst zurücktreten kann.»

«Das ist ein äußerst seltenes Ereignis, fast einmalig in der Geschichte. Der aussichtsreichste Kandidat für den Heiligen Stuhl ist scheinbar Angelo Scola, der Erzbischof von Mailand, aber man muss sehen, ob die nordamerikanischen Kardinäle ihm ihre Stimme geben. Und in der römischen Kurie gibt es so viele Neider, das wird auf jeden Fall eine sehr interessante Partie.»

«Ich bin auch schon ganz elektrisiert», Arcadipane stützt sich mit beiden Händen auf das Waschbecken.

«Nacht!»