Ameisen - Magdalena Sorger - E-Book

Ameisen E-Book

Magdalena Sorger

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Beschreibung

Ameisen – eine wie die andere? Keineswegs! Mit diesem Buch gehen wir auf eine Safari, die vor unserer Haustür startet und uns um die ganze Welt führt. Vom Abenteuer, einen Ameisenhügel im Wald nebenan genauer zu betrachten, bis hin zu verblüffenden wissenschaftlichen Entdeckungen im Dschungel von Borneo: Machen wir uns mit der Insektenforscherin und Ameisenexpertin Magdalena Sorger auf in die faszinierende Welt der Meisterinnen der Zusammenarbeit! Ob Königin oder Arbeiterin, Ameisen sind die Dienerinnen unserer Natur: Ohne die Schwarmintelligenz der kleinen Insekten, die vor allem über Gerüche kommunizieren und in hochkomplex organisierten Kolonien leben, würden ganze Ökosysteme zusammenbrechen. Dank ihrer vielen, oft überraschenden Talente sind sie auch die Überlebenskünstlerinnen unseres Planeten: Seit fast 150 Millionen Jahren passen sie sich mit ihren Nestern an Lebensräume an nahezu jedem Ort der Welt an. Das zeigt sich auch in ihrer Vielfalt: Fast 15.000 verschiedene Arten sind bekannt, von den roten Feuerameisen über eine der kleinsten Arten, die Pharaoameisen, bis hin zu den mysteriösen fliegenden Ameisen. Mindestens zwanzig Billiarden Ameisen leben laut neuesten wissenschaftlichen Schätzungen auf unserem Planeten – auf jeden Menschen kommen also rund zwei Millionen Ameisen! Sie alle haben dabei viel mehr mit uns gemein, als wir denken: Sie bewirtschaften ihr Land, halten Nutztiere, bauen komplexe Behausungen und sind wahre Teamplayerinnen. Ein Buch, das uns eine verborgene Welt eröffnet – viel verblüffendes Wissen, von dem auch unser menschliches Zusammenleben profitieren kann!

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Magdalena Sorger

Ameisen

Die geheimenHerrscherinnender Welt

Inhalt

Ein Leben für die Ameisen

Erfolgsmodell Ameise

Alltag in der Ameisenkolonie

Kreative Baumeisterinnen

Intelligenz im Kollektiv

Unsichtbare Dialoge

Abwehr & Angriff – das Arsenal der Ameisen

Ungebetene Gäste

Überlebenskünstlerinnen

Die ökologische Rolle der Ameise

Wir stehen am Anfang

Danksagung

Kapitel 1

Ein Leben für die Ameisen

Atta cephalotes

Eciton burchellii

Lasius emarginatus

Formica subintegra

Odontomachus monticola

Pogonomyrmex badius

Ich gestehe Ihnen etwas: Ich kann nicht behaupten, dass ich von klein auf an Insekten und speziell Ameisen besonders interessiert gewesen wäre. Tatsächlich wurde ich in einem Interview einmal gefragt, was meine früheste Erinnerung an Ameisen ist, und dabei musste ich an meine Großmutter denken. Sie war kein Fan von Ameisen. Zumindest nicht, wenn sie ihr auf ihrem Balkon begegneten oder es wagten, die Türschwelle zu übertreten. Sobald sie auch nur eine einzelne Ameise sichtete, mobilisierte meine Oma ein ganzes Arsenal an Bekämpfungsstrategien.

Vermutlich geht es vielen Menschen so wie mir – mir war die Existenz der Ameisen durchaus bewusst, allerdings hatte ich sie als unliebsame Gäste abgespeichert. Beruflich führte mich mein Weg zunächst weit weg von allen Tieren dieser Welt: Praktisch veranlagt und karriereorientiert absolvierte ich eine Schule im Bereich Tourismus und Wirtschaft und studierte an der Wirtschaftsuniversität Wien Internationale Betriebswirtschaftslehre, mit dem Ziel, einen möglichst gut bezahlten Job im Bereich Management Consulting zu ergattern. Aber war es meine wirkliche Leidenschaft?

Leidenschaft, so denke ich, ist der wahre Katalysator auf Erden. Und wie sich herausstellen sollte, waren die Ameisen mein Katalysator. Warum gerade Ameisen, fragen Sie sich? Ameisen sind, auch wenn uns das oft nicht bewusst ist, fast allgegenwärtig. Es gibt nur wenige klimatische Verhältnisse auf der Erde, unter denen Ameisen nicht vorkommen. Sie sind unheimlich vielfältig, sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrer Lebensweise, und sie sind ein wichtiger Teil des ökologischen Gleichgewichts. Aber all das ist nicht der Grund, warum ich sie zu meinem Forschungsgegenstand und Lebensmittelpunkt gemacht habe. Völlig unverhofft begegneten sie mir in den letzten Zügen meines Wirtschaftsstudiums und prägten meine Zukunft maßgeblich.

2007 verbrachte ich ein Semester an der University of Illinois at Urbana-Champaign. Da das amerikanische Universitätssystem seinen Studierenden teilweise mehr Freiraum bietet als das europäische, registrierte ich mich neben meinen verpflichtenden Wirtschaftskursen auch für einen Biologiekurs mit dem Titel „Animal Behavior“ – Verhaltensbiologie der Tiere.

Etwa 100 Teilnehmende lauschten Dr. Andrew Suarez und seinem Assistenten Dr. Chris Smith in einem Hörsaal. Mittendrin ich, eine Wirtschaftsstudentin aus Österreich. Als uns Dr. Suarez ein Video aus seinem eigenen Forschungsgebiet vorspielte, war es um mich geschehen: Sein kurzer Film zeigte uns die Aufnahme einer Schnappkieferameise, die sich durch das Schließen ihrer Beißwerkzeuge, sogenannte Mandibeln, vom Boden abgestoßen hatte und rückwärts, mehrere Salti schlagend, durch die Luft flog, bis sie – nicht gerade elegant – wieder auf dem Boden landete. Das Spektakel in Zeitlupe dauerte gerade einmal 30 Sekunden, aber wir starrten, staunten und lachten und hatten keine Ahnung, warum eine Ameise so ein Verhalten zeigte.

Ein Vorteil des amerikanischen Unisystems – besonders für jemanden wie mich, die ich gerade erst ein neues Feld entdeckte – ist, dass es zwischen Lehrenden und Studierenden einen regen Austausch gibt. So war es fast selbstverständlich, dass ich wegen meines sprießenden Interesses an Ameisen um eine Labortour bat und diese auch bekam. Dabei zeigte mir Andy die verschiedenen Ameisenarten, die im Labor für Verhaltensexperimente gehalten wurden, und Chris erzählte mir enthusiastisch von seiner Forschung zur Kastenbestimmung von Ernteameisen (Gattung Pogonomyrmex). Es gibt grundsätzlich drei unterschiedliche morphologische Kasten in einer Ameisenkolonie: die Arbeiterin, die Königin und das Männchen. Ich bekam einen kleinen Einblick in die Welt der Ameisenforschung an der Universität, und ich war fasziniert. Insgeheim malte ich mir schon ein abenteuerliches Leben in der naturwissenschaftlichen Forschung aus.

Ein neuer Weg

So verließ ich Illinois mit einer neu gefundenen Neugier auf Insekten und machte mich mit Freunden auf, um die USA noch ein wenig zu erkunden. Die Reise führte uns in unterschiedliche Klimaregionen, u.a. in die Nationalparks im Westen, nach Hawaii und in die Rocky Mountains im Landesinneren. Bewaffnet mit meiner kleinen digitalen Point-and-Shoot-Kamera war ich ständig auf der Suche nach interessant aussehenden Tierchen. Meine Freunde witzelten, dass sie mich meist mit dem Gesäß nach oben und den Augen nach unten gerichtet sahen, beim Versuch, die kleinen Lebewesen durch die Makrofunktion meiner Kamera zu erwischen.

Und irgendwann machte es endgültig Klick. Ich sah einer Ameise zu, wie sie eine erbeutete Spinne Richtung Nest schleppte. Die tote Spinne war um ein Vielfaches größer als die Ameise, die immer wieder kurz vor dem Aufgeben zu sein schien und das Tier losließ, weil die Arbeit zu schwer war. Doch immer wieder kehrte die Ameise zurück und zerrte die Beute verbissen weiter, denn schließlich hing von ihrem Erfolg das Überleben ihrer Kolonie ab. Plötzlich verspürte ich ein tiefes Glücksgefühl, eine tiefe Zuneigung. Und ich wusste, dass es diese Tiere waren, denen ich meine ganze Aufmerksamkeit schenken wollte. Es war ein bisschen wie der Moment, in dem man sich in jemanden verliebt. Ich verstand es nicht, denn logisch waren diese Gefühle nicht. Aber tief in mir wusste ich, dass das mein Weg sein würde.

Ich kehrte mit einem klaren Ziel nach Wien zurück: Ich wollte alles über Ameisen erfahren und lernen, was es über sie zu erfahren und zu lernen gab – obwohl ich Wirtschaftsstudentin war und meine Diplomarbeit noch fertigstellen musste. Ich machte mich auf die Suche nach Ameisenexpert*innen in Österreich. Und tatsächlich gab es mit Dr. Birgit Schlick-Steiner und Dr. Florian Steiner ein Wiener Myrmekologen-Paar – Myrmekologie ist das Fachwort für Ameisenkunde. Da sie sich gerade nicht in Österreich befanden, verwiesen sie mich an das Naturhistorische Museum in Wien, und zwar an Dr. Herbert Zettel, der sich dort neben seiner Tätigkeit als Kurator der Hemipteren-Sammlung, dazu zählen u.a. Wanzen und Zikaden, auch intensiv mit Ameisen beschäftigte, und an Dr. Dominique Zimmermann, die soeben Kuratorin der Hymenopteren-Sammlung, dazu gehören neben Bienen und Wespen auch die Ameisen, geworden war. Nach einem kurzen Mailverkehr vereinbarten wir einen Kennenlerntermin im Museum.

Die kleine Acryl-Box ist Teil einer Gel-Ameisenfarm und perfekt, um Ameisen zur genaueren Beobachtung einzufangen.

Insektenladen im Naturhistorischen Museum Wien, das mit mehr als zehn Millionen Präparaten eine der größten Insektensammlungen der Welt besitzt.

Für die meisten meiner Freunde erschien meine plötzliche Vernarrtheit in Ameisen zwar etwas sonderbar, aber sie unterstützten mich, und so war eines meiner ersten „Ameisen-Geschenke“ eine kleine Gel-Ameisenfarm. Das Set bestand aus einer ca. 20 x 15 cm großen und einer ca. 2 x 5 cm kleinen transparenten Acryl-Box, gefüllt mit einem nahrhaften Gel, in das die Ameisen Gänge bauen konnten. Die kleine Box war dazu gedacht, Ameisen einzufangen, um sie danach in die große Box zu transferieren. Inzwischen wusste ich, dass ich für mein kleines Gel-Formicarium eine Königin benötigte, die darin eine Kolonie aufbauen sollte. Wo ich so eine Ameisenkönigin herbekommen sollte, war mir zwar nicht klar, aber zumindest wusste ich, wonach ich suchte.

Gefunden habe ich meine Königin in der Wiener Innenstadt! An einem warmen Sommertag spazierte ich die Kärntner Straße entlang, als ich plötzlich einen Schrei losließ. Eine Königin! Mitten in der Fußgängerzone! Es war eine kleine Wegameisen-Königin, die da über die Pflastersteine wackelte. Nun hieß es, schnell und kreativ sein, denn meine kleine praktische Gel-Box hatte ich nicht dabei. Sofort sank ich auf alle Viere und krabbelte der Ameisenkönigin nach, um sie zu fassen. Ich bugsierte sie sanft in das Etui meiner Sonnenbrille, um sie darin aufzubewahren. Ich eilte nach Hause und setzte meine Königin überglücklich in das Gel-Formicarium. Und wartete. Tatsächlich legte sie nach einigen Tagen Eier, und ein paar Wochen später schlüpften daraus zwei Arbeiterinnen.

Willkommen im Museum

Als der Tag meines Termins im Naturhistorischen Museum endlich gekommen war, schnappte ich mir eine der zwei jungen Arbeiterinnen und transferierte sie in die kleine Gel-Box, in der Hoffnung, dass ich im Museum Zugang zu einem Mikroskop haben würde, um die kleine Ameise in Ruhe und ganz aus der Nähe beobachten zu können.

Dr. Zettel nahm mich in Empfang, und ich folgte ihm atemlos durch die Sammlungsräume. Wow. Jeder Raum war voller hoher Regale, bis an die Decke gefüllt mit hunderten von Laden voller getrockneter Insektenpräparate: Käfer, Fliegen, Wanzen, Heuschrecken, Bienen und viele andere Insektengruppen, von denen ich noch nie gehört hatte. Aus allen Teilen der Welt. Es lag ein besonderer Geruch in der Luft, ein alter Geruch, der mir sagte, dass hier Wertvolles gelagert war. Tatsächlich verfügt das Naturhistorische Museum in Wien über eine der bedeutendsten Insektensammlungen weltweit.

Dr. Zettels Büro war übersät mit Büchern, Ausdrucken, Fachpublikationen und Fotos, darauf wiederum lagen kleine Schächtelchen mit genadelten Insekten. Alles gehörte zu den zahlreichen Projekten, an denen der Kurator und Taxonom – jemand, der sich mit der Beschreibung neuer Tierarten beschäftigt – arbeitete. Wir unterhielten uns über seine Forschungsprojekte und ich erzählte ihm von meiner kleinen Wegameisen-Arbeiterin, die ich unbedingt beobachten wollte. Nach unserem Gespräch eskortierte er mich in die Ameisensammlung, und ich lernte Dr. Zimmermann, die Kuratorin der Bienen-, Wespen- und Ameisensammlung am Naturhistorischen Museum, kennen. In ihrem Büro gab es einen freien Arbeitsplatz mit einem Mikroskop für Gäste der Sammlung. Diesen Platz durfte ich mit meiner Ameise einnehmen.

Zwei Stunden saß ich wohl so da und betrachtete meine Ameise, die ich erstmals so detailliert in Augenschein nehmen konnte. Sie hatte ja überall Haare! Gebannt sah ich ihr zu: Wie bewegt sie sich? Was tut sie als nächstes? Sie putzt sich! Ich beobachtete sie dabei, wie sie ihren Fühler ganz vorsichtig durch den Putzkamm an der Unterseite ihres Vorderbeinchens zog. So konnte sie alle Schmutzpartikel, die sich nach der holprigen Reise in meiner Tasche an ihrem wichtigsten Sinnesorgan festgeklebt hatten, effizient entfernen. Sie schien etwas durcheinander und ich hatte das Gefühl, ihr beim Denken zusehen zu können: Wo bin ich? Was passiert mit mir? Was soll ich hier machen? All das schien mir völlig nachvollziehbar, denn ohne ihre Königin und ihre Kolonie fehlte ihr die Aufgabe. Das Gefühl, mich mit diesem kleinen Tier auf Augenhöhe zu befinden, löste in mir einen immensen Respekt aus. Ich fühlte mich nicht besser oder wichtiger als sie. Nur etwas größer.

Die Besuche am Museum wurden rasch zu einem fixen Bestandteil meines Alltags, während ich meine Diplomarbeit an der Wirtschaftsuni schrieb. Herbert brachte mir bei, wie man Ameisen im Freiland sammelt, wie man sie präpariert, wie man eine Ameisensammlung aufbaut und wie man Arten bestimmt, und so fügte ich mich nach und nach in die Forschungsgemeinschaft am Naturhistorischen Museum ein.

Als mein Studienabschluss in greifbare Nähe rückte, wurde mir bewusst, dass eine Entscheidung bezüglich meiner beruflichen Zukunft bevorstand. Viele am Museum rieten mir dazu, mir einen „Hauptberuf“ meiner Ausbildung entsprechend zu suchen und die Ameisen als Hobby zu betreiben. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Ich wusste nicht, ob ein abenteuerliches Leben als Forscherin in tropischen Regenwäldern auf der Suche nach neuen Arten – ja, ich hatte eine Mischung aus Lara Croft und Indiana Jones im Kopf – wirklich etwas für mich war. Ich beschloss, einen Monat Auszeit zu nehmen, bevor ich einen Job bei einer Wiener Consulting-Firma antreten würde, und meldete mich für eine Exkursion des ethnobotanischen Instituts der Universität Wien nach Guatemala an. Ich wollte herausfinden, ob der Ameisenweg nicht doch mein Weg war.

Entscheidung in Guatemala

Die Exkursion nach Guatemala hatte ihre Basis in der Nähe von San José in der Region Petén, die Forschungsstation „Playa Diana“ lag direkt am Petén See. Auf dem Gelände befanden sich Unterkünfte, bestehend aus offenen Bungalows mit jeweils zwei Hängematten und kleineren Bungalows mit WC und Dusche. Es war alles ziemlich rustikal. Beim Ausstieg aus der Hängematte galt es, die Schuhe vor dem Anziehen auf Skorpione zu kontrollieren. Ich verbrachte die Tage mit der Gruppe auf verschiedenen Ausflügen in der Region und meine Abende mit Don René, dem „Platzwart“, der mir sein Wissen über die Ameisen am Gelände vermittelte. Wir kämpften uns, meist mit einer Machete bewaffnet, durch das Dickicht des Areals, auf der Suche nach Ameisennestern. Es war großartig.

Reisegruppe mit Mulis bei einer Rast auf dem Weg in die Maya-Metropole El Mirador.

Ausstattung im Dschungel: Ein Exhaustor um den Hals, um Ameisen unterwegs einzusammeln, eine handliche Bauchtasche mit Gefäßen und weiteren Sammelutensilien, eine kleine Machete für alle Fälle.

Doch so weit brauchte ich gar nicht zu gehen: Durch das Badezimmer der Forschungsstation führte der Weg einer großen Ameisenkolonie. Es waren Blattschneiderameisen, die emsig auf dem Rückweg zu ihrem Nest waren. Jede trug, ihrem Namen alle Ehre machend, ein fein zugeschnittenes Blattstück. Blattschneiderameisen waren überall zahlreich anzutreffen, und als wir einmal ein besonders großes Nest fanden, erzählte Don René mir, dass die geflügelten Jungköniginnen zur Schwarmzeit eine Delikatesse für die Einheimischen darstellen. Er zeigte mir, dass schon bei einer leichten Störung des Nests, zum Beispiel durch Klopfen, die ca. zwei cm großen Soldatinnen ausrückten, die ich sammeln wollte. Vorsicht war geboten: Blattschneiderameisen haben messerscharfe Mandibeln (Beißwerkzeuge). Mein Plan war es, sie so zu fassen, dass sie mich nicht beißen konnten. Dieses Geschick sollte ich mir aber erst Jahre später aneignen – und so dauerte es nicht lange, bis mich eine Soldatin erwischte und ich mit blutendem Finger dastand. Überglücklich. Denn ich konnte es nicht fassen, dass eine im Verhältnis zu uns Menschen so kleine Ameise mir so eine Wunde zufügen konnte. Ich war beeindruckt, und meine Faszination überlagerte den Schmerz bei weitem. Don René zeigte mir zwar noch einige andere spannende Ameisenarten, aber die Artenvielfalt in dem Gebiet war begrenzt, da es sich um Sekundärwald, also „nachgepflanzten“ Wald, handelte. Sofort fragte ich mich, was es wohl in einem Primärwald, also einem Urwald, für mich alles zu entdecken gäbe.

Ich wusste von der halb ausgegrabenen Maya-Stadt „El Mirador“, die sich mitten im Dschungel und unweit unserer Basisstation „Playa Diana“ befand – meine Vorstellungen von einer Lara-Croft- und Indiana-Jones-artigen Entdeckungsreise regten sich erneut. Allerdings warnte man mich vor dem beschwerlichen zweitägigen Fußweg dorthin. Dafür war ich nicht ausgerüstet, und so ließ ich diese Idee ruhen – bis ein deutscher Reisender in der Forschungsstation auftauchte, der für Buchrecherchen in der Region eigentlich nur ein Ziel hatte: El Mirador. Was für ein Zufall! Sofort sagte ich ihm, dass ich mitkommen möchte. Und so organisierte er die Reise und einige Tage später brachen wir auf.

Unsere Gruppe bestand aus fünf Reisenden sowie einem Führer, seinem Helfer und zwei Maultieren, die den Wasservorrat und Proviant für die nächsten fünf Tage trugen. Mein Ziel war klar: Ameisen sammeln! Aber nachdem die Reise nicht für diesen Zweck ausgelegt war, musste ich der Gruppe möglichst schnell vorangehen, bis ich auf etwas Spannendes stieß – und dann so schnell wie möglich fotografieren, dokumentieren und sammeln, bis die Truppe und unsere Packtiere aufschlossen. Mein Blick war immer nach unten gerichtet, und als wir die erste Rast einlegten, passierte es: Ich erspähte eine Schnappkieferameise! Ohne viel nachzudenken, hechtete ich ihr nach und versuchte sie zu packen – mit Erfolg! Ich war völlig aus dem Häuschen und erklärte meinen Mitreisenden, was dieses kleine Tier, das ich vorsichtig zwischen meinen Fingern hielt, konnte. Der Rückwärtssprung mit den Beißwerkzeugen! Meine Worte überschlugen sich wie die Salti der Ameise. Ich war im siebten Himmel. Meine erste Begegnung mit einer Schnappkieferameise in der Wildnis! Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, war, dass diese Ameise meine Karriere stark prägen und ich ihr immer wieder begegnen würde. Mein Glücksgefühl riss nicht mehr ab. Mir machte die Hitze nichts aus, mir machten die Spinnen und anderen kriechenden Tiere im Zelt nichts aus, und die limitierten Hygienemöglichkeiten nahm ich nur zu gern in Kauf. Einige Male hatte ich die Gelegenheit, kurz allein auf dem Pfad zu marschieren, da meine Gruppe zurückgefallen war. Nur ich und der Dschungel und einige Brüllaffen, die sich langsam durch die Bäume bewegten. Und ich wusste, dass ich richtig war. Ich wusste: Das ist das Leben, für das ich bestimmt bin.

Kapitel 2

Erfolgsmodell Ameise

Diacamma sp.

Colobopsis truncata

Cephalotes umbraculatus

Tapinoma melanocephalum

Camponotus vagus

Crematogaster sp.

Stigmatomma pallipes

Sie sind stark. Sie arbeiten hart. Sie sind klein. Und sie sind schnell. Vermutlich sind das Eigenschaften, die Ihnen einfallen, wenn Sie an Ameisen denken.

Der achtfache Motorradweltmeister Marc Marquez hat die Ameise als sein Symbol gewählt. Auch er ist klein und schnell. Und wohl auch smart, denn offensichtlich hat er verstanden, dass es viel von den Tieren zu lernen gibt. Während ich diese Zeilen schreibe, trage ich übrigens eines seiner Fan-T-Shirts. Darauf ist eine riesige Ameise abgebildet – wie könnte ich diesem Design auch widerstehen? Mittlerweile verfolge ich sogar die Motoradweltmeisterschaft und die „Ameise“ in meiner Freizeit mit großem Interesse.

Ameisen bewohnen die Welt seit ca. 150 Millionen Jahren. In dieser Zeit entwickelten sie eine komplexe Lebensweise, die es ihnen ermöglichte, fast alle Lebensräume der Welt zu besiedeln. Menschen hingegen, startend mit Homo erectus, existieren erst seit ca. 1,8 Millionen Jahren. In dieser Zeitspanne hat sich viel verändert. Die Evolutionskraft brachte den modernen Menschen Homo sapiens vor etwa 300.000 Jahren hervor. Wir leben in Gruppen, sind sesshaft, bauen komplexe Behausungen und weisen eine Form von Intelligenz auf.

Bei Ameisen ist es im Grunde genauso. Nur machen Ameisen das schon etwas länger als wir. Im Zeitalter der Dinosaurier, zu dem Zeitpunkt, als sich der Urkontintent Pangaea aufteilte, erschien die erste Vorfahrin der „modernen“ Ameise auf der Bildfläche.

Der nächste große Evolutionsschritt fand für die Ameisen ca. 50 Millionen Jahre später statt, als die Angiospermen, die blühenden oder bedecktsamigen Pflanzen, sich ausbreiteten und in die vielen Pflanzenarten, die wir heute sehen, entwickelten.

Die Ameisen zogen mit. Das war kein Zufall und zeugt von den vielfältigen Interaktionen zwischen Ameisen und Pflanzen. Lebensräume wurden komplexer und viele neue ökologische Nischen bildeten sich. Und diese Nischen besiedelten die Ameisen und entwickelten sich auf dieser Basis über die nächsten 100 Millionen Jahre weiter. Die Anpassungen, die notwendig waren, mündeten in die rund 15.000 Arten, die wir heute kennen.

Jede einzelne dieser Ameisenarten bewältigt die Herausforderungen des Alltags auf ihre Art und Weise. Bis dato haben wir nur einen Bruchteil ihrer Kultur studiert und entschlüsselt – viele Ameisenarten, von denen wir wissen, dass es sie gibt, sind noch gar nicht dokumentiert. Sie haben also weder einen Namen, noch ist bekannt, wo sie verbreitet sind, geschweige denn, wie sie leben. Die wahre Vielfalt der Ameisen könnte sich auf 20.000 oder 30.000 Arten belaufen!

Um die Tatsache, dass es mindestens dreimal so viele unterschiedliche Ameisenarten wie alle 5.500 Säugetierarten zusammen auf der Welt gibt und diese Artenvielfalt so ungefähr alle Ausprägungen hat, die wir uns ausmalen können, wissen vermutlich die wenigsten von uns. Woher auch – wir kennen meistens lediglich unsere heimischen Ameisen. Aber wie ich immer sage: „Die normale Ameise gibt es nicht.“ Deshalb lohnt es sich, die verschiedenen Ameisenarten näher kennenzulernen.

What’s your spirit ant?

Im Sommer 2016 startete ich meinen Postdoc, eine wissenschaftliche Assistenzstelle, am North Carolina Museum of Natural Sciences in Raleigh. Ich sollte im Großprojekt „Students Discover“ mitwirken. Das Ziel war es, wissenschaftliche Projekte für und mit Schulen zu entwickeln, die selbstständig vom Lehrpersonal umgesetzt werden konnten. Die Projekte sollten qualitativ wertvolle Daten sammeln, die von den Forschenden weiterverarbeitet werden konnten, um Forschungsfragen im großen Stil zu beantworten. Dieser Zugang wird auch als Citizen Science bezeichnet: die Einbindung bzw. selbstständige Forschungstätigkeit von Nicht-Wissenschaftler*innen bzw. Amateur*innen in einem wissenschaftlichen Projekt, das üblicherweise von Wissenschaftler*innen betreut wird.

Ich arbeitete drei Wochen lang intensiv mit Lehrerinnen aus der Umgebung zusammen, um ein Citizen-Science-Projekt für den Schulunterricht zu entwickeln. Es war die Geburtsstunde meiner Arbeit als Science Communicator oder Wissenschaftsvermittlerin. Denn zum ersten Mal durfte ich mir überlegen, wie ich komplexe wissenschaftliche Konzepte so präsentieren und kommunizieren konnte, dass sie von Nicht-Wissenschaftler*innen nicht nur verstanden, sondern – wie im Falle der Lehrerinnen, mit denen ich gearbeitet hatte – auch im Unterricht an ihre Schüler*innen weitervermittelt werden konnten. Daraus entstanden viele Materialien und Übungen, die ich zwar seither weiterentwickelt habe, aber mit denen ich noch immer in meinen Ameisen- und Insekten-Workshops arbeite. Darunter gibt es eine Übung, die sowohl unter Kindern als auch unter Erwachsenen besonders beliebt ist: „Welche Ameise ist genauso wie ich?“

Sie entstand, als sich das Sommerprogramm mit den Lehrerinnen dem Ende zuneigte. Ich hatte beschlossen, meinem Team eine Art Abschiedsgeschenk zu machen. Alle Teilnehmerinnen bekamen von mir ein digital bearbeitetes Foto, auf dem sie auf einer Ameisenart „reitend“ dargestellt waren. Ich wählte jede Art so, dass sie zum Charakter und Wesen der „Reiterin“ passte. Unsere leidenschaftliche Drachenfliegerin bekam die Gleitende Ameise. Die blonde Reiselustige bekam die Pharaoameise. Die kreative Handarbeitsbegabte bekam die Blattschneiderameise. Und die flexible Yoga-Lehrerin bekam die Akrobatenameise. Ich selbst wählte die umtriebige Schnappkieferameise.

Als ich meine Geschenke verteilt hatte, bemerkte ich, dass sich jede Teilnehmerin intensiv mit ihrer eigenen Ameise beschäftigte. Bei einem Spaziergang rief mich prompt die Akrobatenameisen-Kollegin zu sich, zeigte auf eine Ameise und meinte: „Ist das ‚meine‘ Ameise?“ Tatsächlich war es eine Akrobatenameise, auf die sie zeigte. Und ich war verblüfft, denn diese Ameise war im Freiland gar nicht so leicht zu erkennen. Doch offensichtlich hatte die Lehrerin sich die Merkmale eingeprägt und wusste, worauf sie achten musste. Schließlich war es ja „ihre“ Ameise.

Eindeutig eine Ameise

Aber im Ernst: Woran erkennt man eine Ameise überhaupt? Dies mag wie eine Trickfrage erscheinen, aber es gibt einige Tiere, die Ameisen ähneln, und um eine Ameise sicher zu erkennen, bedarf es einer kleinen Checkliste. Am besten erkennt man eine Ameise an der Kombination dreier Merkmale: Beine, Fühler und Petiolus.

Ameisen gehören, wie auch Bienen, Heuschrecken und Käfer, zu den Insekten und haben daher sechs Beine. Insekten bilden eine Gruppe der Gliederfüßer (Arthropoden), zu denen auch Krebstiere, Spinnentiere, Asseln, Hundert- und Tausendfüßer zählen.

Sie haben geknickte Fühler. Das erste Fühlerglied, auch Skapus genannt, ist üblicherweise lang, während die übrigen Fühlerglieder kurze Segmente darstellen. Das verleiht dem Fühler eine markante L-Form, die wir bei allen Ameisenarbeiterinnen und -königinnen in unseren Breiten erkennen können. Bei Ameisenmännchen und einigen Arten, die in anderen Regionen der Welt vorkommen, kann der lange Skapus auch weniger stark ausbildet sein.

Die Fühler sind übrigens das wichtigste Sinnesorgan der Ameise. Da Gerüche das Hauptkommunikationsmittel der Ameisen sind, könnte man sagen, sie sind ihre „Nase“. Jeder Fühler ist dicht besetzt mit feinen Härchen, sogenannten Sensillen, die mit Neurorezeptoren unter der „Haut“ (eigentlich der Cuticula) verbunden sind. Die Fühler oder Antennen erlauben eine ganze Reihe von Sinneswahrnehmungen, die neben chemischen auch mechanische und thermische Reize einschließen. Sie können damit also nicht nur sehr viel mehr als wir riechen, sondern auch tasten und fühlen, ob eine Oberfläche warm oder nass ist. Von der Gerandeten Dickknotenameise (Pachycondyla marginata) wissen wir sogar, dass sie mit ihren Antennen Magnetfelder wahrnehmen kann. Diese Eigenschaft ist auch von einigen anderen Ameisenarten dokumentiert, darunter von der bei uns vorkommenden Roten Waldameise (Formica rufa) und der Großen Wiesenameise (Formica pratensis).

Der wohl mysteriöseste Körperteil der Ameise ist der Petiolus. Er macht die Ameise zur Ameise. Keine andere Insektengruppe besitzt ihn. Der Petiolus liegt zwischen Brust und Hinterleib. Er kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein: ein dicker Knubbel, ein oder zwei unterschiedlich geformte Knoten, ein aufrechtes Stielchen oder eine flache Platte, die auf den ersten Blick gar nicht sofort erkennbar ist. Die Ausprägung der Petiolusform ist außerdem das wichtigste Merkmal bei der Unterscheidung verschiedener Ameisenunterfamilien, und das Erkennen dieses Merkmals hat durchaus praktischen Nutzen. Die Form kann zum Beispiel Aufschluss darüber geben, ob eine Ameise einen Stachel besitzt oder Ameisensäure versprüht. Ersteres ist üblicherweise schmerzhafter.

Besitzt die Ameise zwei Petiolusknoten, handelt es sich um eine Ameise aus der Unterfamilie der Knotenameisen (Myrmicinae) und man kann davon ausgehen, dass sich die Ameise bei Gefahr mit ihrem Stachel verteidigen wird. Bei der Arbeit im Garten können Sie dieses Wissen gleich anwenden, denn die zwei Knoten sind üblicherweise auch mit freiem Auge sichtbar.

Erkennen Sie nur einen Petiolusknoten und vermuten daher, dass die Ameise Säure versprühen kann, so können Sie ihre Vermutung mit der Nase testen – ein leicht säuerlicher Geruch dient oft als Bestätigung.

Der Petiolus ist auch bei der Unterscheidung verschiedener Ameisenarten innerhalb einer Unterfamilie wichtig, da sich oft essenzielle Merkmale dort befinden. Zum Beispiel die drei Dornen der Dreidornigen Urameise (Pseudoponera tridentata) und die widerhakenförmigen Dornen der Stacheligen Ypsilon-Ameise (Polyrhachis ypsilon).

Mysteriös ist der Petiolus, da wir bis heute nicht genau wissen, welchen Zweck der Körperteil erfüllt bzw. ob es dadurch einen besonderen Nutzen oder Vorteil für Ameisen gibt. Obwohl der Petiolus Ameisen zweifelsohne eine extreme Beweglichkeit ermöglicht, scheint es diesbezüglich keinen maßgeblichen Unterschied zu vielen Wespenarten zu geben, die eine ebenso große Flexibilität durch eine in manchen Fällen stark langgezogene, dünne Wespentaille aufweisen.

Woran man eine Ameise erkennt

Stamm: Gliederfüßer (Arthropoda)

Klasse: Insekten (Insecta)

Insektenordnung

HYMENOPTERA

 

 

Familie

FORMICIDAE

Der Petiolus [Pe|ti|o|lus]