Auroras Anlaß - Erich Hackl - E-Book

Auroras Anlaß E-Book

Erich Hackl

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Beschreibung

»Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlaßt, ihre Tochter zu töten.« So beginnt die außergewöhnliche Geschichte der Spanierin Aurora Rodríguez, die auf der Suche nach Selbstverwirklichung an die Schranken gesellschaftlicher Konventionen stößt und ihre Träume von einer besseren Welt von einer anderen, fähigeren Person realisiert sehen möchte: einer Frau, ihrer Tochter Hildegart.

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Seitenzahl: 122

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Erich Hackl

AurorasAnlaß

Erzählung

Die Erstausgabe erschien 1987

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Francisco de Goya,

›Rita Molinos‹, 1815

(Ausschnitt)

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21731 5 (24.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60237 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Es ist ein schreckliches Mittel gegen ungewöhnliche Menschen, sie so tief in sich hineinzutreiben, daß ihr Wiederherauskommen jedesmal ein vulkanischer Ausbruch wird.

[7] 1

Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlaßt, ihre Tochter zu töten. Sie betrat das Schlafzimmer, entnahm dem Nachtkästchen eine Pistole, die sie vor Monaten erworben hatte, um gegebenenfalls das Leben Hildegarts zu schützen, lud die Waffe, entsicherte sie und ging ohne Zögern in das Zimmer ihrer Tochter. Sie schloß sacht die Tür hinter sich, tastete im Dunkeln nach der Lampe, die neben dem Bett auf einem niedrigen, mit Büchern und Zeitungen überladenen Tisch stand, und gab vier Schüsse ab. Die ersten beiden Projektile, die nach einem späteren Gutachten der Gerichtsmediziner tödlich waren, durchdrangen Hildegarts Herz; die zwei letzten feuerte sie aus solcher Nähe ab, daß die Haut an der rechten Schläfe verbrannte und eine Strähne des braunen, gelockten Haares ihrer Tochter versengte. Ehe sie das Zimmer wieder verließ, drehte Aurora das Licht ab und zog die Rolläden vor dem Fenster hoch. Dann steckte sie die Pistole in ihre Handtasche, kleidete sich an und ging aus der Wohnung.

Auf der Treppe begegnete ihr das Dienstmädchen, Julia Sanz, die das Haus vor einer halben Stunde verlassen hatte, um die zwei Hunde ihrer Herrschaft [8] auszuführen. Aurora Rodríguez sagte zu der Frau, daß sie nicht mehr zurückkehren würde und daß sie, Julia, wie schon vor einigen Tagen vereinbart, die Hunde im Lauf des Vormittags Frau Carbayo Orenga zur Obhut übergeben solle. Julia Sanz maß der Äußerung der Frau keine weitere Bedeutung bei, da sie annahm, daß Aurora Rodríguez gemeinsam mit ihrer Tochter eine Reise nach Mallorca antrat, von der in den letzten Tagen oft die Rede gewesen war. Sie fragte nur, ob die Nachbarin den Geldbetrag, der ihr für die Pflege der Tiere zustand (vier Pesetas pro Tag), schon bekommen habe. Aurora Rodríguez bejahte und streichelte die Hunde, ehe sie weiterging. Als Julia Sanz die Wohnungstür aufschloß, fiel ihr sofort der starke Geruch nach Pulver auf.

Aurora Rodríguez begab sich ohne weitere Umschweife in das Büro eines ihr gut bekannten Rechtsanwalts, dem sie ihre Tat eingestand. Der völlig überraschte Advokat, ein prominenter radikalsozialistischer Politiker, der einige Monate später das Amt des Justizministers übernehmen sollte, begleitete sie auf ihren Wunsch zum Justizpalast, wo sich Aurora Rodríguez den Behörden stellte.

Trotz gewisser Zweifel am Wahrheitsgehalt der Selbstbeschuldigung – Zweifel, die durch die allgemein bekannte enge und harmonische Beziehung zwischen Aurora und ihrer Tochter Hildegart genährt wurden – ging der Amtsrichter gemeinsam mit dem [9] diensthabenden Polizeiarzt in die Wohnung der Frau. Dort trafen sie schon zwei Polizisten, die vom verstörten, ohne Unterlaß schluchzenden Dienstmädchen herbeigerufen worden waren.

Aurora Rodríguez, die nach ersten Einvernahmen in das Frauengefängnis von Noviciado, im Nordwesten Madrids, eingeliefert wurde, war die Tochter von Pilar Carballeira, einer ausgebildeten Lehrerin, die allerdings ihren Beruf nie ausgeübt hatte. Vor neunundzwanzig Jahren war die Mutter, die ihr, wie sie vor Gericht aussagte, nie zärtliche Gefühle entgegengebracht hatte, gestorben, worauf Aurora Rodríguez als einzige der vier Geschwister im elterlichen Haus verblieb. Hier verbrachte sie die nächsten drei Jahre in Gesellschaft ihres Vaters, bis dessen Tod ihr auch den nächsten Vertrauten entriß.

Dieser, Advokat und Prokurator zu Gericht, war in El Ferrol, einer bedeutenden Hafenstadt im Nordwesten des Landes, wohl angesehen, wenngleich die Nachbarn seinen Äußerungen eine gewisse Extravaganz nicht absprachen. So soll Anselmo Rodríguez bei den Gesellschaften, den Tertulias, die er mit Freunden und Bekannten im Kasino der Stadt abhielt, dem Freiheitsdrang in den ehemaligen spanischen Kolonien Mittel- und Südamerikas großes Verständnis entgegengebracht haben. Auch im Seekrieg gegen die Vereinigten Staaten nahm er eine Haltung ein, die von der Mehrheit der Bürger, insbesondere von den [10] Stadtvätern und Honoratioren, keineswegs geteilt wurde. Zwar betrachte er die feindliche Macht als Gefährdung nicht nur der nationalen Sicherheit, sondern der Menschheit im gesamten, doch gab er zu erkennen, daß seine Sympathien nicht den spanischen Seestreitkräften, wohl aber den großen Freiheitshelden Maceo und Rizal galten. Deshalb von Gesprächspartnern mangelnden Patriotismus geziehen, entgegnete er, daß alle wirklich großen Männer der Geschichte, gleich welcher Herkunft, Freiheit stets vor kleinlichen Nationalitätenhader gestellt hatten.

Im übrigen verstehe ich nicht, wieso man hier in Galicien die Staatsräson so vehement verteidigt. Wo doch dieser Landesteil einer der ärmsten und ausgeblutetsten überhaupt ist. Und es sind ja gerade die Söhne dieser Region, Bauern und Fischer, die dem Vaterland als Kanonenfutter seiner Feinde dienen.

Hier schwiegen die anderen Männer, und auch Anselmo Rodríguez verstummte. Er ahnte dunkel, daß er sich auf ein Gebiet gewagt hatte, wo Vorsicht am Platz war.

Als 1898, nach dem Verlust der Überseekolonien Kuba und Philippinen, Reste der geschlagenen spanischen Flotte in El Ferrol anlegten, durfte die achtjährige Aurora ihren Vater an den Pier begleiten. Stumm und ängstlich stand sie vor den hohen Bordwänden, und seltsam war ihr, als Anselmo Rodríguez angesichts der hohlwangigen, abgerissenen Gestalten an Deck [11] den Hut zog. Außer ihnen und schwarzgekleideten Frauen, Bäuerinnen aus dem Hinterland, die verzweifelt hofften, einen ihrer Söhne wiederzusehen, war niemand gekommen, die Heimkehrer zu begrüßen.

Undank, sagte der Vater, ist der Lohn der Welt. Aurora möge sich diesen Tag gut einprägen; sie würde, zumindest hoffe er es, Zeiten erleben, in denen den Erniedrigten Gerechtigkeit widerfahre. In denen die Bankiers, die sich an diesem Krieg bereicherten, die Bischöfe, die diese Schiffe segneten, die Admiräle, die vom sicheren Madrid aus die Flotte befehligten, zur Rechenschaft gezogen würden.

Aurora hielt sich an ihren Vater. Anselmo Rodríguez erkaufte sich die Muße, nach der Tagesarbeit über seine Ideale von der besseren Beschaffenheit des Landes nachzusinnen, mit dem Verzicht auf die Führung des Hauses. Die Mutter, Pilar Carballeira, war ungeduldig, hart und mißgestimmt. Sie versuchte angestrengt, ein Leben nach dem Vorbild anderer Familien, von Ärzten, höheren Offizieren, Großgrundbesitzern, zu führen. Sie zwang ihre vier Kinder sonntags in die Kirche, nahm Dienstboten auf für Tätigkeiten, die ihr selbst früher nicht unlieb gewesen waren, verbot den beiden Töchtern, Aurora und der zehn Jahre älteren Josefa, das Springen und Laufen schon im Kleinkind alter und gestattete erst dem zuletzt geborenen Kind, einem Jungen, den Besuch einer Schule, und auch das nur, weil in der Stadt ein angesehenes Privatinstitut [12] eröffnet worden war. Die anderen wurden im Haus von einer entfernten Verwandten, deren Eltern nach einer geschäftlichen Fehlspekulation verarmt waren, unterrichtet. Allerdings waren das Wissen und das pädagogische Geschick der jungen Frau eher dürftig, zudem wagte sie es nicht, die Streiche der zwei ältesten Kinder ein für allemal abzustellen. Aurora Rodríguez lernte bei ihr, was jede höhere Tochter auch lernte: Lesen und Schreiben, die Grundrechnungsarten, Sticken und Klavierspielen und ein paar schauderhafte Brocken Französisch.

Eines Tages nahm ein Dienstmädchen, zu dem Aurora großes Vertrauen hatte, die Tochter der Herrschaft mit in sein Dorf. Es war das Fest von San Pedro, dem Dorfpatron, an dem auf dem Platz, unter Girlanden von bunten Fähnchen, getanzt wurde. Das Mädchen wußte seinen Verlobten unter der Menge. Deshalb bat es seine Mutter, nicht ohne sie zu besonderer Aufmerksamkeit anzuhalten, Aurora für eine Weile bei sich zu behalten. Dann ging es zum Tanz. Die Mutter kam seinem Wunsch nach. Sie versuchte Aurora, die sich verstohlen im einzigen Raum des Hauses umsah, zu unterhalten. Gleichwohl verstand das Kind sie schwer; das zu Hause verpönte Gallego war ihm kaum geläufig. Die Neugier der anderen Kinder erschreckte es. Auch die ungewohnte Armut der Umgebung, die Strohsäcke, der gestampfte Lehmboden und die darauf herumstolzierenden Hühner, [13] war ihm so fremd, daß es bald darauf drängte, der Tochter der Frau beim Tanz zuschauen zu dürfen.

Nachdem man Aurora die Richtung gewiesen hatte, ging sie zum Dorfplatz. Aber sie konnte, so sehr sie sich auch anstrengte, das Mädchen unter den Tanzenden nicht ausmachen. Als sie, den Tränen bereits nahe, zurück zum Haus laufen wollte, fiel ihr Blick auf ein Paar, das sich an einer Ecke innig küßte. Erst als der Bursche das Dienstmädchen anstieß, wurde es auf Aurora aufmerksam. Es errötete, löste sich aus der Umarmung und nahm das Kind an die Hand.

Voll Unschuld erzählte Aurora Rodríguez daheim, bei Tisch, vom Tanzfest und von den Küssen im Dorf. Die älteren Geschwister kicherten, der Vater hörte, wie üblich, nicht zu. Aber Frau Carballeira entließ das Mädchen noch am selben Tag.

Ein anderes Mal, als der älteste Bruder Auroras anfing, um die Kammern der Dienstboten herumzustreichen und sich hinter die Treppe kauerte, um ihnen unter die Röcke zu schauen, überredete die Hausfrau ihren Mann, der Küchenhilfe Geld anzubieten, um den jungen Herrn in die Praktiken der Liebe einzuführen. Das Mädchen, von dem bekannt war, daß es schon mehrere Liebhaber gehabt hatte, das aber versicherte, gesund zu sein, zog seine Eltern zu Rate. Diese willigten unter der Bedingung ein, daß Anselmo Rodríguez einem ihrer Söhne, der nach Amerika auswandern mußte, weil der elterliche Besitz kaum den [14] Erstgeborenen ernährte, Arbeit auf einem Frachtschiff nach Kuba verschaffte. Auroras Vater tat ein übriges und besorgte dem Mädchen eine Lizenz, um im Gericht, wo er täglich anzutreffen war, Tabak zu verkaufen. Die Eltern des Mädchens dankten ihm überschwenglich. Peinlich berührt entzog er ihnen die Hand. Der Vorfall war ihm Beweis für die Dekadenz und Agonie des Landes.

In der Bibliothek schrieb er in sein Sudelbuch: Die Not der niederen Stände ist unerträglich. Nur blinde Wut, gewalttätige Raserei, Blut und Feuer können ihre Lage verändern. Aber daran denken sie nicht, weil ihre ganze Kraft aufs nackte Überleben gerichtet ist. Weil die falsche Moral der besser Gestellten sie gepackt hat und weil sie den persönlichen Vorteil suchen, ohne zu erkennen, daß er sie nur noch mehr in ihr Elend verstrickt. Die Privilegierten leben bequem. Wir sehen, wie alles aus den Fugen gerät, aber wir haben Angst vor jedem Wandel. Wir sind unzufrieden, aber feige.

Dann versenkte er sich in die Lektüre der ›Revue du Monde Latin‹, deren letzte Nummer ihn eben erreicht hatte. In einem Aufsatz, den ein gewisser Valentí Almirall zeichnete, offensichtlich ein Katalane, fand er eine Stelle, die ihm als treffende Schilderung der spanischen Misere erschien. Die Nation lebt in einer völligen Negation, in einer wahren Orgie negativer Ideen. Fragt die Spanier, ob sie Monarchisten sind. Und sie werden die Frage verneinen. Fragt sie dann, ob sie also Republikaner sind. Und sie werden ebenfalls verneinen. Was also [15] sind sie? Sie wollen es nicht wissen. Sie begnügen sich damit, alles abzulehnen. Der alte Fatalismus bemächtigt sich unser aufs neue. Der Bauer vegetiert dahin, ohne den geringsten Versuch zu unternehmen, das Unwissen, den Trott, die Armut abzuschütteln. Der Städter lebt vom Bauern, während dieser kaum vom Boden leben kann. Der Fortschritt ist noch nicht zu uns gekommen. Das geistige Leben hat aufgehört zu existieren.

Auf der Flucht vor der Mutter, deren Anordnungen ihr widersprüchlich und ungerecht erschienen, geriet Aurora in die Bibliothek des Vaters. Anders als ihre Geschwister empfand sie keine Furcht vor den dunklen Buchrücken und vor der Stille des hohen, schmalen Raumes. Zudem schloß sich an die Bibliothek, von ihr nur durch eine Doppeltür getrennt, das Arbeitszimmer von Anselmo Rodríguez an, wo dieser an den Nachmittagen Rechtsauskünfte erteilte. So hatte sie, dank der Unterredungen im Nebenzimmer, nie das Gefühl, einsam zu sein. Und war doch allein.

Eines Tages, Aurora mochte sieben Jahre alt sein, empfing ihr Vater eine Dame. War seine Tochter anfangs noch mit dem An- und Umziehen einer Puppe beschäftigt, so ließ die erregte Frauenstimme sie bald aufhorchen.

Anselmo Rodríguez, der mit dem Mann von Frau Balboa, dem Eigentümer der größten Eisenwarenhandlung der Stadt, seit langem bekannt war, glaubte zuerst an einen privaten Besuch. Aber die ernste Miene der Frau sagte ihm, daß sie nicht gekommen war, um [16] eine Einladung auszusprechen oder um den jährlichen Bazar des Christlichen Wohltätigkeitsvereins, dessen Vorsitzende Frau Balboa war, vorzubereiten. Ihrer Bitte, niemanden, auch seine Gattin nicht, vom Inhalt der Unterredung in Kenntnis zu setzen, versprach er mit dem Hinweis auf seine Schweigepflicht nachzukommen.

Die Frau zögerte, ehe sie leise, aber noch vernehmlich für das Mädchen im Nebenzimmer sagte, daß sie gekommen sei, um die Trennung von ihrem Mann in die Wege zu leiten. Der Rechtsanwalt war zu überrascht, um gleich zu antworten. Deshalb beeilte sich die Frau hinzuzufügen, daß ihr Entschluß unumstößlich sei. Da sie von allen Advokaten der Stadt Herrn Rodríguez das größte Vertrauen entgegenbrachte, wollte sie ihn mit der Durchführung der hierfür notwendigen Schritte beauftragen.

Auroras Vater fragte, ob sie sich der Tragweite ihres Entschlusses bewußt sei. Frau Balboa nickte und wiederholte, daß an ihrer Entscheidung, die sie nach reiflicher Überlegung gefaßt habe, nicht zu rütteln sei. Sie sei sich auch über die materiellen Folgen im klaren, sehe diese aber nicht als Hindernis an, zumal der Pflichtteil des von ihren Eltern hinterlassenen Erbes ihr und ihrer Tochter ein befriedigendes Auskommen garantiere. Anselmo Rodríguez fragte, aus welchen Gründen sie die Auflösung der Ehe betreiben wolle. Als die Frau zögerte, sagte er, daß er diese Frage nicht [17] aus Neugier stelle. Ohne den Grund zu erfahren, könne er ihr nicht dienlich sein.

Nun begann Frau Balboa zu schluchzen; unter Tränen gestand sie, daß sie jedes Gefühl der Zuneigung für ihren Mann verloren hatte. Daß sie Angst, Widerwillen und Haß spürte, so oft er sich ihr näherte. Daß sie Ekel überkam, wenn er sich auf sie legte. Daß sie sich immer mehr als Ding fühlte, das hergenommen wurde, wenn dem Mann danach verlangte, und das man wegschob, wenn es seine Schuldigkeit getan hatte.

Anselmo Rodríguez fragte nach einer Weile, ob noch andere Gründe, handgreiflichere, vorliegen.

Genügt das denn nicht?

Auroras Vater versicherte ihr, daß er sie voll verstehe, gab aber zu bedenken, daß das geltende Scheidungsgesetz ein solches Motiv nicht vorsehe. Frau Balboa müsse, werde sie vor Gericht auf der Klage beharren, damit rechnen, daß man ihr die Schuld zuschiebe.

Egal, sagte die Frau, wenn die Trennung nur erfolgt!

Ob sie auch an ihr Kind gedacht habe, fragte Auroras Vater. Er stand auf, nahm ein Buch aus dem Schrank und schlug es auf. Das geltende Zivilgesetz aus dem Jahre 1889 verschließt sich solch zweifellos ehrenwerten Argumenten. Artikel 73. Tritt die Scheidung in Kraft, so hat sie folgende Auswirkungen: Erstens. Die Ehegatten werden von Tisch und Bett getrennt. Zweitens. Die der Ehe entsprungenen Kinder verbleiben unter Gewalt und Aufsicht des unschuldigen Gatten.

[18] Der Rechtsanwalt klappte das Buch zu: Das ist die Gesetzeslage. Um zu verhindern, daß die Frau erneut in Tränen ausbrach, fügte er rasch hinzu: Freilich wisse er nicht, ob ihr Gatte überhaupt Wert darauf lege, das Sorgerecht für das gemeinsame Kind auszuüben. Sei das nicht der Fall, so lasse sich eine befriedigende Lösung finden. Dergestalt, daß eine Person bei Verzicht des Mannes als Vormund eingesetzt werde, die Frau Balboa nahestehe und dieser bei der Erziehung ihrer Tochter kein Hindernis in den Weg lege. Aber die Frau winkte ab. Sie habe sich nicht vorschnell entschlossen, Herrn Rodríguez aufzusuchen. Ihrem Entschluß seien zahlreiche Auseinandersetzungen voran gegangen, an deren Ende ihr Mann höhnisch ausgerufen habe, sie möge doch die Scheidung einreichen, er jedenfalls werde auf das Sorgerecht für das gemeinsame Kind beharren. Allein schon deshalb, um der Frau Schmerz zu bereiten.

Während Aurora im Nebenzimmer ihre Puppe heftig an sich preßte, hob ihr Vater bedauernd die Schultern. Frau Balboa stand auf und reichte ihm die Hand. Es tut mir leid, sagte er. Was werden Sie machen?

Die Hölle aushalten. Rosa gebe ich nicht her.

Als Anselmo Rodríguez später die Bibliothek betrat, hielt seine Tochter immer noch die Puppe im Arm. Eine schöne Puppe, sagte er. Wie heißt sie denn?

Rosa, sagte Aurora. Und sie gehört mir ganz allein.

[19] 2