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Jurek Becker hat sich im Laufe seines Schriftstellerlebens vielen Genres gewidmet. Er schrieb Texte fürs Kabarett, verfasste Drehbücher, wurde mit seinem ersten Roman weltberühmt, veröffentlichte Erzählungen und Essays. In seinem Nachlass fanden sich für die meisten seiner Werke Entwürfe, die er in Schulhefte geschrieben hatte – zumindest für die Texte, die nach der Übersiedlung aus der DDR nach Westberlin entstanden waren.
Selbst Briefe und Postkarten schrieb Becker im Konzept, wurden häufig korrigiert, wonach die Postkarte sich bei der Abschrift ein weiteres Mal zum Original wandelte.
An der gesteigerten Zahl der Postkarten, die Jurek in erster Linie in seinen letzten Lebensjahren schrieb, lässt sich ablesen, dass es ihm nicht darum ging, dem Freund, der Freundin, dem Familienmitglied eine Freude zu bereiten. Um Mitteilungen des Autors über sich selbst ging es dabei nur nachrangig. In allererster Linie lag Jurek Becker daran, den Leser für Minuten zu unterhalten. Zunehmend wurde die Postkarte eine Textform, in der sich auszudrücken dem Autor Freude bereitete. War es doch eine Form, die ihm einerseits Sprachspielerei und Albernheiten erlaubte – und ihm andererseits die Möglichkeit gab, Zuwendung zu zeigen, ohne allzu viel von sich selbst preisgeben zu müssen.
In chronologische Reihenfolge und in Zusammenhang gebracht, erzählen Jurek Beckers Postkarten letztendlich, ob gewollt oder nicht, viel über seine Persönlichkeit und sein Leben, geben Auskunft über Vorlieben und Leidenschaften, ganz besonders aber über die ihm sehr eigene Art, die Liebsten aufzuheitern und sie über Trennungen hinwegzutrösten.
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Seitenzahl: 172
Jurek Becker
»Am Strand von Bochum ist allerhand los«
Postkarten
Herausgegeben von Christine Becker
Suhrkamp
Geliebte Krugs, nun kann
ich auch die Niagara-
Fälle abhaken. Das Bild
ist Sozialistischer Realismus.
Direkt unterhalb der Fälle
beginnt eine 3m dicke braune
Dreckschicht, die bis zum
Horizont geht. Es ist kein
Quadratzentimeter Wasser
zu sehen. Eine Studentin,
mit der ich hier war, hat
herzzerreißend geweint. Jurek
Liebe Liese, daß ich nicht
so irrsinnig oft schreibe,
hat einen triftigen Grund:
Ich bin schließlich in
Amerika. Aber warum
schreibst Du so wenig?
Aus Gründen wachsenden
Heimwehs werde ich wohl
schon im Juni wieder
daheim sein. Aber wo
ist das.
Küsse von Jurek
Nun bin ich doch noch in
Florida angekommen. Es ist mir
peinlich, aber in Maßen. Danach
kommt noch New Orleans, dann
New Mexico, dann San Franzisco.
Werde etwas später wieder zurück
sein, gegen den 16. Juli. Bin
aber jetzt schon neugierig, wie
Du dann den Kopf aus der
Schlinge ziehen willst. Bis
dahin küsse ich Dich erst
mal.
Jurek
Jetzt bin ich in New Orleans und
fühl mich wohl. Dir kann ichs
ja sagen: Heute habe ich mal
eine Stunde darüber nachgedacht,
ob ich eine Studentin, die ich
seit 2 Monaten kenne, mit
nach Hause bringen soll. Sie
ist ungeheuer. Als ich sie fragte,
was sie am liebsten macht,
hat sie geantwortet: Woher
soll ich das wissen?
Mitte Juli, endgültig.
Küsse von Jurek
Jetzt bin ich tatsächlich in New
Orleans, und mir geht durch
den Kopf, daß es die allein-
stehenden Schriftsteller mit
gültigem Visum eigentlich
ganz gut haben.
Überall machen sie hier Musik,
und das hebt die Stimmung.
Ich bin jetzt froh, daß ich nicht
dem dicken Krug seine Ohren
habe, denn dann fände ich die
Musik nicht gar so gut, wie ich
sie jetzt finde. Küsse Jurek
Jetzt bin ich doch tatsächlich
in New Orleans. Ist die erste
Stadt in Amerika, die mir von
Herzen gefällt. Heute Mittag saß ich
in einem Restaurant und unter-
hielt mich mit einer Frau. Sie
sagte: »Ich verstehe Sie manch-
mal so schlecht. Sind Sie
aus Kanada?« Nur damit
Ihr Bescheid wißt.
Küsse von Jurek
Ihr lieben Süßen, ich bin
jetzt hoch in den Bergen,
in einem Tal, das 3500 m
hoch liegt. Am Tag sind es
35 Grad und nachts 0 Grad.
Morgen fliege ich nach San
Francisco. Von dort werdet
Ihr wieder von mir hören,
daß ich bald komme. Macht
bis dahin alles richtig, auch
wenn das ohne mich nicht
einfach ist.
Liebe, Jurek
Liebste Beste, in San Fran-
cisco macht Amerika mir
endlich Spaß und nur Spaß.
Das Mädchen, von dem ich
Dir erzählt habe, ist aus San
Francisco. Sie heißt Hannah1.
Ich komme mir ein bißchen
komisch vor, aber nicht allzu
sehr. Ich werde wohl direkt
nach Berlin fliegen, aber sehr
bald nach Frankfurt kommen.
Küsse von Jurek
Ihr Vorzüglichen, die Stadt
hier ist so beschaffen, daß
die Vorstellung, hier leben zu
müssen, sich durch das
Abhandensein von Schrecken
auszeichnet. Aber sicher
verdreht Ihr jetzt die Augen
und wißt das schon längst.
Bald sehe ich Euch und um-
arme Euch, und dann hebt
ein großes Erzählen an.
Jurek
Ihr lieben Lieben, nun bin
ich an der letzten Station hier
angelangt. Ich habe zwar noch
Lesungen in Oregon und in
Nevada, aber das tue ich
von hier aus. Meine Augen
leisten nur noch eine Art
Notdienst. Mitte Juli bin
ich zurück, endgültig.
Oh was freu ich mich auf
Euch. Jurek
Meine Liebsten, ein
allerletzter Gruß, bevor
wir uns wiedersehen. Aus
einer Gegend, die, wie Ihr
seht1, ganz schön schön ist.
Im Moment treibt mich nur
touristisches. Wenn ich zurück
bin, werde ich ziemlich gut
Bescheid wissen, was das ist:
Amerika. Bald umarmt
Euch life Jurek
Beste Burgel, Ihr herrliches
Pilzbuch nützt mir nichts und
nützt mir wieder doch. Nichts
nützt es, weil ich bisher noch keinen
einzigen Pilz gefunden habe;
viel nützt es als Lektüre, denn
ich habe alle anderen mitgebrach-
ten Bücher ausgelesen. Über
Pilze jedenfalls weiß ich jetzt
allerhand, und wenn wir
uns wiedersehen im Oktober,
haben wir endlich ein Thema,
über das wir uns lange unter-
halten können.
Umarmung von Jurek Becker
Liebste Krugs, Kanada macht
auf mich irgendwie den Eindruck,
als wäre eine DDR-Firma beauf-
tragt worden, USA-Verhältnisse
hier einzuführen. Das macht es
mir leicht, mich gut zu fühlen.
Wann fallen wir uns alle
bloß wieder um den Hals?
Liebste Grüße
Jurek
Ist die Karte nicht riesig?
Allahliebste Kerstin,
man hat mich der Urlaubs-
grüßeschreibkompanie zu-
geteilt, und ich bin es ge-
wohnt, Befehle zackig
auszuführen. Zufällig fallen
hier Befehl + Neigung zu-
sammen, also sei von
Christine umarmt, vor allem
aber von MIR! ! !
Liebste,
nicht weil Weihnachten kommt,
schreibe ich Dir, denn was ist schon
Weihnachten, und nicht weil die
Karte so hübsch ist, denn was ist
schon eine Karte, sondern weil ich
Dich liebe. Nun könnte man na-
türlich fragen: Was ist schon
meine Liebe? Darauf würde ich
antworten: Mehr als mancher
glaubt.
Kuck doch mal rein zu Deinem
Jurek
Liebste Kerstin,
da Christine der Meinung
ist, daß ich bessere Kar-
ten als sie schreiben kann,
(was wohl zutrifft) mußt
Du es Dir gefallen lassen,
diesen flüchtigen Gruß, am
Abend eines ausgefüllten Regen-
tages geschrieben, von mir
entgegenzunehmen. Dein
lieber Freund
Jurek & Tina
Du Anbetungswürdige,
so ein Urlaub ist hübsch, wo Du
am Morgen noch nicht weißt, wo
Du abends landen wirst. Nun ist
es gerade Lissabon geworden. Das
nächste Ziel, das ich genau kenne:
am 15. September in Deinen
Armen.
Küsse von Jurek + Christine
Liebste Nicole2, bester Uli,
wir haben zum Kartenschreiben
alle Verwandten und Freunde in
zwei Gruppen aufgeteilt: Christine
schreibt an die geraden und ich
an die ungeraden. Da Ihr ein-
deutig zu den ungeraden ge-
hört, bin ich also dran. Wir
sind an der Südküste Portugals
gelandet, 4350 Kilometer von
zu Hause entfernt. Wir haben
die Kleider voll Sand, die Gesich-
ter voll Sommersprossen und
die Herzen voll Zuversicht.
Seid umarmt von
Jurek + Tina
Ihr Lieben,
Christine sagt, ich soll Euch
schreiben, wie gut es uns
geht. Hiermit tu ich’s. Wir
haben ein ziemlich gutes Zim-
mer in einem ziemlich guten
Hotel an einem ziemlich
guten Strand und bleiben
ziemlich genau zwei
Wochen hier. Wir kommen
ziemlich gut miteinander
aus, was ganz eindeutig
an mir liegt.
Die heftigsten Grüße von
Eurem Jurek + Tina
Du olles Herzblatt,
den halben Tag bedauert
Christine, daß nicht Du hier
bei ihr bist, sondern ich.
Ich gebe mir zwar alle Mühe,
dagegen anzukämpfen, aber
Du kannst mir glauben:
leicht ist es nicht. Höchstens
spätabends, so nach 11, gelingt
es mir manchmal, ihre Ge-
danken an Dich verblassen zu
lassen.
Es herzen Dich
Jurek + Tina
Lieber Manfred,
gestern abend hat in Granada
ein Kellner etwas zu mir
gesagt, was ich natürlich
nicht verstanden habe; es klang
aber nicht unfreundlich.
Christine hat es sich gemerkt,
und im Hotel haben wir im
Wörterbuch nachgesehen. Es
hieß: »Meine Fresse, sind SIE
braun!« Erschrick also nicht,
wenn wir wiederkommen,
denn für Christine gilt fast
dasselbe.
Es halten es kaum noch aus
vor Sehnsucht nach Euch
Jurek + Christine
Du Liebe,
am kommenden Wochen-
ende bin ich mal wieder
in Berlin. Wenn Manfred
da ist, würde ich Euch gern
treffen; wenn er nicht da
ist, würde ich Dich gern
treffen; wenn Ihr beide
nicht da seid, würde das
mich treffen aber
nicht gern.
Küsse von Jurek
Sehr geehrtes Schätzchen,
nur einen schnellen
Gruß zum Faschingsbe-
ginn. Oder heißt das
Karneval? Wie auch
immer – Dein sich
verzehrender
Jurek
(Übrigens bringt mich das auf eine
Idee: ich geh jetzt in die Küche
und verzehre einen Apfel!)
Hochverehrtes Schätzchen,
eben hatte ich eine Schreib-
idee, doch als ich zu
schreiben anfing, hat sie
mir nicht mehr gefallen. Da
denke ich lieber an Dich,
Du gefällst mir immer
Dein liebster
Serienschreiber1
J.
Mein prächtiges
Liebchen,
diese Karte ist das letzte,
das mir einfällt, um nicht
›Liebling‹ schreiben zu müs-
sen. Mit Riesenschritten
naht ihr Ende, ach lieb
ich Dich, ach mag ich
Dich, auch wenn Dir, wie
letzte Nacht, ganz schlecht
wird von mir, mein Gott,
es ist soweit!
Dein Jujeck
Mein Pantinchen,
vor solchen Tieren1 hast
Du Angst? Wenn ich mir
vorstelle, wie putzig es unter
unserer Badewanne zuge-
gangen ist, macht es mich
traurig, daß das bunte
Treiben nun zu Ende ist.
Jetzt hab ich nur noch Dich.
Dein Held.
Hochgeehrtes Liebchen,
weißt Du eigentlich, daß
wir heute in einem Jahr
Austin/Texas1 in Richtung
Nordwesten2 verlassen werden,
weil dann das Semester zu Ende
ist? Wollte nur daran erinnern,
und darf ich mir erlauben
Dich bei dieser Gelegenheit
meiner ausdrücklichen
Weihnachtsliebe zu ver-
sichern.
Des Jurekle
Liebste Ottilie,
fast hätte ich vergessen, Dir herzliche
Weihnachtsgrüße zu schicken, und
Du kannst Dir vielleicht meine
Erleichterung vorstellen, als es mir
schließlich doch noch eingefallen
ist. Wäre es vermessen, Dich zu
bitten, auch an Manfred und
die Kinder meine Komplimente
weiterzugeben?
Dein Jurek
Hab doch bitte die Güte, Man-
fred auf die hübsche Brücke1 im
Vordergrund des Bildes aufmerk-
sam zu machen. J.
Liebste Referentin,
für Dein Referat1 wünsche
ich Dir das größte
Referentenglück,
obwohl Du es nicht
nötig haben wirst, denn
unter allen Referentinnen
bis Du die gescheiteste.
Und am Montag, beim
Referat, wirst Du das nicht
verbergen können.
Der Referent von
nebenan!
Ihr Vortrefflichen,
zuerst das Wichtigste – unsere Adresse2:
10926 JOLLYVILLE ROAD # 1212
AUSTIN, TEXAS 78759
Tel.: (512) 338-0948
Die Leute hier sind so dezent
gekleidet, daß ich mit meiner
neuen Badehose3 doch ziemlich
auffallen würde. Noch habe ich es
allerdings nicht ausprobiert. Es
gibt bisher kaum Neuigkeiten zu
berichten – ich glaube, wir
haben Texas noch nicht ge-
funden. Auf bald und zwei
Umarmungen von
Jurek + Christine
Ach, Ihr,
keiner hier, mit dem man
in die Kneipe gehen kann,
dafür aber auch keine Knei-
pen. Dafür aber warm und
sauber und bequem. Unser
Auto ist ein Chevrolet. Er ist
so häßlich, daß wir nirgends
damit auffallen. Falsch parken
(die einzig mögliche Art zu parken)
kostet hier 12 Dollar
Küsse von Jurek + Christine
Lieber Siegfried, wenn meine
neue Badehose und ich – wenn
wir also zu zweit am BARTON
SPRINGS POOL2 erscheinen, Chri-
stine neben uns, dann ist, wie
soll ich sagen, die Neue Welt in
Ordnung. Es hat Minuten gedau-
ert, bis wir uns hier eingelebt
haben, und auch umgekehrt
wird es wohl kaum Probleme
geben.
Umarmungen von Jurek + Christine
Liebe Kerstin, da wir
nur einen Fernseher haben,
komme ich kaum zum Sport-
kucken: unentwegt hockt
Christine davor, weil irgendein
Dallas1 oder Denver2 läuft, stößt
kleine Schreie aus und haucht
dann und wann: ›Das muß
ich Kerstin schreiben!‹ Sie macht
ihre Termine nur noch bei
aufgeschlagener Fernsehzeitung,
auch die mit mir. So geht es
hier in Amerika zu!
Küsse von Jurek
Lieber Lutz, gestern sind wir
fast 500 km nach Fredericks-
burg und zurück gefahren, und
warum? Der Hunger hat uns
hingetrieben, die Sehnsucht
nach Brot. Und was macht Gott
in seiner Güte? Es gibt dort
tatsächlich gutes deutsches Ein-
wandererbrot zu kaufen. Wir
haben 20 Laibe zum Einfrie-
ren mitgebracht, womit das
größte Problem unseres Austin-
Aufenthalts aus der Welt ist.
Umarmungen, auch für Christiane2,
auch von Christine – Jurek
Liebste Burgel,
gerade haben wir telefoniert, und
Du hast mir versprochen, daß diese
Karte noch rechtzeitig ankommt.
Mir ist doch was eingefallen, was
Ihr mitbringen könntet: die 2, 3
letzten ›Spiegel‹1. Ansonsten werdet
Ihr ein Paar antreffen, zufrieden
wie ein sattes Baby, vor allem dann,
wenn es Euch gegenübersteht.
Küsse von
Jurek + Christine
Ihr Lieben,
solange ich nicht auswen-
dig lerne:
minus 32
geteilt durch 5
mal 91
– solange weiß Christine
nie, was sie anziehen soll.
Umarmungen von
Jurek
Liebe Lore, lieber Robert,
die Leute in Albuquerque haben uns
erzählt, man müsse spätestens um
5 Uhr draußen auf dem Festival2-Gelände
sein, um die volle Action zu erleben.
Nach langem Zähneknirschen haben wir
uns dazu durchgerungen. Allerdings
haben wir verschlafen, was ein großes
Glück war; denn als wir um halb
sieben draußen waren, brauchten wir
nur noch eine Stunde zu warten,
bis es losging. Dann war es aller-
dings so umwerfend, daß Eure
Tochter vor Ergriffenheit echte
Tränen in den Augen hatte.
Ich umarme Euch
Euer Jurek
Liebste Kerstin,
Christine bat mich, Dir diese
Karte zu schreiben, weil bei ihr
alles immer ein wenig länger dauert.
Nicht so bei mir, ich bin es gewohnt,
das erste beste hinzuklieren: daß
es hier genauso ist wie in Dallas,
daß wir an Dich denken (mal Christi-
ne, dann wieder ich), daß der Him-
mel über Texas eine Symphonie in
hellblau und weiß ist und daß wir
Dich lieben.
Jurek + Tina
Meine liebe Amibraut,
gerade sitze ich Dir an
unserem Tisch in Austin ge-
genüber. Du bereitest Dich
auf ein Seminar vor, das
Dich nicht interessiert, dafür
plagst Du Dich mit einem
Gedicht ab, das Dir nicht gefällt,
in einer Übersetzung, die Du
nicht verstehst. Ich liebe
Dich, und Du sammelst
doch diese Postkarten.
Jurek
Ihr zwei Lieben,
seit drei Tagen ist hier die Baseball-
Saison zuende, und so ist in mir
ein Gefühl der Leere entstanden. Solan-
ge abend für abend die Übertragungen
liefen, wußte ich, wo mein Platz auf der
Welt ist. Doch plötzlich taucht mir die
Frage auf: Was will ich überhaupt hier?
Meine liebe Frau hilft mir nach besten
Kräften, über den Verlust hinwegzu-
kommen, doch leicht hat sie es nicht.
Ich schwanke, ob ich mich nun in Arbeit
stürze oder dem Football zuwende,
denn da fängt die Saison gerade an.
Umarmungen von Jurek
Lieber Siegfried,
in dieser Runde hält man
mich für den Schreibkun-
digsten – also muß ich
ran. Die wildesten und
ausschweifendsten Ver-
gnügungen lassen uns kaum
Zeit zum Schreiben, den
Gedanken an Dich sind sie
aber nur förderlich.
Sei umarmt von Jurek &
Christine & Burgel + Werner
Zeeh
Liebste Kerstin,
diese Karte darf ich Dir
schreiben, allerdings bin
ich verpflichtet worden, Dir
zu sagen, daß es hier nicht
nur schön ist, sondern
auch traurig. Wir sind also
in Mexico. Wir kommen
direkt aus dem reichsten
Land der Welt in eins der
ärmsten. Wir sind nicht
unsensibel genug für solche
großen Schritte, vor allem
Christine nicht. Aber ein bißchen
toll und wahnsinnig ist es
trotzdem. Küsse von Jurek
+ Tina
Liebe Liebste,
es ist ja schon etwas
merkwürdig, neben Dir
zu sitzen und eine Karte
an Dich zu schreiben.
Will nur sagen, daß Mexico
ohne Dich nur die Hälfte
wert gewesen wäre. Vielleicht
sogar nur ein Drittel.
Dein Dich liebender
Hausmann
Liebste,
bestimmt erinnerst Du Dich
nicht mehr, daß wir in einer
Stunde nach Fredericksburg
fahren. Hinter uns eine kleine
Herde Studenten, die sonst
ja nichts vom Leben haben hier;
vor uns die Aussicht auf gutes
richtiges Brot, das mir das
zweitwichtigste Lebensmittel
in Austin ist, weit nach Dir.
Während ich unterschreibe, sehe
ich, wie Du Dich schminkst.
Jurek
Ihr Lieben, in der letzten Nacht ist recht nah
bei uns ein Tornado vorbeigezogen. Andauernd
haben sie im Fernsehen die Football-Übertra-
gung unterbrochen, Bilder von den zerstörten Häu-
sern gezeigt und die Zahl der Toten und Verletzten
genannt. Schließlich wurden wir aufgefordert, in
unsere Shelter zu gehen. Wir haben im Wörterbuch
nachgesehen, was ›shelter‹ bedeutet (Schutzraum)
und dann festgestellt, daß wir keinen haben. Da
haben wir den Fernseher ausgemacht und die
halbe Nacht Backgammon gespielt. Christine hat
gewonnen. Ihr seht, es ist nicht alles erfreulich,
was in Amerika geschieht.
Die liebsten Grüße – Jurek + Tina
Ihr Lieben,
gerade habe ich mit Dir, Burgel,
telefoniert, und da ist mir etwas
Seltsames klargeworden. Du sagtest,
es sei noch keine Post von mir da, und
mir war zumute, als hätte ich schon
hundertmal geschrieben. Das liegt an
meiner ausgeprägten Phantasie: Weil
ich schon so oft mit dem Schreiben an
Euch in Gedanken beschäftigt war,
habe ich mir eingebildet, es wäre schon
getan. Für einen Schriftsteller mag diese
Einbildungskraft gut sein, für einen
Freund ist sie es nicht.
In Liebe – Jurek
Ihr Lieben,
an der Washington-University in
St. Louis hat Christine gestern Professor
Egon Schwarz2 getroffen, einen höchst
imposanten Mann, der uns erzählte, daß
er kürzlich wegen einer Festschrift bei
Dir, Robert, in Tübingen gewesen ist.
Überhaupt kennen alle hier Niemeyer3
und keiner Becker, und allmählich
stelle ich mir die Frage, wo das
einmal enden wird. Ansonsten sind
wir gezwungen, eine Million Sehenswür-
digkeiten in einer Stunde zu besichtigen,
was Eurer Tochter erstaunlich gut gelingt.
Mit viel Herz – Jurek + Eure Tina
Ihr Lieben,
die ständigen Briefe und Karten und
Päckchen und Anrufe Burgels haben
mir schlagartig klargemacht, was im
Jahre 48 die Luftbrücke für die West-
Berliner bedeutet hat. Seitdem kann
doch passieren, was will – die Berliner
werden den Amis immer dankbar sein
und sie lieben. Genauso geht es nun
auch uns, bloß daß es sich nicht um
die Amis handelt, sondern um das
Burgelschätzchen. Kann es einen
schöneren Unterschied geben?
Umarmungen v. Jurek + Christine
Übrigens kam die Reinemachefrau nicht kurz
nach dem Brief, sondern sie war kurz vorher da.1