Amerika ist weit - Ute Bales - E-Book

Amerika ist weit E-Book

Ute Bales

0,0

Beschreibung

Jeden Abend lehnt er an Marthas Tresen, unterhält sich, sieht fern, raucht. Vor allem trinkt er. Bier und Schnaps und alles, was Martha so anbietet. Meist lässt er anschreiben. Deckel voller Striche. Regelmäßig kommt seine Mutter, bezahlt die Deckel, weil sie es nicht aushalten kann, wenn er Schulden hat. Jedes Mal, wenn er nach Hause kommt, beklagt sie sich, wirft ihm vor, nicht zu arbeiten und schreit herum, dass er ihr mit seiner Sauferei noch die Haare vom Kopf frisst. Dieser Roman wurde erstmals 2006 unter dem Titel »Der Boden dunkel« veröffentlicht. Die vorliegende überarbeitete Fassung trägt den Titel »Amerika ist weit«.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 240

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2018 e-book-Ausgabe Basierend auf »Der Boden dunkel«, Ute Bales 2006 RHEIN-MOSEL-VERLAG Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel.: 06542-5151 Fax: 06542-61158 www.rhein-mosel-verlag.de Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-862-3 Ausstattung: Stefanie Thur Korrektorat: Melanie Oster-Daum Titelfoto: Arne Houben

Ute Bales

Amerika ist weit

Roman

Rhein-Mosel-Verlag

Dies ist die Geschichte des Träumers Klaus Henkes, der nichts will und nichts braucht und früh sein Leben zu Tode bringt, weil er nichts findet, was Sinn gibt und ihm Glauben an sich selbst vermittelt.

Klaus Henkes wird kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in einem Eifeldorf im Kylltal geboren. Als sein Vater aus dem Krieg zurückkehrt, verliert er sich in Tagträumen, gibt sich dem Alkohol hin, verweigert sich den Konventionen seines Dorfes und wird zu einem tragischen Außenseiter.

Nichts ist zu Ende

Vogelherz, leicht, über den Mond gelaufen,

Schlangen gebändigt, die Sphinx angelächelt, wo bist du?

Vom Trittbrett eines fahrenden LKWs herab

lachtest du an mir vorbei.

Das war, als ich dich zum letzten Mal sah.

Amerika wäre was gewesen.

Winnetou, der Mississippi, die Rockys,

die Saloons von Nevada.

Aber nichts gesucht und nichts gefunden.

Jetzt lehnst du am Himmel,

lässig, Zigarette im Mundwinkel,

Hände in den Hosentaschen.

Bauschig die Wolken.

Pferde dort oben, schnaubend,

mit verwehten Mähnen.

Der Himmel über deinem Berg

immer noch voller Krähen.

Winterlang die Krähen.

Im Hof deiner Mutter rote Geranien.

Nichts ist zu Ende.

Aber du kommst nicht mehr.

Für Klaus. Versprochen.

Unter dem Himmel

Als Junge hat Klaus diesen Traum. Da ist das Dröhnen der Aufklärer, die abendlich am Himmel erscheinen. Schlagartig leeren sich die Straßen und nur er, als Einziger, bleibt in einem leuchtenden Schneegestöber zurück. Ins Heranjagen des Flugzeugs breitet er seine Arme aus, hält den Kopf ganz nach oben, streckt die Zunge heraus und sieht für einen winzigen Moment das Blaue im Auge des Bordschützen.

Mit der Kälte kommen die Luftangriffe. Die Leute in Talfang wissen nicht, wie sie die widersprüchlichen Nachrichten, die im Umlauf sind, verstehen sollen, fürchten sich vor den täglichen Attacken der Tiefflieger und Bomber, die unvermittelt auftauchen, mit Höllenlärm heranrasen und auf alles zielen, was sich bewegt.

Der alte Blonzen hat damit angefangen und dann sind es viele geworden, die die Wintermonate hindurch in aller Frühe ihre Häuser verlassen, in die Kyllwälder flüchten und im Dickicht Schutz vor den Bombern suchen. Im Morgendunkel hat das leer werdende Dorf noch keine festen Umrisse und die kleine Prozession, die sich in unterschiedlicher Gangart vorwärts bewegt und in dumpfem Schweigen Kinder, Frauen und Alte mitschleppt, wirkt entrückt und einsam vor der Schneelandschaft, die sie aufzusaugen scheint. Gehüllt in schwere Mäntel, die die Farbe der Erde haben, ziehen sie ihre Karren, die beladen sind mit Körben und Kisten, Kochgeschirren und Lebensmitteln. Spätestens bei Tagesanbruch wollen sie bei den Steinbrüchen sein, wo es Höhlen gibt, die sie mit Zweigen ausgekleidet haben.

Über kahle Flächen geht es hinauf in verhangene, trübe Wälder, über harschen Schnee, durch Lehm und Schlamm, immer dem trüben Licht nach, das an der ersten Karre unter der hinteren Deichsel flackert.

Klaus hat Mühe, die Augen offen zu halten. Am Morgen hat er den Tauben gemimt, so dass sein Großvater ihn mit Tritten und Püffen aus dem Haus buxieren musste. »Na los! Mach schon! Bald wird et hell.« Wie im Tran und mit vom Schlaf verklebten Augen läuft er mit seinen genagelten Schuhen den Geschwistern hinterher. Gerne würde er sich in den Schnee fallen lassen. Aber immer, wenn er langsamer wird und sich nach einem der Findlinge umsieht, spürt er die Hand seiner Mutter im Rücken, die ihn vorwärts drängt. »Bist fast acht. Ich werd dich wohl net tragen müssen«, murmelt Ina, und ihr Blick gibt Kraft für das letzte Stück.

Meist hockt er sich gleich bei der Ankunft auf einen Baumstumpf, betrachtet durch das Geäst der Bäume den heller werdenden Himmel mit den leisen Rottönen, lauscht dem Raunen der Tannenspitzen, dem Glucksen der Lüfte und dem zischenden Flug der Wolken, während die Mutter mit dem Großvater den Platz für den Tag richtet. Das nimmt immer einige Zeit in Anspruch, vor allem wegen Ursel, der Schwester, die erst ein halbes Jahr alt ist und in dieser frühen Stunde, inmitten des Durcheinanders, gestillt und gewickelt werden muss.

Das Warten und Zusehen gefällt ihm. Drei Murmeln kramt er aus der Hosentasche, wirft sie in die Luft, fängt sie wieder auf, wirft schneller und schneller, fängt und wirft und fängt und wirft, bis sich die Kugeln in der Luft im Kreis zu drehen scheinen. Eine ist aus Ton, zwei sind aus Glas mit grün-gelben Spiralen im Innern. Wenn er die Murmeln ans Auge hält, verändert sich das Licht. Wenn er sie auf dem Boden unter das Laub mischt, leuchten sie wie wilde Augen von Wölfen. Immer, wenn er sie dreht, schnippt und durch die Luft wirbelt und es aussieht, als könne er damit im Zirkus auftreten, scheucht der Großvater ihn auf. »Lass dat! Mach dich nützlich oder spiel mit den anderen.«

Die anderen mag er nicht. Sie lassen ihn nicht mitspielen, nennen ihn einen Störer, sagen, dass er zu klein ist. Ein paar Mal hat er, wenn es losging mit ›Ochs am Berg‹ oder ›Räuber und Gendarm‹, die Ordnung des Versteckens und Fangens, des Abzählens und Ausscheidens durcheinander gebracht, die Einteilung in Gut und Böse, Freund und Feind, weshalb er zurück musste auf den Baumstumpf, wo er mit dem Absatz Muster in den Waldboden hackt.

Die anderen sind ihm egal. Auch die Kälte kümmert ihn nicht, genauso wenig wie der hungrige Magen. Er hat auch keine Angst vor Fliegerangriffen und heimlich genießt er das Getöse der Sirenen, das von Gerolstein herübertönt und die Tannen vibrieren lässt. Eilig verkriechen sich dann alle in den Höhlen, Mütter mit Säuglingen zuerst, dahinter die schiebenden Alten mit Töpfen, Koffern und Taschen. Das Gedränge und Stimmengewirr übertönt, zunächst weit weg, dann näher und näher kommend, das Dröhnen der Luftgeschwader, dem grelles Pfeifen, Krach und Schüsse folgen. Zusammengekauert hocken sie. Die alte Schringer Got mit ihrem schwarzen Tuch um den Kopf betet den Rosenkranz und bekreuzigt sich bei jedem Einschlag. Unruhig lässt sie die Holzperlen durch die dürren Finger gleiten, bewegt die vertrockneten Lippen ohne einen Laut.

Der Großvater, den alle Pat1 nennen, hält Wache. Er steht vor den Höhlen und späht in Richtung des Dorfes. Eine Tante strickt und zuckt dabei nervös mit den Augen. Dann plötzlich: Tack-tack-tack. »Habt ihr gehört?« Von der Lay her sind Geschützfeuer zu hören. Dann, zunächst weit weg, wie verhallender Donner, ein dumpfes Dröhnen und Brausen, schließlich das Einschlagen von Bomben. Noch enger kriechen sie zusammen, horchen gebannt ins Dorf hinunter.

Erst wenn es eine Weile still bleibt und Pat sich wieder rührt, werden die Worte lauter. Manchmal dauert der Alarm endlose Stunden und es bleibt den Kindern nichts übrig, als in der Nähe der Höhlen zu bleiben und den Alten zuzuhören, deren Erzählungen sich allzu oft um den Krieg, die Verletzten, Vermissten oder Gefallenen drehen. Die stockenden und traurigen Worte der Frauen scheren Klaus wenig. Sie sind ihm zu klagend, zu rührend und es ist grässlich mit anzusehen, wie sie die Taschentücher herausziehen, um sich die vom Heulen und von der Kälte geröteten Nasen zu wischen.

Da sind die Erzählungen der wenigen Männer, die sich mit ihnen verschanzen, viel spannender. Bei den Männern geht es um echte Gefahr, um Anarchie und Rache, um Waffen und Feinde und manchmal auch um Frauen. Da sitzt Klaus dann, versunken in die Worte, gepresst an die Felsenwand, jedes Mal berührt und in Bann gezogen von Welten, die so verschieden sind von seiner und kann sich nicht satt hören. Vor allem, wenn der alte Blonzen loslegt. Der hat angeblich Hindenburg in den Hintern getreten und ist als Fremdenlegionär in abenteuerliche Schlachten verwickelt worden, was ihn zwei Finger gekostet hat. Er ist fast überall herumgekommen und kennt Geschichten aus aller Herren Länder, die er schwärmerisch von sich gibt und jedes Mal schärfer würzt. Blonzen, mager, mit strähnigem, grauem Haar und gelbem Bart, flucht auf den Krieg, kennt schweinische Lieder und hört nicht auf zu betonen, dass die Einzigen, denen es in diesen Zeiten gut geht, immer und überall die Weiber sind.

Klaus bewundert den Alten, der von sich behauptet, ein Anarchist zu sein. Schon als 14-Jähriger ist Blonzen zum Arbeiten nach Köln gegangen, dann nach Frankreich und später nach Italien. Besonders von den Jahren, die er in der Nähe von Paris zugebracht hat, spricht er gerne und oft, obwohl niemals klar herauskommt, welcher Art von Arbeit er dort nachgegangen ist und von was er gelebt hat. Mit derben Kraftausdrücken zieht er über die Partei her, über die Regierung im fernen Berlin, über Gott und die Pfaffen, sodass er immer wieder von den Frauen aufgefordert wird, sein Geschwätz zu lassen und die Kinder nicht zu verhetzen.

Blonzen ist für das Feuer zuständig, das er aus Gründen der Tarnung im hinteren Teil der Höhle anzündet. Ist es besonders kalt, umringen ihn die Kinder, jedes bemüht, etwas von der verströmenden Wärme abzubekommen. Klaus sitzt immer ganz vorne, dafür sorgt Blonzen. »Du und ich«, sagt Blonzen und nennt ihn seinen Kompagnon. Er behaucht ihm die blau gefrorenen Hände, hebt sie gegen die Flammen, reibt ihm die Füße, was kitzelt und zum Lachen reizt und einmal fast dazu führt, dass eine Jacke Feuer fängt.

Oft verkriecht sich der Rauch in den dicht übereinander liegenden Zweigen, mit denen die Höhlen verkleidet sind, findet keinen Abzug, brennt in den Augen und verursacht Husten. Kommen die Frauen mit den zerbeulten Aluminiumtöpfen, müssen die Kinder samt Blonzen Platz machen. Dann lassen sie sich neben den Flammen nieder, verwandeln den Schnee in den Töpfen in Wasser, schälen Kartoffeln und backen Eier in schwarzgebrannten Pfannen. Die Jüngeren schmieden Pläne, träumen vom Heiraten, kichern und stecken die Köpfe zusammen. Manchmal macht ein Foto oder ein Brief die Runde. Die Alten dösen und schicken die Kinder Brennholz sammeln und Schnee für das Waschwasser holen.

Klaus sammelt kein Brennholz. Lieber streunt er in seiner zu kurz gewordenen Lederhose und dem an mehreren Stellen gestopften Pullover durch den Wald. Seine Mutter hat ihm eingeschärft, in ihrer Nähe zu bleiben. Trotzdem zieht es ihn magisch ins Dickicht, ins Unterholz, zu den Tieren und den entfernteren Höhlen.

Mit Stöcken dringt er in den Bau der Hasen ein und hat Spaß, wenn es im Inneren der Höhle fiept und piepst. Er lauert den Mäusen auf und den Füchsen; ein Schauer läuft ihm über den Rücken, wenn er sich vorstellt, dass sein Urgroßvater, just an diesem Ort, den letzten Eifelwolf geschossen hat. Selbst bei Eiseskälte und wenn der Wind Schneeregen vor sich her treibt, läuft er allein über bemooste, gefrorene Pfade, klettert auf Buchen und Eschen, reißt an den Ästen der Tannen und Haselsträucher, springt über Farne, überquert Dreesbach und Hundsbach. Gerade wenn der Sturm die Wolken zerrt und der Wind die Wipfel biegt und beugt, wenn es über den Himmel blitzt und die Wut eines Sturmes über ihm dröhnt, ist er am liebsten draußen und wartet darauf, dass gegen Abend Nebel und Dunkelheit heraufziehen und Hecken und Sträucher verschlingen.

Sein schmaler Mund verbreitert sich beim Lachen bis zu den Ohren, wenn er Neues entdeckt. Es gibt viel zu entdecken, denn alles interessiert ihn. Verwundert betrachtet er die Schneeflocken auf seiner Hand, die alle verschieden sind wie Tausende von Sternen. Wenn es regnet, beobachtet er, wie die Rinnsale die Erde weichen und kleine Läufe bilden, die sich wie Schlangen vorwärtsbewegen. Lustig ist es, wenn er mit seinen Schuhen auf der glibberigen Erde wegrutscht.

Er ist Robin Hood, der die Armen rächt und Robinson Crusoe, der auf seiner einsamen Insel wilde Tiere zähmt. Er ist stark wie Garibaldi, von dem ihm Giuseppe, einer der Kriegsgefangenen, erzählt hat. Mit den vom Herbst noch liegengebliebenen Nüssen und Tannenzapfen stellt er die Schlacht von Gibraltar nach, Einmärsche Napoleons und die Völkerschlacht bei Leipzig. Aufgeregt verfolgt er die Bemühungen der Ameisen beim Bau eines Hügels, greift mit seinem Stock ins Geschehen ein und muss lachen, wie sich die emsigen Krabbler abplagen, eine Tannennadel oder ein Stück Rinde zum Gipfel zu transportieren.

Scheint die Sonne, hält er Grashalme gegen das Licht, dreht sie zwischen den Fingern und freut sich am Wechsel der schillernden Grüntöne. Er malt mit Spucke auf die Felsen, ritzt Zeichen in Baumstämme, ahmt Vogelstimmen nach. Er sammelt seltene Blätter, Knochen und Glasscherben, besitzt einen toten Raben, der in einem Versteck begraben liegt, wo er außerdem leere Schneckenhäuser und eine Zigarrenkiste mit schwarzen Kötteln von Rehen verwahrt, die wie Lakritz aussehen.

Spannend ist es, wenn Blonzen von den Urzeiten der Heimat erzählt. Die Vorstellung, dass, genau wo sie jetzt stehen, aus einst feuerspeienden Bergen glühende Lavaströme geflossen sind, die unaufhaltsam, unter Donnern und Zischen, alles Lebendige unter sich begraben haben, ist schaurig. Gruselig, dass der nahe Wöllersberg mit seinen Höhlen ein Vulkan ist, der jederzeit wieder ausbrechen und glühende Magma auswerfen kann. Manchmal, wenn das Getöse der Bomben laut wird, stellt sich Klaus vor, dass es der Berg ist, in dem es wieder angefangen hat zu brennen und zu brodeln.

Dann und wann findet er Beweise für Blonzens Geschichten: urzeitliche Versteinerungen von Schnecken, Muscheln, Seesternen und Seelilien. Jedes Mal, wenn er eines der bizarren Gebilde ausbuddelt und zwischen den Fingern dreht, kommt ihm das riesige und tiefe Meer in den Sinn, das Blonzen so schillernd beschreiben kann, das Meer, das lange vor den Vulkanen die Eifel überflutet und mit Tieren bevölkert hat, die längst zu Stein geworden sind. Wenn er aus dem Wald heraustritt und Tal und Schneeflächen überblickt, sieht er statt der massigen Felsen und der kargen und rauen Gegend eine ausgedehnte Meereslandschaft mit Korallenriffen vor sich. Genau das sind die Felsen laut Blonzen einst gewesen: Korallenriffe und blaues, herrlich warmes Wasser voll seltsamer Lebewesen hat es hier gegeben, Tintenfische und Quallen, Algen und Seesterne, die in Buchten lebten, auch furchterregende Kraken in tückischen Untiefen.

Gerne würde Klaus nachts in den Höhlen bleiben. Aber das erlaubt die Mutter nicht. Dass sie ihre Kinder vor allem nachts bei sich haben will, sagt sie und sieht ärgerlich nach Blonzen, dem sie vorwirft, dass er die Kinder auf dumme Ideen bringt. Dass man von ihm einiges lernen kann, weiß sie nicht. Beispielsweise wie man mit Reisig und Stroh Feuer entfacht, wie man Hasen das Fell abzieht und Hühner schlachtet. Längst hat Klaus gelernt, wann die Wolpern2 reif sind, in welchen Ecken des Buchenwaldes im Herbst Stinkmorcheln und Steinpilze wachsen. Ein Baumhaus will er bauen, so wie Blonzen es in Afrika gemacht hat. Aus Bambus soll es sein und in einem Dschungelbaum hängen. Da, wo die Hyänen lachen und die Löwen brüllen. Wie Tarzan will er leben. Pat hat Seile, die wie Lianen aussehen. Damit will er durch den Busch fliegen. Nur Jiggs, der Affe, fehlt. »Dat geht auch mit ner Katze«, beruhigt Blonzen und ist sich da ganz sicher.

Katharina und Richard, die älteren Geschwister, hassen die Höhlen. Ständig fürchten sie sich. Katharina verträgt die Nässe nicht, die ihr auf die Lungen schlägt. Immerzu hustet sie. Außerdem hat sie sich Frostbeulen geholt, die entsetzlich jucken und brennen. Jeden Morgen reibt Ina Katharinas auf das Doppelte geschwollenen Zehen mit einer halbierten Zwiebel ein. Gemeinsam pressen sie dann die bläulich verfärbten Füße Zentimeter für Zentimeter in die engen Schnürschuhe. Das Aufstehen und Gehen ist das Schlimmste. Mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen in den Augen verlässt Katharina das Haus. Sie muss bei der Mutter bleiben, wegen Ursel, die sie in dicke Decken gepackt auf dem Rücken trägt.

Richard, gerade vierzehn geworden, hat es ein paar Mal geschafft, sich zu drücken und ist zu Hause geblieben, während für Klaus kein Vorwand gilt.

Nur die Kriegsgefangenen dürfen im Haus bleiben. Einer muss schließlich arbeiten, sagt Pat. Drei Leute sind ihm zugeteilt worden: eine Russin aus der Ukraine namens Marie, Giuseppe, ein Italiener aus Ligurien und Antoine, ein Franzose aus dem Burgund. Diese drei, die auf seltsamen Wegen nach Talfang geraten sind, gehören mehr oder weniger zur Familie. Pat macht keine Unterschiede, weil sie zuverlässig sind und selbst bei Bombenalarm ihre Arbeit fortsetzen. Nicht einmal durch Flieger lassen sie sich einschüchtern. Sie gehen ins Feld, sorgen für das Vieh und kümmern sich ums Haus. Vor allem Marie und Giuseppe sind froh, wenn am Morgen alles ausrückt. Dann haben sie das Haus für sich und können tun, was sie wollen.

Vor Marie haben alle Respekt. Als ob es nichts wäre, hat sie Eifeler Platt gelernt, wenn es auch oft haarsträubend klingt. Stolz und selbstbewusst mischt sie sich in alles ein, bestimmt über Antoine und Giuseppe, verfährt im Haus so, als gehöre alles ihr und schreckt nicht davor zurück, Richard und Klaus, wenn sie nicht spuren, ordentlich durchzuprügeln. Pat kümmert dies nicht. Auch Ina hat nichts gegen die forsche Marie einzuwenden.

Seinen Vater Jakob kennt Klaus nur von wenigen kurzen Besuchen. Dunkel erinnert er sich an einen schweigsamen Mann mit blonden, welligen Haaren und Schuhen, die so blank gerieben waren, dass man sich darin hätte spiegeln können. An Feiertagen hat Jakob manchmal Geige gespielt. Das alte Instrument liegt in einem schwarzen Kasten auf dem Schrank in der Küche. Niemand darf es anfassen. Dass Jakob Pfeife raucht und Blumen, vor allem Rosen, mag, weiß Klaus von Ina, die sich manchmal seufzend daran erinnert.

Jakob hat gleich zu Kriegsbeginn den Gestellungsbefehl bekommen und ist seither nur auf Heimaturlaub, meist in der Erntezeit, zu Hause gewesen. Nach dem Sturz Mussolinis hat er den Einmarsch nach Italien mitgemacht, das für die Wehrmacht zum Besatzungsgebiet geworden ist und dort, nach bitteren und langwierigen Grabenkämpfen auf Höhe des Klosters Monte Cassino einen der schlimmsten Angriffe der alliierten Truppen auf die von den Deutschen gehaltenen Verteidigungslinien erlebt. Schockiert über die brutalen Befehle, mit denen die oberste Heeresführung die ihnen unterstellten Soldaten insbesondere gegen die Zivilbevölkerung Italiens und gewisse Banden aufputscht, schreibt er lange Briefe an Ina, die sie in seinem Geigenkasten verwahrt.

Klaus vermisst seinen Vater nicht. Das Haus ist ohnehin voller Leute und Durcheinander. Marie, Antoine und Giuseppe schlafen da, wo gerade Platz ist. Katharina schläft in Jakobs Bett neben der Mutter und Ursel. Klaus teilt sich das Bett mit Richard. Er kann sich nicht vorstellen, wo noch Platz für den Vater sein soll. Da hat es Jakob in Italien sicher besser.

Einmal will er wissen, wo Italien liegt. Aber das kann ihm niemand sagen. Schon gar nicht Ina. Giuseppe, der aus einem Dorf namens Pontedassio stammt, weiß, dass man über die Alpen muss. Aber Giuseppe spricht nicht viel und wenn, dann kann man es kaum verstehen.

Pat sagt, dass es weit ist bis Italien, dass dort Zitronen wachsen und die Leute Wäscheleinen über die Straßen spannen. Pat weiß alles. Im Gegensatz zu Ina, die sich für wenig interessiert und ihre Tage verträumt. Ina denkt nur an Jakob. Fest glaubt sie, dass nur er ihre Lage bessern kann, vertraut darauf, dass er bald zurückkehren und ihr beistehen wird. Sie lässt die Kinder gewähren und reagiert mit gutmütigem Blick auf alle Nachlässigkeiten.

Bis Weihnachten fehlen in Talfang fast sämtliche Männer. Jeden Tag umringen die Frauen Postmichel, der auf seinem Fahrrad aus Gerolstein kommt. Täglich warten sie auf Nachricht ihrer Männer, Väter, Söhne oder Brüder, die irgendwo draußen an den mittlerweile zahllosen Frontabschnitten kämpfen und durchzuhalten versuchen.

Auch die Leute im Dorf haben einiges auszuhalten. Immer wieder jagen Bomber heran, überfliegen mit unheimlichem Getöse das Tal, werfen ihre tödlichen Lasten ab, wobei sie manchmal ins Schwanken geraten. Einmal dreht sich einer, kommt zurück, trudelt in die Tiefe und kracht gegen einen der Felsen, wo er in Flammen aufgeht.

Noch bevor am Heiligabend die Dämmerung heraufzieht, ist fortwährendes Donnergrollen der Jagdbomber zu hören, unaufhörlich blitzen Leuchtzeichen vom dunkelnden Himmel. Dann wird aus sämtlichen Richtungen bombardiert. Dem Rauschen der Abwürfe folgen Detonationen, dann ohrenbetäubendes Krachen. Über Gerolstein glüht der Himmel. Ein großer Teil des Waldes geht in Flammen auf.

In der Nacht klopft jemand an der Tür. Klaus hört Stimmen und schleicht zum Treppenabsatz. Er erkennt die schrille, angstvolle Stimme seiner Tante, dann die seines Onkels und das Wimmern von Kindern. Die Tante heult und erzählt von unzähligen Verschütteten, von Verbrannten und von einer abgerissenen Hand, die auf einer Schubkarre gelegen hat. Sie sagt, dass die Kyllbrücke gebrochen ist, Schienen und Weichen kaputt und Häuser wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen sind. »Alles kaputt und voller Rauch«, hört er den Onkel sagen, »man kann den Weg net mehr erkennen. Überall brennt et. Bahnhofstraß un Marktstraß bis runter zum Sprudel – überall Feuer un Trümmer. Von unserem Haus wird nix mehr übrig sein.«

In dieser Nacht kann Klaus nicht schlafen.

Am anderen Tag ist das Haus noch voller als sonst. Drei Schlafzimmer für zehn Personen. In nur zwei Zimmern stehen Öfen und die Kälte ist etwas, wovor sich Klaus das ganze Jahr fürchtet. Die Verwandten wissen mit ihren beiden Kindern nicht wohin. In ihre Wohnung können sie nicht mehr.

Nur wenige Tage später – es ist ein kalter, aber strahlender Tag – kehren die Bomber zurück. Wieder glüht über Gerolstein der Himmel.

Pat macht sich auf, um zu helfen. Er nimmt Richard mit. Klaus sieht, wie sie, Spaten und Schaufeln geschultert, über den Hof gehen.

Als sie am Abend zurückkommen, sind sie schmutzig und erschöpft. Pat hat sich die Hand aufgerissen. Richard ist weiß im Gesicht. Wie von Wachs sieht er aus. Pat sagt, dass Tante Ann verbrannt ist. Dass sie im Rauch erstickt ist. Richard, der geholfen hat, seine verkohlte Tante aus dem Haus zu tragen, kann tagelang nichts essen. Tiefe Angst sitzt in seinen Augen.

Das neue Jahr beginnt, wie das alte aufgehört hat. Die Leute rücken zusammen, harren aus. Geflohene, Evakuierte und Vertriebene strömen in die Dörfer, geben alles für ein Stück Brot. Die Häuser sind voller Soldaten.

Mitte März gelingt es Pat, dem lebensgefährlichen Radio Calais eine Nachricht abzulauschen. Mit eigenen Ohren hat er gehört, dass die Amerikaner die Rheinbrücke bei Remagen eingenommen haben und ist sich sicher, dass bald ein neuer Wind wehen wird. Schon lange erscheint ihm der Feind im Land erträglicher als die eigene Wehrmacht, bei der Recht und Vernunft schon lange nichts mehr gelten. In Hemdsärmeln steht er am Morgen in der Küche, beschimpft die Wehrmacht und während er seine Stiefel anzieht, erklärt er Marie, dass sie bald heimkehren könne, nach Russland, was dazu führt, dass Marie in Tränen ausbricht. »Du brauchst kein Angst zu haben«, beruhigt Pat, »die Amis tun uns nix. Et sei denn, du hast mitgemacht.« Klaus versteht nicht, wobei Marie mitgemacht haben soll. Pat grinst und schnippt mit den Fingern. »Ich glaub, dat jetzt ne neue Zeit anfängt, ne ganz neue Zeit«, sagt er.

Dennoch verbringen sie bis in den April hinein ihre Tage noch in den Höhlen am Steinbruch.

Gehöchtnis3

Die Amerikaner kommen! Klaus denkt an den wilden Westen, an Abenteuer und Revolverhelden. Ein Filmplakat von ›Alarm im Pazifik‹ kommt ihm in den Sinn, das vor dem Gerolsteiner Kino an der Wand klebt und John Wayne zeigt, der auf einem glänzenden, schwarzen Pferd der Sonne entgegenjagt. Er überlegt, was er sagen will, wenn sie da sind, fragt seinen Großvater, der ihm erklärt, dass es erstmal darauf ankäme, nicht mehr alles zu sagen.

Jeden Tag wartet er auf die Amerikaner. Aber darüber soll er mit niemandem reden. Aus dem Volksempfänger tönt auch immer noch die gleiche schrille Stimme, die meldet, dass der Schicksalskampf gegen die Bolschewisten mit dem deutschen Sieg enden wird. Den deutschen Sieg wünscht er sich und denkt dabei an den Boxkampf zwischen Max Schmeling und Joe Louis, von dem sein Vater ein Foto besitzt. Pat glaubt nicht an den Sieg. »Wir verlieren. Dat ist so sicher wie dat Amen in der Kirch«, sagt er und verrät Klaus, dass immer mehr ranghohe Militärs einfach verschwinden oder sich plötzlich in Zivil zeigen. »Die hauen alle ab. Und mit Feiglingen kann man nix gewinnen, schon gar keinen Krieg.«

Eines Abends, als sie wieder aus den Höhlen nach Hause eilen, zeigt sich das Herannahen der Amerikaner drastisch und unvermittelt durch heulende Granaten, die in nächster Nähe des Dorfes einschlagen, sodass die Gruppe in helle Aufregung gerät und schreiend auseinander rennt. Da weiß selbst Pat nicht, was er tun soll.

Nur Stunden später verlässt der letzte deutsche Soldat Gerolstein. Die Gegend wird zum Niemandsland. Noch in der gleichen Nacht dröhnt aus den umliegenden Orten schweres Artilleriefeuer, das näher und näher kommt, bis schließlich auch Talfang beschossen wird. Auch in dieser Nacht schläft niemand.

Die ersten Amerikaner zeigen sich am frühen Morgen mit Jeeps und Panzern, ausgestattet mit Handfeuerwaffen, kompromisslos kampfbereit. Vorsichtshalber lassen die Leute an Schule und Schänken weiße Bettlaken aus den Fenstern hängen, bleiben im Haus und bewegen sich unauffällig. Am Nachmittag dröhnt der Kyllwald von nicht enden wollenden marschierenden Kolonnen.

Pat meint, dass sich jetzt einige warm anziehen können. Begleitet von Siegesgehabe durchkämmen die Amerikaner Scheunen und durchwühlen Ställe. Durch sämtliche Häuser poltern ihre Stiefel. Männer, die ihnen verdächtig vorkommen, müssen mitkommen. Waffen, Munition, Fotoapparate, Radiogeräte, Uniformstücke, Fahnen und Bilder sammeln sie ein. Auch Bücher. Niemand darf das Haus verlassen.

Pat wehrt sich nicht, als sie ihn mitnehmen.

»Is doch klar, dat die uns ausfragen«, sagt er, als er zurückkommt und Ina wissen will, was sie mit ihm gemacht haben. »Ja, wat wohl? Die wollten wissen, ob ich en Nazi war!« Mehr sagt er nicht.

Am Dorfeingang liegt eine Wirtschaftsburg mit Burghaus und einem Wehrturm. Mit Maschinenpistolen dringt ein Trupp Amerikaner in die Wirtschaftsgebäude ein, besetzt die inzwischen verlassene Befehlsstelle des deutschen Generalstabs, lässt von den Leuten, die dort geblieben sind, den Ofen feuern und Essen kochen. Auch in der Schule und auf den Höfen quartieren sich welche ein. »Go, go, go!«, schreien die Amis denen zu, die ihre Häuser nicht räumen wollen.

Im Henkeshaus bleiben sie nur ein paar Stunden. Sie durchstöbern Schränke, Betten und Kommoden. Ina muss Jacken und Hemden waschen und Essen heranschaffen. Nur kurz belagern zwei Soldaten die Schlafzimmer, schlafen in voller Montur und als sie gehen, ist alles voller Läuse.

Klaus hat keine Angst vor den fremden Soldaten. Sie bewegen sich anders als die Soldaten der Wehrmacht, nicht so steif, sind laut und scherzen mit Burke Lieschen. Im Burghof steht ein offener amerikanischer Geländewagen, auf dem Männer sitzen, die Klaus nie gesehen hat. Holztische sind aufgestellt. Zwei Soldaten sitzen auf gepolsterten Stühlen und durchblättern die Pässe der wenigen Männer, die es im Dorf noch gibt. Der alte Blonzen steht ganz vorne in der Reihe. Einer der Soldaten übersetzt, was er sagt. Blonzen muss seinen Beruf nennen, was ihm einige Schwierigkeiten macht. Er sagt, dass er Arbeiter ist, woraufhin er beschimpft wird. Dann soll er Auskunft geben, ob er Soldat war, Mitglied der Partei oder Mitglied der Hitlerjugend. Der Alte steht da und presst mit verkrampften Händen seine speckige Kappe. So hat Klaus ihn nie gesehen. Blonzen muss seinen Ausweis abgeben und warten. »Geh heim«, zischt er Klaus zu, »die holen dich sonst mit.«

Aber Klaus geht nicht, und sie nehmen ihn auch nicht mit.

»Dschi-Eis sind dat«, sagt Blonzen am anderen Tag und macht ein wichtiges Gesicht. »Dat sind jetzt die neuen Burgherren.« Mit einem Stock schreibt er ein unsichtbares G und ein I auf die Straße, bringt Klaus Schimpfwörter bei, übt mit ihm die Aussprache, wobei er sich fast totlacht. »Horse Shit, sag mal Horse Shit! Oder Bitch! Sag dat mal!«, fordert er und lacht und lacht und lacht. »Hors schitt«, sagt Klaus und lacht auch.

Niemand weiß, wie die Amerikaner einzuschätzen sind. Ina rät zur Vorsicht. Als Klaus erfährt, dass sie Bonbons an Kinder verschenken, stehen er und ein paar Jungen bereit, als an einem Sonntagmorgen Panzer mit aufgemalten weißen Sternen aus Richtung Prüm mal hintereinander, mal nebeneinander auf der schmalen Fahrspur des Dorfes Richtung Gerolstein dröhnen. Gespannt beäugen sie die vorbeifahrenden Amphibienfahrzeuge, die schwerfällig vorwärts kommen und an der scharfen Kurve vor Käddis Laden fast stehenbleiben. Auf den Panzern sitzen Soldaten mit Helmen und schussbereiten Karabinern. Bisher hat Klaus bei wichtigen Personen und fremden Fahrzeugen immer zackig gegrüßt. Weil Pat ihm das verboten hat, ruft er jetzt »Fire!«, ein Wort, das er aufgeschnappt hat und von dem er meint, dass es wie ein Gruß klingt. Dabei hebt er die Hand und zeigt mit dem Zeigefinger Richtung Wolken. Die Soldaten bleiben unbeeindruckt. Mit starr nach vorne gerichteten Blicken lenken sie an den Kindern vorbei.

Bald folgen Jeeps, einer vorneweg, besetzt mit einem grinsenden Schützen, vor dem alle zurückweichen. So schwarz seine Haut, so weiß die Zähne. Der Mann winkt, bückt sich über die Jeepbrüstung, greift in die Tasche seiner Uniformjacke und zieht ein Päckchen heraus, das er dem nächstbesten Kind in die Hand drückt. Dann deutet er mit einer weiten Handbewegung in die Runde, hinterlässt ein paar unverständliche Worte, fuchtelt in der Luft herum und lacht.