Dieses Buch gehört meiner Mutter - Erich Hackl - E-Book

Dieses Buch gehört meiner Mutter E-Book

Erich Hackl

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Beschreibung

Erich Hackl gibt einer Frau, die als Bauerntochter im oberösterreichischen Mühlviertel aufgewachsen ist, eine Stimme: seiner Mutter. In einer kunstvoll einfachen Sprache erfährt man von einer vergangenen Welt mit ihren farbigen Bildern und Geschichten. In Hackls Vergegenwärtigung ist sie dabei alles andere als idyllisch, immer aber wird die Würde und Besonderheit eines Menschenlebens bewahrt.

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Seitenzahl: 67

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Erich Hackl

Dieses Buchgehört meiner Mutter

Die Erstausgabe

erschien 2013 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Werner Berg,

›Blühender Kirschbaum – Ursi –Schiffszimmerleute‹, 1934

Copyright © Werner Berg Museum Bleiburg 

Auf Wunsch des Autors folgt dieses Buchder alten Rechtschreibung

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24322 2 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60335 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Geschichten werden nicht erfunden.Sie werden vererbt.

[7] AM Hang des Predigtberges

lag Sankt Leonhard.

Am Fuß des Heidenberges

lag Weitersfelden.

Firling lag so dazwischen:

vier Hügel dahin,

fünf Hügel dorthin.

Wer bis dreißig zählen konnte,

hatte das ganze Dorf erfaßt:

zwei Dutzend Höfe und Häusl,

zwei Wirtshäuser,

eine Schmiede,

eine Kapelle,

ein Feuerwehrhaus.

Drumherum ein paar tausend Steine,

verstreut über Weiden, Äcker und Wälder.

Mittendrin allerlei zahmes Getier

sowie Mannsbilder, Weiberleute und Kinder,

erfüllt von Fleiß, Gehorsam, Gottesfurcht

und einem großen Durst nach Geselligkeit.

Immer in der Schwebe

zwischen Argwohn und Leichtsinn.

Zu erschöpft,

sich die Gegenwart vorzustellen.

Solche wie ich.

[8] HAFER und Roggen und jede Menge Erdäpfel.

Dazu Rüben. Flachs. Mehr ließ der Boden nicht aus.

Die Äpfel waren sauer, die Zwetschken fielen

unreif vom Baum. Birnen, ja Birnen gediehen,

aber sie waren klein und matschig und schwarz

und hielten sich nur ein paar Wochen.

Wir hatten als einzige einen Kirschbaum.

Er stand in der Mulde neben dem Haus,

ein wenig geschützt vor dem eisigen Wind.

Um ihn durchzubringen, ging mein Vater

in den Frostnächten hinaus, ein kleines Feuer

anzuzünden, das rauchte weiß wie die Blüten.

[9] DAS erste Fahrrad war aus Holz.

Es hatte zwei Räder und keine Pedale.

Mit dem Lenker ließ sich nicht lenken.

Zum Aufsitzen brauchte ich keinen Stein.

Die ersten Skier waren zwei Faßdauben.

An die Spitzen waren Schnüre genagelt,

zum Festhalten und zum Steuern.

Der Skistock war noch nicht erfunden.

Das erste Motorrad kurvte um die Kapelle,

ehe es knatternd im Hohlweg verschwand.

Es hinterließ eine Spur der Verwüstung:

eine tote Henne, Federn, geschockte Gänse.

Das erste Schiff schwamm auf der Donau.

Ich sah es von Urfahr aus, auf die Entfernung

kamen mir die Menschen an Deck winzig vor.

»Zwergerl«, juchzte ich, »drei, vier Zwergerl!«

Der erste Zeppelin war auch schon der letzte.

Sein Rumpf glitzerte in der Wintersonne.

Die Dietl, die uns beim Dreschen half, seufzte:

»Was Schöneres werd ich nie mehr sehn.«

[10] DIE Straße war schmal und steil und schlecht.

Alle heiligen Zeiten kam ein Auto daher.

Am Firlingberg versagten meistens die Bremsen.

Einmal waren es Ausflügler aus der Stadt,

der Fahrer mit Lederhaube und seine schöne Frau

im offenen Verdeck.

Das Auto überschlug sich

und blieb im Graben liegen.

Die Räder surrten noch eine Weile.

Die Frau war tot, wir legten sie in die Stube,

bis der Leichenbeschauer kam.

Der Mann neben ihr jammerte zum Herzerbarmen

um sein gebrochenes Bein.

Die Buben schnitten aus den Reifen Radiergummis,

die schmierten.

[11] EINE kleine Semmel kostete fünf Groschen.

Eine Rippe Schokolade zehn Groschen.

Vom Kirtag ein großer Sack Süßigkeiten

mit Schaumrolle und Kokoskuppeln einen Schilling.

Ich hatte es gut: meine Mutter gab mir jeden Tag

eine halbe Semmel mit in die Schule.

Die Rauh Hedwig, die so schön singen konnte,

hatte nie mehr als ein hartes Scherzel in der Tasche.

Oft war es verschimmelt.

Die Fessl-Kinder legten die Brotscheiben übereinander

und wehe, die des andern stand vor.

Beim Pum hatten sie achtzehn Kinder und eine große Not.

Auf ihrem Christbaum hingen nur Erdäpfelspeigen.

[12] JEDES Jahr kamen sie zweimal ins Dorf:

Anfang Mai, wenn in den Gräben der letzte Schnee

geschmolzen war, Mitte September,

bevor es kalt aus dem Böhmischen wehte.

Immer war ich allein zu Hause. Es hieß,

sie stehlen Kinder. So schnell konnte ich gar nicht

das Hoftor verriegeln, das Haustor zusperren,

die Geschäftstür verrammeln, wie mein Herz klopfte.

Mein Vater lachte. Meine Mutter warnte ihn

schon gar nicht mehr. Jedesmal ließ er sich

auf den Roßhandel ein. Jedesmal fing der Hengst,

feurig und stolz, nach ein paar Tagen zu lahmen an.

Die Frauen trugen bunte Röcke und Kopftücher

wie wir im Sommer auf dem Feld: im Nacken verknotet.

Sie rupften die Hühner im Handumdrehen.

Sie stehlen wie die Raben, sagte man. Uns ging nie was ab.

Im Gegenteil, wenn sie sangen, abends am Feuer

in der Senke neben dem Haus, wo der Kirschbaum stand,

flog uns was zu, das wir nicht benennen konnten.

Eine Wonne, ein Schaudern, süß und bitter zugleich.

Unsere Schuld war es nicht, daß sie mit einemal ausblieben.

Unsere Schuld war, daß wir nicht fragten, wo sie geblieben waren.

[13] UNSER Nachbar hatte vier Töchter,

eine tüchtiger als die andere,

dazu blitzsauber und gescheit.

Er hatte seine Frau getötet.

Es war ein Unfall, beteuerte er.

Er habe auf eine Katze geschossen.

Das Gericht sprach ihn frei.

Er hatte einem das Leben gerettet.

Er hatte ihn aufs Pferd gehoben,

er war mit ihm weit geritten,

zum Verbandsplatz, im Krieg,

sonst wäre der eine verblutet.

Er war hinter den eigenen Töchtern her.

Der Fanni, die bei uns Dirn war,

schlich er bei jeder Gelegenheit

nach in den Stall oder paßte sie

auf dem Streuboden ab. Einmal

ging mein Vater dazwischen.

Er schlug ihn grün und blau.

»Tu das nie wieder.« Aber er tat es.

Viel später fand die Fanni eine Stelle

als Serviererin in einem Hotel.

Der Juniorchef machte ihr einen Antrag,

dann jagte er sie aus dem Haus.

Einer hatte ihm akkurat geschrieben:

»Die hat es mit ihrem Vater getrieben!«

[14] LEBENSMÜDE. Ein Zustand,

an dem man sterben konnte.

Selten genug, aber doch.

Sich am hellichten Tag hinlegen,

vorher nach dem Pfarrer schicken,

die letzte Ölung empfangen,

die Augen schließen für immer.

Aber die meisten sind gestorben,

als sie noch voll im Saft standen.

Vom Heuboden gefallen,

vom Baum erschlagen,

vom Blitz getroffen.

Oder einfach umgesunken,

in der Hand den Krampenstiel,

die Mistgabel oder den Eisstock.

Gesund fortgegangen,

tot heimgekommen.

Zwei Tage lang aufgebahrt.

Von den Männern und Frauen,

alle in schwarzem Tuch,

mit Weihwasser besprengt,

beim Namen genannt,

mit einem Abschiedswort bedacht.

Dann rief der Vorbeter auf

zum gemeinsamen Gebet:

für den Verschiedenen,

für die Freundschaft,

für alle, die in dem Haus

[15] schon gestorben sind,

und für den Nächsten,

der heraussterben wird.

Das Wimmern der Witwe,

das Schluchzen der Waisen,

das Räuspern der Nachbarn,

während der Sarg zugenagelt,

von vier Männern geschultert,

auf ein Fuhrwerk gehoben wurde.

Zuletzt der Trauermarsch,

schleppend und trostlos.

[16] TROSTLOSER noch war es,

wenn ein Kind starb,

und besonders trostlos,

wenn es ungetauft starb.

Nur die engsten Angehörigen

gaben ihm das letzte Geleit.

Für gewöhnlich trug der Vater

den kleinen Sarg, wankend

unter der federleichten Last.

Als aber unser Nazl starb,

vier Jahre vor meiner Geburt,

war der Vater im Krieg.

Man verschob das Begräbnis

in der Hoffnung, der Kaiser

werde ein Einsehen haben

und Sterbeurlaub genehmigen.

Schließlich führte ein Nachbar

den Trauerzug an, unterm Arm

den ungehobelten Kindersarg.

Hinter ihm meine Mutter.

Auf dem Rückweg, zwischen

Friedhofsmauer und Schwagerhaus,

kam ihr mein Vater entgegen,

wankend wie sie unter der

schwer beerdigten Last.

[17] DAS ist meine erste Erinnerung:

die an den Vater, als er sechs Jahre alt war

und einer Verwandten geschenkt wurde.

Ihr Mann war jung gestorben, kinderlos,

sie wollte nie wieder heiraten.

Aber da war der Hof, schuldenfrei

mit fünfzig Joch Grund,

der einen Erben suchte.

Damit er sich nicht sträubte,

kauften sie ihm einen Janker

aus grober Wolle, die kratzte.

Du kennst den Weg, sagten sie,

zu Mariä Himmelfahrt längstens

gehen wir dich besuchen.

Daß du uns keine Schande machst.

Während seine neue Mutter

samt Gesinde beim Heuen war,

mußte er neben der Muhm sitzen,

der sie das Bett zum Sterben

in die Stube gestellt hatten.

Greif sie an. Ist sie kalt,

zündest du die Totenkerze an.

Vor ihm die Kerze, daneben die Zünder,

dahinter die Muhm.

Einmal war sie kalt,

da zündete er die Kerze an.

Er betete zehn Vaterunser,

fünf Gegrüßet seist du Maria.