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Wie es dazu kam, dass der wortkarge Kunsthandwerker Reinhold Duschka in der Zeit des Naziterrors in Wien zwei Menschenleben rettete. Wie es ihm gelang, die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia vier Jahre lang in seiner Werkstatt zu verstecken. Wie sie zu dritt, an ein unsichtbares Seil gebunden, dank gegenseitigem Vertrauen überlebten. Was nachher geschah. Und warum uns diese Geschichte so nahegeht.
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Seitenzahl: 107
Erich Hackl
Am Seil
Eine Heldengeschichte
Erzählung
Diogenes
Reinhold ist der Held meiner Geschichte.
Nur seinetwegen erzähle ich sie.
Lucia Heilman
Er war der beste Freund ihres Vaters, zu einer Zeit, in der Männer noch beste Freunde und Frauen beste Freundinnen hatten, vor einer halben Ewigkeit also. Damals, Mitte der zwanziger Jahre, müssen sie sich kennengelernt haben, Rudolf Kraus und Reinhold Duschka, zufällig nach einer Vorlesung im Palais Eschenbach oder auf einer Lagerwiese in der Lobau oder schon bei Duschkas erster Kletterpartie mit dem Alpenverein, Peilstein im südlichen Wienerwald, stelle ich mir vor, und auf der Hütte oder während der Rückfahrt im holpernden Abteilwagen könnte er, zerschunden, todmüde, aber glücklich über eine neue Erfahrung, für die er keine Worte fand, neben Kraus zu sitzen gekommen sein, der die Gruppe geführt oder begleitet hatte. Es war die nüchterne Fürsorge, die ihn für den anderen einnahm, weil sie seiner eigenen Wesensart entsprach.
Duschka, dem Flachländer aus Berlin, war der Drang nach oben, ins Gebirge, die längste Zeit fremd gewesen. Genaugenommen hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, bis er auf seiner langen Gesellenwanderung, schon mehr als sechshundert Kilometer von zu Hause entfernt, durch den Schwarzwald getippelt war. In Freiburg hatte er Station gemacht und war aus purer Sonntagslangeweile, oder weil der Name vielversprechend klang, auf den Hausberg Schauinsland gestiegen, von wo er bei Sonnenuntergang das Alpenpanorama erblickt hatte. Im Süden, am Horizont, lichtblaue Zacken unter einem rosagrauen Himmel. Damit war seine Sehnsucht geweckt.
In Wien, ein halbes Jahr später, wird ihn Rudolf Kraus in die Freundesgruppe eingeführt haben, die sich regelmäßig traf, um über Gott und die Welt zu diskutieren. Die letzten Tage der Menschheit und die Russische Revolution, der deutsche Expressionismus und das Rote Wien, die gesunde Ernährung und der gläserne Mensch, die freie Liebe und der technische Fortschritt, es ging wild durcheinander. Gut möglich, daß man sich bei Schlechtwetter oder in der kalten Jahreszeit bald schon in der Brigittenau traf, in einer engen ärmlichen Wohnung in der Pappenheimgasse 6, die sich die schwarzhaarige, etwas füllige Regina Steinig mit ihrem Vater Josef Treister teilte, einem ehemaligen Gutsbesitzer aus einem Dorf nahe Trembowla, rund hundertsechzig Kilometer südöstlich von Lemberg. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs war das Ehepaar Treister mit Regina und den Söhnen Arnold und Julian nach Wien geflüchtet, wo das Familienoberhaupt nur fallweise Arbeit fand, vielleicht auch nicht mehr die Kraft aufbrachte, sich und den Seinen eine neue Existenz aufzubauen, aber alles daransetzte, den Kindern eine akademische Ausbildung zu ermöglichen.
Je älter er wurde, um so häufiger suchte Josef Treister in der Religion Trost für die Widrigkeiten des Daseins. Seine Frau Anna war schon 1921 verstorben, an einer durch Myome verursachten Gebärmutterblutung, Arnold führte mit einem Kompagnon eine gutgehende Apotheke in der Innenstadt, und von Julian ist kaum mehr bekannt, als daß er wegen betrügerischen Kartenspiels zur Fahndung ausgeschrieben wurde und deshalb Hals über Kopf ins Ausland floh. Regina erfuhr als einzige der Familie, und auf Umwegen, daß ihr jüngerer Bruder nach mehreren Zwischenstationen in Lille ansässig geworden war, wo er zu Geld, Ansehen und offenbar auch einer Familie kam. Seine Freundin, die er in Wien zurückgelassen hatte, brachte bald nach Julians überstürzter Abreise ein Mädchen zur Welt, und Regina übernahm es, sich um die junge Frau und deren Kind zu kümmern, so wie sie auch nicht gezögert hatte, den mittellosen Vater bei sich aufzunehmen. Arnold, ihr wohlhabender Bruder, war dazu nicht bereit gewesen, obwohl in der herrschaftlichen Wohnung in der Bäckerstraße, in der er sich mit seiner Frau Cecylia eingerichtet hatte, ausreichend Platz gewesen wäre. Nur widerwillig gab er seiner Schwester hin und wieder Geld, von dem sie die ohnehin bescheidenen Aufwendungen ihres Vaters kaum bestreiten konnte.
Regina bildete das Gravitationszentrum der Gruppe, wegen ihres geselligen Naturells und weil sie die Gabe besaß, das Vertrauen wildfremder Menschen im Handumdrehen zu gewinnen und diese miteinander anzufreunden. Sie war Doktor der Chemie, arbeitslos wie die meisten in der Runde und offiziell immer noch mit dem Juristen Leon Steinig verheiratet, der ebenfalls aus Trembowla stammte. Dort hatten sie sich, Regina als Vierzehnjährige, miteinander verlobt, ehe sie durch die Kriegsereignisse getrennt wurden. Anzunehmen, daß Steinig als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst leistete und kurz vor oder nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie in Wien eintraf. Die Ehe, die sie bald darauf schlossen, hielt nur wenige Jahre.
Leise Ahnung dessen, was sie auseinanderbrachte, das tragische Schicksal ihres Kindes, mit dem das junge Paar im Sommer 1923, ein halbes Jahr nach der Entbindung, nach Galizien gefahren war, das nun zu Polen gehörte, nachschauen, was aus dem Familienbesitz geworden war. Die Felder verwüstet, die Häuser niedergebrannt, die hygienischen Verhältnisse katastrophal. Bittere Armut der zurückgebliebenen Verwandten. Während ihres Aufenthalts in Trembowla erkrankte der kleine Martin Elia an Ruhr, und obwohl sie in aller Eile nach Wien zurückkehrten, starb er nach einigen Tagen im St. Anna Kinderspital. Wunde, die sich lange nicht schloß. Reginas Schuldgefühle erwiderte ihr Mann mit Schweigen und rastloser Tätigkeit außer Haus, zuerst als Generalsekretär des Weltverbandes Jüdischer Studenten, dann als Funktionär der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf. Erste Anzeichen gegenseitigen Mißtrauens, Seitensprünge Steinigs, die sie ihm schon deshalb nicht verzieh, weil er sie ihr gegenüber beharrlich leugnete und sich vor anderen damit brüstete. Reginas ungläubiges Staunen, als ihr zu Gehör kam, daß er sie bereits mit ihrer auffallend schönen Mutter, dann mit der besten Freundin betrogen habe.
Angenommen, die junge Frau war aus Not auf seine Unterhaltszahlungen angewiesen und fand es außerdem richtig, daß er für sein schuldhaftes Verhalten büßte, das würde erklären, wieso sie erst viel später in die Scheidung einwilligte. Da lebte Steinig längst dauerhaft in der Schweiz und kam nur noch selten nach Wien, das letzte Mal, um im Auftrag des Völkerbundes Sigmund Freud zu bitten, in einem Briefwechsel mit Albert Einstein die Frage zu erörtern, ob es einen Weg gebe, die Menschheit vor dem Verhängnis eines neuen Krieges zu befreien. Freud war, wie wir wissen, skeptisch und behielt, wie wir ebenfalls wissen, mit seiner Skepsis leider recht.
Den Familiennamen Steinig führte Regina weiterhin, sei es, weil sie nicht das Geld hatte, ihre Personaldokumente umschreiben zu lassen, oder weil sie andernfalls der österreichischen Staatsbürgerschaft verlustig gegangen wäre.
Der Freundeskreis also, halb pazifistisch, halb kommunistisch gesinnt und großteils ohne Bedürfnis, sich einer Partei anzuschließen. Während Reginas Vater in der Kammer nebenan am Bettrand saß und in der Bibel las, waren sie um den Küchentisch versammelt, in der Mitte eine Schüssel, jeder erhielt von der Gastgeberin einen Schlag Maisgrieß, der sättigte und billig zu haben war. Irgendwann war, wie schon erwähnt, der magere, drahtige Reinhold Duschka hinzugekommen, scharfgeschnittene Züge, runde Brillengläser auf der kräftigen Nase, der die meiste Zeit schwieg. Wenn er doch etwas sagte, horchten die andern überrascht auf. Er hatte in Berlin das Gürtlergewerbe erlernt und von 1924 bis 1928 an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert, in Josef Hoffmanns Klasse für Metallarbeiten, dazu noch die Hilfsfächer Aktzeichnen und Heraldik belegt. Dann machte er sich selbständig und fertigte aus Kupfer-, Messing- und Silberblech Schalen, Vasen, Leuchter, Armreifen, Aschenbecher und Tierfiguren, originelle Gegenstände, erschwinglich auch für Leute, die Unikate schätzten, sich Luxusartikel aber nicht leisten konnten. Denkbar, daß Reinhold als einer der wenigen in der Runde bald über ein ausreichendes Einkommen verfügte, immerhin konnte er im Jahr 1929 ein kleines Grundstück in der Siedlerkolonie Wolfersberg erwerben oder auf neunundneunzig Jahre pachten, auf dem er zusammen mit seiner damaligen Freundin Mina Gottlieb und einem früheren Studienkollegen aus der Hoffmann-Klasse ein Schrebergartenhaus nach seinen Vorstellungen errichtete, Kubus mit Flachdach und glatter Fassade, schlicht, geradlinig auch in der Innenausstattung, wie es dem Konzept seines Lehrers entsprach.
Im selben Jahr, am fünfundzwanzigsten Juli, brachte Regina ein Mädchen zur Welt, dem sie den Namen Lucia gab. Rudolf Kraus war der Vater, stolz und auch willens, Regina zu heiraten, aber davon wollte sie nichts wissen, nichts gegen den Rudi, sollte sie einmal sagen, anständig ist er, gewissenhaft, hilfsbereit, alles, was du willst, aber als Ehemann wäre er nicht zum Aushalten. Als sie, zwei Jahre später, endlich eine Anstellung erhielt, zur Blutabnahme und Blutzuckerbestimmung im Labor des Lainzer Krankenhauses, war das Kind tagsüber der Obhut des Großvaters überlassen. Treister war schon etwas gebrechlich, setzte beim Gehen nur langsam einen Fuß vor den andern, aber was ihm an Wendigkeit fehlte, machte er durch Herzenswärme, Güte und Geduld wett; die Geschichten von Himmel und Hölle, die er seiner Enkeltochter erzählte, sind längst vergessen, nicht jedoch der weiche, tiefe Klang seiner Stimme, der sie bezauberte. Einmal in der Woche kam überdies Rudi Kraus zu Besuch, spielte oder bastelte mit ihr oder holte sie zu sich in eine genauso enge Wohnung in der Engerthstraße, die er mit Mutter und Schwester teilte. Kein Einspruch Reginas, im Gegenteil, sie blieben einander freundschaftlich verbunden, auch dann noch, als sie sich, 1932, Hals über Kopf in den blonden Fritz Hildebrandt verliebte, Zimmermann aus Franken und zehn Jahre jünger als sie. Von ihr abgesehen, konnte keiner was mit dem einfältigen Kerl anfangen, der noch dazu faul und unverläßlich war, schleierhaft, was sie an ihm fand. Vielleicht nicht gleich, aber bald zog er bei ihr ein. Unvergessen, noch heute, wie er in Reginas Abwesenheit die kleine Lucia einmal zwang, den Teller leer zu essen. Als sie sich daraufhin übergeben mußte, befahl er ihr, das Erbrochene aufzuwischen.
Das Beziehungsgeflecht um ihre Mutter entwirrte sich jeden Sonntagmorgen für einige Stunden: Während Rudi Kraus und Reinhold Duschka gemeinsam eine Bergtour unternahmen, brachen sie zu dritt zu Wanderungen in den Wienerwald auf, Regina, Lucia und der fade Fritz Hildebrandt.
Inzwischen hatte auch Rudi Kraus Arbeit gefunden, als Hilfsmonteur bei Siemens-Schuckert, belegte als Werkstudent an der Universität das Fach Mathematik und beendete das Studium 1936 mit dem Doktorat. Lucias knappe Erinnerung, daß sie bei der Promotionsfeier dabei war. Festakt mit Talaren und Quastenhüten, unbeholfen feurigen oder routinierten Ansprachen, nichts davon ist ihr im Gedächtnis geblieben.
Zweite und wesentlich schärfere Erinnerung, an die Puppe Susi, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, der Rumpf aus Sacktuch und Sägespänen, darauf ein Porzellankopf, der irgendwann zerbrach und von der Mutter repariert wurde, nur daß sich die blauen Kulleraugen nicht mehr schlossen, wenn Lucia die Puppe schlafen legte.
Dritte Erinnerung, an den Wunsch ihrer Mutter, sie Gina zu nennen, was ihr jedoch nicht über die Lippen kam: Mutti!
Die nächste, daß sie dem Rudi Spiegeleier machen durfte, sechs in die Pfanne geschlagen, er verschlang sie auf einen Sitz.
Fünfte Erinnerung, an Rudis nette Freundin Piroska Szabó, die Zahnärztin war, Lucia hatte eine Fehlstellung des Unterkiefers, und Piroska hat sie gratis oder zu einem Vorzugshonorar behoben.
Sechstens, das überraschte Aufblicken der Lehrerin am ersten Schultag, weil die Nachnamen von Mutter und Tochter – Steinig, Treister – nicht übereinstimmten und Lucia auf die Frage nach dem ihres Vaters zur Antwort gab, was ihr die Mutter eingeschärft hatte und so auch in der Geburtsurkunde stand: Ist unbekannt.
Siebtes Andenken, an die Feiertage bei der gütigen Großmutter in der Engerthstraße, die brennenden Christbaumkerzen an Heiligabend, ein mit Zucker bestreutes Ei am Ostersonntag.
Weitere Erinnerung, an ihre Freundin Erna Dankner in der Wohnung im Erdgeschoß, es gibt ein Foto, auf dem sie gemeinsam vor einem Bretterzaun auf einer Decke sitzen, mit Ball, Luftballon und einem Stoffhund mit schlappen Ohren, Erna hat einen Arm um Lucias Schulter geschlungen, und keine von beiden ahnt die Umstände voraus, unter denen ihre Lebenswege sechs oder sieben Jahre später sich noch einmal kreuzen, dann für immer auseinanderlaufen werden.
Noch ein Bild aus der Kindheit, wie Lucia an der Hand ihres Großvaters am Donaukanal spazierengeht, Schabbes oder ein hoher Feiertag ist, und die anderen Passanten sind festlich gekleidet, so daß sie sich in ihrem grauen Kittel und den geflickten Strümpfen zum ersten Mal schäbig vorkommt.
Nicht zu vergessen die Zusammenkünfte in Reinhold Duschkas Sommerhaus, Lucia langweilte sich als einziges Kind unter lauter Erwachsenen oder spitzte die Ohren, wenn von Liebschaften und Zerwürfnissen die Rede war, und Reinholds Freundin kochte Erbsen mit Reis und exotischen Gewürzen.
Im Jahr 1937 übersiedelten Regina und sie, und zu Lucias Leidwesen auch Fritz Hildebrandt, in eine größere Wohnung im Neunten Bezirk, Berggasse 29, Hinterhaus, 4. Stock. Nun gab es sogar ein Dienstmädchen, das für Lucia kochte, wenn sie zu Mittag aus der Schule kam, und mit ihr bei Schönwetter in den Schlickpark ging, der nur einen Steinwurf weit entfernt war. Große Aufregung, weil sie das Kind auf sein Drängen einmal auf das Fensterbrett klettern ließ: Auch wenn sie es festhielt, es hätte ja doch was passieren können. Zweite und dritte Aufregung, Reginas begründeter Verdacht, der fesche Fritz, dem alle Frauenherzen zuflogen, mache hinter ihrem Rücken dem Dienstmädchen schöne Augen und habe außerdem noch ein Verhältnis mit einer Frau in der Nachbarschaft angefangen. Der empfahl sie, nachdrücklich, die Finger von ihm zu lassen.