Ambivalenz und Glaube - Michael Klessmann - E-Book

Ambivalenz und Glaube E-Book

Michael Klessmann

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Beschreibung

Die Postmoderne ist charakterisiert durch ein "Ende der Eindeutigkeit" (Zygmunt Bauman). Auf die ständige Begegnung mit Vielfalt (Ambiguität) in den gegenwärtigen pluralen Lebenskontexten müssen Menschen mit der Fähigkeit zur Ambivalenz, der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Gefühle und Gedanken, reagieren. Auch der Glaube, die religiöse Einstellung ist davon betroffen. Psychologische und soziologische Ambivalenzkonzepte sowie anthropologische und hermeneutische Beobachtungen legen es nahe, Ambivalenzen im Vollzug und im Blick auf die Inhalte des Glaubens aufzuspüren und für die Praxis des Glaubens, für die Praxis der Kirche fruchtbar zu machen. Ambivalenz bezeichnet nicht länger einen zu überwindenden Makel, sondern eine Ressource für Kreativität auch im Glauben. Ein Literaturverzeichnis zu dem Band finden Sie unter "Zusatzmaterialien" auf der Verlagshomepage.

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Michael Klessmann

Ambivalenz und Glaube

Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss

Verlag W. Kohlhammer

Meinen Kindern

Jens, Maria und Mirjam

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034455-6

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-034456-3

epub: ISBN 978-3-17-034457-0

mobi: ISBN 978-3-17-034458-7

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Die Postmoderne ist charakterisiert durch ein 'Ende der Eindeutigkeit' (Zygmunt Bauman). Auf die ständige Begegnung mit Vielfalt (Ambiguität) in den gegenwärtigen pluralen Lebenskontexten müssen Menschen mit der Fähigkeit zur Ambivalenz, der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Gefühle und Gedanken, reagieren. Auch der Glaube, die religiöse Einstellung ist davon betroffen. Psychologische und soziologische Ambivalenzkonzepte sowie anthropologische und hermeneutische Beobachtungen legen es nahe, Ambivalenzen im Vollzug und im Blick auf die Inhalte des Glaubens aufzuspüren und für die Praxis des Glaubens, für die Praxis der Kirche fruchtbar zu machen. Ambivalenz bezeichnet nicht länger einen zu überwindenden Makel, sondern eine Ressource für Kreativität auch im Glauben.

Prof. em. Dr. Michael Klessmann lehrte Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und ist Lehrsupervisor in der DGfP.

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Glaube – Zweifel – Ambivalenz

1.  »Es wackelt alles« (Ernst Troeltsch)

2.  Glaube als Vertrauen und fraglose Gewissheit?

3.  Zweifel/Anfechtung im Glauben

4.  Glaubensambivalenz: »Zum Amen gehört das Aber«

5.  Zielsetzung des Buches

Teil I: Psycho-soziale Perspektiven

1.  Das Ende der Eindeutigkeit

1.1  Ambivalenz als Signatur der Postmoderne

1.2  Fundamentalismus als Gegenbewegung

1.3  Das Ende der Eindeutigkeit auch im Glauben?!

2.  Ambivalenz und Ambivalenztoleranz: psychologische Aspekte

2.1  Zur Vorgeschichte in Mythologie und Literatur

2.2  Eugen Bleuler (1857–1939)

2.3  Carl Gustav Jung (1875–1961)

2.4  Sigmund Freud (1856–1939)

2.5  Psychoanalytische Entwicklungspsychologie

2.6  Else Frenkel-Brunswik und die Ambivalenztoleranz

2.7  Kommunikation und Ambivalenz

2.8  Schluss: Ambivalenztoleranz als Autonomiegewinn und Quelle von Resilienz

3.  Soziologische Aspekte der Ambivalenz

3.1  Individualisierung als Voraussetzung von Ambivalenzwahrnehmung

3.2  Soziale Strukturen generieren Ambivalenz

3.3  Ambivalenz als Oszillieren

3.4  Gesellschaftliche Abwehr von Ambivalenz

3.5  Thesen: Ambivalenz gestalten

3.6  Exkurs: Zum Umgang mit strukturell bedingter Ambivalenz am Beispiel der Krankenhausseelsorge

4.  Der Mensch im Widerspruch: Anthropologische Grundlagen von Ambiguität und Ambivalenz

4.1  Der Mensch als Leib und Seele

4.2  männlich – weiblich – transgender

4.3  Der Mensch als Individuum in der Gesellschaft

4.4  Der Mensch zwischen Abhängigkeit und Streben nach Autonomie

4.5  Der Mensch als dialogisches Wesen

4.6  Der Mensch als Konfliktwesen

4.7  Der Mensch zwischen Sein und Sollen

4.8  Die vieldeutige Sprache des Menschen

4.9  Schluss

Teil II: Theologische Perspektiven

5.  Die Dynamik des Glaubens – aus entwicklungspsychologischer Sicht

5.1  Glaube und »die Modernisierung der Seele«

5.2  Glaube und die Einsichten der Entwicklungspsychologie

5.3  Zusammenfassung

6.  Theologische Hermeneutik: Ambiguitäten und Ambivalenzen in Auslegungsvollzügen

6.1  Glaube als deutende Antwort auf Erfahrung

6.2  Überlieferung und Auslegung

6.3  Die Ambivalenz des Hörens auf die Worte der Schrift

6.4  Die Notwendigkeit der Auslegung

6.5  Die Wertschätzung der Vieldeutigkeit: Rabbinische Schriftauslegung

6.6  Die Tendenz zur Eindeutigkeit: Christliche Textauslegung

6.7  Verlust und Wiedergewinn der Glaubensambivalenz

7.  »Ich glaube, dass ich glaube« – Ambiguitäten und Ambivalenzen im Vollzug des Glaubens (fides qua creditur)

7.1  Glaube: Überzeugungen/Deutungen/Annahmen über die Wirklichkeit

7.2  Glaube und Religion

7.3  Glaube und (Symbol-)Sprache

7.4  Glaube und Erfahrung

7.5  Glaube und Denken/Wissen/Lernen

7.6  Glaube und Meinen/Annehmen/Vermuten/Für-wahr-halten

7.7  Glaube und Vertrauen

7.8  Glaube und Gefühl

7.9  Glaube und Angst

7.10  Glaube – Liebe – Hoffnung

7.11  Glaube und Gewissheit/Sicherheit

7.12  Glaube und Gehorsam/Sich Ergeben

7.13  Glaube und Entscheidung

7.14  Glaube und Bekenntnis

7.15  Glaube und Gebet

7.16  Glaube und Zweifel/Anfechtung

7.17  Glaube und Handeln

7.18  Fazit: »Ich glaube, dass ich glaube« (Gianni Vattimo) oder die Poesie des Glaubens

8.  Woran/was glaube ich eigentlich? Ambiguitäten und Ambivalenzen der Glaubensinhalte (fides quae creditur)

8.1  Menschen glauben an Gott – und können »IHN« prinzipiell nicht erkennen

8.2  Die Vielzahl der Gottesbilder und das Bilderverbot

8.3  Der verborgene und der offenbare Gott

8.4  Der zornige und der liebende Gott

8.5  Der dreieine Gott

8.6  Der historische Jesus und der geglaubte Christus

8.7  Der Geist weht, wo er will

8.8  Sichtbare und unsichtbare Kirche

8.9  Eschatologie: Hoffnung auf Erlösung von allen Ambivalenzen?

8.10  Der Mensch als Sünder und Gerechtfertigter zugleich

8.11  Fazit: Die Notwendigkeit offener, ambiguitärer Konstrukte von Gott und vom Menschen

Teil III: Ambivalenz im Glaubensleben

9.  Ein Lob der Ambivalenz: für einen lebendigen, widersprüchlichen und konfliktfreudigen Glauben in Theologie und Kirche. Oder: Vom »entweder – oder« zum »sowohl – als auch«

9.1  Produktive Glaubens-Ambivalenz

9.2  Religiöse Identität im Zeitalter des Chamäleons

9.3  Ambivalenzen des Glaubens – noch einmal anders

9.4  Ambivalenz in Gotteserfahrungen – Zuspitzungen aus der Theologiegeschichte

9.5  Glaubensambivalenz in der Praxis der Kirche

9.6  Glaubensambivalenz individuell wahrnehmen und gestalten

9.7  Schluss: Die »Mystik« der Ambivalenz

Vorwort

Über den eigenen Glauben zu reden, ist schwierig; selbst theologisch-kirchliche Profis geraten ins Stocken, wenn man von ihnen erwartet, dass sie aus dem gelernten akademisch-dogmatischen Sprachspiel aussteigen und persönlich reden sollen. Glaube, die Inhalte, auf die er sich bezieht, und seine Ausdrucksformen, sind etwas geradezu Intimes – Manche haben behauptet, dass es den Zeitgenossen gegenwärtig leichter fällt, über Sexualität zu reden als über Religiosität. Der Herausgeber der Beilage der Neuen Zürcher Zeitung zum Thema Atheismus vom Dezember 2014 schreibt einleitend: »Im Vorfeld dieses Heftes haben wir viele Leute gefragt, ob sie an Gott glaubten. Die Antwort lautete manchmal Ja und manchmal Nein, meistens aber, ›es kommt ganz darauf an, was mit Gott gemeint ist und was mit Glauben‹. Es folgten meist Beschreibungen, die mit der Länge nicht an Klarheit gewannen.«1

Die Schwierigkeit, über Glauben/Religiosität/Spiritualität zu reden, hat neben allen Veränderungen im gesellschaftlichen Stellenwert von Religion und Kirche auch mit dem Phänomen Ambivalenz zu tun. Ähnlich wie die Liebe ist Glaube fast immer hoch ambivalent besetzt. Da möchte einer an Gottes Güte glauben – die grausamen Lebensverhältnisse in vielen Teilen der Welt oder im persönlichen Umfeld lassen keine Güte erkennen. Da ist eine im christlichen Glauben seit Jahrzehnten heimisch – auf einer Weltreise lernt sie andere Religionen kennen, ist beeindruckt, neugierig auf das Fremde, und verwirrt. Da betet einer inbrünstig um Heilung seines kranken Kindes und muss erschüttert zusehen, wie das Kind stirbt. Die Welt erscheint überwiegend gnadenlos: Kirchliche Verkündigung übertüncht oftmals die Abgründe, die sich hier auftun, viel zu schnell mit floskelhaft klingendem Reden von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Diejenigen dagegen, die von solchen Zwiespältigkeiten direkt betroffen und beunruhigt sind, wissen oft nicht, was das für ihren Glauben bedeutet, wie sie darauf antworten können.

Die Konflikte zwischen Welterfahrung und Gotteserfahrung sind natürlich nicht neu, sie werden jedoch zunehmend als unversöhnlich wahrgenommen, weil es keine alles tragende und verbindende religiöse Basis mehr gibt. Religion ist schon lange nicht mehr, wie es der Soziologe Thomas Luckmann formuliert hat, der alles überwölbende und zusammenhaltende Baldachin, schon lange nicht mehr gesellschaftlicher Kitt und selbstverständliche Sinn-Ausstattung von Menschen in der postmodernen Gesellschaft; Religiosität/Glaube ist zu etwas geworden, das ständig neu und in Auseinandersetzung mit allen möglichen weltanschaulichen Orientierungen und gegen den Augenschein der Brutalität unserer Lebensverhältnisse angeeignet und vorläufig und tastend zum Ausdruck gebracht werden muss. Glaube(n) (als Substantiv und als Verb) ist in der Gegenwart anspruchsvoller und schwieriger geworden.

Meine These in diesem Zusammenhang lautet: Der Begriff des Glaubens muss in postmodernen Zeiten erweitert und differenzierter gedacht werden. Die bisherigen Konnotationen des Glaubens im religiösen Verstehenszusammenhang – Vertrauen, Gewissheit, Festigkeit, Sicherheit, im Bild gesprochen: Der Fels in der Brandung – passen zum einen nicht mehr zu einer Welt, die in zunehmendem Maß durch Flexibilität, Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit gekennzeichnet ist; und sie passen zum anderen nicht mehr zu einer Welt, in der uns durch die Medien die Abgründe und Gewaltzusammenhänge des Lebens täglich so drastisch vor Augen geführt werden, dass man die krassen Widersprüche zwischen einem christlichen Wirklichkeitsverständnis und unserer Lebensrealität immer weniger übersehen und ausblenden kann. Was in der Vergangenheit im Verständnis des Glaubens als zu überwindende Ausnahmeerscheinung galt – Zweifel, Unsicherheit, Anfechtung angesichts der Weltverhältnisse – muss inzwischen als »normaler«, dauerhafter, ja als notwendiger Bestandteil des Glaubens gelten. Ambivalenz, die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Gedanken und Gefühle, bezeichnet ein universales Grundmuster unseres gesamten seelischen und sozialen Lebens, sie gehört, wenn denn Glaube ein Akt der ganzen Person ist, natürlich auch mitten in den Glauben hinein. Nicht Glaubensgewissheit ist das erstrebenswerte Ziel, sondern ein flexibler und kreativer Umgang mit den unvermeidlichen Glaubensambivalenzen. Glaubensambivalenz bezeichnet dann auch nicht länger einen Makel, ein Defizit, sondern eine Fähigkeit und eine Bereicherung, ja eine Notwendigkeit: Wer in der Lage ist, die unterschiedlichen Seiten seiner Glaubensambivalenz angesichts der höchst widersprüchlichen Weltverhältnisse wahrzunehmen und in ihren verschiedenen Bedeutungen genauer zu erkunden, kann sich bereichert und angeregt fühlen, was nicht ausschließt, dass man sich natürlich zeitweise auch verwirrt und belastet erlebt. In dieser Mischung entspricht Glaube der Vielfalt des Lebens: Es öffnen sich neue, kreative, unerwartete Perspektiven und erweiterte Handlungsspielräume. In der Ambivalenz kommt Glaube in Kontakt mit dem ganzen Leben, mit seinen Schönheiten und mit seinen Grausamkeiten.

Die These soll plausibilisiert werden (nach einer Darstellung der psychologischen und soziologischen Begriffsentwicklung) mit exemplarischen Durchgängen durch Anthropologie, Entwicklungspsychologie, Hermeneutik und Theologie – Redundanzen bleiben da nicht aus. Es soll gezeigt werden, wie sowohl im Vollzug des Glaubens (fides qua creditur) als auch in seinen Inhalten (fides quae creditur) Ambiguität und Ambivalenz angelegt sind und, nachdem sie in der Kirchen- und Dogmenschichte weitgehend ausgeschlossen und verdrängt wurden, in der Gegenwart als solche neu entdeckt und gewürdigt werden sollten. Ein lebendiger, »zeitgemäßer« Glaube ist kaum denkbar ohne angemessene Berücksichtigung der Zwiespältigkeiten, mit denen er ständig zu tun hat und in denen er Ausdruck findet. Das Ambivalenzkonzept bietet ein Prisma an, durch das viele theologische Themen in einem neuen Licht erscheinen. Im letzten Kapitel versuche ich vorzustellen, wie dann ein bewusster Umgang mit Ambivalenzen die kirchliche Praxis bereichern kann.

Pastoralpsychologie ist mir bei diesem Unternehmen als Grundperspektive sehr hilfreich gewesen: Der kritisch-empirische Blick auf die Phänomene, psychologisch und soziologisch inspiriert, unterwandert theologisch-dogmatische Aussagen, die mit unserer Lebenswirklichkeit (Stichwort »Das Ende der Eindeutigkeit«, Zygmunt Bauman) anscheinend nicht mehr viel zu tun haben.

Einer Reihe von Kollegen und Kolleginnen, die Teile meiner Texte gelesen, mich mit meinen eigenen Ambivalenzen ermutigt und sich auf anregende Diskussionen eingelassen haben, danke ich herzlich: Dr. Thomas Beelitz, Dr. Anna Christ-Friedrich, Dipl. psych. et theol. Elisabeth Hölscher, Dipl. päd. Sabine Hufendiek, Dr. Frieder Stängle.

Ich danke Dr. Sebastian Weigert vom Kohlhammer-Verlag, der mir wichtige Anregungen zur Fertigstellung des Manuskripts vermittelt hat und Daniel Wünsch für sorgfältiges Korrekturlesen.

Der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) danke ich für einen Druckkostenzuschuss.

Ansbach/Berlin im November 2017

Einleitung: Glaube – Zweifel – Ambivalenz

»Ich bin ein Atheist von Gottes Gnaden.«

(Klaus Maria Brandauer)

1.  »Es wackelt alles« (Ernst Troeltsch)

»Meine Herren, es wackelt alles«, rief Ernst Troeltsch im Jahr 1896 einer Versammlung der »Freunde der christlichen Welt« zu.1 Theologie, Dogmatik, Glaube – alles war und ist in den Sog des Historismus geraten. Die sog. »ewigen Wahrheiten« gibt es nicht in ewig-unveränderlicher Art und Weise, sondern nur in historischer und damit ständig sich wandelnder Gestalt. In jeder Epoche und Kultur interpretiert man die antiken Texte je anders. Eine Kulturgeschichte des Christentums, wie sie Jörg Lauster im Jahr 2014 vorgelegt hat, illustriert diesen Prozess im Gang durch die Jahrhunderte eindrücklich.2

Exemplarisch zeigt sich der Transformationsprozess des christlichen Glaubens in dem, was Adolf von Harnack »Hellenisierung des Christentums« genannt hat. Harnacks These: Das spätere Christentum hat sich mit der Übernahme hellenistisch-philosophischer Denkweisen von den einfachen jesuanischen Ursprüngen in Palästina entfernt. Diese These ist im Detail strittig; unstrittig ist, dass sich gerade in den ersten zwei Jahrhunderten eine tiefgreifende Verwandlung der christlichen Religion vollzog: »Die ursprünglich ländlich geprägte, innerjüdische Jesusbewegung kam mit großstädtischem Milieu und hellenistischer Kultur in Berührung.«3 Der aramäisch sprechende Wanderprediger Jesus von Nazareth rief Menschen in seine Nachfolge, sie sollten seine Schüler werden, mit ihm herumziehen und das Reich Gottes verkündigen (vgl. Mk 1,16ff.). Wie sollte dieses Muster der Nachfolge an anderen Orten, in anderen Milieus, in den damaligen Großstädten Korinth, Athen oder Rom Gestalt gewinnen? Die unmittelbare Präsenz Jesu wandelte sich »zu einem Existenzgefühl der Gegenwart Christi;«4 vor allem Paulus hat die Veränderungen theologisch entfaltet und auf diese Weise aus der innerjüdischen Reformbewegung die Anfänge einer christlichen Kirche entwickelt. Der Prozess der Umwandlung wurde nötig und möglich durch den Übergang von der aramäischen Sprache und ländlichen Vorstellungswelt der ersten Jesusüberlieferungen zur griechisch-städtischen, philosophisch geprägten Sprache und Denkweise. Anders gesagt: Der Glaube der ersten Jünger Jesu hat eine deutlich andere Gestalt als der des pharisäisch gebildeten römischen Bürgers Paulus und seiner Anhänger in Korinth oder Rom.

Vergleichbare Transformationsprozesse und Differenzierungen hat es immer wieder in der Geschichte des Christentums gegeben, etwa durch die Missionsarbeit angelsächsischer Mönche in Nordeuropa im 8. und 9. Jahrhundert, durch die eigenständige Entwicklung von orthodoxen Kirchen und westlichen Kirchentümern ab dem 11. Jahrhundert, durch die Ausbreitung der protestantischen Reformation im 16. Jahrhundert, durch die Entstehung von Missionskirchen in Asien, Afrika, Süd- und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert, durch die Vervielfältigung von sog. Freikirchen überall auf der Welt, und neuerdings durch die Verbreitung von Kenntnissen und Praktiken anderer Religionen, die wiederum die Gehalte des Christentums tangieren und verändern.

Das bedeutet für den vorliegenden Zusammenhang: Die christliche Religion stellt sich seit ihren Anfängen als ein hoch plurales Gebilde dar.5 Ihre Lehren, Rituale, Ordnungen und Ämter fallen je nach Standort (Palästina, Athen, Rom, Ägypten oder …) und historischer Epoche (erstes, zweites oder sechzehntes oder 20. Jahrhundert) z. T. sehr unterschiedlich aus; und es ist nicht einfach, diese unterschiedlichen Erscheinungsbilder in einer Glaubensgestalt wiederzuerkennen und zusammenzuhalten. Zwar beziehen sich alle Formen christlicher Kirchen und Gruppen auf den als Messias, als Christus, als Sohn Gottes geglaubten Jesus von Nazareth, aber die Art und Weise dieser Bezugnahme fällt wiederum so unterschiedlich aus, dass die Gemeinsamkeiten eher formaler Natur zu sein scheinen. Was heißt es denn, wenn man sagt »ich glaube an Jesus Christus«, wenn man seine Bedeutung so unterschiedlich verstehen kann? Immer wieder gab und gibt es Versuche, durch Bekenntnisformulierungen die Einheit der verschiedenen dogmatischen Richtungen und Kirchentümer wieder herzustellen und zu wahren (altkirchliche Bekenntnisse, reformatorische Bekenntnisschriften, Barmer Bekenntnis, Leuenberger Konkordie u. v. a.); doch solche Bekenntnisformulierungen werden nach einer gewissen Zeit und in veränderter Umgebung wieder interpretationsbedürftig, führen wieder zu neuen Auslegungen und neuen Gruppenbildungen.

Diese ständige Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung des Christentums ist nicht als Verfallsprozess zu werten, sondern ergibt sich von Anfang an aus der Gestalt des biblischen Kanons. Die Vielfalt der Schriften und Schriftgattungen im Judentum und im frühen Christentum begründet die Differenzierung von Glaubensinhalten, Glaubensformen und späteren Kirchentümern (► ausführlicher Kap. 6). Der ständige Streit um einen »Kanon im Kanon«, um eine Richtschnur des Glaubens, muss als offenbar immer neu notwendig werdender Versuch verstanden werden, die große Vielfalt der theologischen Narrative zu vereinheitlichen und von einem gemeinsamen Zentrum aus zusammenzubinden. Das konnte immer nur begrenzt und vorläufig gelingen, weil die Quellen selbst (und damit die verschiedenen Glaubenseinstellungen) so unterschiedlich ausfallen: »Der biblische Kanon enthält einige unbequeme theologische Querdenker und z. T. schockierende Sonderlinge.«6 Ambiguität der religiösen Inhalte und Vollzüge und Ambivalenz als Reaktion auf diese Vielfalt sind also von Beginn an im Christentum angelegt.

Die Ausdifferenzierung des Christentums radikalisiert sich in der Postmoderne. Als deren wichtigstes Kennzeichen kann man die fundamentale Pluralisierung aller Lebensbereiche und das Ende aller Eindeutigkeiten ansehen. Diese Pluralisierung stellt höchst widersprüchliche Anforderungen an die Menschen, die in den westlichen Gesellschaften leben (► ausführlicher dazu Kap. 1.). Die Begegnung mit Ambiguität ist der alltägliche Normalfall.

Ambiguität bezeichnet »die real erfahrene Welt in ihrer Vieldeutigkeit, Dynamik, Komplexität, in ihrem Reichtum, aber auch ihrer Abgründigkeit. Ambiguität ist zugleich Bedingung von lebendiger Differenziertheit und Leiden an der Weltwirklichkeit.«7Ambivalenz ist die Reaktion auf diese Vieldeutigkeit und Komplexität: Zustimmung und Ablehnung, sich angezogen fühlen vom Reichtum der Differenziertheit und abgeschreckt werden von der Abgründigkeit der Vielfalt.

Wir sind ständig widersprüchlichen Informationen ausgesetzt, deren Gültigkeit und Seriosität wir nicht nachprüfen können (z. B. in welchem Maß sind Nahrungsmittel gesundheitsförderlich oder -schädlich? Was können oder sollten wir als Einzelne und als Staat gegen den Klimawandel tun – wenn es ihn denn tatsächlich gibt? Etc.); in vielen Lebensbereichen stehen uns unterschiedliche Handlungsoptionen offen, die man oft nicht eindeutig mit Zustimmung oder Ablehnung beantworten kann, weil man mehrere gleichzeitig für berechtigt und legitim hält; trotzdem müssen wir Entscheidungen treffen, deren Begrenztheit und Vorläufigkeit wir gleichzeitig ahnen. In diesem Sinn löst die Pluralisierung aller Lebensbereiche ständig Ambivalenzen aus: Gleichzeitig erleben wir Ja und Nein, Zustimmung und Unsicherheit, Akzeptanz und Vorbehalt im Blick auf viele Phänomene unseres Alltagslebens.

Von diesen Prozessen der Begegnung mit Ambiguität und den dazugehörigen Ambivalenzen sind natürlich auch die Religionen betroffen. Schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus, und spätestens seit der Reformation, ist das eine Christentum nur noch in der großen Zahl von Christentümern und damit in der Vielzahl von kollektiven und individuellen Glaubensgestalten und Glaubensmöglichkeiten erkennbar. Es gibt nicht mehr nur eine Wahrheit, der man in der Regel zustimmt, sondern eine Fülle von konkurrierenden Wahrheitsansprüchen, bei denen man nicht mehr so recht weiß, wie man sich zu ihnen verhalten soll. Glaube und religiöse Identität werden zunehmend weniger durch eine fest geprägte Sozialisation vermittelt, man wächst kaum noch in ein selbstverständliches, vertrautes religiöses Milieu hinein; man muss sich im ständigen Dialog, in Auseinandersetzung mit eigenen und fremden religiösen Traditionen und wie sie von Anderen rezipiert werden, zunehmend auch mit kritischen agnostischen Fragen, eine eigene Haltung im wahrsten Sinn erarbeiten – oder es bei einer eher oberflächlichen religiös-kirchlichen Zugehörigkeit belassen. In den USA kann man diesen Differenzierungsprozess in der nicht mehr überschaubaren Zahl von einzelnen Kirchen (die wir in Deutschland Freikirchen nennen) besichtigen, in Deutschland verdeckt die Organisationsform der Landeskirchen und Diözesen diese gleichwohl vorhandene Vielfalt.

Glaube an Gott oder an ein Göttliches gibt es immer nur verwoben in vorgegebene historisch-kulturelle Weltsichten;8 dadurch gewinnt dieser Glaube unvermeidlich höchst unterschiedliche Gestaltungen und Ausdruckformen. Der Glaube eines befreiungstheologisch inspirierten Katholiken in Brasilien hat wenig gemein mit dem eines deutschen Katholiken in einer Kleinstadt in Bayern; ein reformiert erzogener Schweizer wird sich schwer tun mit den religiösen Anschauungen eines hochkirchlichen Lutheraners in der hannoverschen Landeskirche; eine engagierte Quäkerin aus Kalifornien hat wenige spirituelle Berührungspunkte mit einer englischen Anglikanerin etc. Und doch nennen sie sich alle Christinnen und Christen. Was bedeutet das? Zusätzlich stoßen sie auf Konzeptionen und Wahrheitsansprüche anderer Religionen, esoterischer und atheistischer Orientierungen; auch solche Begegnungen und Informationen gehen nicht folgenlos an ihnen vorbei.9

Glaube wird also höchst unterschiedlich verstanden, zum Ausdruck gebracht und gelebt;10 die klassischen Kriterien und Orientierungspunkte des christlichen Glaubens, Bibel und Tradition (in Gestalt altkirchlicher und reformatorischer Bekenntnisse oder des Lehramts in der katholischen Kirche), sind wiederum Gegenstand der Auslegung, so dass man aus dem Zirkel der Pluralität des Glaubens nicht heraus kommt.

Was bedeutet dieser Sachverhalt für die Gewissheit des Glaubens? Ist es angesichts der angedeuteten Pluralität des Glaubens überhaupt noch möglich und sinnvoll, von einer solchen Gewissheit zu sprechen? Ist es sinnvoll zu postulieren, der Glaube beruhe »allein auf der göttlichen Heilszusage«,11 wie es in traditioneller theologischer Diktion heißt? Diese Zusage, ihr Inhalt, Ihre Bedeutung, wird doch auch »nur« in menschlichen Worten und variierenden Traditionen zum Ausdruck gebracht, bleibt also strittig. Gibt es noch den einen »einigen Trost im Leben und im Sterben«, wie es der Heidelberger Katechismus formuliert hat? Oder ist der ständige Streit um die Wahrheit, das Ringen um Wahrheit und Verlässlichkeit, unvermeidlich, und nicht nur den akademischen Theologen, sondern auch den »normalen« Christenmenschen zuzumuten? Gibt es eine Gewissheit des Glaubens, die wie der Fels in der Brandung der gesellschaftlichen Pluralität und Relativität unerschütterlich fest steht, oder muss man den Glauben angesichts dieser Entwicklungen nicht vielmehr als ein ständiges Weben und Verknüpfen eines Netzes von unterschiedlichen inhaltlichen Fäden zu einem bunten, sich immer wieder verändernden Flickenteppich verstehen? Ist nicht auch Glaube ein Phänomen, das wie ein patchwork überall von Ambivalenzen durchzogen ist? In dem sich Gewissheit und Unsicherheit, Zustimmung und Ablehnung, Vertrauen und Misstrauen ständig abwechseln und einander herausfordern?

Das mag anstrengend klingen, zugleich könnte es eine Chance, eine kreative Bereicherung sein, die den Glauben immer neu lebendig werden lässt, ihn vor bequemen und geistlosen Routinen schützt und ihn anschlussfähig an zeitgenössisches Welterleben macht. Das Verständnis des Glaubens könnte so erweitert werden durch das Prisma der Ambivalenz.

2.  Glaube als Vertrauen und fraglose Gewissheit?

Glaube kann man als Kern und Zentrum der meisten Religionen verstehen.12 Glaube in einem religiösen Sinn richtet sich auf ein Umgreifendes, Göttliches, Transzendentes, auf die Wirklichkeit als Ganze; Glaube hat immer den Charakter einer Beziehung:13 Menschen suchen und pflegen Kontakt, Verbindung, Kommunikation zu diesem Anderen, Größeren. Dabei korrespondiert die Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen und dem daraus resultierenden Selbstbild. Traditionell wird die Transzendenzbeziehung als Vertrauen qualifiziert, als individuelles und kollektives Überzeugtsein von der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit im Blick auf das Heilige/Göttliche (Gott ist treu, Gott hält seinen Bund etc.) oder im Blick auf die von ihm geoffenbarten und dann tradierten Schriften und die in ihnen überlieferte Wahrheit. Aus diesem Überzeugtsein resultiert Hingabe im Sinne von: Sich davon in der Lebensführung und Lebensgestaltung bestimmen lassen.

Menschen leben von Beziehungen auf verschiedenen Ebenen: Zentral ist die Beziehung zu signifikanten Anderen wie Eltern oder Geschwister (1); Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung zeigen eindrücklich, wie zur psychosozialen Entwicklung und Identitätsbildung eines Kindes verlässliche und einfühlsame Bezugspersonen unabdingbar sind. Der Radius der Beziehungen weitet sich im Lauf der ersten Jahre (2), es kommt zu einem lebendigen Austausch mit der jeweiligen Umwelt, deren Bedingungen und Vorgaben (Geographie, Klima, Gesellschaft, Kultur). In diesen Prozessen bildet sich eine Beziehung zu sich selbst (3), die Fähigkeit, sich selbst reflektierend wahrzunehmen, zu sich selbst auf Distanz zu gehen und sich zu sich selbst zu verhalten (Selbst-Bewusstsein). Dabei entwickelt sich möglicherweise auch eine Beziehung zu einem Umgreifenden (4), zu einem Transzendenten auf der Grundlage der wiederholten Erfahrung, dass wir unser Leben nicht uns selbst verdanken, sondern einem Größeren, das uns trägt, herausfordert oder auch bedroht. Religion oder eine religiöse Haltung stellt so gesehen ein System von Deutungen dieser grundlegenden Lebenserfahrungen dar – Deutungen, die uns in der Regel von anderen nahe gebracht werden.14

Die vier genannten Beziehungsebenen sind jede für sich geprägt, wie die zugrundeliegenden zwischenmenschlichen Beziehungen, von Vertrauen und Misstrauen, Liebe und Hass, Angst und Zuversicht, Hoffnung und Niedergeschlagenheit, Offenheit und Verschlossenheit, dem Wunsch nach Nähe und nach Distanz. Eindeutigkeit, Unzweideutigkeit, Gewissheit gibt es immer nur höchst begrenzt.

Trotzdem steht in religiösen Sprachspielen Vertrauen ziemlich ausschließlich im Zentrum des Verständnisses des Glaubens. Wilfried Härle definiert Vertrauen folgendermaßen: »›Vertrauen‹ meint das Sich-bestimmen-lassen eines Menschen zur Hingabe an ein Gegenüber in der Hoffnung auf Gutes.«15 Bei Gerhard Ebeling heißt es: Glaube meint »ein Sich-Verlassen auf den extra se liegenden Existenzgrund, … ein Sich-gründen-Lassen in dem, was die Existenz gründet und ihr Bestand gibt.«16 Es geht also immer um eine dreistellige selbstreflexive Relation: Im Vertrauen auf jemand anderen oder etwas anderes außerhalb meiner selbst gewinne ich eine veränderte Einstellung zu mir selbst und zu meiner Welt.

Im hebräischen Sprachraum des AT bedeutet der Wortstamm aman, der die Grundlage für das christliche Glaubensverständnis abgibt, zuverlässig sein, treu sein;17 dieses Verhalten kann sich auf Menschen beziehen (z. B. 1 Sam 22,7 »wer ist so treu wie David?«) oder auf Gott (»der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält …« Dtn 7,9) oder auf bestimmte als Wahrheit verstandene Inhalte (»Ich glaube deinen Geboten« Ps 119, 66). Glaube bezeichnet hier eine vertrauensvolle Beziehung, ein Sich-verlassen-auf …, im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch, der glauben als »nicht so genau wissen« qualifiziert. Stellenweise wird für diese vertrauensvolle Grundhaltung nicht einmal ein Objekt genannt: »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht« (Jes 7,9); »wer glaubt, flieht nicht« (Jes. 28,16). Man muss das wohl so verstehen, dass es im Glauben um eine bestimmte Ausrichtung der ganzen Existenz geht – im Gegenüber zu einem Göttlichen, zu einem »transobjektiven Objekt«,18 zu einer Wahrheit, die als so eindeutig vorausgesetzt wird, dass sie nicht extra benannt werden muss.

Dieses Glaubensverständnis wird gesteigert, wenn von Glaubensgewissheit die Rede ist, wie es Gesangbuchlieder in besonders pointierter Weise tun: »Jesus lebt! Ich bin gewiss … (EG 115,5); »ich glaub, und bin es ganz gewiss …« (EG 530,8) oder: »Ich weiß, woran ich glaube, ich weiß, was fest besteht, wenn alles hier im Staube wie Sand und Staub verweht. Ich weiß, was ewig bleibet, wo alles wankt und fällt …« (EG 357, 1). Muss die Gewissheit so stark hervorgehoben werden, um den ständigen Anfechtungen der Ungewissheit, des Zweifels, der Ambivalenz zu entgehen?

In diesem Zusammenhang wird gelegentlich die Unterscheidung von Gewissheit (certitudo) und Sicherheit (securitas) im Glauben eingeführt:19 Sicherheit bezeichne einen Zustand, in dem der Mensch in selbstbezogener Weise sein Leben und seinen Glauben zu beherrschen meine, während Gewissheit die Erfahrung eines Beherrschtwerdens von außerhalb seiner selbst (extra nos) bezeichne. Aus psychologischer Sicht erscheint mir diese Unterscheidung schwer nachvollziehbar:20 Auch »das Beherrschtwerden von außen« muss zur inneren Haltung werden, sonst bleibt man in einer Fremdbestimmung stecken. Ist das dann Sicherheit oder Gewissheit? Interessanterweise hält auch Luther die Unterscheidung von Sicherheit und Gewissheit terminologisch nicht strikt durch.21 Im Folgenden werde ich diese Unterscheidung nicht weiter berücksichtigen.

Subjektive Gewissheit lässt sich definieren »als unerschütterliches Überzeugtsein, als Befindlichkeit des im Fürwahr- oder Fürguthalten vorbehaltlos festgelegten, vom Zweifel befreiten Bewusstseins (certitudo assensus).«22 In der Formulierung von Gerhard Ebeling: »Glaube gibt der Existenz Gewissheit, ja er ist geradezu nichts anderes als Existenz in Gewissheit. Der Glaube richtet sich darum gegen die Furcht … wie gegen den Zweifel … Glaubensgewissheit ist eine das Existieren selbst betreffende Gewissheit, ein Sichere-Schritte-Tun, obwohl kein Weg zu sehen ist, ein Hoffen, obwohl es aussichtslos ist, ein Nichtverzweifeln, obwohl es verzweifelt steht, ein Grundhaben, obwohl man ins Bodenlose tritt.«23

Auffallend ist an diesen Definitionen von Glaubensgewissheit ihr absoluter Charakter: »unerschütterlich«, »vorbehaltlos«, »vom Zweifel befreit«. Weil es eine solche Absolutheit in menschlichen Beziehungen, unter menschlichen Bedingungen nicht geben kann, wird Glaube in der Theologie nicht als menschliche Leistung, sondern als göttliche Gabe deklariert. »Der Glaube des Menschen ist Gottes Werk in ihm,«24 er wird von außerhalb (extra nos) geschenkt oder geweckt. Dem entsprechen dann auch die passivischen Formulierungen: Sich bestimmen lassen, sich gründen lassen. Glaube als vertrauensvolle Beziehung zu jemand Anderem stellt sich ein, entsteht und wächst weitgehend von allein, lässt sich nicht mit Absicht und Anstrengung herstellen oder herbeizwingen – genauso wie man Liebe nicht durch eine Willensentscheidung »machen« kann. Trotzdem ist Glaube nicht ausschließlich Gabe, er stellt sich ein »in, mit und unter« menschlicher Aktivität und Bemühung (z. B. in Gestalt von Offenheit oder Verschlossenheit für religiöse Themen und Vollzüge).25

Gerade deswegen kann man die Frage nicht abweisen, ob es denn überhaupt denkbar sei, dass sich ein Mensch völlig und unerschütterlich vom Göttlichen, von der Wahrheit bestimmen lässt, ohne sich von Furcht und Zweifel beirren zu lassen. Diese Frage ist zu stellen sowohl bezogen auf den Menschen als empirisches Subjekt des Glaubens, als auch im Blick auf das Göttliche als Ziel oder »Objekt« des Glaubens.

Auch als göttliches Geschenk fällt Glaube nicht in vollkommener Gestalt vom Himmel, sondern entsteht in einer konkreten Person, geht als Beziehung (mit all den Beziehungsvorerfahrungen, die ein Mensch gemacht hat) gleichsam durch sie hindurch und bekommt auf diese Weise seinen einzigartigen, unverwechselbaren Charakter.26 Das jeweilige religiöse Umfeld, biografische Erfahrungen, individuelle Charakterstrukturen (etwa in Anlehnung an die von Fritz Riemann beschriebenen Persönlichkeitsstrukturen27) und konkrete historisch-gesellschaftliche Bedingungen bestimmen mit, wie Glaube, wie das »Sich-bestimmen-lassen« von einem Umgreifenden jeweils Gestalt gewinnt. Entsprechend enthalten Glaube und Vertrauen unterschiedliche Schattierungen und Eigenheiten, sind stärker oder schwächer, sicherer oder unsicherer, mehr oder weniger ausgeprägt, verändern sich, je nach den Lebensumständen der Person (► Kap. 5 zur Entwicklungspsychologie des Glaubens). Und natürlich wird dann Gewissheit auch immer von unterschiedlichen Gestaltungen der Ungewissheit begleitet und in Frage gestellt.

Das hat zweitens auch mit der paradoxen Qualität des »Objekts« des Glaubens zu tun: Der Mensch glaubt an etwas, das als solches prinzipiell nicht erkannt werden kann (► ausführlicher s. u. Kap. 8); dessen Erschließung oder Offenbarung geschieht in aller Regel nicht direkt, sondern ist an zwiespältige menschliche Vermittlungsinstanzen gebunden, z. B. an die Zeugen der Auferstehung; an die von Menschen empfangenen und dann aufgeschriebenen heiligen Schriften; an das Lehramt; an die unterschiedlichen Sprachen, in denen die Offenbarung präsentiert wird. Insofern kommen Glaube/Vertrauen angesichts ihrer Vermittlungsmöglichkeiten ohne Mehrdeutigkeiten und sich daran anschließende Zweifel und Anfechtung prinzipiell nicht aus.

Diesen Zusammenhang kann man noch einmal anders verdeutlichen durch den von Gerd Theißen verwendeten Begriff der Resonanzerfahrung: In Grenzerfahrungen (Geburt und Tod, ästhetische Erfahrungen, der ethische Anspruch eines sich unbedingt verpflichtet Fühlens etc.) begegnet uns eine Wirklichkeit, die größer ist als wir, die uns anrührt, manchmal geradezu überwältigt, uns ergreift; wir nennen sie deswegen »das Heilige«, Transzendenz, Gott und setzen uns verehrend, dankend, bittend, klagend zu ihr in Beziehung. Diese »religiöse« Resonanz ist und bleibt ein Akt der Personalität des Menschen, in den seine biographisch gewordene Emotionalität, seine Vernunft und sein Wille mit einbezogen sind; als solche ist sie geprägt von den Differenzen und Ambivalenzen des Alltags. Das Ergriffenwerden trifft Person A, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in einem Arbeitermilieu groß geworden ist, eine spezifische Biografie und Persönlichkeitsstruktur entwickelt hat, anders als Person B, die in den 80er Jahren in einem bildungsbürgerlichen Umfeld aufgewachsen ist und eine ganz andere Biografie und Persönlichkeitsstruktur mitbringt. Vertrauen und Gewissheit sind deswegen zwischen den beiden Personen nie deckungsgleich, nie identisch, und das heißt auch, mehr oder weniger von Fragen, Zweifeln, Unsicherheiten und Anfechtungen durchzogen.

Zu bedenken ist auch noch die Beobachtung, dass vermeintliche Gewissheiten dazu neigen, das kritische Denken auszublenden und intolerant gegenüber anderen Überzeugungen und Gewissheiten zu sein. Allein diese Tatsache könnte davor warnen, der Gewissheit konzeptionell einen zu hohen Stellenwert einzuräumen.

Die angedeuteten Ambivalenzen des Glaubens und im Glauben werden in der theologischen Reflexion m. E. zu wenig berücksichtigt; Glaube wird aus dogmatischer Sicht als abstraktes Ideal entworfen, das mit der Realität der individuellen und kollektiven Glaubensbeziehungen wenig zu tun hat. Das verbreitete Postulat einer Glaubensgewissheit unterdrückt abweichende Meinungen und verliert damit ein Gutteil der Lebendigkeit des Glaubens. Erst Religions- und Pastoralpsychologie machen auf diese empirische, sozial-psychologisch beobachtbare Seite des Glaubens, seiner Ausdrucksgestalten und Entwicklungen, aufmerksam. Darum soll es im Folgenden gehen: die historisch-gesellschaftliche und die individuell-psychologische Realität der Glaubenden in der Reflexion dessen, was Glauben bedeuten kann, angemessen zu berücksichtigen.

Thesenartig formuliert:

Wenn Glaube aus religionspsychologischer Sicht einen Akt der ganzen Person, eine Beziehungsaufnahme zu einem umgreifenden Ganzen darstellt, dann hat er an den Ambivalenzen, welche das Erleben und die im Lauf der Biografie entwickelten Beziehungsmuster der Person prägen, grundsätzlich und immer Anteil.

Dieser Zusammenhang von Glaube und Ambivalenz ist nicht als Defizit zu deuten, sondern als Bedingung der Möglichkeit eines lebendigen, kreativen Glaubens, einer dynamischen religiösen Beziehung. Ambivalenz soll als zentraler, kreativer Grundzug des Glaubens in postmodernen Zeiten gelten. Die Aufgabe besteht darin, sie genauer zu erforschen und zu erkunden, um den Reichtum ihrer Vielfalt nutzen zu können.

3.  Zweifel/Anfechtung im Glauben

»Zweifle nicht/an dem/der dir sagt/er hat AngstAber hab Angst/vor dem/der dir sagt/er kennt keinen Zweifel«

(Erich Fried)

Das Wort Zweifel stammt von dem Althochdeutschen »zwifal« und meint, eines zweigeteilten, gespaltenen Sinnes zu sein. Zweifel bezeichnet

• zum einen den Versuch der Vernunft, alle Ergebnisse menschlicher Erkenntnis systematisch in Frage zu stellen (»de omnibus dubitandum est«, Rene Descartes) und ihre Realität oder Beweisbarkeit möglichst zu falsifizieren (wie das in den Naturwissenschaften und der Philosophie als methodischer Zweifel üblich geworden ist);

• zum anderen einen Gemütszustand, in dem ein Mensch im Blick auf andere Personen, seine Umwelt und sich selbst keine eindeutige Entscheidung treffen kann, sich unsicher fühlt, unentschlossen, ängstlich, besorgt, misstrauisch, ungläubig gegenüber dem, was ihm als vermeintlich sicher und verlässlich begegnet bzw. begegnen sollte.

Der Zweifel in beiden Bedeutungsvarianten ist die Schwester des Glaubens, so wird es in Dogmatiken immer wieder versichert;28 der Zweifel fordert den Glauben heraus, seinen Grund, seinen Anhalt plausibel und nachvollziehbar darzulegen und seine eigene Gewissheit nicht nur thetisch zu behaupten. So gesehen schützt Zweifel die Wahrheit des Glaubens vor Naivität und Leichtgläubigkeit, vor Fanatismus, Rigorismus und Fundamentalismus, stellt den Realitätsbezug des Glaubens her, macht ihn hellsichtig im Blick auf die eigene Verfasstheit und die Komplexität der Weltwirklichkeit. Glaube soll ja nicht blinder, verblendeter Glaube sein, sondern denkender, verantworteter und sich verantwortender Glaube, ein Glaube, der auch mit der Möglichkeit des Irrtums rechnet. In diesem Sinn gehört Zweifel zum Glauben dazu; Zweifel kann und soll nicht vom Glauben ausgeschlossen werden. Rein logisch setzt der Zweifel die Existenz einer Wahrheit voraus: Ich glaube an Gott, ich glaube an die Wahrheit der Schriften, die von ihm erzählen – und manchmal bezweifle ich die Gültigkeit dieser Wahrheit. In dieser Einschätzung scheint es ein Drittes, ein Schwanken und Unentschiedensein zwischen beiden Polen, nicht zu geben.

Ein solches Konzept des Glaubens kann sich aus der christlichen Überlieferung ableiten. Die Jünger Jesu, insbesondere Petrus und Thomas, werden dargestellt als Männer, die an die göttliche Vollmacht Jesu glauben, aber gelegentlich auch an ihr zweifeln (Mt 14,22–32; Mk 14,66–72; Joh 20,24–30). Die Angst des Petrus ist in der Extremsituation einer Seenot größer als sein Vertrauen (Mk 4,35–41 parr), aber er lässt sich dann überzeugen, dass sich sein schwankender Glaube doch an der Person des Jesus von Nazareth festmachen kann. Die biblischen Geschichten verschweigen den Zweifel nicht, zeigen aber auch, dass er überwunden werden sollte: Zweifel gegenüber Jesus wird wiederholt als Zeichen von Schwäche, Kleinglaube und sogar Unglaube dargestellt (z. B. Mk 4, 40), als etwas, das gemeistert werden sollte. Auch wenn Zweifel kaum vermeidbar erscheint: Er soll in einer glaubens- bzw. vertrauensvollen Beziehung nicht sein, es ist wünschenswert und Ziel der Beschäftigung mit ihm, ihn durch Gewissheit, Vertrauen und Mut zu vertreiben bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen. In dieser Traditionslinie nennt Hartmut Rosenau den Zweifel sogar, trotz grundsätzlich wohlwollender Betrachtung, ein Übel, das »als belastend, irritierend und störend empfunden wird« und deswegen überwunden werden soll.29 Und Gerhard Ebeling formuliert: »Wer zweifelt, soll so oder so nach Gewissheit trachten.«30

Damit deckt sich die biblisch-theologische Bewertung des Zweifels weitgehend mit der allgemeinen gesellschaftlichen. Im Volksmund gilt: Wer zweifelt, verliert; wer unsicher ist, hat keine Chance; im Sport, im Beruf, in privaten Beziehungen soll man entschieden und eindeutig auftreten. Zweifel, Zögern und Unsicherheit suggerieren Schwäche, die sich niemand leisten will oder kann, in einer Gesellschaft, in der vor allem der Erfolg zählt. Außerdem kostet der reflektierte Umgang mit Zweifel und Unsicherheit psychische Anstrengung, die viele als überfordernd erleben – obwohl sie gegenwärtig, in der Multioptionsgesellschaft, mehr als nötig und angemessen wäre (► vgl. Kap. 9.3.4: Ungewissheitsmanagement im Glauben).

Man kann vier Ebenen unterscheiden, auf denen sich Zweifel des Glaubens einstellen:

• Die erste ist die empirisch-vorfindliche Ebene, auf der Menschen konstatieren, dass, (mit Ernst Lange) die »Sprache der Tatsachen« der »Sprache der Verheißung« auf der ganzen Linie widerspricht. Dass da ein Gott sei, der die Welt geschaffen hat und sie mit Liebe und Barmherzigkeit trägt und lenkt, erscheint schon bei einem flüchtigen Blick auf unsere seit ihren Anfängen (vgl. Gen 6f., die Geschichte von der Sintflut) mit Ungerechtigkeit, Gewalt und Betrug angefüllte Weltwirklichkeit völlig unwahrscheinlich. Die Abgründe des Lebens und die Rede von der Güte Gottes passen nicht zusammen – und dies umso mehr, als uns durch die Medien die Brutalität des Lebens aus allen Ecken und Enden der Welt quasi auf den Leib rückt.

• Diese Sicht spitzt sich zu in der Frage nach der Theodizee: Warum gibt es Leid auf der Welt und warum müssen auch die Gerechten, die Guten, und diejenigen, die auf Gott vertrauen, leiden? Warum gibt es so schreckliches, sinnloses Leiden? Die Geschichte von Hiob erinnert daran, dass Menschen schon immer von dieser Frage bedrängt werden, dass Glaube sich ständig mit ihr auseinandersetzen muss.

• Auf einer dritten Ebene geraten die Wahrheitsansprüche der verschiedenen Religionen miteinander in Konkurrenz und relativieren sich gegenseitig. Ist der Gott Israels letztlich derselbe wie der Gott Jesu Christi oder wie Allah, der Gott des Islam, oder wie das göttliche Prinzip des Hinduismus, Brahman? Absolutheitsanspruch und Fraglosigkeit jeder einzelnen Religion geraten ins Wanken allein durch die Vielzahl der Wahrheitsansprüche.

• Und schließlich muss man in einem fundamentaltheologischen Sinn die Quellen jedes Glaubens in Zweifel ziehen: Die Quellen der Religionen beruhen auf Offenbarungen, deren Qualität und Charakter höchst anfechtbar, weil nicht wirklich nachprüfbar, erscheinen. Was haben Mose oder Paulus oder Mohammed oder Joseph Smith (der Begründer der Mormonen) tatsächlich gehört und empfangen? Welche Dignität kommt der Bibel (von der wir einigermaßen genau wissen, wie sie entstanden ist) für Christen zu oder dem Buch Mormon für Mormonen oder der Bhagavadgita für Hindus? Wovon leiten sich die Wahrheitsansprüche dieser Werke ab? Kann und soll sich darauf eine Einstellung, eine Beziehung gründen, die einen im Leben und Sterben vertrauensvoll trägt? Die Antwort kann nur sein: Wir haben den Schatz der religiösen Erfahrungen in den »irdenen Gefäßen« höchst unterschiedlichen menschlichen Für-wahr-Haltens (2. Kor 4,7), in die natürlich menschliche Vorverständnisse, Vor-Urteile und Interessen eingeflossen sind und weiterhin einfließen. Eben deshalb sind die hl. Schriften voller Mehrdeutigkeiten, Unklarheiten und Widersprüche, und jede Glaubensbeziehung, die sich auf sie gründet, wird davon betroffen.

Zweifel auf all diesen vier Ebenen spitzt sich zu zur existentiellen Anfechtung, zur Verzweiflung darüber, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, mit der Existenz eines Gottes zu rechnen. Luther unterscheidet zwei Formen der Anfechtung:31 Zum einen »das gemein creutz«, in dem Menschen durch die Erfahrungen von Krieg oder Krankheit an der Güte Gottes zweifeln; das »güldene Leiden« dagegen macht sich fest an der Verborgenheit Gottes. Hier steht Gottes Offenbarung in Christus wider seine Verborgenheit, Gott gegen Gott. Der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes droht im Strudel der Anfechtung unterzugehen. Diese Erfahrung gehört in den Glauben mitten hinein, es gibt Glaube im Sinne Luthers immer nur als angefochtenen Glauben. Anfechtung bezeichnet nicht etwas Zufälliges im Glauben, nicht etwas, das irgendwann überwunden ist, sondern eine unvermeidliche geistliche Erfahrung der »dunklen Nacht«, der »einbrechenden Erfahrung der Ohnmacht und Glaubensschwachheit«.32

Allerdings gerät das Thema der Anfechtung auch bei Luther in einen charakteristischen Zwiespalt: Auf der einen Seite betont er in der Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam energisch: »Denn ein Christ soll seiner Lehre und Sache ganz gewiss sein, oder er ist kein Christ nit … Der Heilige Geist ist kein scepticus. Er hat nit einen ungewissen Wahn in unser Herz geschrieben, sondern eine kräftige große Gewissheit, die gewisser und fester ist als dass … zwei und drei fünf sein.«33 Auf der anderen Seite gehört die Anfechtung doch unabdingbar zum Glauben hinzu, ist geradezu auf Gott selbst zurückzuführen: Gott verbirgt sich unter dem Gegenteil (sub contrario) und kann insofern von uns nur als rätselhafter Gott trotzig und kontrafaktisch geglaubt werden. Der glaubende Mensch ist also immer und grundsätzlich beides, »simul credens et dubitans« (zugleich glaubend und zweifelnd).34

Damit sind wir beim Begriff und Phänomen der Ambivalenz im Glauben oder der Glaubensambivalenz, die einen anderen Vorgang bezeichnet als der Begriff des Zweifels.

4.  Glaubensambivalenz: »Zum Amen gehört das Aber«35

Der Mensch ist ein »homo ambivalens«.36 Aus psychoanalytischer Sicht lebt er in ständigen Spannungen zwischen gegensätzlichen triebhaften Strebungen und Motiven: Liebe und Hass, Wunsch nach Nähe und nach Distanz, nach Zugehörigkeit und Autonomie, nach Aktivität und Passivität etc. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen sind von diesen Spannungen und Widersprüchen durchzogen (ausführlicher ► Kap. 2). Aus soziologischer Sicht ist es die hohe Komplexität und Ambiguität der postmodernen Gesellschaft mit ihrer Rollenvielfalt, die uns Menschen zwingt, fortwährend – anders als in autoritären, eindeutigen Strukturen früherer Jahrhunderte – zwischen verschiedenen Einstellungen und Verhaltensweisen zu oszillieren (► Kap. 3) und zu jonglieren. Sollte die religiöse Orientierung des Menschen, sein Glaube, von dieser Unausweichlichkeit von Ambiguitäten und in ihrem Gefolge von Ambivalenzen ausgenommen sein?

Im Sinn von 1 Kor 13,9ff. (»jetzt erkenne ich’s stückweise«) muss man Glaube grundsätzlich als fragmentarisch bezeichnen,37 und zwar in einem theologischen und in einem empirischen Sinn: Auch als »Geschenk Gottes«, als unverfügbare, sich einstellende Haltung, steht der vertrauensvolle Glaube unter dem eschatologischen Vorbehalt des »schon und noch nicht«. Als Gabe im Glauben ist er »schon« vollkommen da, tatsächlich (unter gegenwärtigen Bedingungen) erscheint er aber »noch nicht« sicher und vollkommen, sondern immer vorläufig, angefochten und bruchstückhaft. Das lässt sich empirisch leicht nachvollziehen: Die unverfügbare Gabe geht, wie schon gesagt, durch die individuelle Person hindurch, wird von ihr und ihren Lebensbedingungen und Beziehungserfahrungen geprägt und geformt, wird und bleibt damit immer »persönlichkeitsspezifisch« (Klaus Winkler), fragmentarisch, eigentümlich, und angesichts postmoderner Lebensverhältnisse fluide. Von daher erscheint es einleuchtend, dass Glaube und Zweifel zugleich existieren, ständig »miteinander umgehen«,38 einander herausfordern, in ein andauerndes Frage–Antwort–»Spiel« miteinander verstrickt sind. Glaube ist dann mehr mit Suche und Vorläufigkeit als mit Gewissheit und Festigkeit zu assoziieren, immer situativ, nie völlig eindeutig, nie »ein für alle Mal«, immer überholbar, simul credens et dubitans.

Sowohl der Vorgang des Glaubens (fides qua creditur) (im Glauben mischen sich Vertrauen, Sich-verlassen, Vermuten, Gehorchen, Sich-hingeben, Sich-entscheiden, bekennen, zweifeln usw. ► ausführlicher Kap. 7) als auch die Inhalte des Glaubens (fides quae creditur) (der verborgene und der offenbare Gott, der zornige und der liebende Gott, der historische Jesus und der geglaubte Christus, die Kirche als Glaubensgegenstand und als Institution etc. ► ausführlicher Kap. 8), sind von zahlreichen Widersprüchen, Unklarheiten und Vieldeutigkeiten (Ambiguitäten) gekennzeichnet und lösen, wenn man dies ernst nimmt, entsprechende Ambivalenzen aus.

Das vorliegende Buch will zeigen, dass Glaube nicht nur, wie gewohnt, individuelle und institutionell-rituell abgesicherte Gewissheit, Festigkeit und Unerschütterlichkeit eines Vertrauens auf Gott, auf das Göttliche, auf das Leben insgesamt bezeichnen kann (oder nur um den Preis einer erheblichen Verleugnung der Komplexität der [religiösen] Wirklichkeit), sondern auch eine grundlegende und unvermeidliche Ambivalenz beinhaltet, nämlich die Gleichzeitigkeit von Gewissheit und Ungewissheit, von Vertrauen und Misstrauen, von Glaube und Unglaube, von Überzeugtsein und Vorbehalt, von Entschiedenheit und Unentschiedenheit, von Ja und nein umfasst. Beide Pole sind zugleich da,39 die glaubende Person spürt beide zugleich oder oszilliert zwischen beiden Polen hin und her. Die Wahrnehmung und der bewusste Umgang mit Ambivalenz kann als Quelle von Kreativität bezeichnet werden: Beide Seiten miteinander bewusst in Beziehung zu setzen, die Bedeutung der verschiedenen Seiten abzuwägen und vertieft zu verstehen, endet darin, dass man mit beiden Seiten zu leben, ja sie zu schätzen lernt; oder dass man sich auf eine Seite schlägt, ohne die andere auszublenden; oder dass man im Sinne Hegels eine Synthese findet, die These und Antithese in sich aufnimmt.

In methodischer Hinsicht veranschaulicht die psychotherapeutische Arbeit mit zwei verschiedenen leeren Stühlen, wie sie in der Gestalttherapie praktiziert wird, den Vorgang: Unterschiedliche, bisweilen gegensätzliche Persönlichkeitsanteile oder Motivationen (Mut – Angst, Liebe – Hass, Neugierde – Langeweile, starkes – schwaches Selbstwertgefühl, etc.) werden jeweils einem Stuhl zugewiesen und dann imaginär miteinander ins Gespräch gebracht, um sie differenzierter in ihrer Bedeutung kennen zu lernen.40

Auch das Konzept vom »Inneren Team«, wie es Friedemann Schulz von Thun vorgestellt hat, eignet sich als methodische Anregung zum Umgang mit den Ambivalenzen des Glaubens.41 Ausgangspunkt dieses Konzepts bildet die Beobachtung, dass »innere Pluralität« bei jedem Menschen in allem Fühlen, Denken und Handeln eine zentrale Rolle spielt. Schulz von Thun nennt es ein inneres Gruppengeschehen im Menschen: es ist gekennzeichnet durch innere Pluralität, innere Uneinigkeit, inneren Dialog/Streit und innere Gruppendynamik.42 Im Umgang mit dieser inneren Pluralität ist es entscheidend, die Vielfalt der Stimmen, der Spieler (wie sie Schulz von Thun nennt), der Teilpersönlichkeiten überhaupt erst einmal wahrzunehmen und anzuerkennen; in einem zweiten Schritt kann man dann jeweils die biographisch-kulturellen Wurzeln der einzelnen Stimmen, ihre Kontextabhängigkeit und ihre Kommunikationsabsichten genauer erkunden, also bewusst, wertschätzend und neugierig mit dieser Vielfalt, ihren Konflikten, Widersprüchen und Ambivalenzen umgehen. Als Auswirkungen einer Arbeit mit diesem Konzept nennt Schulz von Thun drei Punkte: Sie wird häufig erlebt

• als Befreiung aus dem Gebot der Einheitlichkeit,

• als Ordnungs- und Klärungshilfe,

• als Erleichterung der Selbstakzeptierung.43

Wenn die innere Glaubensvielfalt und Glaubensambivalenz in analoger Weise verstanden und genutzt werden kann (► ein ausführliches Beispiel dazu Kap. 9), wäre für die Lebendigkeit des Glaubens viel gewonnen.

Notwendige Ausnahmen von diesem Konzept einer Wertschätzung von Glaubensambivalenz sehe ich in Krisen- und Grenzsituationen des Lebens: Wenn das eigene Leben, die eigene Identität durch innere oder äußere Umstände ernsthaft gefährdet erscheint, hat man kaum die Fähigkeit, die Zwiespältigkeit mancher Situationen, des ganzen Lebens und des eigenen Glaubens wahrzunehmen, auszuhalten und zu explorieren. Es braucht psychisch-emotionale und soziale Ressourcen, um sich die Wahrnehmung von Ambiguitäten und Ambivalenzen leisten zu können (► ausführlicher Kap. 3); wenn diese Ressourcen nicht vorhanden sind, ist Abwehr der Ambivalenz und damit vermeintliche Eindeutigkeit ein legitimer und vorläufig stabilisierender Mechanismus.

In der alltäglichen und »normalen« Ausprägung eines religiösen Glaubens in den pluralen Zeiten der Postmoderne gilt, dass Ambivalenz im Zentrum des Glaubens angesiedelt erlebt wird, entsprechend zu denken ist und produktiv genutzt werden kann.

Während der Zweifel eine geglaubte Wahrheit anzweifelt, und das Ziel darin besteht, wieder zum Glauben an die Wahrheit zurück zu finden, bedeutet Glaubensambivalenz Mehreres:

• Es gibt für mich nicht nur eine einzige, sondern mehrere Wahrheiten (z. B. in der Begegnung verschiedener Religionen) und ich oszilliere zwischen den verschiedenen Wahrheiten hin und her. Ich muss mich nicht für eine entscheiden und dann die anderen verwerfen, sondern kann mehrere gleichzeitig als für mein Leben wichtig und bedeutsam anerkennen.

• Ich stehe der vermeintlich einen Wahrheit zwiespältig gegenüber, ich stimme ihr situativ gleichzeitig zu und lehne sie ab, ich halte sie gleichzeitig für wichtig und für unwichtig, ich bin von ihr gleichzeitig angezogen und abgestoßen; diese Gleichzeitigkeit muss nicht einseitig aufgelöst werden.

• Meine Gottesbilder fallen, je nach Situation und innerer Befindlichkeit, recht unterschiedlich aus: Ich spüre und denke Nähe und Ferne einer göttlichen Wirklichkeit zugleich, mal liebende Zuwendung, mal strafend wirkende Strenge, mal ratlos machende Verborgenheit.

• Meine Glaubenshaltung oszilliert zwischen Entschiedenheit, Deutlichkeit, Klarheit und Festigkeit und zugleich Unsicherheit, Unentschiedenheit und Unklarheit. Beide Seiten dürfen sein: Wenn sie genauer auf ihre Bedeutung hin befragt werden, ergeben sich spannende und bereichernde Einsichten in den eigenen Glauben und seinen Bezug zu den Vorgaben der Tradition.

Die Ambivalenz des Glaubens soll dann nicht, wie es gemeinhin mit Blick auf den Zweifel gedacht wird, als negativ und unerwünscht betrachtet und deswegen überwunden und ausgeräumt,44sondern als positive Ressource wahrgenommen, wertgeschätzt und kreativ genutzt werden. Die bewusste Wahrnehmung der Zwiespältigkeit des Glaubenserlebens kann sicherlich belasten, sie stellt eine psychische Anstrengung dar, sie kann aber auch lebendig machen, Festgefahrenes verflüssigen, neue Perspektiven eröffnen, sich Fremdem und Ungewohntem zuwenden, sich davon bereichern lassen und darin lustvoll erlebt werden.45 Glaube ist so verstanden ein ständiger Übergang in der religiösen Beziehungsorientierung von einer Seite zur anderen, verbunden mit einer Offenheit für das Ungewisse, für das nicht immer schon Festgelegte. Glaube hat dann mehr den Charakter der Suche, des Wagnisses, der Freude an Vielfalt, Mehrdeutigkeit und spielerischer Offenheit statt einer festen, eindeutigen Gewissheit.

Der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky spricht im Sinn dieser These von Gott als einem Poeten: »Seine Werke sind voll von Anspielungen, Illusionen, Fragen, Widersprüchen, offenen Alternativen, Wortspielen, Verzweiflung und Liebe.«46 Wie anders sollte man von diesem Poeten denken und sprechen als spielerisch, frei assoziierend und fantasierend. Widersprüche und Anspielungen können da als reizvolle Herausforderung und nicht als Belastung gesehen werden.

Erscheint eine solche Haltung nicht angemessen zum einen im Gegenüber zu dem »Ganz Anderen«, den niemand je gesehen hat und von dem wir uns immer nur in Bildern annähern können, und zum anderen in einer postmodernen Gesellschaft, in der alles, auch alle weltanschaulichen Orientierungen, im Fluss sind?

Einige einfache Beispiele:

• Während ich dies schreibe, sehe ich durch das Fenster meines Arbeitszimmers strahlenden Sonnenschein und den beginnenden Frühling und denke unwillkürlich an den Liedvers »der alles so herrlich regieret« (EG 316,2). Dabei fällt mir ein, dass ich eben noch, beim Frühstück, in der Zeitung gelesen habe, wie in einem Erdbeben in Peru viele hundert Menschen ums Lebens gekommen sind: »der alles so herrlich regieret«? Dieser Zwiespalt beschäftigt mich lange, er taucht immer wieder auf und fordert mich dazu heraus, beide Seiten genauer zu bedenken.

• Eine 93jährige Frau äußert gegenüber der Seelsorgerin, wie schon öfter zuvor, ernsthaft den Wunsch zu sterben: »Ich bitte Gott, mich zu sich zu nehmen, ich will nicht mehr.« Sekunden später sieht sie Fotos von ihren Enkeln auf ihrem Nachttisch, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie sagt: »Vielleicht kann er noch etwas warten, ich möchte meine Enkel noch einmal sehen.«

• Während der Pfarrer im Gottesdienst das Lied »Was Gott tut, das ist wohlgetan« (EG 372) ankündigt, fühlt er sich zu folgendem Kommentar herausgefordert: »Manche von Ihnen werden diesen Vers nicht so einfach mitsingen können; verstehen Sie den Vers erst einmal als persönliches Bekenntnis des Dichters, der seinen Glauben so zum Ausdruck gebracht hat. Vielleicht können sie dann besser einstimmen.«

Solche Glaubensambivalenzen sollen, noch einmal, nicht überwunden, sondern wahrgenommen, wertgeschätzt und in ihren verschiedenen Aspekten weiter befragt und exploriert werden. Immer wieder bedarf es einer Neujustierung des Glaubens, der ambivalenten religiösen Orientierung: Belastung und Herausforderung einerseits, Bedingung und Ausdruck menschlicher Freiheit und Kreativität auch in Glaubensfragen andererseits.47 Die Wahrheitsfrage ist damit nicht suspendiert oder beliebig geworden, nur wird es deutlich schwieriger und strittiger, angemessene Antworten zu finden.48 Während vermeintliche Eindeutigkeit zu Intoleranz und letztlich (wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat) zu Gewalt neigt, eröffnen Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz Lebendigkeit und Freiheit in der Vielfalt. Und sie endet nicht in Beliebigkeit, solange diejenigen, die suchen und glauben, im Gespräch untereinander und mit den Quellen der Bibel und der Tradition bleiben.

Um die Intention meiner These noch einmal zu verdeutlichen, sei sie kontrastiert mit einer neuen Veröffentlichung »Anders gemeinsam – gemeinsam anders? In Ambivalenzen lebendig kommunizieren« hg. von Maria Juen u. a. Ostfildern 2015. Ambivalenzen werden hier als »Ambivalenzen der Moderne« bestimmt, als Ambivalenzen der umgebenden Gesellschaft angesichts »gesteigerter Ungewissheit und Mehrdeutigkeit«(13). Glaube soll und muss offen sein für Ambiguität, Verunsicherung, Mehrdeutigkeit, natürlich gehört der Zweifel zum Glauben hinzu (77 u.ö.), aber letztlich kommt es den AutorInnen darauf an, »trotz dieser Ambivalenzen« (75) einen tragfähigen Glauben und eine Kirche zu entwickeln, »in der die Gottesfrage in ihrer ganzen Ambivalenz« gestellt werden darf (79f.). Meine These geht einen Schritt weiter dergestalt, dass sie den Glauben selbst als einen ambivalenten Prozess der religiösen Orientierung versteht.

Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz erfordern aus psychologischer Sicht Ich-Stärke. Das Ich als psychische Instanz wird bei Sigmund Freud verstanden als Vermittlungsinstanz zwischen den triebhaften Strebungen der Sexualität und der Aggression (ES) auf der einen Seite und den normativen Anforderungen der Familie und Gesellschaft (ÜBER-ICH) auf der anderen. Ich-Stärke bedeutet, dass diese Instanz in der Lage ist, die Anforderungen von beiden Seiten auszubalancieren, also weder einfach den triebhaften Strebungen noch den normativen Forderungen nachzugeben, sondern immer wieder einen verantwortlichen, erwachsenen, flexiblen Mittelweg zu finden. In unserem Zusammenhang heißt das, die Ambivalenzspannung auszuhalten, ihr kreatives Potential wertzuschätzen, und sie nicht einseitig aufzulösen. Das ist eine psychische Leistung, die auch im Bereich der Religiösen, der für alternative Auflösungen dieser Spannung (richtig – falsch, gut – böse) besonders anfällig ist, entsprechend zu würdigen und zu unterstützen ist.

5.  Zielsetzung des Buches

Ausgehend von der Gesellschaftsdiagnose des Soziologen Zygmunt Bauman unter dem Stichwort »Das Ende der Eindeutigkeit« (Kap. 1) sollen die psychologischen und soziologischen Dimensionen des Begriffs der Ambivalenz als eines Charakteristikums aller zwischenmenschlichen Beziehungen dargestellt werden (Kap. 2 und 3), um diesen inzwischen zu einem Allerweltswort gewordenen Terminus zu präzisieren. Wenn das »Ende der Eindeutigkeit« alle Lebensbereiche in den westlichen Gesellschaften prägt, können Religion und Glaube davon nicht ausgenommen sein. Auch Glaube als eine auf ein umgreifendes, transzendentes Gegenüber gerichtete Beziehung teilt die Charakteristika aller menschlichen Beziehungen. Von theologisch-kirchlicher Seite wird häufig betont, dass Glaube ein sicheres Vertrauen und eine feste Gewissheit bezeichne (vgl. Hebr 11,1); im Kontrast dazu soll hier herausgearbeitet werden: Glaube wird nicht nur gelegentlich von Zweifel und Anfechtung in Frage gestellt; in der Begegnung mit den fast unendlichen Ambiguitäten (= Vielfalt, Unklarheit, Widersprüchlichkeit) unserer postmodernen Lebenswelt und möglicher religiöser Lebensdeutungen stellt Glaubensambivalenz eine unvermeidliche, ja eine angemessene, notwendige und vor allem kreative und produktive Reaktion dar. Aus anthropologischer und entwicklungspsychologischer Sicht (Kap. 4 und 5) lässt sich zeigen, wie sehr menschliches Leben von Zwiespältigkeit geprägt ist; wenn Glaube einen Vollzug der ganzen Person ausmacht, ist er zweifellos von dieser Grundierung des Lebens durchgehend mitbetroffen. Die hermeneutischen Prozesse in den Religionen (Schriftauslegung) sind von zahlreichen Vieldeutigkeiten gekennzeichnet (Kap. 6); der Vollzug und Prozess des Glaubens selbst (fides qua creditur) changiert in kaum begrenzbarer Weise zwischen vertrauen, meinen, denken, fühlen, gehorchen, zweifeln, sich entscheiden, bekennen, sich ängstigen etc. (Kap. 7); die Inhalte des Glaubens (fides quae creditur) sind so vielfältig und widersprüchlich (die grundsätzlich Nichterkennbarkeit Gottes, Gottesbilder und Bilderverbot, Gottes Liebe und Gottes Zorn, historischer Jesus und geglaubter Christus, Kirche als Glaubensgegenstand und Organisation etc., Kap. 8), dass es angemessen erscheint, in postmodernen Zeiten nicht länger nur von Glaubensgewissheit zu sprechen, sondern stattdessen oder mindestens gleichzeitig auch von Glaubensambivalenz. Damit öffnet sich die Möglichkeit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit der eigenen Glaubenshaltung – im Dialog, in Auseinandersetzung mit anderen – wertzuschätzen, die Vieldeutigkeiten der Glaubenstraditionen nicht glätten, harmonisieren und vereinheitlichen zu müssen, sondern neu den darin enthaltenen Reichtum zu entdecken und für das eigene Glaubensleben auszuarbeiten.

In dieser Zielsetzung konkretisiert sich ein pastoralpsychologisches Anliegen, Glauben nicht dogmatisch-normativ zu beschreiben und zu definieren, sondern subjekthaft und erfahrungsbezogen zu zeigen, wie sich Glaube im Alltag von Menschen höchst individuell und konkret ausprägt und an den normalen und verbreiteten Ambivalenzen des Lebens Teil hat. Die normativen Definitionen, wie sie in der Dogmatik bzw. systematischen Theologie vorgestellt werden, bleiben Bezugspunkt der Praktischen Theologie bzw. der Pastoralpsychologie, aber ihre Vorgaben werden im Prozess der Vermittlung gleichsam verflüssigt: Rezipienten nehmen die traditionellen Vorgaben (die theologische Begrifflichkeit beispielsweise in der Predigt) selektiv-konstruktiv auf und entwickeln ihren eigenen Standpunkt, sprich: ihren eigenen Glauben, ihr »persönlichkeitsspezifisches Credo«,49 wie vage, vorläufig und fragmenthaft es auch immer ausfallen mag. Gerade diese subjektive Vielfalt und Ambivalenzhaltigkeit des Glaubens ist es, mit der Kirche rechnen sollte, mit der sie ins Gespräch kommen sollte, um die Lebendigkeit des Glaubens zu unterstützen und fördern.

Analog zu dem aus Unternehmensphilosophie und Personalentwicklung bekannten Methoden des diversity management könnte und müsste auch in den Kirchen eine Offenheit für die Wertschätzung der Vielfalt von Ausdrucksformen des Glaubens Platz greifen, eine Offenheit, die ähnlich wie in der jüdischen Thora- und Talmudauslegung (► Kap. 6) die Verschiedenheiten und Differenzen der Glaubensinhalte nicht als Bedrohung, sondern als Anregung und Bereicherung begrüßt. Vielfalt stellt eine entscheidende Ressource dar, die es erlaubt, an die Alltagserfahrungen der Menschen anzudocken und mit den Betroffenen gemeinsam nach einem Verständnis ihrer Erfahrung zu suchen.

Die Pastoralpsycholog*innen Christoph Morgenthaler und Gina Schibler schreiben einem Teilnehmer an einem auch mit bibliodramatischen Mitteln arbeitenden religiösen Beratungsprozess einen »Gottesbrief«, in dem die folgenden Sätze stehen: »Manchmal bin ich [s.c.: Gott, M.K.] gerade da, wo du mich nicht suchst. Ich bin nicht in den Antworten. Ich bin in deinen Fragen … Ich bin in den Zwischenräumen, in den Lücken, in den Rissen. Dort, wo der Strom wegbleibt, in der Nacht des Nichtwissens und des Stillstandes …«50

Wenn wir den Mut hätten, solchen Perspektiven entschlossener und verbreiteter nachzugehen und ihre verschiedenen Seiten und Zwiespältigkeiten zu erkunden, könnten der Glaube, und damit auch Theologie und Kirche insgesamt, lebendiger, anregender und kreativer werden (► Kap. 9). Anstöße zu einer solchen Entwicklung will das vorliegende Buch geben.

Teil I: Psycho-soziale Perspektiven

1.  Das Ende der Eindeutigkeit

»Hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen.«

(Stanislaw J. Lec)

»Ich glaube, dass Ideen wie absolute Richtigkeit, absolute Genauigkeit, endgültige Wahrheit usw. Hirngespinste sind … Diese Lockerung des Denkens scheint mir als der größte Segen,den die heutige Wissenschaft uns gebracht hat.Ist doch der Glaube an eine einzige Wahrheit und deren Besitzer zu sein, die tiefste Wurzel allen Übels auf der Welt.«

(Max Born)1

1.1  Ambivalenz als Signatur der Postmoderne

Der polnisch-englische Soziologe Zygmunt Bauman hat seinem 1991 in England erschienenen Buch »Moderne und Ambivalenz« den plakativen Untertitel gegeben: »Das Ende der Eindeutigkeit«.2 Die »Ordnung der Welt«, so Bauman, ist in der Postmoderne zum Problem geworden, nichts ist mehr selbstverständlich und unhinterfragt gegeben, alles könnte auch ganz anders sein.

Das Ende der Eindeutigkeit, so die Gesellschaftsdiagnose von Bauman, ist nicht plötzlich, gleichsam über Nacht, über uns gekommen, sondern hat sich in einem langen und langsamen Prozess der zunehmenden Säkularisierung und Individualisierung herausgebildet (► Kap. 3.1). Die Geschichte Westeuropas stellt eine Geschichte von Individualisierungsschüben dar, in denen ein subjektiv erwachendes Bewusstsein von Individualität einhergeht mit sozialen Prozessen der Individualisierung und Säkularisierung.3 Das individuelle Subjekt wird sich seit dem ausgehenden Mittelalter seiner selbst zunehmend bewusst, es gehorcht nicht mehr selbstverständlich den Lehren der Kirche, es probt den »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant), es ist Teil einer »Bewegung vom Schicksal zur Wahl«.4 Das individuelle Subjekt fühlt sich zunehmend frei und autonom zu denken, was es will, zu glauben, was ihm einleuchtet, und über seine Angelegenheiten und seinen Lebenslauf, soweit es der gesellschaftliche Rahmen mit seinen Gesetzen und Vorgaben zulässt, selbst zu bestimmen. Und da, wo das Denken »frei« wird, ist es in der Lage zu realisieren, dass alle Lebensphänomene von mehreren Seiten gleichzeitig gesehen und gedeutet werden können. Es gibt nicht mehr die eine, noch dazu von irgendwelchen Autoritäten vorgegebene, Sichtweise, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich selbst und die Welt im Ganzen zu sehen und zu verstehen.

Das meint Bauman mit dem Begriff der Ambivalenz: »die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen«.5 Dieser Sachverhalt wird von manchen Zeitgenossen als bedrohlich und mit Unbehagen wahrgenommen; für Bauman stellt jedoch das Ende der Eindeutigkeit im Sinn einer Zeit- oder Gesellschaftsdiagnose keinen Verlust, sondern geradezu eine befreiende Errungenschaft, sogar eine Notwendigkeit dar. Denn Eindeutigkeit, so Bauman, neigt dazu, autoritär, ja totalitär zu werden. Die Geschichte des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt das für ihn in erschreckender Weise.

Bauman unterscheidet in seinem Buch nicht klar die Kategorien Ambiguität und Ambivalenz. In dem obigen Zitat ist im Grunde von Ambiguität, von Mehr- und Vieldeutigkeit, die Rede, auf die Ambivalenz eine gefühlsmäßige, denkerische oder willensbezogene Reaktion darstellt.6 An anderen Stellen verwendet er beide Begriffe austauschbar.

Die Moderne, so Bauman in Weiterführung einiger Thesen von Adorno und Horckheimer, wollte das Chaos der Welt ordnen, klassifizieren und unter Kontrolle bringen. In der »modernen Praxis« sollte alles genau bestimmt und definiert werden, für Ambivalenz war da kein Platz. Der Versuch, Ambivalenz zu eliminieren ging notwendig einher mit Intoleranz für alles Abweichende.7 Ein exemplarischer Blick in Politik und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und den USA zeigt, wie verbreitet die Metapher vom Staat als »Gärtner« in der politischen Philosophie jener Zeit war: Sozialtechnologisch wird eine bestimmte Ordnung definiert, die dem vermeintlich Zügellosen der Natur (auch der Natur des Menschen!) Grenzen setzen soll; alles, was von der definierten Ordnung abweicht oder in Widerspruch dazu steht, soll – darin wird die Aufgabe staatlicher Institutionen gesehen – gestutzt, zurückgeschnitten, ausgerottet werden. Der Genozid des Holocaust erscheint nach Bauman als extreme, aber logische Folge dessen, was lange vorher schon gedacht und wissenschaftlich begründet worden war. Dieses genozidale Potential der Moderne kann nach Bauman nur durch einen Pluralismus der Macht und der Meinungen, sowie durch die damit unvermeidlich einhergehende Ambiguität und Ambivalenz eingeschränkt und in Schach gehalten werden.8

Eben das geschieht für Bauman in der Entwicklung hin zu einer Postmoderne: Sie ist daran zu erkennen, dass sie sich von dem Ordnungs- und Klassifikationswahn der Moderne verabschiedet und die »unauslöschliche Pluralität der Welt«, ihre Ambiguität, akzeptiert.9 »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne, Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne.«10 Ähnlich schreibt Wolfgang Welsch: »Die letzten Jahre der Diskussion um Moderne und Postmoderne haben gezeigt, dass keine Wirklichkeitsbeschreibung tragfähig ist, die nicht zugleich die Plausibilität der Gegenthese verfolgt.«11 Damit entsteht eine Welt der universalen Ambivalenz, der gleichzeitigen Gültigkeit verschiedener Erkenntnisse, Normen und Lebensformen. Weil auf diese Weise totalitäre und autoritäre Neigungen aufgelöst werden, sollte man die Ambivalenz der Pluralität loben. Es gibt nicht mehr nur eine einzige, für alle gültige Wahrheit, sondern mehrere Wahrheiten, konkurrierende Wahrheitsansprüche – und man muss sich auch nicht mehr entscheiden, welche man als die einzig richtige wählt, sondern man kann mehrere gleichzeitig oder kurz nacheinander wichtig und wegweisend finden. Etwas pathetisch resümiert Bauman: »Ambivalenz ist nicht zu beklagen. Sie muss gefeiert werden. Ambivalenz stellt die Grenze der Macht der Mächtigen dar. Aus demselben Grunde ist sie die Freiheit der Machtlosen.«12

Allerdings übersieht Bauman, dass es auch in der Postmoderne deutliche Tendenzen zu einer Disambiguisierung (Aufhebung von Ambiguitäten) gibt: Bürokratisierung und Technisierung, vor allem die Digitalisierung unserer Welt repräsentieren starke Tendenzen, die Ambiguität als Defizit verstehen und nach Möglichkeit ausmerzen und wieder Eindeutigkeit herstellen möchte.13

Auch in der Alltagswahrnehmung werden Ambiguität und Ambivalenz von vielen Zeitgenossen als anstrengend, verunsichernd und bedrohlich erlebt. Ambivalenzen stellen eingespielte Selbstverständlichkeiten und fraglos gewordene Gewissheiten in Frage, sie weisen auf Brüche und Risse in unseren Alltagsvorstellungen von Leben und Welt hin.14