»Am Strand von Bochum ist allerhand los« - Jurek Becker - E-Book

»Am Strand von Bochum ist allerhand los« E-Book

Jurek Becker

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Beschreibung

Jurek Becker hat sich im Laufe seines Schriftstellerlebens vielen Genres gewidmet. Er schrieb Texte fürs Kabarett, verfasste Drehbücher, wurde mit seinem ersten Roman weltberühmt, veröffentlichte Erzählungen und Essays. In seinem Nachlass fanden sich für die meisten seiner Werke Entwürfe, die er in Schulhefte geschrieben hatte – zumindest für die Texte, die nach der Übersiedlung aus der DDR nach Westberlin entstanden waren.

Selbst Briefe und Postkarten schrieb Becker im Konzept, wurden häufig korrigiert, wonach die Postkarte sich bei der Abschrift ein weiteres Mal zum Original wandelte.

An der gesteigerten Zahl der Postkarten, die Jurek in erster Linie in seinen letzten Lebensjahren schrieb, lässt sich ablesen, dass es ihm nicht darum ging, dem Freund, der Freundin, dem Familienmitglied eine Freude zu bereiten. Um Mitteilungen des Autors über sich selbst ging es dabei nur nachrangig. In allererster Linie lag Jurek Becker daran, den Leser für Minuten zu unterhalten. Zunehmend wurde die Postkarte eine Textform, in der sich auszudrücken dem Autor Freude bereitete. War es doch eine Form, die ihm einerseits Sprachspielerei und Albernheiten erlaubte – und ihm andererseits die Möglichkeit gab, Zuwendung zu zeigen, ohne allzu viel von sich selbst preisgeben zu müssen.

In chronologische Reihenfolge und in Zusammenhang gebracht, erzählen Jurek Beckers Postkarten letztendlich, ob gewollt oder nicht, viel über seine Persönlichkeit und sein Leben, geben Auskunft über Vorlieben und Leidenschaften, ganz besonders aber über die ihm sehr eigene Art, die Liebsten aufzuheitern und sie über Trennungen hinwegzutrösten.

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Seitenzahl: 172

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Jurek Becker

»Am Strand von Bochum ist allerhand los«

Postkarten

Herausgegeben von Christine Becker

Suhrkamp

1978

An: Ottilie und Manfred Krug1, Berlin [West]

[15. 5. 1978, Niagara Falls, N.Y.2]

Geliebte Krugs, nun kann

ich auch die Niagara-

Fälle abhaken. Das Bild

ist Sozialistischer Realismus.

Direkt unterhalb der Fälle

beginnt eine 3m dicke braune

Dreckschicht, die bis zum

Horizont geht. Es ist kein

Quadratzentimeter Wasser

zu sehen. Eine Studentin,

mit der ich hier war, hat

herzzerreißend geweint. Jurek

An: Elisabeth Borchers1, Frankfurt [am Main]

[Mai 1978, Oberlin]

Liebe Liese, daß ich nicht

so irrsinnig oft schreibe,

hat einen triftigen Grund:

Ich bin schließlich in

Amerika. Aber warum

schreibst Du so wenig?

Aus Gründen wachsenden

Heimwehs werde ich wohl

schon im Juni wieder

daheim sein. Aber wo

ist das.

Küsse von Jurek

An: Elisabeth Borchers, Frankfurt [am Main]

[30. 5. 1978, Miami]

Nun bin ich doch noch in

Florida angekommen. Es ist mir

peinlich, aber in Maßen. Danach

kommt noch New Orleans, dann

New Mexico, dann San Franzisco.

Werde etwas später wieder zurück

sein, gegen den 16. Juli. Bin

aber jetzt schon neugierig, wie

Du dann den Kopf aus der

Schlinge ziehen willst. Bis

dahin küsse ich Dich erst

mal.

Jurek

An: Elisabeth Borchers, Frankfurt [am Main]

[9. 6. 1978, New Orleans]

Jetzt bin ich in New Orleans und

fühl mich wohl. Dir kann ichs

ja sagen: Heute habe ich mal

eine Stunde darüber nachgedacht,

ob ich eine Studentin, die ich

seit 2 Monaten kenne, mit

nach Hause bringen soll. Sie

ist ungeheuer. Als ich sie fragte,

was sie am liebsten macht,

hat sie geantwortet: Woher

soll ich das wissen?

Mitte Juli, endgültig.

Küsse von Jurek

An: Ottilie und Manfred Krug, Berlin [West]

[9. 6. 1978, New Orleans]

Jetzt bin ich tatsächlich in New

Orleans, und mir geht durch

den Kopf, daß es die allein-

stehenden Schriftsteller mit

gültigem Visum eigentlich

ganz gut haben.

Überall machen sie hier Musik,

und das hebt die Stimmung.

Ich bin jetzt froh, daß ich nicht

dem dicken Krug seine Ohren

habe, denn dann fände ich die

Musik nicht gar so gut, wie ich

sie jetzt finde. Küsse Jurek

An: Becker1, Berlin/DDR

[9. 6. 1978, New Orleans]

Jetzt bin ich doch tatsächlich

in New Orleans. Ist die erste

Stadt in Amerika, die mir von

Herzen gefällt. Heute Mittag saß ich

in einem Restaurant und unter-

hielt mich mit einer Frau. Sie

sagte: »Ich verstehe Sie manch-

mal so schlecht. Sind Sie

aus Kanada?« Nur damit

Ihr Bescheid wißt.

Küsse von Jurek

An: Becker, Berlin/DDR

[Juni 1978, Taos1]

Ihr lieben Süßen, ich bin

jetzt hoch in den Bergen,

in einem Tal, das 3500 m

hoch liegt. Am Tag sind es

35 Grad und nachts 0 Grad.

Morgen fliege ich nach San

Francisco. Von dort werdet

Ihr wieder von mir hören,

daß ich bald komme. Macht

bis dahin alles richtig, auch

wenn das ohne mich nicht

einfach ist.

Liebe, Jurek

An: Borchers, Frankfurt [am Main]

[19. 6. 1978, San Francisco]

Liebste Beste, in San Fran-

cisco macht Amerika mir

endlich Spaß und nur Spaß.

Das Mädchen, von dem ich

Dir erzählt habe, ist aus San

Francisco. Sie heißt Hannah1.

Ich komme mir ein bißchen

komisch vor, aber nicht allzu

sehr. Ich werde wohl direkt

nach Berlin fliegen, aber sehr

bald nach Frankfurt kommen.

Küsse von Jurek

An: Kunert1, Berlin/DDR

[19. 6. 1978, San Francisco]

Ihr Vorzüglichen, die Stadt

hier ist so beschaffen, daß

die Vorstellung, hier leben zu

müssen, sich durch das

Abhandensein von Schrecken

auszeichnet. Aber sicher

verdreht Ihr jetzt die Augen

und wißt das schon längst.

Bald sehe ich Euch und um-

arme Euch, und dann hebt

ein großes Erzählen an.

Jurek

An: Becker, Berlin/DDR

[Juni 1978, San Francisco]

Ihr lieben Lieben, nun bin

ich an der letzten Station hier

angelangt. Ich habe zwar noch

Lesungen in Oregon und in

Nevada, aber das tue ich

von hier aus. Meine Augen

leisten nur noch eine Art

Notdienst. Mitte Juli bin

ich zurück, endgültig.

Oh was freu ich mich auf

Euch. Jurek

An: Becker, Berlin/DDR

[Juli 1978, Grand Canyon]

Meine Liebsten, ein

allerletzter Gruß, bevor

wir uns wiedersehen. Aus

einer Gegend, die, wie Ihr

seht1, ganz schön schön ist.

Im Moment treibt mich nur

touristisches. Wenn ich zurück

bin, werde ich ziemlich gut

Bescheid wissen, was das ist:

Amerika. Bald umarmt

Euch life   Jurek

1979

An: Suhrkamp Verlag, Burgel Zeeh1, Frankfurt [am Main]

[8. 8. 1979, Lognavatn2]

Beste Burgel, Ihr herrliches

Pilzbuch nützt mir nichts und

nützt mir wieder doch. Nichts

nützt es, weil ich bisher noch keinen

einzigen Pilz gefunden habe;

viel nützt es als Lektüre, denn

ich habe alle anderen mitgebrach-

ten Bücher ausgelesen. Über

Pilze jedenfalls weiß ich jetzt

allerhand, und wenn wir

uns wiedersehen im Oktober,

haben wir endlich ein Thema,

über das wir uns lange unter-

halten können.

Umarmung von Jurek Becker

1980

An: Ottilie und Manfred Krug, Berlin [West]

[18. 4. 1980, Kanada1]

Liebste Krugs, Kanada macht

auf mich irgendwie den Eindruck,

als wäre eine DDR-Firma beauf-

tragt worden, USA-Verhältnisse

hier einzuführen. Das macht es

mir leicht, mich gut zu fühlen.

Wann fallen wir uns alle

bloß wieder um den Hals?

Liebste Grüße

Jurek

Ist die Karte nicht riesig?

1985

An: Kerstin Bark1, Berlin [West]

[26. 9. 1985, Port El-Kantaoui2]

Allahliebste Kerstin,

man hat mich der Urlaubs-

grüßeschreibkompanie zu-

geteilt, und ich bin es ge-

wohnt, Befehle zackig

auszuführen. Zufällig fallen

hier Befehl + Neigung zu-

sammen, also sei von

Christine umarmt, vor allem

aber von MIR!  !  !

An: Christine Harsch-Niemeyer1, Berlin [West]

[4. 12. 1985, Berlin]

Liebste,

nicht weil Weihnachten kommt,

schreibe ich Dir, denn was ist schon

Weihnachten, und nicht weil die

Karte so hübsch ist, denn was ist

schon eine Karte, sondern weil ich

Dich liebe. Nun könnte man na-

türlich fragen: Was ist schon

meine Liebe? Darauf würde ich

antworten: Mehr als mancher

glaubt.

Kuck doch mal rein zu Deinem

Jurek

An: Kerstin Bark, Berlin [West]

[Dezember 1985, Teneriffa1]

Liebste Kerstin,

da Christine der Meinung

ist, daß ich bessere Kar-

ten als sie schreiben kann,

(was wohl zutrifft) mußt

Du es Dir gefallen lassen,

diesen flüchtigen Gruß, am

Abend eines ausgefüllten Regen-

tages geschrieben, von mir

entgegenzunehmen. Dein

lieber Freund

Jurek & Tina

1986

An: Frau Elisabeth Borchers, Frankfurt [am Main]

[8. 8. 1986, Lissabon1]

Du Anbetungswürdige,

so ein Urlaub ist hübsch, wo Du

am Morgen noch nicht weißt, wo

Du abends landen wirst. Nun ist

es gerade Lissabon geworden. Das

nächste Ziel, das ich genau kenne:

am 15. September in Deinen

Armen.

Küsse von Jurek + Christine

An: Uli Hermann1, Paris

[13. 8. 1986, Vila Real de Santo António]

Liebste Nicole2, bester Uli,

wir haben zum Kartenschreiben

alle Verwandten und Freunde in

zwei Gruppen aufgeteilt: Christine

schreibt an die geraden und ich

an die ungeraden. Da Ihr ein-

deutig zu den ungeraden ge-

hört, bin ich also dran. Wir

sind an der Südküste Portugals

gelandet, 4350 Kilometer von

zu Hause entfernt. Wir haben

die Kleider voll Sand, die Gesich-

ter voll Sommersprossen und

die Herzen voll Zuversicht.

Seid umarmt von

Jurek + Tina

An: Harsch-Niemeyer1, Tübingen

16. 8. 1986 [Vila Real de Santo António]

Ihr Lieben,

Christine sagt, ich soll Euch

schreiben, wie gut es uns

geht. Hiermit tu ich’s. Wir

haben ein ziemlich gutes Zim-

mer in einem ziemlich guten

Hotel an einem ziemlich

guten Strand und bleiben

ziemlich genau zwei

Wochen hier. Wir kommen

ziemlich gut miteinander

aus, was ganz eindeutig

an mir liegt.

Die heftigsten Grüße von

Eurem Jurek + Tina

An: Kerstin Bark, Berlin [West]

18. 8. 1986 [Tavira]

Du olles Herzblatt,

den halben Tag bedauert

Christine, daß nicht Du hier

bei ihr bist, sondern ich.

Ich gebe mir zwar alle Mühe,

dagegen anzukämpfen, aber

Du kannst mir glauben:

leicht ist es nicht. Höchstens

spätabends, so nach 11, gelingt

es mir manchmal, ihre Ge-

danken an Dich verblassen zu

lassen.

Es herzen Dich

Jurek + Tina

An: Manfred Krug, Berlin [West]

28. 8. 1986 [Toledo]

Lieber Manfred,

gestern abend hat in Granada

ein Kellner etwas zu mir

gesagt, was ich natürlich

nicht verstanden habe; es klang

aber nicht unfreundlich.

Christine hat es sich gemerkt,

und im Hotel haben wir im

Wörterbuch nachgesehen. Es

hieß: »Meine Fresse, sind SIE

braun!« Erschrick also nicht,

wenn wir wiederkommen,

denn für Christine gilt fast

dasselbe.

Es halten es kaum noch aus

vor Sehnsucht nach Euch

Jurek + Christine

An: Ottilie Krug, Berlin [West]

7. 10. 1986 [Aachen1]

Du Liebe,

am kommenden Wochen-

ende bin ich mal wieder

in Berlin. Wenn Manfred

da ist, würde ich Euch gern

treffen; wenn er nicht da

ist, würde ich Dich gern

treffen; wenn Ihr beide

nicht da seid, würde das

mich treffen aber

nicht gern.

Küsse von Jurek

An: Christine Becker, Berlin [West]

11. 11. 1986 [Berlin]

Sehr geehrtes Schätzchen,

nur einen schnellen

Gruß zum Faschingsbe-

ginn. Oder heißt das

Karneval? Wie auch

immer – Dein sich

verzehrender

Jurek

(Übrigens bringt mich das auf eine

Idee: ich geh jetzt in die Küche

und verzehre einen Apfel!)

An: Christine Becker, Berlin [West]

25. 11. 1986 [Berlin]

Hochverehrtes Schätzchen,

eben hatte ich eine Schreib-

idee, doch als ich zu

schreiben anfing, hat sie

mir nicht mehr gefallen. Da

denke ich lieber an Dich,

Du gefällst mir immer

Dein liebster

Serienschreiber1

J.

An: Christine Becker, Berlin [West]

28. 11. 1986 [Berlin]

Mein prächtiges

Liebchen,

diese Karte ist das letzte,

das mir einfällt, um nicht

›Liebling‹ schreiben zu müs-

sen. Mit Riesenschritten

naht ihr Ende, ach lieb

ich Dich, ach mag ich

Dich, auch wenn Dir, wie

letzte Nacht, ganz schlecht

wird von mir, mein Gott,

es ist soweit!

Dein Jujeck

An: Christine Becker, Berlin [West]

9. 12. 1986 [Berlin]

Mein Pantinchen,

vor solchen Tieren1 hast

Du Angst? Wenn ich mir

vorstelle, wie putzig es unter

unserer Badewanne zuge-

gangen ist, macht es mich

traurig, daß das bunte

Treiben nun zu Ende ist.

Jetzt hab ich nur noch Dich.

Dein Held.

An: Christine Becker, Berlin [West]

15. 12. 1986 [Berlin]

Hochgeehrtes Liebchen,

weißt Du eigentlich, daß

wir heute in einem Jahr

Austin/Texas1 in Richtung

Nordwesten2 verlassen werden,

weil dann das Semester zu Ende

ist? Wollte nur daran erinnern,

und darf ich mir erlauben

Dich bei dieser Gelegenheit

meiner ausdrücklichen

Weihnachtsliebe zu ver-

sichern.

Des Jurekle

An: Ottilie Krug, Berlin [West]

19. 12. 1986 [Berlin]

Liebste Ottilie,

fast hätte ich vergessen, Dir herzliche

Weihnachtsgrüße zu schicken, und

Du kannst Dir vielleicht meine

Erleichterung vorstellen, als es mir

schließlich doch noch eingefallen

ist. Wäre es vermessen, Dich zu

bitten, auch an Manfred und

die Kinder meine Komplimente

weiterzugeben?

Dein Jurek

Hab doch bitte die Güte, Man-

fred auf die hübsche Brücke1 im

Vordergrund des Bildes aufmerk-

sam zu machen. J.

1987

An: Christine Becker, Berlin [West]

3. 2. 1987 [Berlin]

Liebste Referentin,

für Dein Referat1 wünsche

ich Dir das größte

Referentenglück,

obwohl Du es nicht

nötig haben wirst, denn

unter allen Referentinnen

bis Du die gescheiteste.

Und am Montag, beim

Referat, wirst Du das nicht

verbergen können.

Der Referent von

nebenan!

An: Familie Zeeh1, Frankfurt/M.

20. 9. 1987 [Austin, Texas]

Ihr Vortrefflichen,

zuerst das Wichtigste – unsere Adresse2:

10926 JOLLYVILLE ROAD # 1212

AUSTIN, TEXAS 78759

Tel.: (512) 338-0948

Die Leute hier sind so dezent

gekleidet, daß ich mit meiner

neuen Badehose3 doch ziemlich

auffallen würde. Noch habe ich es

allerdings nicht ausprobiert. Es

gibt bisher kaum Neuigkeiten zu

berichten – ich glaube, wir

haben Texas noch nicht ge-

funden. Auf bald und zwei

Umarmungen von

Jurek + Christine

An: Ottilie und Manfred Krug, Berlin [West]

25. 9. 1987 [Austin, Texas]

Ach, Ihr,

keiner hier, mit dem man

in die Kneipe gehen kann,

dafür aber auch keine Knei-

pen. Dafür aber warm und

sauber und bequem. Unser

Auto ist ein Chevrolet. Er ist

so häßlich, daß wir nirgends

damit auffallen. Falsch parken

(die einzig mögliche Art zu parken)

kostet hier 12 Dollar

Küsse von Jurek + Christine

An: Siegfried Unseld1, Frankfurt [am Main]

26. 9. 1987 [Austin, Texas]

Lieber Siegfried, wenn meine

neue Badehose und ich – wenn

wir also zu zweit am BARTON

SPRINGS POOL2 erscheinen, Chri-

stine neben uns, dann ist, wie

soll ich sagen, die Neue Welt in

Ordnung. Es hat Minuten gedau-

ert, bis wir uns hier eingelebt

haben, und auch umgekehrt

wird es wohl kaum Probleme

geben.

Umarmungen von Jurek + Christine

An: Kerstin Bark, Berlin [West]

26. 9. 1987 [Austin, Texas]

Liebe Kerstin, da wir

nur einen Fernseher haben,

komme ich kaum zum Sport-

kucken: unentwegt hockt

Christine davor, weil irgendein

Dallas1 oder Denver2 läuft, stößt

kleine Schreie aus und haucht

dann und wann: ›Das muß

ich Kerstin schreiben!‹ Sie macht

ihre Termine nur noch bei

aufgeschlagener Fernsehzeitung,

auch die mit mir. So geht es

hier in Amerika zu!

Küsse von Jurek

An: Heinz-Ludwig Arnold1, Göttingen

28. 9. 1987 [Austin, Texas]

Lieber Lutz, gestern sind wir

fast 500 km nach Fredericks-

burg und zurück gefahren, und

warum? Der Hunger hat uns

hingetrieben, die Sehnsucht

nach Brot. Und was macht Gott

in seiner Güte? Es gibt dort

tatsächlich gutes deutsches Ein-

wandererbrot zu kaufen. Wir

haben 20 Laibe zum Einfrie-

ren mitgebracht, womit das

größte Problem unseres Austin-

Aufenthalts aus der Welt ist.

Umarmungen, auch für Christiane2,

auch von Christine – Jurek

An: Burgel Zeeh, Frankfurt [am Main]

1. 10. 1987 [Austin, Texas]

Liebste Burgel,

gerade haben wir telefoniert, und

Du hast mir versprochen, daß diese

Karte noch rechtzeitig ankommt.

Mir ist doch was eingefallen, was

Ihr mitbringen könntet: die 2, 3

letzten ›Spiegel‹1. Ansonsten werdet

Ihr ein Paar antreffen, zufrieden

wie ein sattes Baby, vor allem dann,

wenn es Euch gegenübersteht.

Küsse von

Jurek + Christine

An: Ottilie und Manfred Krug, Berlin [West]

7. 10. 1987 [Austin, Texas]

Ihr Lieben,

solange ich nicht auswen-

dig lerne:

minus 32

geteilt durch 5

mal 91

– solange weiß Christine

nie, was sie anziehen soll.

Umarmungen von

Jurek

An: Lore + Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen

10. 10. 1987 [Albuquerque1]

Liebe Lore, lieber Robert,

die Leute in Albuquerque haben uns

erzählt, man müsse spätestens um

5 Uhr draußen auf dem Festival2-Gelände

sein, um die volle Action zu erleben.

Nach langem Zähneknirschen haben wir

uns dazu durchgerungen. Allerdings

haben wir verschlafen, was ein großes

Glück war; denn als wir um halb

sieben draußen waren, brauchten wir

nur noch eine Stunde zu warten,

bis es losging. Dann war es aller-

dings so umwerfend, daß Eure

Tochter vor Ergriffenheit echte

Tränen in den Augen hatte.

Ich umarme Euch

Euer Jurek

An: Kerstin Bark, Berlin [West]

17. 10. 1987 [Dallas]

Liebste Kerstin,

Christine bat mich, Dir diese

Karte zu schreiben, weil bei ihr

alles immer ein wenig länger dauert.

Nicht so bei mir, ich bin es gewohnt,

das erste beste hinzuklieren: daß

es hier genauso ist wie in Dallas,

daß wir an Dich denken (mal Christi-

ne, dann wieder ich), daß der Him-

mel über Texas eine Symphonie in

hellblau und weiß ist und daß wir

Dich lieben.

Jurek + Tina

An: Christine Becker, Berlin [West]

27. 10. 1987 [Austin, Texas]

Meine liebe Amibraut,

gerade sitze ich Dir an

unserem Tisch in Austin ge-

genüber. Du bereitest Dich

auf ein Seminar vor, das

Dich nicht interessiert, dafür

plagst Du Dich mit einem

Gedicht ab, das Dir nicht gefällt,

in einer Übersetzung, die Du

nicht verstehst. Ich liebe

Dich, und Du sammelst

doch diese Postkarten.

Jurek

An: Nicki + Rieke Becker, Berlin/DDR

29. 10. 1987 [Austin, Texas]

Ihr zwei Lieben,

seit drei Tagen ist hier die Baseball-

Saison zuende, und so ist in mir

ein Gefühl der Leere entstanden. Solan-

ge abend für abend die Übertragungen

liefen, wußte ich, wo mein Platz auf der

Welt ist. Doch plötzlich taucht mir die

Frage auf: Was will ich überhaupt hier?

Meine liebe Frau hilft mir nach besten

Kräften, über den Verlust hinwegzu-

kommen, doch leicht hat sie es nicht.

Ich schwanke, ob ich mich nun in Arbeit

stürze oder dem Football zuwende,

denn da fängt die Saison gerade an.

Umarmungen von Jurek

An: Dr. Dr. h. c. Siegfried Unseld, Frankfurt [am Main]1

29. 10. 1987 [Austin, Texas]

Lieber Siegfried,

in dieser Runde hält man

mich für den Schreibkun-

digsten – also muß ich

ran. Die wildesten und

ausschweifendsten Ver-

gnügungen lassen uns kaum

Zeit zum Schreiben, den

Gedanken an Dich sind sie

aber nur förderlich.

Sei umarmt von Jurek &

Christine & Burgel + Werner

            Zeeh

An: Kerstin Bark, Berlin [West]

7. 11. 1987 [Mexico City1]

Liebste Kerstin,

diese Karte darf ich Dir

schreiben, allerdings bin

ich verpflichtet worden, Dir

zu sagen, daß es hier nicht

nur schön ist, sondern

auch traurig. Wir sind also

in Mexico. Wir kommen

direkt aus dem reichsten

Land der Welt in eins der

ärmsten. Wir sind nicht

unsensibel genug für solche

großen Schritte, vor allem

Christine nicht. Aber ein bißchen

toll und wahnsinnig ist es

trotzdem.  Küsse von Jurek

        + Tina

An: Christine Becker, Berlin [West]

9. 11. 1987 [Mexico City]

Liebe Liebste,

es ist ja schon etwas

merkwürdig, neben Dir

zu sitzen und eine Karte

an Dich zu schreiben.

Will nur sagen, daß Mexico

ohne Dich nur die Hälfte

wert gewesen wäre. Vielleicht

sogar nur ein Drittel.

Dein Dich liebender

Hausmann

An: Christine Becker, Berlin [West]

14. 11. 1987 [Austin, Texas]

Liebste,

bestimmt erinnerst Du Dich

nicht mehr, daß wir in einer

Stunde nach Fredericksburg

fahren. Hinter uns eine kleine

Herde Studenten, die sonst

ja nichts vom Leben haben hier;

vor uns die Aussicht auf gutes

richtiges Brot, das mir das

zweitwichtigste Lebensmittel

in Austin ist, weit nach Dir.

Während ich unterschreibe, sehe

ich, wie Du Dich schminkst.

Jurek

An: Lore + Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen

16. 11. 1987 [Austin, Texas]

Ihr Lieben, in der letzten Nacht ist recht nah

bei uns ein Tornado vorbeigezogen. Andauernd

haben sie im Fernsehen die Football-Übertra-

gung unterbrochen, Bilder von den zerstörten Häu-

sern gezeigt und die Zahl der Toten und Verletzten

genannt. Schließlich wurden wir aufgefordert, in

unsere Shelter zu gehen. Wir haben im Wörterbuch

nachgesehen, was ›shelter‹ bedeutet (Schutzraum)

und dann festgestellt, daß wir keinen haben. Da

haben wir den Fernseher ausgemacht und die

halbe Nacht Backgammon gespielt. Christine hat

gewonnen. Ihr seht, es ist nicht alles erfreulich,

was in Amerika geschieht.

Die liebsten Grüße – Jurek + Tina

An: Burgel Zeeh, Frankfurt [am Main]

19. 11. 1987 [Austin, Texas]

Ihr Lieben,

gerade habe ich mit Dir, Burgel,

telefoniert, und da ist mir etwas

Seltsames klargeworden. Du sagtest,

es sei noch keine Post von mir da, und

mir war zumute, als hätte ich schon

hundertmal geschrieben. Das liegt an

meiner ausgeprägten Phantasie: Weil

ich schon so oft mit dem Schreiben an

Euch in Gedanken beschäftigt war,

habe ich mir eingebildet, es wäre schon

getan. Für einen Schriftsteller mag diese

Einbildungskraft gut sein, für einen

Freund ist sie es nicht.

In Liebe – Jurek

An: Lore & Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen

22. 11. 1987 [St. Louis1]

Ihr Lieben,

an der Washington-University in

St. Louis hat Christine gestern Professor

Egon Schwarz2 getroffen, einen höchst

imposanten Mann, der uns erzählte, daß

er kürzlich wegen einer Festschrift bei

Dir, Robert, in Tübingen gewesen ist.

Überhaupt kennen alle hier Niemeyer3

und keiner Becker, und allmählich

stelle ich mir die Frage, wo das

einmal enden wird. Ansonsten sind

wir gezwungen, eine Million Sehenswür-

digkeiten in einer Stunde zu besichtigen,

was Eurer Tochter erstaunlich gut gelingt.

Mit viel Herz – Jurek + Eure Tina

An: Walburga Zeeh, Frankfurt [am Main]

25. 11. 1987 [Austin, Texas]

Ihr Lieben,

die ständigen Briefe und Karten und

Päckchen und Anrufe Burgels haben

mir schlagartig klargemacht, was im

Jahre 48 die Luftbrücke für die West-

Berliner bedeutet hat. Seitdem kann

doch passieren, was will – die Berliner

werden den Amis immer dankbar sein

und sie lieben. Genauso geht es nun

auch uns, bloß daß es sich nicht um

die Amis handelt, sondern um das

Burgelschätzchen. Kann es einen

schöneren Unterschied geben?

Umarmungen v. Jurek + Christine

Übrigens kam die Reinemachefrau nicht kurz

nach dem Brief, sondern sie war kurz vorher da.1