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Eine grandiose Parabel auf das heutige Italien und das bestechende Porträt eines Mannes, der vieles verlieren muss, um zu sich selbst zu finden. Das Land ist komplett abgeschottet. Seine Straßen sind leer; streunende Hunde und Männer mit Gewehren durchqueren die Felder; Lebensmittel, Benzin und Zigaretten werden knapp; Geschäfte und Banken schließen, es ist kein Geld mehr im Umlauf. Das Staatsfernsehen sendet Berichte, denen keiner glaubt. Wer kann, flieht. Nur Leonardo, 52, ehemaliger Universitätsprofessor und Autor, zögert. Sein Leben ist aus den Bahnen geraten, seit er wegen einer Affäre mit einer Studentin, die ihn mit einem heimlich gedrehten Video verklagte, die Universität verlassen musste. Leonardo will lange nicht wahrhaben, was vor seinen Augen geschieht. Erst als er selbst angegriffen und sein Haus ausgeraubt wird, zieht auch er mit seiner siebzehnjährigen Tochter Lucia und dem zehnjährigen Alfonso zu Fuß los. Auf dem Weg zur Landesgrenze geraten sie in die Fänge eines selbsternannten Herrschers, der die Jugend mit Drogen betäubt und vor dem Leonardo mit nackten Füßen im Feuer tanzt. Erst jetzt, verletzt und versehrt, lernt Leonardo zu handeln und gewinnt die Kraft, das Böse zu besiegen. Longos Roman mündet in einen überraschenden politischen und persönlichen Neubeginn. «Der aufrechte Mann» ist ein gewaltiger Roman, der in seiner sprachlichen Dichte, in seiner stilistischen Sicherheit und existenziellen Atmosphäre an «Die Straße» von Cormac McCarthy erinnert. «Die größte Begabung unter den jungen italienischen Autoren.» Süddeutsche Zeitung «Endlich ist Italiens Literatur wieder interessant.» Die Zeit
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Seitenzahl: 575
Davide Longo
Der aufrechte Mann
Roman
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Rowohlt Digitalbuch
Leonardo schob die Gardine beiseite und warf einen langen Blick in den Hof hinaus, wo drei Autos abgestellt waren, eins davon sein eigenes. Der Platz war eingefasst von einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun, oben abgeschlossen mit Stacheldraht. Am Abend zuvor hatte er, geblendet von dem Licht, mit dem der Wächter ihm ins Gesicht leuchtete, den Umriss des kleinen Turms nur erahnt; jetzt aber bemerkte er, dass er mit viel Geschick aufgebaut war, zusammengesetzt aus alten Werbeplakaten, Blechplatten, Geländerteilen, einer Duschkabine und einer Feuerleiter. Von den zwei Scheinwerfern über ihm war einer in den Hof gerichtet, der andere auf das trostlose Nichts jenseits der Einzäunung.
Er blickte auf die ebenen, von niedrigem Gestrüpp bedeckten Felder, zwischen denen die Straße verlief, ab und zu Kurven bildend, obwohl kein Hindernis dies erzwang. Der Himmel war, so weit man sehen konnte, von einem eintönigen Grau ohne jede Aufhellung, wie schon an den vergangenen Tagen.
Ein Mann erschien im Hof.
Leonardo beobachtete ihn, wie er langsamen Schritts auf die Autos zu- und um sie herumging und dabei durch die Fenster ins Innere spähte: Er trug eine Lederjacke und Hosen mit großen Seitentaschen. Er mochte dreißig Jahre alt sein und hatte den bulligen Körperbau eines Rugbyspielers.
Warum nicht heute Nacht?, dachte er, als er sah, wie er vor dem Heck seines Polars stehen blieb.
Der Mann zog einen Schraubenzieher oder ein Messer aus der Tasche und öffnete mit einer einfachen Handbewegung den Kofferraum.
Ein paar Sekunden lang betrachtete er die Kanister und versuchte herauszufinden, was sie enthielten, dann schraubte er an einem den Verschluss auf und roch daran. Als ihm klarwurde, worum es sich handelte, schraubte er den Verschluss wieder zu, nahm einen der vier Kanister und ging, nachdem er die Heckklappe geschlossen hatte, im selben Schritt davon, in dem er gekommen war.
Leonardo ließ die Gardine fallen und begab sich zum Nachttisch, wo er die Wasserflasche abgestellt hatte. Er trank einen Schluck daraus und setzte sich aufs Bett. Vom Flur kam das Geräusch von Schritten und von einem Gefährt auf Rollen, das in Richtung Treppe geschoben wurde.
Am Abend hatte er lang gezögert, ob er die Kanister besser im Auto lassen oder ins Zimmer mitnehmen sollte, aber nachdem er lang nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass er letztlich das Richtige getan hatte, oder das weniger Falsche, und dass es schlimmer gewesen wäre, die Kanister ins Zimmer zu holen.
Er ging ins Bad, nahm das Necessaire von der Konsole und steckte es in die Tasche, die auf dem Bett bereitstand. Das T-Shirt und die Unterhose, die er nach dem Duschen gewechselt hatte, verstaute er in einer Seitentasche, danach schlüpfte er in die Jacke und trat aus dem Zimmer. Den Schlüssel ließ er stecken, wie ihm gesagt worden war.
Im Flur warf er einen Blick auf die Bilder an den Wänden: tote Fasane auf großen Holztischen, Obstkörbe und Zinngeschirr. Wie am Abend roch es nach gekochtem Gemüse, aber der Regen, der in der Nacht gefallen war, ließ vom Teppichboden einen modrigen Geruch nach Unterholz aufsteigen.
Auf der ersten Treppe traf er eine alte Frau, die sich ans Geländer geklammert hielt. Er fragte sie, ob sie Hilfe benötige, und die Frau, die in ein für die Jahreszeit völlig unpassendes Wollkostüm gehüllt war, sah ihn mit vollkommener Gleichgültigkeit an, als wäre es das Geräusch einer zuschlagenden Tür, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, dann wandte sie das Gesicht der Tapete zu. Mit einer Entschuldigung schob sich Leonardo an ihr vorbei und ging in die Halle hinunter.
Trotz einer Gipsstatue, einer künstlichen Pflanze und eines Teppichs mit vielen Brandlöchern ließ das Ambiente erkennen, dass das hier bis vor gar nicht langer Zeit etwas völlig anderes gewesen war. An den Wänden waren noch die Spuren von den Regalen und Konsolen zu sehen, die ziemlich achtlos abgerissen worden waren, und unter der Decke verliefen dicke Bleirohre. Die Tür zum Hof war durch ein schweres Eisengitter geschützt. Dahinter sah man die Autos und das Einfahrtstor. Vereinzelt bildeten sich in den Pfützen konzentrische Ringe, es war zu ahnen, dass die Luft bereits drückend und schwül war.
«Haben die Hunde Sie gestört?», fragte der Mann an der Theke, ohne den Blick von den Blättern zu heben, die er auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Er trug nun nicht mehr den grünen Pullover vom Abend zuvor, als er das Geld im Voraus verlangt und ihm gezeigt hatte, wie man die Wertmünze für das Heißwasser im Gemeinschaftsbad benutzte.
«Einige Rudel kommen nachts bis an die Einzäunung heran. Wir haben versucht, sie zu vergiften, aber das Problem war damit nicht gelöst.»
Leonardo sah zu, wie der Mann auf einem der Blätter mit diagonalem Schriftzug unterschrieb. Sein Schädel glänzte, als hätte er die Angewohnheit, ihn jeden Morgen mit Fett einzureiben und mit einem Wolllappen zu polieren. An der Wand in seinem Rücken lehnte ein metallener Bettrost, daran waren mit Wäscheklammern viele Ansichtskarten von Orten befestigt, die mittlerweile unerreichbar waren. Auf der Theke hatten Gegenstände ihre Abdrücke hinterlassen, die dort gestanden haben mussten. Unter anderem ein Computer. Das Telefon hingegen war noch da, aber es kam kein Kabel aus dem Apparat.
«Ich glaube, es fehlt etwas aus meinem Auto», sagte Leonardo.
Der Mann wandte sich zu dem Bettrost um, nahm ein paar Benzingutscheine davon ab und begann ihre Codenummern in das Heft einzutragen. Als er damit fertig war, holte er ein Päckchen Zigaretten aus der Hemdtasche und zündete sich eine an.
«Sind Sie sicher?», sagte er und sah Leonardo durch den Rauch des ersten Zugs an der Zigarette an.
«Ja.»
«Wie sicher?»
«Vollkommen.»
Der Mann ließ die Asche auf ein Tellerchen fallen, auf dem ein Heiliger dargestellt war. Am Handgelenk trug er ein Lederarmband, und sein rechtes Ohr schien zerkaut zu sein. Leonardo ahnte, dass zwischen beidem eine Verbindung bestehen musste, aber eine sehr verborgene, und dass es Zeit beanspruchen würde, sie zu rekonstruieren.
«Der Wachposten war die ganze Nacht auf dem Turm», sagte der Mann, «ich schließe aus, dass jemand über den Zaun gestiegen sein kann.»
«Das halte ich auch für unmöglich», antwortete Leonardo.
Der Mann betrachtete Leonardos mageres Gesicht und seine langen, zum größten Teil grauen Haare. Wahrscheinlich überlegte er, dass er jemanden vor sich hatte, der nicht mit den Händen arbeitete oder sich nur wenig körperlich bewegte.
«So bezichtigen Sie also die anderen Gäste», sagte er.
Leonardo schüttelte den Kopf.
«Das ist nicht meine Absicht, in gar keiner Weise.»
Der Mann wägte Leonardos arglosen Blick ab, dann blies er die Wangen auf, als könnte ihm das beim Nachdenken behilflich sein. Seine Augen hatten die Farbe von Glasflaschen, die jahrelang im Dunkel eines Kellers gelegen sind.
«Denis!», rief er laut, nahm die Zigarette wieder in die Hand, die er am Rand des Tellerchens abgelegt hatte, und beugte den Kopf erneut über die Blätter.
Kurz darauf öffnete sich die Tür hinter ihm, und heraus kam der Junge, den Leonardo im Hof gesehen hatte.
«Das ist mein Bruder», sagte der Mann an der Theke, ohne einen der beiden anzusehen, «er kümmert sich um die Überwachung.»
Aus der Nähe betrachtet, war der Bursche noch unter dreißig. An den Füßen trug er dicke Wollstrümpfe, und die Seitentaschen seiner Hosen waren vollgestopft mit zylindrischen Gegenständen, nicht länger als ein Finger.
«Der Herr sagt, es fehlt etwas aus seinem Wagen», meinte der Glatzköpfige.
Der Junge betrachtete Leonardo, die hochgewachsene Gestalt, die schmalen Schultern im Leinenjackett, wie man ein Werkzeug betrachtet, das einst einen gewissen, obgleich schwer zu durchschauenden Nutzen gehabt haben muss, heute aber durch bessere Geräte ersetzt wurde.
«Ich habe die ganze Nacht Wache gehalten», sagte er, «und heute Morgen haben wir das Tor noch nicht geöffnet.»
Auf seinem Gesicht lag nicht die Spur einer Herausforderung. Nur die Langeweile dessen, der sich genötigt sieht, ein Formular auszufüllen, das er auswendig kennt.
«Das bezweifle ich nicht», sagte Leonardo. «Aber ich bin sicher, dass jemand den Kofferraum meines Wagens aufgebrochen hat.»
«Was fehlt Ihnen?», fragte der Junge.
«Ein Kanister Öl.»
«Motoröl?»
«Nein, Olivenöl.»
«Hatten Sie nur den einen?»
«Nein, ich hatte vier.»
Der Bursche schwieg, als ob das Gröbste erledigt wäre. Der Bruder hörte auf zu schreiben.
«Wenn Sie wollen, können wir die Polizei rufen.»
Leonardo dachte darüber nach.
«Wie lang würde es dauern, bis die kommt?»
«Wir haben einen privaten Wachdienst, die kommen nicht gern. Einmal haben wir zwei Tage lang gewartet.»
Leonardo betrachtete seine Hände, die auf der Theke lagen: Sie waren lang, mager und sehnig. Der Mann sah ihn weiter unverwandt an.
«Vielleicht irren Sie sich, und Sie hatten überhaupt nur drei Kanister», sagte er.
Leonardo hob den Blick und sah den Rücken des Jungen hinter der Tür verschwinden, durch die er gekommen war.
«Ich bin froh, dass wir dieses Missverständnis ausgeräumt haben», sagte der Mann, wobei er den kahlen Schädel wieder über den Schreibtisch beugte, «zum Frühstück können Sie in den Salon gehen.»
Der Raum, den Leonardo betrat, war durch eine Rigipswand abgeteilt, hinter der man Küchen- und Waschmaschinengeräusche erahnen konnte.
An dem Tisch neben der Tür saß die alte Dame, die Leonardo auf der Treppe getroffen hatte, während am Fenster ein Mann sein Frühstück einnahm, um die vierzig, fett, vermutlich ein Handelsvertreter, mit zwei großen schwarzen Koffern zu beiden Seiten seines Stuhls. Auf dem ovalen Tisch in der Mitte des Raums waren ein Krug und zwei Thermoskannen aufgestellt, ein paar Tassen, Brot, ein Rechteck Margarine und ein Schälchen Marmelade von wenig einladender Farbe. Eine Uhr an der Wand zeigte zehn nach acht. Es war kein Personal im Raum.
Leonardo goss sich Kaffee in eine Tasse und steuerte auf einen der drei frei gebliebenen Tische zu. Die Reisetasche stellte er auf einem Stuhl ab, setzte sich und trank einen Schluck: Der Kaffee war aus Johannisbrot, aber mit dem Absud von echtem Kaffee gestreckt.
Ein Vortrag fiel ihm ein, den er vor vielen Jahren in Madrid gehalten hatte, über die Zirkularität in der Schreibweise Tolstois, und das anschließende Abendessen in einem Restaurant im Zentrum, dessen Eingang ohne jedes Hinweisschild wie der zu einem beliebigen Wohnhaus aussah.
Den ganzen Abend hindurch war der Rektor gezwungen gewesen, die Beleidigungen abzumildern, die seine Frau auf die Gegner des Stierkampfs losließ. Die Anwesenden mussten es gewohnt sein, dass die Dame zu viel trank und das Schauspiel, welches vor wenigen Monaten von der Regierung verboten worden war, mit allen Mitteln verteidigte, und schienen sich nicht daran zu stören. Am Ende des Abends, im mittlerweile schon leeren Restaurant, hatte eine junge Frau, vermutlich eine Studentin, die einen Dozenten begleitete, dessen Geliebte sie mehr oder weniger offiziell war, ein von ihr selbst verfasstes Lied vorgetragen, in dem sie die Auffassung vertrat, die Liebe sei nur ein Mittel, um etwas anderes zu erreichen. Keiner der Anwesenden hatte die Kraft aufgebracht oder die erforderliche Menge an positiven Erfahrungen besessen, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Der Kaffee, den sie danach tranken, ein jeder eingeschlossen in sein schuldbewusstes Schweigen, war ähnlich wie der, den er jetzt vor sich hatte, obwohl man damals noch in jedem Geschäft guten Kaffee bekommen konnte.
Während er die Tasse noch einmal zu den Lippen führte, bemerkte Leonardo, dass die alte Dame ihn fixierte. Er grüßte sie mit einem Nicken, aber sie starrte ihn weiterhin an, ohne den Gruß zu erwidern. Sie hatte dünnes Haar, das zu einer luftigen Komposition aufgetürmt war, durch die das Licht des hohen Fensters schwach hindurchschien. Die Finger waren beringt, und alles an ihrer Person erschien gepflegt und auf einen Zweck gerichtet, an den auch nur zu denken längst blasphemisch gewesen wäre.
Leonardo holte das Buch aus der Reisetasche, das er in einem Seitenfach untergebracht hatte, und blätterte darin, bis er die gesuchte Erzählung gefunden hatte.
Es war eine Erzählung, die er viele Male gelesen hatte, das erste Mal mit einundzwanzig, und die er immer bedingungslos geliebt hatte. In Augenblicken großer Verzweiflung und wilder Hoffnung hatte sich die Erzählung seinem Seelenzustand angepasst und immer als das erwiesen, was sie war: eine perfekte Konstruktion. Das war die Lektüre, die er seinen Studenten empfahl, denen, die literarische Ambitionen hegten, und Leuten, die an ihn herantraten in der Annahme, in seinem Beruf liege eine Weisheit verborgen, die sie leiten könnte. Seit vielen Jahren schon kam es nicht mehr vor, dass er um dergleichen gebeten wurde, aber sollte es in diesem Augenblick oder in zehn Jahren geschehen, so war er sich sicher, dass die Antwort nicht anders lauten würde: Ein schlichtes Herz, würde er sagen.
Als er die Schilderung des Hauses der Madame Aubain, bei der Félicité so vorzügliche Dienste tut, zu Ende gelesen hatte, trank er noch einen Schluck Kaffee, der ihm besser schien. Im Hof war etwas Sonne herausgekommen, durch das Fenster sah er die Reflexe auf den Scheiben der Autos. Der Zwischenfall mit dem Kanister erschien ihm weit weg und aus der Ferne betrachtet wenig bedeutsam.
Heute Abend bin ich zu Hause, dachte er.
Er wollte zu seinem Buch zurückkehren, doch als er den Blick hob, begegnete er dem der alten Dame, die leise herangetreten war.
«Bitte sehr», sagte er und rückte den Stuhl heraus, auf dem kein Gepäck lag.
Die Frau ging um die Stirnseite des Tisches herum und setzte sich. Ihr Gesicht war gezeichnet von wenigen tiefen Falten, zwischen denen die Haut merkwürdig jugendlich und glatt erschien. Auf die Lippen hatte sie akkurat purpurroten Lippenstift aufgetragen.
«Ich wette, keiner hat Sie erkannt», sagte die Frau.
Leonardo schloss das Buch. Die Frau nickte ernst.
«Ich konnte nicht anders. Sie waren eine der großen Enttäuschungen meines Lebens.»
«Das tut mir leid.»
«Es war meine eigene Naivität: Ich habe mich jahrelang auf dem Gebiet der Kunst bewegt, und ich hätte besser wissen müssen als jeder andere, dass zwischen dem Künstler und dem Menschen ein Abgrund voller Erbärmlichkeit liegt.»
Leonardo trank noch einen Schluck Kaffee.
«Auf welchem Gebiet der Kunst haben Sie gearbeitet?»
Mit der linken Hand prüfte die Frau den Aufbau ihrer Frisur.
«Opernbühne. Ich war Altistin.»
Leonardo beglückwünschte sie. Der Mann am anderen Tisch beobachtete sie: Seine Hände waren plump und flink, der übrige Körper statisch. Leonardo hatte den Eindruck, er denke etwas Gemeines.
«Darf ich Sie etwas fragen?», sagte die Frau.
«Bitte.»
«Nach dem, was Ihnen passiert ist, haben Sie da noch weitergeschrieben?»
«Nein, ich habe nicht mehr geschrieben.»
Die Frau kniff die Augen zusammen, als würde sie etwas wieder erleben, was unter vielem anderem herausgesucht werden musste.
«Als meine Tochter zur Welt kam, habe ich wegen ihrer gesundheitlichen Probleme zwei Jahre lang nicht gesungen. Ich bin fast verrückt geworden. Ich sage das ohne Mitleid für Sie. Meine Lage war anders als Ihre. Ich hatte nichts Schlechtes getan.»
Leonardo trank den Kaffee aus.
«Haben Sie wieder angefangen?»
«Sicher habe ich wieder angefangen», brauste die Frau auf, «eine Partie nach der anderen. Es gibt nur wenige Altistinnen, die sich rühmen können, bis ins Alter von zweiundfünfzig Jahren gesungen zu haben, aber ich hatte eine Konstitution, von der andere nur träumen können. Zwei Tage, nachdem ich meinen Sohn verloren hatte, habe ich wieder gesungen. Wissen Sie, was das heißt, ein Kind zu verlieren und zwei Tage später im Rigoletto zu singen, vor tausend Leuten?»
Der fette Mann stand vom Tisch auf und ging mit seinen Koffern an ihnen vorbei zum Ausgang.
«Auf Wiedersehen», sagte die Frau.
«Auf Wiedersehen», sagte der Mann.
Leonardo sah ihm bis zur Tür nach. Rembrandt ohne Bart, dachte er.
«Das ist ein Waffenhändler», sagte die Frau. «Er wohnt zwei Nächte im Monat hier.»
Leonardo hätte gern noch mehr Kaffee gehabt.
«Kommen Sie oft hierher?», fragte er.
«Ich lebe seit einem Jahr hier. Wenn das nicht oft ist, dann weiß ich nicht, was oft sein sollte.»
Der Motorenlärm vom Wagen des Händlers lenkte ihre Blicke zum Fenster. Der Luxusgeländewagen wendete und fuhr durch das Tor, das der Mann von der Rezeption offen hielt. Die beiden grüßten sich mit einem Kopfnicken, dann verschloss der Glatzköpfige das Tor wieder mit einem großen Vorhängeschloss und kehrte mit langsamen Schritten zum Gebäude zurück, das Gewehr geschultert.
«Der Wagen ist gepanzert», sagte die Frau, «deshalb kommt und geht er, wie es ihm passt.»
Leonardo nickte, und mit einem kleinen Klaps schnipste er sich etwas von der Schulter, etwas, das vielleicht nie da gewesen war.
«Wo haben Sie früher gewohnt?», fragte er.
«In P*», sagte die Frau, «aber als diese Geschichte mit den Externen losging, hat meine Tochter mich überredet, zu ihr zu ziehen. Nach ein paar Monaten wurde mein Schwiegersohn zur Nationalgarde einberufen, und meine Tochter beschloss, es wäre sicherer für uns, in die Schweiz zu gehen. Ich habe ihr gesagt, sie solle gehen, eine Unterkunft suchen und mich dann nachholen. Sie kannte diesen Ort hier und hat mich hergebracht, damit ich in der Zwischenzeit in Sicherheit bin.»
Die Alte schwieg, als ob die Sache zu Ende wäre. Leonardo lächelte schwach.
«Werden Sie noch lang hier bleiben?»
Die Frau fixierte ihn ohne Nachsicht.
«Wo sollte ich denn hingehen?»
«Ich hatte verstanden, dass Ihre Tochter Sie in der Schweiz erwartet.»
«Meine Tochter ist nicht mehr in der Schweiz», sagte die Frau und nahm einen Krümel vom Tisch. «Nachdem ihr Mann gestorben war, hat sie sich wieder verheiratet, mit einem Deutschen. Jetzt lebt sie in Deutschland. Sie hat gelitten, aber es war besser so: Der erste Mann war ein haltloser Mensch. Er ist in V* gefallen, nach allem, was die Schreiber solcher Briefe davon wissen können. Der, den sie jetzt hat, scheint jedenfalls viel besser zu sein, aus ganz anderem Holz.»
«Warum fahren Sie nicht zu ihr?»
Die Frau sah ihn an, wie man einen Mann ansieht, der sich vollgepinkelt hat.
«Schauen Sie denn kein Fernsehen? Wissen Sie überhaupt, was hier vorgeht? Solange die Leitungen funktionierten, hat meine Tochter jeden Tag angerufen und mich gebeten, das sage ich ohne Übertreibung, mich gebeten, ich solle ihr erlauben, dass sie mich abholen kommt. Aber ich habe immer nein gesagt. Es lohnt sich nicht, ein solches Risiko einzugehen. Ich bin zweiundneunzig Jahre alt, hier fehlt es mir an nichts, und sie ist die einzige Tochter, die mir geblieben ist. Auch Sie haben eine Tochter, glaube ich mich zu entsinnen?»
Leonardo führte die Tasse zu den Lippen, obwohl kein Kaffee mehr drinnen war.
«Ja.»
«Ihre Frau erlaubt Ihnen nicht, sie zu sehen?»
«Nein. Ich sehe sie seit sieben Jahren nicht.»
«Das dachte ich mir.»
Ein Weilchen schwiegen sie und sahen in verschiedene Ecken des Raums.
«Jetzt muss ich mich wieder auf den Weg machen», sagte Leonardo.
«Wo sind Sie zu Hause?»
«In M*.»
«Ist das der Ort, wo Das kleine Lied vom Hund Tobias spielt?»
«Ja.»
Sie hörten eine Hupe. Vor dem Tor hielt ein kleiner Tanklaster. In der Führerkabine zwei Männer.
«Nicht, dass ich Ihnen das wünschen würde», sagte die Frau, «aber vermutlich werden Sie früher oder später wieder Lust bekommen zu schreiben.»
Lächelnd schüttelte Leonardo den Kopf. Sie betrachteten den Glatzköpfigen, wie er das Tor öffnete, und den Fahrer, wie er den LKW in den Hof lenkte. Der Mann stieg aus, zog Arbeitshandschuhe an und schloss ein dickes, gerändeltes Rohr an den Tank an, während der Glatzköpfige einen mit zwei Vorhängeschlössern am Boden befestigten Kanaldeckel öffnete. Unter den Jacken von beiden zeichneten sich Pistolentaschen ab. Leonardo betrachtete die Landschaft in ihrem eintönigen Ocker; der Himmel war von der Farbe geronnener Milch.
«Ich muss wirklich weiter», sagte er.
Während er nach der Reisetasche griff, blieb die Frau sitzen und starrte auf das vertrocknete Maiglöckchen in der Mitte des Tisches; dann, als Leonardo bereits an der Tür war, rief sie ihn beim Familiennamen.
«Im besten Fall haben Sie eine Dummheit begangen», sagte sie, «niemand wird Ihnen das je verzeihen können.»
Er verließ das Hotel und fuhr in Richtung Norden auf denselben Nebenstraßen, auf denen er gekommen war. Auf der Autobahn hätte er Stunden gespart, aber er hatte von Straßensperren gehört, an denen die Reisenden ausgeraubt wurden, und aus diesem Grund hatte er eine wenig befahrene Strecke gewählt, abseits von den großen Städten.
Er fuhr mit offenem Fenster, die klebrig heiße Luft blähte ihm das Hemd, ab und zu trank er einen Schluck Wasser aus der Flasche neben ihm. Seit seinem Aufbruch vor drei Tagen war er vielleicht zehn Autos und ein paar Militärkonvois begegnet. Die meisten Dörfer, durch die er kam, waren verlassen. Nur hie und da ein Alter, der auf der Schwelle saß, ein Junge auf dem Fahrrad, das Gesicht einer Frau, vom Motorengeräusch ans Fenster gelockt.
Gegen Mittag machte er halt zum Tanken. Auf sein Hupen hin trat ein Mann aus dem Gittertor zur Tankstelle, während ein anderer mit gesenktem Gewehr an der Tür stehen blieb. Leonardo stieg aus, ließ sich durchsuchen und gab an, wie viel Benzin er wollte. Der Mann, der um die fünfzig sein mochte und das T-Shirt einer Rockband trug, stieg in den Polar und fuhr den Wagen ins Innere der Einzäunung. Durch das Gitter versuchte Leonardo den Tankvorgang zu kontrollieren, doch der hintere Teil seines Wagens wurde von dem Wohncontainer verdeckt, in dem die beiden Männer lebten. An einem der Fenster sah man eine Frau mit dunkler Haut und Kraushaar. Leonardo dachte, dass sie braun war, weil sie wohl den ganzen Sommer im Freien gearbeitet hatte, oder es handelte sich um eine Externe, die hereingekommen war, bevor die Grenzen geschlossen wurden.
Der Mann im T-Shirt brachte den Wagen wieder zurück.
«Auf Wiedersehen», sagte Leonardo.
Der Mann nahm das Geld.
«Seien Sie vorsichtig», sagte er, indem er ihm den Rücken zukehrte.
Ein paar Kilometer hinter der Tankstelle machte Leonardo am Straßenrand halt. Bevor er ausstieg, sah er sich um. Die Gegend war eben, und fast überall war das Gras nicht gemäht worden, gelb bog es sich unter dem heißen Wind. In der Ferne eine Hütte und die Reste von dem, was ein Brennofen gewesen sein musste. Dann eine Reihe Maulbeerbäume und einige Hochspannungsmasten, die sich in Richtung auf ein Häuflein kaum sichtbarer Häuser hinzogen.
Nachdem er ein Weilchen der Stille gelauscht hatte, stieg Leonardo aus dem Wagen und sah nach, ob die Kanister noch an ihrem Platz waren. Er öffnete sie und roch daran, um sicherzugehen, dass der Inhalt nicht während des Tankens ausgetauscht worden war, dann schloss er den Kofferraum und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. In der Luft lag säuerlicher Verwesungsgestank.
Leonardo machte ein paar Schritte auf den Graben zu, der die Straße von den Feldern trennte. Ein Hund lag da mit geblähtem Bauch, ein Schwarm Fliegen umschwirrte die Augen und das halb offene Maul. Ein schwarzer Labrador, getötet durch Gift oder einen anderen Hund.
Leonardo war schon im Begriff, kehrtzumachen und zum Wagen zurückzugehen, als er ein Winseln hörte.
Wenige Meter von dem Hundekadaver entfernt verschwand der Graben unter einem Feldweg und bildete dort einen kleinen Tunnel vom Durchmesser eines Fahrradrades. Er begriff sofort, worum es sich handelte.
Er stieg in den Wagen, und nachdem er den Motor angelassen hatte, fuhr er los. Er schaltete das Radio ein, aber die automatische Sendersuche ergab nichts, also schaltete er es wieder aus und fuhr einige Kilometer, ohne langsamer zu werden, bis er an einer Kreuzung halten musste.
Während er sich nach Autos umsah, die Vorfahrt hatten, bemerkte er auf einem Feld in der Nähe eine Gruppe Männer. Es waren sechs, mit Gewehren bewaffnet, und sie schienen ihn nicht gesehen zu haben: Zwei von ihnen stocherten mit langen Stangen in dem Graben herum, der das Feld begrenzte, während die anderen hinter ihnen hergingen, den Blick zu Boden gerichtet.
Leonardo legte zum Weiterfahren den Gang ein, aber in dem Moment, da er die Kupplung losließ, sprangen aus dem Graben, den die Männer absuchten, sechs, zehn, vielleicht zwanzig Hunde hervor, die alle in dieselbe Richtung davonliefen. Überrumpelt, zögerten die Männer erst, dann stießen sie Schreie aus und begannen auf die langgestreckten Gestalten, die das Gras zerteilten, zu schießen. Die Hunde hatten beinah einen Aquädukt erreicht, der ihnen Deckung geboten hätte, doch unerklärlicherweise bogen sie zur Seite ab und gaben den Jägern ihre Flanken preis, große Zielflächen. Einige sah Leonardo durchs Gras rollen, andere verschwanden wie von einem Loch verschluckt, andere explodierten und zerstoben in rötliche Staubwölkchen. Die Schüsse hörten auf, die Männer durchkämmten die Wiese. Man vernahm noch ein paar vereinzelte Schüsse, dann war endgültig Ruhe.
Leonardo bemerkte, dass er den Fuß auf der Kupplung stehen hatte. Er schaltete in den Leerlauf und nahm den Fuß weg. Der Motor lief auf kleiner Drehzahl nur stotternd, aber er starb nicht ab.
Die Männer kehrten zurück zu dem Bewässerungskanal, aus dem die Hunde herausgekommen waren. Leonardo sah einige in den Graben hinuntersteigen und kleine weiche Säckchen voller Erde heraufwerfen. Nach ein paar Minuten mussten es etwa dreißig sein, alle auf einem Haufen.
Die Männer verteilten sich über die Wiese und schleppten die Hundekadaver zu ihren Welpen, dann holte einer von ihnen einen Kanister aus dem Rucksack und goss den Inhalt über dem Haufen aus.
Leonardo schloss die Augen: Das schweißnasse Hemd klebte ihm an der Brust, was ihm ein Gefühl von Eiseskälte vermittelte. Als er die Augen wieder öffnete, stieg eine schwarze Rauchsäule zum Himmel auf.
Wie gelähmt starrte er sie eine Weile lang an, der beißende Geruch von verbranntem Fell kam beim Fenster herein, dann legte er den Gang ein und kehrte um. Während er sich entfernte, glaubte er im Rückspiegel die Männer zu sehen, wie sie mit den Armen fuchtelten, um auf sich aufmerksam zu machen, aber er beschleunigte weiter.
An den Trümmern des Brennofens erkannte er die Stelle wieder. Er fuhr an die Seite, und während der Staub vom Straßenrand den Wagen einhüllte, erreichte er den Graben. Als er hinunterging, rutschte er aus und landete wenige Zentimeter von dem Hundekadaver mit dem Gesicht am Boden. Der Ekel entlockte ihm einen unartikulierten Laut; er berührte seine nackten Arme und merkte, dass sie mit gelbem Schlamm verschmiert waren. Er wischte sie am Hemd ab, stand auf und ging rasch zu dem Tunnel unter dem Feldweg.
Von drinnen kam kein Laut, kein Winseln; alles, was er hörte, war sein eigener keuchender Atem und sein aufs Doppelte beschleunigter Herzschlag.
Er bückte sich und schaute hinein. Der Tunnel war voll von Abfall, Dreck und Steinen, die das Wasser angeschwemmt hatte. Nichts, was sich bewegt hätte, kein Laut. Er schnalzte mit der Zunge. Keine Antwort auf den Lockruf.
Er sprang auf und kontrollierte die Straße: Der Scheiterhaufen war höchstens ein paar Kilometer entfernt, und es war nicht auszuschließen, dass die Jäger ihm folgten.
Er kniete nieder, und als er den Kopf in den Tunnel steckte, meinte er, eine Bewegung zu erkennen. Er streckte sich, und als hätte er eine Membran durchstoßen, schlug ihm der Geruch des Todes voll ins Gesicht. Plötzlich erschien ihm das, was er da tat, unbegreiflich, wie vor Jahren, als es ihm angesichts seines eben in die Buchhandlungen gelangten Buches unerklärlich vorgekommen war, wie er drei Jahre seines Lebens diesem Versepos hatte widmen können, komplex und veraltet, das viele seiner Leser und der größte Teil der Kritiker bereits zu einem gefälligen Kabinettstückchen erklärt hatten.
Er legte sich flach auf den Bauch, um einen Arm ausstrecken zu können, aber auch, weil ihm vor Benommenheit schwindlig war, und seine Hand stieß an etwas Weiches und Kaltes. Er zog es zu sich heran und sah, dass der Welpe tot und von Ameisen bedeckt war. Er warf ihn hinter sich, neben den Körper der Mutter, und als er den dumpfen Aufschlag hörte, überkam ihn ein Brechreiz, als ob diese Geste die Existenz eines Teils von ihm bestätigen würde, der, stets verborgen gehalten, nun unter Geburtswehen ans Licht kam.
Diesmal ertastete seine Hand etwas Warmes. Er ließ es in die Handinnenfläche gleiten wie ein Bäcker, der ein Brötchen aus dem Ofen holt.
Als der Hund am Licht war, steckte er unwillkürlich die Schnauze zwischen seine Finger. Es musste das erste Mal sein, dass er die Sonne sah. Er war nass von Urin, und rund um seine halb geschlossenen Augen war eine gelbe Flüssigkeit eingetrocknet.
Leonardo stieg aus dem Graben hinauf und legte den Hund in den Schatten des Wagens. Er nahm die Flasche vom Sitz und trank einen großen Schluck Wasser, dann schüttete er sich etwas davon in die Hände und versuchte, sich Arme und Nacken zu waschen; danach näherte er die hohle Hand dem Welpen und wollte ihn zum Trinken bewegen, aber das Tier schien blöde vor Schlaf oder vor Hunger und reagierte nicht. Auch nachdem er ihm die Augen sauber gemacht und von den Krusten befreit hatte, hielt er sie weiterhin geschlossen. Er war schwarz, und die Ohren hingen ihm an den Seiten herunter, was ihm ein resigniertes Aussehen verlieh.
Er setzte ihn so lange wieder am Boden ab, bis er sich das Hemd ausgezogen und es auf dem Sitz ausgebreitet hatte, dann legte er ihn darauf; er wollte ins Auto steigen, aber ein Schmerz im Unterbauch hielt ihn zurück. Mit langen Schritten, den mageren, von großen Muttermalen gepunkteten Oberkörper nackt, lief er zum Straßenrand. Er schaffte es gerade noch, die Hosen herunterzulassen, ehe der Durchfall sich entlud.
Als er wieder Luft bekam, gelangte er in der Hocke bis an die Wagentür und holte aus dem Handschuhfach Toilettenpapier. Er wischte sich sorgfältig ab und wusch sich, indem er das Papier mit Wasser befeuchtete.
Wieder am Steuer, zog er ein Hemd mit braunen Querstreifen an, das er aus der Tasche geholt hatte, und suchte auf der Karte nach einer Straße, auf der er nicht gezwungen wäre, über die Kreuzung zu fahren, wo sicher noch der Scheiterhaufen brannte. Er fand eine, die ihn nicht allzu weit vom Weg abbrachte. Dafür musste er etwa zehn Kilometer zurückfahren und den Fluss überqueren. Er sah auf die Armbanduhr: Viertel nach drei. Die bläulichen Berge schlossen den Horizont im Norden ab. Um acht würde es dunkel, und da wäre es besser, wenn schon nicht zu Hause, so doch auf einem vertrauten Straßenabschnitt zu sein.
Er fuhr langsam, sehr vorsichtig in den Kurven, als ob der neue Passagier nicht erschüttert werden dürfe. Der Welpe rührte sich nicht, ab und zu streckte Leonardo die Hand aus und tastete nach seinem Herzen, das er unter den Fingern rasch schlagen spürte. Gegen fünf urinierte der Hund, und als das Licht abnahm, fing er an mit dem Kopf zu wackeln und leise Winsellaute von sich zu geben. Leonardo hielt an und reinigte ihm die Augen, um die sich wieder Krusten gebildet hatten, dann hielt er ihm ein Stück Käse vor die Schnauze, von dem er zu Mittag gegessen hatte, aber der Hund schien darin nichts Essbares zu erkennen und drehte den Kopf verärgert weg.
Leonardo entfernte sich etwa zwanzig Schritte, um versteckt hinter einem Akaziengebüsch zu urinieren, dann ging er wieder zum Wagen, zog die Jacke an, weil es frisch wurde, und nahm den Hund auf den Arm.
Von der Höhe der ersten Hügel aus schaute er in die Ebene. Im Lauf des Tages hatte es aufgeklart, und jetzt ging die Sonne hinter den Bergen unter, die Kuppel war von einheitlichem Kobaltblau ohne Zwischentöne.
Er frisst nicht, und morgen ist er tot, dachte Leonardo, und er drückte den Körper des Hundes an sich.
In der Ferne strahlten folgsam die Lichter von A* und noch einigen anderen Dörfern. In isolierten Blöcken erkannte man den hellen Schein einiger Fabriken. Die Verbindungsstraßen wurden schon seit etlichen Monaten nicht mehr beleuchtet; die Fußballmeisterschaft fand nicht mehr statt; die Fernsehprogramme endeten mit den Zweiundzwanziguhrnachrichten und begannen mit denen um zehn.
Er lächelte über das Gewimmel an Lichtern und über die Schönheit einiger Feuer, die auf einem Hügel im Osten brannten. Die Atemzüge des Hundes waren tiefer geworden, und die Wärme seines Körpers drang durch das Hemd und wärmte ihm die Brust; der Geruch, den er verströmte, war der von Dingen und Lebewesen, die eben erst auf die Welt gekommen, aber noch ohne Namen sind. Das, was man in einem Kreißsaal riechen kann oder in den Kellern, wo Käse zum Reifen gelagert wird. In einer Papierfabrik. Geruch des Übergangs.
«Ich werde dir keinen Namen geben», sagte er, wobei er ihm mit einem Finger den Kopf streichelte.
Er kam auf der Piazza an, da schlug die Turmuhr acht.
Als er die Tür zu der Eisenwarenhandlung öffnete, hob Elio den Blick von der Zeitung, die er gerade las und die von einer Verpackung stammen musste. Die letzte Zeitung war vor vier Monaten ins Dorf gekommen. Leonardo trat an die Ladentheke und stellte die zwei Kanister, die er mit hereingebracht hatte, darauf ab, dann trocknete er sich mit einem Taschentuch die Stirn.
«Im Wagen ist nur noch einer», sagte er.
Elio gab kein Zeichen, weder nickte er, noch schüttelte er den Kopf. Leonardo und er waren entfernte Cousins, aber ihre Freundschaft hatte nichts mit Blutsbanden zu tun, auch nichts mit Büchern oder anderen Leidenschaften, die Männer miteinander verbinden können, wie die Jagd, Bergsteigen oder Sport. Obwohl es sieben Jahre her war, dass Leonardo ins Dorf zurückgekehrt war, blieb er ein Stadtmensch, während Elio diesen Hügeln so sehr verbunden war, wie ein Mensch das nur sein kann. Er sprach ihren Dialekt, kannte ihre zeitlichen Abläufe, hatte ihre Frauen gekostet und war sonntags nachmittags bei den Spielen zwischen den Dörfern auf ihren Fußballplätzen herumgelaufen. Zu der Zeit, als diese Ortschaften sich im Sommer noch mit Touristen füllten, war er zusammen mit den anderen Jungs auf dem Mäuerchen gesessen, das die Piazza nach einer Seite hin abschloss, und hatte die deutschen und holländischen Mädchen in den Straßencafés gemustert, um sie am Abend in die Weinberge zu begleiten, an die Flussbiegungen und auf die höchsten Hügel, von wo aus man, wie er ihnen versprochen hatte, das Meer sehen konnte. Als er zur Nationalgarde einberufen wurde, hatte er noch einmal, wie es Tradition war, richtig auf die Pauke gehauen und war drei Tage lang verschwunden, ohne dass jemand wusste, wo er steckte. Zwei Jahre lang war er an der Grenze geblieben, bis er im Winter ’25 die Kugel abbekam, die nun dafür sorgte, dass er nicht mehr eingezogen wurde. Gleich nach dem Abschied hatte er das Eisenwarengeschäft des Vaters übernommen und die Frau geheiratet, mit der er verlobt war, seitdem er neunzehn war: eine Frau mit kräftigen Schenkeln und ohne viel Firlefanz; eine, mit der man sich eher langweilt, als dass man an Herzversagen stirbt.
«Was sage ich wegen des fehlenden Öls?», fragte Elio.
Leonardo zuckte mit den Achseln.
«Sag, dass man es mir gestohlen hat. Das ist die Wahrheit. Morgen früh bring ich dir das Geld, das man zurückgeben muss.»
Elio sah ihn aus seinen ruhigen Augen an. Er war ein Mann von noch nicht einmal vierzig, von nachdenklichem Wesen, und der einzige Freund, den Leonardo hatte.
«Was für eine Stimmung herrscht denn so?», fragte er ihn.
Leonardo steckte das Taschentuch ein. Der Schlamm auf der Hose war eingetrocknet und bildete eine Figur, die an einen Drachen erinnerte.
«Gestern haben mich vor L* Soldaten angehalten; sie sagten, ich müsste umkehren oder im Auto schlafen, weil die Straße bis zum nächsten Tag gesperrt sei, um eine Panzerkolonne durchzulassen.»
«Waren das Soldaten der O.s.r.a.m oder von der Garde?»
«Von der O.s.r.a.m.»
«Dann hat es gar keinen Konvoi gegeben: Sie haben Säuberungen durchgeführt. Das Fernsehen sagt, die meisten haben angehalten, aber einige Gruppen haben es doch geschafft durchzukommen.»
Leonardo sah sich um. Die Regale waren fast leer, und das wenige, was da war, vermittelte ihm ein Gefühl von notdürftig kaschierter Trostlosigkeit. Ein mit der Situation nicht vertrauter Passant hätte gesagt, ein Geschäft, das überschwemmt worden ist oder dessen Besitzer Liquiditätsprobleme hat und bald zumachen wird.
«Ich habe für dich in diesen Tagen nach dem Weinberg geschaut», sagte Elio, «wenn es nicht regnet, kannst du in zwei Wochen mit der Lese beginnen.»
«Gut.»
«Wie willst du das machen?»
«Wie ich was machen will?»
«Die Lese.»
Leonardo schob sich die Haare aus der Stirn, mit einer Handbewegung, die ihm aus der Kindheit geblieben war.
«Lupu und seine Leute kommen», sagte er, «wie immer.»
«Meinst du, sie kommen?»
«Sicher kommen sie.»
Elio schüttelte einen der Kanister, schaute hinein und beobachtete, wie der Inhalt hin und her schwappte und allmählich wieder zur Ruhe kam. Dann richtete er den Blick auf die Piazza, wo zwei Gestalten still unter der einzigen leuchtenden Straßenlaterne vorübergingen.
«Auch wenn sie kommen, du machst einen Fehler, wenn du sie arbeiten lässt.»
«Wieso?», lächelte Leonardo.
Elio zuckte mit den wohlgeformten Schultern.
«Seit zwei Jahren lässt niemand mehr Externe für die Ernte kommen, und diejenigen, die in Firmen arbeiteten, sind auf die eine oder andere Weise weggeschickt worden.»
«Lupu und seine Familie haben eine Genehmigung, und sie sind alle vor der Schließung gekommen.»
«Genehmigung hin oder her, wenn man sie beim letzten Mal reingelassen hat, so wird es in diesem Jahr bestimmt irgendwelchen Ärger geben.»
Leonardo legte die langen, schmalen Pianistenhände auf die Ladentheke. Er hatte nie Klavier gespielt, aber einige Frauen hatten ihm gesagt, seine Hände seien dafür geeignet. Nur einmal hatte eine Frau seine Hände als «Schriftstellerhände» bezeichnet. Es war ein Mädchen gewesen, das er im Zug nach Nizza kennengelernt hatte. Am Bahnhof angekommen, hatten sie sich mit einem Händedruck verabschiedet, und er hatte sie nie mehr wiedergesehen; diese Episode hatte sich jedenfalls zugetragen, lange bevor er Alessandra heiratete. Nach der Eheschließung hatte er keiner Frau mehr eine Vertraulichkeit gewährt, die ihr erlaubt hätte, etwas über seine Hände zu sagen. Die einzige Ausnahme war Clara gewesen, der das aber nicht in den Sinn gekommen wäre.
Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Ein Schmerz fuhr ihm ins Bein: Ischias.
«Reden wir jetzt nicht darüber», sagte er. «Wir sind müde. Komm lieber mit und hol dir den letzten Kanister, ich möchte dir etwas zeigen.»
Sie traten in die kühle Nachtluft hinaus. Das Dorf schlief friedlich; es wirkte wie ein Kind, das seine Wange mit einer schlimmen Wunde gegen ein Kissen drückt und dabei eingeschlafen ist. Im Schaufenster der Eisenwarenhandlung erinnerten die schimmernden Metallwerkzeuge an eine Krippe. Leonardo öffnete die Tür des Polar, und die Innenbeleuchtung ließ den Hund erkennen, der eingerollt auf dem Sitz lag. Er schlief ruhig, erleichtert durch die Kühle oder durch das bisschen Wasser, das Leonardo ihm schließlich aus der hohlen Hand zu trinken gegeben hatte.
«Hast du ihn gefunden, oder hat man ihn dir gegeben?», fragte Elio.
«Gefunden.»
Elio, mit seinem kurzen Haar und seiner Adlernase, sah den Hund an, wie man einen Unfallwagen ansieht, in den man viel Arbeit wird stecken müssen, um ihn wiederherzustellen oder abzuwracken. Leonardo sagte, er habe versucht, ihm Käse zu fressen zu geben, aber da sei nichts zu machen gewesen.
«Da wären Lucas Fläschchen», sagte Elio, «aber wenn Gabri erfährt, dass du sie für den Hund benutzt …»
Er überlegte und trommelte dabei mit den Fingern auf das Dach des Polar. Das Geräusch hallte deutlich auf dem ganzen Platz wider und stieg die schmalen Gassen hinauf, die in den oberen Teil des Dorfes führten, zum Schloss und zu den Sternen, die darüber funkelten.
«Ich gebe dir einen Gummihandschuh», sagte er, «den füllst du mit Milch und stichst die Spitze eines Fingers mit einer Nadel an. Als man mir die Ziege stahl, die Junge hatte, hat das funktioniert. Probieren kostet nichts.»
«Gut», sagte Leonardo.
Der Hund schlief auf dem Rücken und ließ die rosa Haut am Bauch sehen. Von der Spitze des Penis standen ein paar helle, von Urin feuchte Haare in die Höhe. Eines seiner Augen hatte wieder zu tränen begonnen.
«Ich habe gehört, in der Ebene gibt es ganze Rudel, die Menschen anfallen», sagte Elio, «das wird doch nicht einer von denen sein?»
«Wir waren etliche Stunden unterwegs, und er hat mich nicht angefallen», antwortete Leonardo lächelnd.
Elio wechselte das Standbein.
Leonardos Haus war ein bescheidenes Bauernhaus, aber auf der guten Seite des Hügels und allein gelegen. Als Leonardo sechs war, starb sein Vater, und um sich ein finanzielles Polster zu verschaffen, verkaufte die Mutter die zum Dorf hin weisende Hälfte an einen Chirurgen aus T*.
In den Jahren seines Studiums, wenn er die Mutter an den Wochenenden besuchen kam, reiste Leonardo oft mit der Familie des Chirurgen, der die Stadt floh, um auf den Hügeln etwas Stille zu finden. Seine Frau war intelligent, mit riesigen Brüsten unter eng anliegenden T-Shirts, und etliche Jahre jünger als ihr Mann. Sie hatten zwei Söhne: der eine eine Frühgeburt mit sechs Monaten und Legastheniker, der andere extrem gut im Schachspiel. Als der Chirurg bei einem Autounfall ums Leben kam, mochte die Frau nicht mehr in dieses Haus kommen und rief Leonardos Mutter an, um ihr das mitzuteilen. Beide weinten lang am Telefon. Zwei Wochen später schickte die Frau ein Umzugsunternehmen, um die Möbel abzuholen. Seither stand dieser Teil des Hauses unverkauft leer.
Er stellte den Wagen unter der Linde ab, warf die Reisetasche über die Schulter und nahm vorsichtig den Hund, der weiterhin schlief. Am Boden auf der Veranda lagen zwei Briefe. Er wusste, worum es ging, ließ sie liegen. Der Kühlschrank war leer, aber in einer Glasflasche war noch ein Rest Milch. Er roch daran und fand sie akzeptabel, und bevor er irgendetwas anderes tat, goss er die Milch in den Handschuh, stach mit einer Nadel die Spitze des kleinen Fingers an und hielt ihn dem Hund an die Lippen. Doch der Welpe saugte nicht.
Leonardo blieb ein Weilchen auf dem Sofa sitzen, eine Hand auf dem warmen Körper des Tiers, und überlegte, wie leichtfertig es gewesen war, ihn mitzunehmen. Eine irrationale Geste, die ihn Gefahren aussetzte und am Ende keinem von beiden nützen würde.
Er ging ins Bad, zog sich aus, steckte die Kleider in die Waschmaschine und betrachtete sich im Spiegel. Auf dem blassen Brustkorb hatte er einen tiefroten Striemen, den er sich zugezogen haben musste, als er in dieses Loch gekrochen war. Es schauderte ihn bei der Vorstellung von dem, was er getan hatte, und einen Augenblick lang meinte er, den ekelhaften Geruch des toten Welpen und der Mutter an sich zu riechen.
Ohne abzuwarten, bis das Wasser warm war, trat er unter die Dusche und rieb sich Körper und Haare kräftig ab. Dabei kam ihm der Gedanke, wie schon seit einer Weile nicht mehr, dass jedes Ding zugrunde geht und dass sich das in seinem Fall in vollkommener Einsamkeit vollzog. Er fühlte sich sehr müde, aber mehr noch leer und niedergeschlagen.
Als er trocken war, zog er eine blauviolette Unterhose an und kehrte zurück aufs Sofa, wo der Hund noch so schlief, wie er ihn verlassen hatte. Die Küche war übersichtlich und funktionell eingerichtet. Es gab keine Möbel mehr, die seiner Familie gehört hatten: Er hatte die arte povera nie gemocht, und als er hierherzog, hatte er alles an einen Trödler verkauft. Das Mobiliar, das er sich zulegte, war aus afrikanischem Teakholz, essenziell und ohne alle Schnörkel. Er hatte Teller, Gläser und das Nötige für die Küche aus dem Katalog eines Warenhauses bestellt und sich alles mit einem Lieferwagen bringen lassen.
Damals hatte er dieses Vorgehen auf die Eile zurückgeführt, mit der er sich einrichten wollte, oder auf die Verwirrung jener Tage, doch schon bald war er bei genauerer Überlegung zu der Überzeugung gelangt, dass er es in jedem Fall so gemacht hätte. Die Gegenstände, mit denen er in seinem Leben umgegangen war, die er ausgesucht und mit denen er sich umgeben hatte, waren ihm stets gleichgültig gewesen.
Im Küchenschrank fand er Cracker und begann sie am Tisch sitzend zu essen, beim Licht der kleinen Neonlampe über dem Herd. Das Haus, das er seit sieben Jahren bewohnte, war eins von denen, die zu der Zeit, als es noch Architekturzeitschriften gab, Anspruch auf einen Bildbericht hätten erheben können. Leonardo hatte eine breite Glasfront öffnen lassen, die auf den Weinberg und die Veranda ging, wo man sitzen und hinter einer Bergkette, die den Horizont wie ein Riegel abschloss, den Sonnenuntergang genießen konnte. An der Westseite des Hauses zog sich ein Streifen Wiese hin, und jenseits des Hofes lag ein Schuppen, der im Erdgeschoss als Lagerraum belassen und im ersten Stock so hergerichtet war, dass er etwa zehn Leute beherbergen konnte.
Als die Cracker aufgegessen waren, blieb Leonardo sitzen und sah in die Nacht jenseits der Glasscheibe.
Vielleicht lauwarm, dachte er.
Er goss die Milch in ein Töpfchen, erhitzte sie ein paar Sekunden lang und schüttete sie dann in den Handschuh. Als er ihn dem Hund nahe brachte, bewegte der die Augen unter geschlossenen Lidern, sonst nichts. Leonardo drückte den Handschuh zusammen und spritzte etwas Milch auf die Schnauze des Kleinen, der sie instinktiv abschleckte. Er wiederholte das so lang, bis der Hund begriff, woher die Milch kam, und zaghaft an dem Gummifinger zu saugen begann. Als sie damit zu Ende waren, streckten sich beide erschöpft nebeneinander auf dem Sofa aus. Die Uhr zeigte zwanzig nach elf.
«Bauschan», sagte Leonardo.
Das ist der Hund und die Hauptfigur in einer Erzählung von Thomas Mann: eine Erzählung, an die Leonardo sich nicht genau erinnerte, aber die ihm eine Ahnung davon vermittelt hatte, welche Vertrautheit zwischen einem Menschen und seinem Hund entstehen konnte; etwas, das er, der nie Tiere gehabt hatte, nie erlebt hatte.
«Und jetzt ab ins Bett», sagte er und legte den Welpen auf dem Teppich ab, damit er in der Nacht nicht herunterfiel.
Die Luft auf der Veranda war kalt. Leonardo hob nun die beiden Briefe vom Boden auf und warf einen raschen Blick darauf: gerade so lang, um den Stempel «Zurück an den Absender» zu erkennen, dann ging er wieder hinein. In seinem Zimmer öffnete er den Schrank, zog unter seinen Jacketts eine bunt gestreifte Schachtel hervor. Er hob den Deckel auf und ließ die beiden Briefe hineingleiten. Sie legten sich zu den anderen, die die Schachtel bereits fast ganz ausfüllten. Er schlüpfte aus dem Bademantel und zog ein Paar weiße Leinenhosen mit dazu passendem Hemd an, dann ging er ins Bad, wo er sich vor dem Spiegel kämmte und sich mit einem Nagelreiniger und einer Feile die Nägel sauber machte. Als er fertig war, kehrte er zurück in die Küche, sah nach, ob der Hund schlief, nahm das Buch aus der Reisetasche, das er am Morgen zu lesen begonnen hatte, und ging hinaus.
An der Hauswand entlanggehend, erreichte er die Westseite, wo sich im zweiten Stock zwei kleine Fenster und darunter ein Torbogen öffneten. Mit dem Schlüssel, den er vom Nagel genommen hatte, bevor er das Haus verließ, schloss er die Tür auf und trat ein.
Als er ein Kind war, hatte in dem Raum etwa ein Dutzend Fässer gelagert, von denen sein Vater und sein Großvater sämtliche Vorzüge und Mängel kannten, mindestens genauso gut, wie sie das Maß an Mut, Geduld und Schläue jedes einzelnen ihrer Kinder kannten.
Durch viele Generationen hindurch waren seine Vorfahren Winzer gewesen, aber in den letzten Lebensjahren hatte sein Vater auf diesen Teil der Arbeit verzichtet und sich darauf beschränkt, die Trauben an eine Genossenschaft vor Ort zu verkaufen. Die Fässer waren trotzdem an ihrem Platz geblieben, bis Leonardo sie vor sieben Jahren mit der übrigen Einrichtung des Hauses verkauft hatte. Jetzt wurde der etwa zehn Meter lange und vier Meter breite Raum von Bücherregalen eingenommen, die Leonardo von einem Schreiner nach Maß hatte anfertigen und an den Wänden befestigen lassen. Außer etwa tausend Büchern waren in dem Raum nur noch ein Sessel und eine Stehlampe, die in der Mitte des Raums auf einem Teppich standen. Der Fußboden war geblieben, wie Leonardo ihn vorgefunden hatte: so fest gestampfter Lehm, dass es unmöglich war, ihn mit einem spitzen Gegenstand zu ritzen.
Leonardo betrachtete die Bücher, die ihm in diesen vier Tagen ständig – fast physisch – gefehlt hatten, dann ging er zu dem Sessel, knipste die kleine Lampe an und setzte sich. Zwanzig Minuten später hatte er zum wiederholten Mal die Geschichte von Félicité zu Ende gelesen und stellte das Buch in das Regal mit den französischen Autoren des 18. Jahrhunderts.
Er erwachte gegen zehn, und als er merkte, wie spät es war, lief er in die Küche, wo er Bauschan auf dem Teppich liegend fand. Er ist tot, sagte er sich, doch als er ihn in die Hand nahm und beim Namen rief, reckte der Welpe die Schnauze dem warmen Atem aus seinem Mund entgegen. Da bemerkte Leonardo die über den Raum verteilten Kotflecken und begriff, dass der Hund sich in der Nacht zu schaffen gemacht hatte, um seine Umgebung zu erkunden. Also zeigte er ihm, nachdem er ihm die von Eiter verklebten Augen gewaschen und ihm mit dem Handschuh noch etwas Milch gegeben hatte, das Haus.
Während dieser Besichtigung kam er zu der Überzeugung, dass das geeignete Zimmer für den Hund in der Nacht das Arbeitszimmer war. Denn in dem quadratischen Raum, leer und unbenutzt, gab es nichts, was kaputt gemacht werden konnte. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren ein Bürostuhl und ein roher Holztisch, der unter dem Fenster stand.
Diese Kargheit sollte die Bedingungen wiederherstellen, unter denen er in seinem Arbeitszimmer in T* geschrieben hatte: ein Pied à terre im Innenhof an einem zentral gelegenen Platz, wo er eigentlich weder Telefon noch Klingel, noch Namensschild an der Tür gewollt hatte. Aber der Versuch war gescheitert, und der Roman, unterbrochen von den stürmischen Ereignissen, die seine Existenz über den Haufen geworfen hatten, war bei der Zeile stehen geblieben, bei der er gerade war, als das Telefon klingelte, um das große Hauen und Stechen zu eröffnen.
Leonardo betrachtete den kleinen weißen Laptop, der verlassen und verstaubt auf dem Tisch stand. Das war ein Geschenk von Alessandra gewesen, damit er im Zug und im Hotel schreiben konnte. Über diese Tasten gebeugt, hatte er zwei Romane geschrieben und viele Stunden seines Lebens verbracht, als ihm das Schreiben für sein Leben unverzichtbar war, um sich sich selbst und anderen gegenüber zu definieren. Dann war es plötzlich verschwunden, so wie Sportstadien, Wettkämpfe, Training und Sponsoren aus dem Leben eines Sportlers verschwinden können, wenn er beim Spielen mit seinem sechsjährigen Sohn am Strand ganz banal in eine Glasscherbe tritt und sich die Achillessehne durchtrennt. In derselben Weise war das Schreiben aus seiner Existenz herausgetreten, und sein Leben war ein anderes geworden, und zwar noch ein paar Jahre bevor sein Verleger in Konkurs ging, die Zeitungen und Zeitschriften, für die er schrieb, ihre Pforten dichtmachten und Lesen so etwas wurde wie der letzte, ausgefallene Wunsch eines Verurteilten.
«Es ist sehr hell», sagte er, «wenn du die Augen aufmachst, wirst du es bemerken.»
Im Bad wusch er sich gründlich die Ohren und desinfizierte die Wunde an der Brust, er untersuchte sie ausführlich, um zu sehen, ob sie nicht womöglich Anzeichen einer Entzündung zeigte. Ihre dunkelrosa Farbe beruhigte ihn, und da der Ischiasschmerz vergangen war, beschloss er, mit dem Rad ins Dorf zu fahren. Aus dem Schrank holte er sich ein Hemd mit großer aufgenähter Brusttasche und ein Halstuch, dann zog er die Leinenhose an, die er auf dem Sessel zusammengefaltet hatte, und ging hinaus.
Die Strecke zwischen dem Haus und dem Dorf konnte auch von einem wenig geübten Radfahrer, wie er es war, mühelos zurückgelegt werden. Der Hund, der aus dem Hemd herausschaute, genoss die Kühle beim Bergabfahren und wackelte beim Bergauffahren mit dem Kopf, als träte er mit in die Pedale. Als die ersten Häuser in Sicht kamen, verließ Leonardo die Asphaltstraße und schlug einen Feldweg ein, der durch einen üppigen Nussbaumhain führte. Der Weg endete auf der Tenne eines großen Bauernhofs, der vernachlässigt aussah, aber bewirtschaftet war.
«Ottavio!», rief er.
Zwei Hunde kamen bellend hinter dem Haus hervor. Es waren Schäferhunde, sehr schmutzig und scheinbar bösartig. Zum Zeichen des Entgegenkommens streckte Leonardo die Hand aus, aber sie hielten sich in etwa zwei Metern Entfernung und bellten weiter.
«Wer ist da?», rief jemand aus dem Stall.
«Leonardo.»
Aus irgendeinem Grund verstummten die Hunde und trollten sich in den Schatten eines Traktors. Auf der Tenne herrschte große Unordnung, überall lagen haufenweise Futtersäcke herum, Eimer und landwirtschaftliches Gerät. In einer Ecke stand unter einem Tuch etwas wie ein alter Kombi- oder Leichenwagen. Als Ottavio aus dem Stall trat, besah Leonardo ihn sich gerade.
«Was ist das?», fragte er.
Ottavio wischte sich die Hände an der Hose ab.
«Ein Leichenwagen», antwortete er.
«Deiner?»
«Sicher, ich stell mir doch nicht Sachen von jemand anderem auf den Hof.»
Das Tuch, das darüberlag, bestand aus zwei zusammengenähten Bettlaken. Auf dem Dach ragte spitz die Form eines Kreuzes empor.
«Was willst du damit machen?»
«Das ist keins von den Dingen, mit denen man viel machen kann.»
«Warum hast du ihn dann gekauft?»
«Der vom Beerdigungsinstitut in D* ist nach Frankreich gezogen, und da er bei meiner Mutter noch alte Schulden hatte, hat er sie mit dem beglichen, was er hatte. Das war anständig, er hätte ja auch einfach wegfahren können ohne alles. Was hast du denn in der Tasche?»
Leonardo senkte den Blick: Der Hund hatte sich umgedreht, und aus der Tasche schaute ein Stück Schwanz hervor. Behutsam zog er ihn heraus und zeigte ihn Ottavio.
«Wie alt ist er deiner Meinung nach?»
«Zehn Tage», sagte Ottavio, ohne lang hinschauen zu müssen, «er sieht aus wie eine Kreuzung mit etwas, was gut zum Kühehüten geeignet ist. Willst du ihn behalten?»
Leonardo sah ihn an. Der Hund schien sich Mühe zu geben, die Augen zu öffnen.
«Ich denke, ja. Hast du Milch, die du mir verkaufen kannst?»
Ottavio starrte ihn an, mit hochrotem Kopf und verschwitzten Haaren um die Ohren.
«Bist du gekommen, um mich in Rage zu bringen?»
«Wieso?», fragte Leonardo.
Gemeinsam gingen sie in den Stall, zwischen den reglosen Hintern von etwa zwanzig Kühen hindurch, die gleichmäßig auf beide Seiten verteilt waren, und nachdem sie eine Metalltür durchschritten hatten, befanden sie sich in einem bis unter die Decke gefliesten Raum, wo ein Flügelventilator die mit Desinfektionsmitteln gesättigte Luft in Umlauf brachte. Ottavio zog die Schuhe aus, und Leonardo machte es ebenso, stellte seine Sandalen in ein Schränkchen. Beide zogen bunte Gummischuhe an. In dem Raum standen zwei große verzinkte Behälter und an den Wänden Regale, auf denen verschieden große Käselaibe ruhten. Ottavio hob den Deckel von einer der Kannen hoch. Sie war voll von einer gelblichen Flüssigkeit, an deren Oberfläche Platten schwammen. Der Geruch, der davon ausging, war der von Schusterleim.
«Was ist das?», fragte Leonardo.
«Die Milch von heute Morgen.»
Leonardo trat einen Schritt zurück, weil der Geruch ihn benommen machte. Ottavio schloss das Gefäß wieder und stellte sich ans Fenster, das auf die Rückseite des Hofs ging, wo, wie Leonardo wusste, die Weide für die Kälber und der Gemüsegarten waren. Er stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und betrachtete seine Dinge.
«Hörst du die Flugzeuge, die in der Nacht vorbeifliegen?»
«Manchmal», sagte Leonardo. In Wahrheit hatte er einen tiefen Schlaf und hörte überhaupt nichts. Das war seit jeher so. Einmal hatte er am Flughafen von Lissabon fünf Stunden auf einem Stuhl geschlafen und so sämtliche Flüge verpasst, die ihn hätten nach Hause bringen können. Zurück im Hotel, hatte er Alessandra Bescheid gegeben, der es nicht schwerfiel, ihm zu glauben, und hatte sich ins Bett gelegt, um ein wenig fernzusehen, ohne jedoch die Augen bis zum Ende des Films offen halten zu können.
«Wenn sie kommen, spielen meine Kühe mir diesen Streich. Seit einer Woche schütte ich weg, was ich melke. In den großen Ställen setzen sie Pulver zu, aber ich will niemanden auf dem Gewissen haben. Diese Milch da gebe ich nicht einmal den Schweinen.»
Von hinten gesehen hatte Ottavio eine gedrungene Figur ohne Ecken und Kanten, an den Armen traten die Adern hervor, auch wenn er nichts Schweres trug. Er war nicht groß und fünf Jahre älter als Leonardo, sah aber um fünf Jahre jünger aus.
«Hast du einen Freund, der verheiratet ist?», fragte der Mann.
Leonardo dachte an Elio und bejahte. Ottavio nickte.
«Frag ihn, wie es bei seiner Frau mit der Periode läuft. Meine Tochter bekommt schon seit zwei Monaten keine Periode mehr, und sie ist bestimmt nicht schwanger, und bei meiner Frau, die sie schon seit Jahren nicht mehr hatte, ist sie wiedergekommen.»
Leonardo sah auf das keimfreie Weiß der Fliesen. Irgendwo sang jemand ein Lied, und der Gesang war begleitet von einem rhythmischen Schlagen, wie von einer alten Nähmaschine mit Pedal.
«Ich glaube», sagte Ottavio und machte eine Pause, um das, was er sagen wollte, genau ins Visier zu nehmen, «diese Flugzeuge streuen etwas aus, etwas, das uns alle beruhigt, denn sonst bräche hier die Hölle los.»
Sie traten in den Hof hinaus, ein leichter Wind von den Bergen her wirbelte Strohhalme und Haarknäuel umher. Die beiden Hunde lagen nun unter einer Bank an der Hauswand und beobachteten sie. Während er aufs Rad stieg, spürte Leonardo, wie ihm der warme Urin des Welpen die Brust hinunter und bis zum Hosengürtel lief. Er tat so, als wäre nichts.
«Man hat die beiden wieder im Wald gesehen», sagte Ottavio, «und man hat auch ein Feuer gefunden und die Knochen einer Ziege.»
Leonardo strich sich die Haare aus der Stirn.
«Das werden Camper sein», lächelte er.
Ottavio sah ihm in die grünlichen Augen.
«Für solche Albernheiten ist jetzt nicht die Zeit, Leonardo, siehst du nicht, was für eine Atmosphäre herrscht?»
Leonardo schlug die Augen nieder und blickte auf den Fuß auf dem Pedal. Ein Nagel war schwarz, der, auf den ihm die alte Dame am Tag zuvor, als sie sich an seinen Tisch setzte, ohne es zu bemerken, das Stuhlbein gestellt hatte.
«Hast du etwas für seine Augen getan?», fragte Ottavio und deutete auf den Hund.
Leonardo sah ihm wieder ins Gesicht.
«Was kann man da tun?»
Ottavio zuckte die Achseln.
«Wenn du mich fragst, wasch sie ihm mit seinem Urin. Er wird sich ein bisschen anstellen, aber sonst kriegt er sie gar nicht mehr auf: Sie sind voller Parasiten.»
Im Lebensmittelladen von Norina kaufte er Thunfisch in der Dose, zwei Tüten Milch, Sardinen, Zwieback, Marmelade und eine Packung Pasta, während er sich beim Bäcker ein Baguette und gefüllte Kekse geben ließ. In beiden Läden waren keine Kunden, aber die Geschäftsleute beschränkten sich trotzdem darauf, ihn zu bedienen, das Geld zu kassieren und ihn zum Abschied mit Herr Professor anzureden.
Die Apothekerin hingegen gehörte zu denen, die auf das Öl warteten, und sobald sie ihn sah, fragte sie, wie die Reise verlaufen sei. Leonardo sagte, gut, und fragte, ob er Watte und sterile Gaze haben könne. Ehe Leonardo hinausging, beglückwünschte die Frau ihn noch zum Hund und meinte, sie würden sich am Abend bei der Verteilung des Öls sehen. Leonardo entgegnete, Elio würde sich um alles kümmern.