An der Türschwelle - Venera M. Pott - E-Book

An der Türschwelle E-Book

Venera M. Pott

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Beschreibung

Die 90er Jahre, viel weniger multikulturell als heute. Im Jahr 1995 wandert die Autorin Venera M. Pott aus Bulgarien aus, einem damaligen Wrack des kommunistischen Gleichheitstraums. Die blutjunge Frau ahnt nicht, dass sie sowohl vor diesem System davonläuft als auch vor ihrer eigenen Familie. Sie muss um jeden Preis in Deutschland bleiben und tut es als illegale Einwanderin. Drei Jahre lang kämpft sie sich durch das unterste Milieu, das Deutschland zu bieten hat. Dann wird sie im Kofferraum eines Autos über die Grenze geschmuggelt, um legal als Studentin zurückzukehren. Sie erlebt die Veränderungen Deutschlands nun in vollem Umfang - die zunehmende Offenheit gegenüber fremden Kulturen, die geistige Befreiung vom Nazi-Image, die millionenfach besuchten Raves. Doch wird sie ihre tiefen Narben der Vergangenheit heilen können? Ein Memoir aus gestochen scharfen Szenen über Heilung, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil I: Hangover, Germany

Kapitel 1: Das schlechte Omen

Kapitel 2: Weißwein

Kapitel 3: Eine wunderbare Freundschaft

Kapitel 4: Brot und Öl

Kapitel 5: Weihnachtlich?

Kapitel 6: Tausend und eine Nacht

Kapitel 7: Der Aufstand

Kapitel 8: Der kurdische Imbiss

Kapitel 9: Die letzte Tram

Kapitel 10: Die geheime Feier

Kapitel 11: Gefährliche Spielchen

Kapitel 12: Die Ordnungshüter

Kapitel 13: Downhill

Kapitel 14: Alice im Wunderland

Kapitel 15: Das große Messer

Kapitel 16: Das besetzte Haus

Kapitel 17: Der Ford Mondeo

Teil II: München

Kapitel 18: Im Xenias Bistro

Kapitel 19: Der Balkan aus Neuperlach

Kapitel 20: Die Verkehrskontrolle

Kapitel 21: Frau und Kind

Kapitel 22: Im Trockenen

Kapitel 23: Große Schwester

Kapitel 24: Der Kofferraum

Kapitel 25: Der Weg zurück

Kapitel 26: Romeo

Kapitel 27: Die deutsche Botschaft

Teil III: Der Weg nach Berlin

Kapitel 28: Donald Black

Kapitel 29: Mutters Erbe

Kapitel 30: Die Versengung

Kapitel 31: Scheol

Kapitel 32: Die bulgarische Freundin

Kapitel 33: Der letzte Tropfen

Kapitel 34: Exodus

Kapitel 35: Digital und Real

Kapitel 36: Der Virus und die Genesung

Kapitel 37: Die Loveparade

Kapitel 38: Summer of Drugs

Kapitel 39: Das Unsägliche

Kapitel 40: Gaynnover

Kapitel 41: Rolands Überraschung

Kapitel 42: Heilung und Sunshine

Kapitel 43: Die Hippie-Party

Kapitel 44: Der gute Job

Kapitel 45: This crazy little thing

Kapitel 46: Das Geburtstag

Epilog

Prolog

Das 90er-Jahre-Deutschland war kein gelobtes Land für uns Auswanderer. Wir wollten in die USA, nach England oder selbst Griechenland, aber nicht ins Land „der stummen Menschen“ (der Rufname der Deutschen auf Slawisch), das Flüchtlingsheime anzündete und Einwanderer ermordete. Doch genau dort landete ich.

Jetzt, 28 Jahre nach meiner ersten Einreise ist klar, dass ich ohne Deutschland nicht überlebt hätte. Ich wurde zwar dort schikaniert und gemobbt, während ich mich drei Jahre lang als Illegale durchschlug. Ich habe zwei Mordversuche überlebt, sowie das unterste Milieu, das dieses Land zu bieten hatte. Dann wurde ich durch die Grenze zurück nach Bulgarien geschmuggelt. Ich kam erneut, bekämpfte meine Drogen- und Alkoholsucht und lernte die Liebe kennen. Deutschland heilte mich, aber ich bereicherte Deutschland. Und hier bin ich, um meine Geschichte zu erzählen.

Teil I Hangover, Germany

Kapitel 1Das schlechte Omen

1995

Die Busse waren eine Neuheit in Bulgarien, obwohl sie alt waren. Wir waren unsere Tschawdars gewohnt, deren Motorhauben Sarg-ähnlich neben dem Fahrer lagen; an ihre durchgesessenen Sitze und an die offen angeklemmten Fenster. Die neuen Busse kamen aus Deutschland, ihre Sitze waren frisch und die Fenster konnte man gar nicht aufmachen. Manche betrachteten das als Problem, denn damals durfte man im Bus rauchen und dies taten wir ununterbrochen. Nach einem feuchtfröhlichen Abschied mit meinen Freunden fuhr mich Michail nach Sofia und ich stieg in den neuen Bus nach Hannover ein, verkatert, doch voller Energie und Erwartung.

Unser Weg nach Europa durfte damals nicht durch Österreich verlaufen, der neue Europäer. So fuhren wir durch Serbien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien und ich zitterte eine Grenze nach der anderen durch, so als ob mich der Grenzschutz jeden Moment unter einem Vorwand zurückschicken würde. Ich hatte auch allen Grund zu bangen.

An jeder Grenze, außer an der tschechischen und der deutschen, rannten die Fahrgastbetreuer zu den Checkpoints und überhäuften den Grenzschutz mit Coca-Cola und Fanta (die noch lange nach der Wende ihren mythischen Status im Ostblock behielten), mit Süßigkeiten, Zigaretten und nicht selten mit Geld. Trotz der Bestechung ließen sich die Beamten Zeit. An der ungarischen Grenze standen bulgarische Busse wie Sardinenbüchsen auf Räder aus Prinzip zwischen vier und sieben Stunden. Und wenn es endlich so weit war, zitterten wir Unerfahrenen. Tagsüber schlenderte der Grenzschutz mit finsteren Mienen durch den Bus und starrte unsere Pässe unnötig lange an. Nachts mit Taschenlampen, die er in unsere Augen leuchten ließ, bombardierte er uns mit hasserfüllten Fragen.

„Warum? Wie lange? Wo ist das Geld für deinen Aufenthalt?“

Meine ärmlich angezogene Mitreisende mit Schuhen Made in Turkey raunte etwas, während da draußen deutsche, französische und italienische Fahrzeuge an unserem Bus vorbeihuschten, ohne nennenswert angehalten zu werden. Sah ich schon da in den Augen der Fahrer ein Selbstbewusstsein, das uns gänzlich fehlte? Sie begrüßten den Grenzschutz gar mit Gähnen oder schlecht verborgener Ungeduld – Gott, wenn nur wir das gewagt hätten! Die alten Europäer sprachen gar unfreundlich mit den Beamten, wenn es länger dauerte. Und der osteuropäische Grenzschutz ließ es an uns aus.

Immerhin überquerten wir aber die Grenzen. Wir waren nicht mit Booten unterwegs, die umkippten und die Hälfte von uns ertrank, vor den halb–geschlossenen Augen Europas.

Wir flohen nicht aus einem Krieg, nur um unseren Tod in den kargen Bergen zu begegnen, während die Welt uns die kalte Schulter zudrehte. Uns fiel im Traum nicht ein, uns zu beschweren. Wir waren ja Zweite-Klasse-Menschen, sagten wir oft genug selbst. Nicht zuletzt, weil das Schlimmste der Reise schon am Anfang passiert war, noch auf Balkanboden.

*

Kaum zwei Stunden nach dem Start von Sofia hielten wir an einer serbischen Raststätte mitten im Nichts an und die Crew verkündete eine halbstündige Pause. Und verschwand danach ins Restaurant. Auf dem Parkplatz kam noch ein bulgarischer Bus angefahren und machte ebenso Rast. Verwirrt suchten wir die Toiletten auf oder starrten in der verlassenen Umgebung umher und auf den dschungelartigen Wald gegenüber.

Mitten auf dem Parkplatz bildete sich eine Gruppe, die laute Rufe ausstieß und Hütchenspielen auf dem Boden nachging. Manche schienen sogar Glück zu haben und der große Mann mit den Würfelbechern schien ihnen redlich den Gewinn auszuzahlen.

Dadurch ermutigt machten einige Passagiere mit, auch Sylvia, meine blondierte Sitznachbarin.

Der kräftige Spielbetreiber hörte nicht auf laut zum Spielen einzuladen und währenddessen wedelte er mit den Würfelbechern herum wie ein Affe. Als ich zurück zum Bus lief, hörte ich wie Sylvia inmitten der Spielgruppe aufschrie.

„Gib mir meine Tasche, du Dieb, gib mir meine Tasche zurück! Da ist mein ganzes Geld drin!“ Der bullenstarke Mann hatte Sylvia die geöffnete Tasche aus der Hand gerissen und lief mit beachtlichen Sprüngen über den Parkplatz in Richtung Wald. Seine Mitstreiter folgten ihm Schulter an Schulter, die Menschenmenge fixierend. Die bulgarische Gruppe blieb wie versteinert stehen, nur Sylvia lief ihnen nach und heulte.

„Gib mir meine Tasche, du, mein Geld, mein ganzes Geld!“

Sie schaffte es den Anführer einzuholen und packte ihn am Ärmel, aber dann traf sie die Ohrfeige mit so einer Wucht, dass sie bedrohlich nach hinten schwankte.

„WAS MACHST DU DENN?“, schrie ich, bevor ich nachdenken konnte. „GIB DER FRAU DIE TASCHE WIEDER, DU...“ Ich rang nach Worten und jetzt drehte sich sein Kopf zurück. Er schaute mich aus der Ferne an, gewalttätig und skrupellos.

„Hast du keine Scham?“, senkte ich die Tonlage, weil er schon schnell auf mich zukam.

Die Bulgaren standen immer noch mitten auf dem Parkplatz mit gesenkten Köpfen oder spähten ängstlich zum Anführer. Er sauste an ihnen vorbei, ohne dass ihn jemand aufhielt. Der bullenstarke Mann kam so nah an mich ran, dass ich sein Aftershave riechen konnte und guckte aggressiv in meine Augen. Dann sprach er mit abscheulicher Stimme in der Sprache, die meiner so ähnlich war.

„Das geht dich nichts an, du bulgarische Bitch! Halt lieber deine Klappe, bevor dir auch noch was passiert!“

Sylvia kauerte hinter ihm und schluchzte, doch das schien den Schläger noch wütender zu machen als ihre Schreie zuvor.

„UND DU, HALT DEN MUND DU SCHLAMPE!“, brüllte er so tierähnlich, dass es Sylvia den Atem verschlug. „HALTET EUCH ZURÜCK ODER IHR SEID ALLE FÄLLIG!“, knurrte er, weil er bemerkte, dass ein paar Leute unsichere Anstalten machten näherzukommen. Seine Augen weiteten sich und ich sah, dass sie blutunterlaufen wie bei einem tollwütigen Hund waren. Alle erblickten zudem deutlich, dass seine Hand auf den Griff einer Pistole gewandert war, die jetzt aus der Tasche seines Jogginganzugs herausstach.

Ich starrte den Mann an und ignorierte die kalte Hand in meinem Inneren, die meine Eingeweide umschloss. Vielleicht hat er etwas in meinen Augen bemerkt, das er nicht allzu oft gesehen hatte oder spürte, dass die Situation eskalieren würde – aber er ließ nur noch ein paar Beleidigungen fallen und wandte sich erneut ab. Er rannte zurück über den Parkplatz, aggressiv in die Menge starrend, die Hand auf dem Pistolengriff. Er sauste über die Landstraße und erreichte die dichten Bäume und seine Kumpels, die dort warteten. Einen Augenblick – und der dunkle Balkanwald verschluckte sie mit einem Biss.

Ich half der schwankenden Sylvia in den Bus und zitterte jetzt selbst am ganzen Leib.

„Da waren tausend Mark drin“, winselte sie und Tränen strömten ihre Wangen herunter.

„Meine ganzen Ersparnisse, ein Leben lang! Gut, dass wenigstens die Pässe bei der Crew sind – “. Ihr Körper schüttelte sich in stummen Krämpfen.

Ich stand auf und drehte mich zu den Mitfahrenden, die gerade einstiegen. Ich bebte.

„Das war toll da draußen! Eine Frau schlagen zu lassen, wenn ein ganzer Bus Leute da ist..., wenn zwei Busse mit Leuten da sind!“ Ich erstickte an meinen Worten. Als manche mit gesenkten Köpfen anfingen Sachen zu murmeln wie „Pistole“, „verrückt“ oder „mitten in Serbien“, schrie ich aus vollem Hals: „MIR IST ES EGAL, NUR EIN PAAR LEUTE WÄREN NÖTIG GEWESEN, SEID IHR MÄNNER ODER WAS?!“

In dieser Zeit sahen sich die bulgarischen Männer gern als sehr maskulin, was stark und mutig gleichen sollte. Komisch nur, dass vorhin auf dem Parkplatz keine Spur davon zu sehen gewesen war. Meine Mitfahrer wandten jetzt die Blicke ab, manche beschämt, andere gleichgültig, sogar irritiert. Das machte mich nur noch wütender. Sylvia dankte mir mit einem tränenüberströmten Lächeln und einem heftigen Handdruck. Der Fahrer und die Betreuer kamen zurück, ihre Mienen ausdrucklos, ihre Augen schweifend. Kein Mensch kam auf die Idee die Polizei anzurufen. Die würde nichts tun, nicht für Bulgaren und selbst für ihre eigenen Leute nicht. Nicht ohne Bestechung.

Der große Bus fuhr vom Parkplatz auf die wüste Landstraße und ich warf einen letzten Blick auf den dschungelartigen Balkanwald. Der schien jetzt, durch ein weiteres düsteres Geheimnis, noch undurchdringlicher auszusehen.

*

Wir kamen nach einer zweitägigen Busreise in einer kalten Augustnacht am Hauptbahnhof Hannover an. Mein bisheriges Leben hatte mich taff für mein Alter gemacht, doch jetzt zitterte ich, und nicht nur, weil diese Nacht viel kühler war als die Sommernächte Bulgariens. Ich ersehnte und fürchtete gleichzeitig die Begegnung mit den Menschen, die meine Familie für ein Jahr ersetzen sollten. Ich war noch nie im Ausland gewesen.

Mein handgenähtes Kleid stank nach Schweiß und Zigaretten und meine Beine und mein Nacken waren taub geworden. Ich zitterte und wagte es nicht, mich auch nur einen Schritt von den Türen des Hauptbahnhofs zu entfernen – aber irgendetwas lief schief. Die Au-pair-Familie kam nicht.

Silvia wurde von einem Riesenmann mit rotem Gesicht abgeholt und stand jetzt mit ihm in der Innenhalle. Sie erzählte wild gestikulierend. Bald kamen sie zum Eingang und ich musste über den Raub, die Ohrfeige und das entsetzlich feige Benehmen unserer Landsleute berichten. Irgendwann hatte der Busfahrer nämlich zugegeben, dass wenn er dort nicht angehalten hätte, die Serben bei der nächsten Fahrt seine Fensterscheiben mit Steinen zerschlagen hätten. Das wäre schon ein paar Mal vorgekommen. Ich wurde dabei erneut von Wut gepackt, obwohl ein Teil von mir das Dilemma verstand. Es waren finstere Zeiten auf dem Balkan, die 90er-Jahre. Serbien war mitten im Krieg und Bulgarien stand auch ohne Krieg am Rande des Kollapses.

Der Rotgesichtige knurrte, dass er das Ganze erst einmal verdauen müsse. Es wären ja auch seine Ersparnisse gewesen. Er schlug vor, dass sie eine Erfrischung zu sich nahmen, ehe sie weiterfuhren. Silvia dankte mir nochmal und umarmte mich. Ich konnte sehen, dass sie sich in einen Imbiss mitten am Bahnhof setzten.

Leute kamen und gingen scharenweise, aber von Frau Schmid gab es keine Spur. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die riesige Innenhalle des Bahnhofs, deren gleichen ich noch nie gesehen hatte, ließ mich klein und verloren fühlen. Ich beäugte zwei Polizeibeamten, die sich mit einer Gruppe junger Punks unterhielten. Ich wurde tief beeindruckt, wie freundlich die Polizisten mit den jungen Ausreißern umgingen. Sie lachten sogar gemeinsam und bald gingen die Ordnungshüter auch wieder. Im damaligen Bulgarien wären die Punks mit Sicherheit verscheucht, gar verprügelt worden, weil sie auf der Straße saßen und anders aussahen. Die Miliz hieß zwar seit fünf Jahren schon Polizei, aber es hatte sich nicht viel verändert in Gesetz und Geist, was Freiheit und Recht betraf. Das würde noch eine ganze Weile dauern.

In meiner Heimat war ich immer aufgefallen, denn blonde Mädchen gab es bei uns kaum. Auch anders als meine aufgetakelten Mitschülerinnen trug ich breite Jeans, Overalls und unförmige Kleider. Seit meiner Kindheit hatte ich den Westen ersehnt wie viele andere und hatte sogar versucht, die Grenze nach Griechenland illegal zu überqueren. Damals waren aber Bulgaren im Westen so gern gesehen wie heutzutage die übrigen Wirtschaftsflüchtlinge.

Die Pleite mit Griechenland war ein harter Schlag und ich lief eine Woche lang mit verzweifelter Miene umher. Danach hob ich den Kopf und fand mein Lächeln wieder. Ich besuchte täglich die kleine Kirche meiner Stadt und zündete eine Kerze vor der Sankt Pantaleons Ikone an.

Sankt Pantaley, wie wir ihn nennen, galt in unserem Teil Europas als Patron der Reisenden. Er war im Westen anders bekannt, aber auf dem dunklen Balkan hatte es die Christianisierung nie geschafft, den heidnischen Glauben auszurotten. Die neuen christlichen Heiligen eigneten sich Attribute der verbotenen alten Götter an und so bekam Pantaley kurzerhand die Eigenschaften des alten Gottes Hermes zugeschrieben.

Ich war wie alle anderen Bulgaren erst seit kurzem gläubig, doch die Kirche war zu einer Trostquelle geworden. Wir sparten an Essen um Kerzen zu kaufen, mit denen wir die Heiligen besänftigten. Sankt Pantaley nahm sich Zeit, bis er meine Gebete erhörte. Doch dann, eines Tages, meldete sich meine verschollene Tante Lilie wie aus heiterem Himmel am Telefon.

Lilie war die Flucht schon vor der Wende gelungen, sie hatte in Deutschland geheiratet.

Ich hatte sie seit Jahren nicht gesprochen, nur ehrfürchtig den Legenden über ihr Leben zugehört und meine Tante von Herzen beneidet.

„Ich kann dir Au-pair–Bewerbungspapiere per Post zuschicken. Es ist eine noch unbekannte Möglichkeit, in den Westen zu gelangen. Du kannst Deutsch lernen und vielleicht später studieren. Na, was sagst du?“, fragte sie ernst.

Ich keuchte und schluckte trocken. Jahre ohne Aussicht auf eine Auswanderung und jetzt das?!

Tante Lilie wohnte außerhalb Hannovers und da würde ich auch landen. Das halbe Jahr, bis die überwältigende Bürokratie beider Länder mir ein Au-pair-Visum gestattete, nutzte ich, um wie verrückt die Sprache zu pauken, die eine der schwersten Grammatiken der Welt zu besitzen schien.

*

Eine kleine Punkerin schlenderte herüber.

„Kann ich mal 'ne Kippe haben? 'Ne Zigarette?“, wiederholte sie als sie sah, dass ich nicht verstand. „Natürlich“, sagte ich strahlend und gab ihr auch Feuer dazu, wie sich das in meinem Heimat gehörte. Gleich danach verfiel ich wieder der zunehmenden Panik, dass irgendetwas schiefgelaufen war. Wir mussten uns missverstanden haben, meine Au-pair-Mutter und ich...

Es war ja eine Sache ABC im Deutschkurs zu lernen und eine andere, sich am Telefon mit einer schnellsprechenden Muttersprachlerin zu verständigen. 22 Uhr vor der Eingangstür, wiederholte ich innerlich; der Reim half mir die Info zu behalten. In meinem wachsenden Unmut zuckte ich bei jedem Aufreißen der Tür und gab zerstreut den Punks noch sechs oder sieben Zigaretten. Irgendwann entrüstete es mich doch, denn kein Mensch in Bulgarien, egal wie arm, hätte sich angemaßt, mehr als eine Zigarette von Unbekannten zu schnorren. Merkte man hier selbst bei Straßenleuten, dass man gewohnt war, im großen Stil zu konsumieren?

In einer Stunde, als ich schon erfroren und sicher war, dass die Au-pair-Familie nicht mehr kam, sah ich, dass Silvia und der Rotgesichtige gerade aus dem Imbiss gingen. Ich lief ihnen nach, der Riemen der schweren Reisetasche schnitt in meine Schulter. Sie boten mir an, dass ich von seinem Autotelefon – er hatte eins! – meine Tante anrief.

Tante Lilie war noch nicht im Bett, es war eine Samstagnacht.

„Sag mal, wie kann das sein?! Was habt ihr mit Frau Schmid genau ausgemacht?“, jaulte sie, während das Autotelefon so rauschte, als ob die Verbindung mit dem Mond hergestellt wurde und nicht mit außerhalb Hannovers.

„Sehr untypisch, muss ich sagen“, fuhr Tante Lilie fort, „– Die Deutschen sind überaus zuverlässig, wenn es um Verabredungen geht! Ooh, und es fährt keine Bahn mehr und ich kann kein Auto fahren, auch wenn ich eins hätte!“, winselte sie, während ich Silvia beobachtete, die auf den Rotgesichtigen einredete. Er schien darüber nicht glücklich.

„Wir werden dich hinfahren!“, kam Silvia näher. „Ich vergesse nicht, wie du in Serbien zu mir gehalten hast!“, tätschelte sie meinen Arm. Und eine große Last fiel von meinen Schultern.

Ich warf einen letzten Blick zum Eingang, welcher sich als ein unglücklicher Ort meines Ankommens entpuppt hatte – doch ich hatte Glück im Unglück. Die meisten Punker dösten schon im Sitzen oder Liegen, Köpfe auf die Schultern ihrer Kameraden, mehr oder weniger laut schnarchend. Nur einer oder zwei tranken noch mit unfokussierten Blicken und verlorenen Gesichtsausdrücken. Ich hatte noch nie zuvor jemanden auf der Straße schlafen gesehen – erst recht keine Teenager.

Kapitel 2Weißwein

Die Tür ging mit einem Tritt auf und ich sprang im Bett hoch und stieß mir dabei den Kopf an der Dachschräge des kleinen Zimmers. Draußen war es noch dunkel. Unter Schreck und vom Schmerz tränenden Augen warf ich einen Blick auf den elektronischen Wecker.

5.42 Uhr. An der Türschwelle stützte sich der formidable, tagesmantelverhüllte Umriss Frau Schmids. Hinter ihr sickerte das gelbe Licht des Flurs, das unter anderen Umständen gemütlich wirkte. Mein Herz trommelte ein Crescendo, während ich verwirrt überlegte, was ich dieses Mal verbockt hatte.

„AUFSTEHEN!“, bellte Frau Schmid und ihre heisere Stimme prallte an die Wandschrägen.

Ich sprang vom Bett, Kopf nach vorne gebeugt und hastete mich anzuziehen. „Schneller, du blabla-blabla!“, brummte die Raucherstimme und das war eins der Male, bei denen ich froh war, noch schlecht Deutsch zu können. Die darauffolgenden Wörter kannte ich aber.

„FRÜHSTÜCK! LOS!!“

In der modernen Küche im ersten Stock wartete mit ausdrucksloser Miene die 13-jährige Tochter Frau Schmids. Mit geübten Bewegungen setzte ich Kaffee auf und fing an Brötchen zu schmieren. Jetzt fiel es mir wieder ein – gestern wurde verkündet, dass ich heute eine Stunde früher das Frühstück servieren musste. Die Kleine musste zum Schulausflug zeitiger los. Hatte ich vergessen den Wecker zu stellen? Ich erinnerte mich wie ich am Boden meines winzigen Zimmers lag, Bier trank und weinte, während ich mit meiner Freundin telefonierte. Die Gespräche mit Bulgarien waren unglaublich teuer und ich musste sie kurz halten. Danach war ich ins Bett gefallen und hatte in mein Tagebuch geschrieben. So musste ich wohl eingeschlafen sein...

„Eier kocht man nicht mit einem Deckel drauf!“, knurrte die Raucherstimme hinter meiner Schulter und ich sprang wieder hoch. Ich hätte zu gern erwidert, dass ich so nur schneller das Wasser zum Kochen bringen wollte. Doch nach der zweiten Woche hier wurde mir verboten, weiterhin Englisch zu reden. Frau Schmid war der festen Meinung, dass ich so schneller Deutsch lernen würde.

Überhaupt schien Frau Schmid an meinem sprachlichen Vorankommen sehr interessiert.

„Hey, Verena... ah, tut mir leid, Ve–ne–ra. Ich habe eine Überraschung für dich! Ab morgen fängst du an, richtig Deutsch zu lernen“, hatte mir Frau Schmid eines Abends am Pool verkündet. „Eine befreundete Grundschullehrerin erklärte sich bereit, dich in die zweite Klasse aufzunehmen!“, nickte sie mir wohlwollend zu. Und trank Weißwein.

Eigentlich verlangte der Au-Pair-Vertrag, dass die Mädchen von ihren „neuen Familien“ an Sprachschulen eingeschrieben wurden. Doch die Grundschullehrerin wollte Schmid die Kosten von 120 Mark1 halbjährlich bei der Volkshochschule ersparen. So krümmte ich mich mit stiller Verzweiflung dreimal in der Woche auf die viel zu kleinen Schulbänke und schrieb während des Zweitklässler-Unterrichts Briefe an die Heimat. Dafür hatte ich ansonsten kaum Zeit.

„Heute müssen der Rasen und der Swimmingpool saubergemacht werden“, sagte sie täglich. „Und alle Pflanzen müssen gegossen werden!“

„Heute musst du alle Badezimmer und Toiletten blankschrubben, ja?“, meinte sie ebenso täglich. „Und Nero (der Hund) muss morgens und abends lange raus!“

„Heute musst du beide Stockwerke staubsaugen, den Boden wischen und staubwischen.

Überall, ja?“, bestellte mir Frau Schmid jeden zweiten Tag.

Wenn das Haus kurzweilig penibel sauber war, gab sie mir den beträchtlichen Familiensilber zu polieren oder trug mir auf, alle Fenster im Haus zu putzen. Frau Schmid kochte – jeden Abend, nachdem sie drei schnelle Gläser Weißwein getrunken hatte, ihre Laune schlagartig besser geworden war und ihre Hände nicht mehr zitterten.

Es hatte mich gewundert, warum Schmid es versäumt hatte mich abzuholen. Doch bei meiner späten Ankunft aus Bulgarien fuhr kein Bus mehr und Autofahren war die einzige Möglichkeit gewesen, mich einzusammeln. Sie hatten nur den einen Eingang gecheckt und waren voreilig abgehauen, dämmerte es mir. Ich nahm Frau Schmids Weißwein entgegen.

In den ersten Wochen als Englisch noch erlaubt war, nahm ich Schmids Einladungen an und blieb abends am Pool. Mit ihr, der Kleinen und dem Freund führten wir dann steife

Gespräche, die etwas lockerer wurden, je mehr Weißwein floss. Dabei lagen Frau Schmid und ihr Freund – der Chef eines Betriebes war, dafür aber hier still – auf Liegen; ich saß auf einem Plastikstuhl und die Tochter auch, aber die Kleine ging bald ins Bett.

„Auch ein Glas Wein, Verena?“, bot mir Frau Schmid manchmal nach der zweiten Weißweinflasche an. Heutzutage hätte sich Frau Schmid meinen Namen gemerkt und damit vor Außenstehenden angegeben, sicherlich.

Ich habe schnell gelernt mit jeglichen Anliegen bis nach der anderthalben Flasche zu warten. Doch unbedingt vor der Dritten. Zwischen ihrer zweiten und dritten Weinflasche war Frau Schmid ungespielt hilfsbereit. Ich konnte meine kleinen Fragen und Bitten stellen, ohne Augenrollen oder Zungenschnalzen zu begegnen. Denn alles, was mich umgab, war so verwirrend. In Bulgarien hatte es ein einziges, höchstens zwei Putzmittel gegeben. Das Internet war 1994 noch ein unbekanntes Wort und die Wörterbücher nahmen zu viel Zeit in Anspruch. Zeit, die ich nicht hatte.

Bei der dritten Flasche fing Frau Schmid an, sich zu verändern. Sie wurde stumm. Ihre Augen wurden glasig, ihr Mund zog sich in eine gerade Linie und rote Flecken brausten auf ihren Wangen, Nase und Dekolleté hervor. Oft wurde sie da schon launisch, als Vorgeschmack auf den Morgen danach.

Ich verstand es damals nicht. Dank der Neuheit Hollywood Kino und angesichts der bitteren Armut wussten selbst Kleinkinder in Bulgarien, dass Geld und Gegenstände glücklich machten. Frau Schmid war eine reiche Psychologin, von einem noch reicheren Psychologen geschieden. Sie besaß ein zweistöckiges Haus mit Garten und Swimmingpool, ein Auto, eine Tochter, einen Freund und einen Hund. Die reiche Psychologin hatte all das und dennoch trank sie wie ein Seemann! Wie konnte das sein?!

Anfangs hatte ich nichts gegen das enorme Arbeitspensum im Haus. Solch einen schicken Schuppen hatte ich zuvor nur im Kino gesehen! Was mir zu schaffen machte, war das Arbeitstempo, das von mir verlangt wurde. In Bulgarien ging die Arbeit viel gemächlicher vor sich hin, außer in der Agrarwirtschaft. Wie konnte es auch anders sein, wenn das kommunistischen Regime den meisten nur einen kleinen Lohn auszahlte? In Deutschland schufteten die Leute daher wie besessen. Ich konnte es überall beobachten: im Supermarkt, in der Post oder an den Baustellen ging es blitzschnell zu, und die Arbeiter hetzten wie von einer Peitsche getrieben. Sie hatten in der Tat Luxus, aber zu welchem Preis?

Von den 400 Mark monatlich, die mir Frau Schmid für eine 48-Stunden-Woche als Putzfrau, Hundebetreuerin und Kindermädchen zahlte, schickte ich die Hälfte meiner Mutter per Western Union. Was übrig blieb, reichte für meine Zigaretten, die damals erheblich weniger kosteten. Die wohlhabende, totenstille Gegend außerhalb Hannovers bot ohnehin keine Möglichkeiten zum Ausgehen. Und auch wenn es Möglichkeiten gegeben hätte, mit wem konnte ich sie nutzen? An meinem freien Tag traf ich mich mit Tante Lilie, aber wir gingen nur spazieren. Dabei schweiften meine Gedanken oft ab. Ich fragte mich z. B., was für ein Au-pair-Mädchen ich eigentlich war. Frau Schmids Tochter war 13 Jahre alt und Deutsch lernte ich überwiegend aus Putzmittelbeschriftungen.

Meine Isolation wuchs von Tag zu Tag. Ich ging so weit, über eine Postkarte von meinem griechischen Ex-Freund zu weinen, an den ich ansonsten kaum dachte. Schon bald wollte ich mich bei Tante Lilie beschweren, entschied mich aber stets dagegen. Es musste meine eigene Schuld sein, ich sollte mich mehr anstrengen. Lilie hatte mir zu einer Chance verholfen, die nur sehr wenige bekamen!

Anfang der 90er glich Bulgarien einem Misthaufen, in welchem selbst Grundnahrungsmittel als Luxus galten. Das Land war ein Wrack des Gleichheitstraums geworden. Ein Gleichheitstraum, in welchem manche schon immer gleicher gewesen waren als andere, wie der Volksmund munkelte. Gerade jetzt im Sommer meiner Flucht erlebte meine Heimat die schlimmste Inflation seit dem Zweiten Weltkrieg; und im kommenden Winter würden viele verhungern. Das brutale Erwachen nach dem feuchtfröhlichen Wahn ganzer Völker, der schlimmste Kater seit einem halben Jahrhundert hatte sie alle eingeholt.

Ich stellte nun das Frühstück vor die 13-jährige und die Tochter murmelte „Danke“, ohne die Augen hochzuheben. Diese Augen waren es, die mir die Sicherheit gaben, dass Schmid schon länger trank. Stahlgrau und unbeweglich, jagten sie mir Angst ein. Die Tochter war überdies viel zu still wie ich fand und außer zu Esszeiten bekam man sie kaum zu Gesicht. Ich wunderte mich, was die Kleine auf ihrem Zimmer so trieb. Sie las ungerne Bücher, Musik hatte ich von dort kaum gehört, Internet gab es noch nicht und meistens war das Haus schrecklich still. In meine Heimat war es so anders gewesen.

Ich vermisste die lebendigen Straßen Bulgariens, die lautstarken Auseinandersetzungen der Nachbarn und die Musik, die von mancher Wohnung hinausdonnerte. In Bulgarien war man niemals allein – es sei denn, man wollte es unbedingt. Die Leute, jetzt gequält von der Misere, früher unterdrückt von der „Diktatur des Proletariats“ und davor von 500 Jahren osmanischer Präsenz, hatten gelernt im Alltag zusammenzuhalten. Es war üblich, dass man vor der Arbeit noch schnell Kaffee mit den Nachbarn trank, dass man abends mit Freunden zu Rakia2 und Hirtensalat saß und dass man den kleinsten Teil seines Lebens mit den anderen besprach. Bei all den Problemen und beim jetzigen Überlebenskampf brauchte man jedoch nicht so viele Therapeuten wie im Westen, schien es mir. Man hatte viele Freunde und Bezugspersonen, so hatten wir Bulgaren schon immer alles überlebt. Eine Fähigkeit, die der Kapitalismus und die zukünftigen „sozialen“ Medien auch bei uns ausradieren würden.

Ich vermisste meine Freunde, vor allem vermisste ich aber meine 13-jährige Schwester Vassilena. Dasselbe konnte ich über meine Eltern nicht sagen. Seitdem ich elf war, nannte ich meinen Vater Michail, damals unerhört in Bulgarien. Meine Mutter nannte ich ebenso bei Namen, trotz der handfesten Bestrafung.

Katja und Michail hatten mich mit 20 und 22 als Studenten bekommen. Ihn, den Journalist, hatten wir selten länger als zwei aufeinanderfolgende Tage zu Hause gesehen.

Sie dagegen wünsche ich mir nur so selten zu sehen.

Schläge waren damals überall in Bulgarien an der Tagesordnung und sollte einer besonders eifrig im Erziehen werden und zu Holzstock, Gürtel oder schwere Gegenstände greifen, wurde am liebsten weggesehen. Katja zimperte damit auch nicht rum. Doch das war ein kleiner Teil davon, was sie mir angetan hatte.

Da ich mich immer schützend vor Vassilena stellte, bekam ich den größten Teil dieser Erziehung zu spüren. Ich musste mich jetzt wundern, was für eine Schicksalsironie mich zu einer anderen (wenn auch viel reicheren), fiesen Alkoholikerin geführt hatte.

Ein lautes PLATSCH ließ die Küchenfenster klirren. Draußen im aufkommenden

Septemberlicht hatte sich Frau Schmid in den Pool geworfen. Das war ihr morgendliches Ritual bei jedem Wetter, musste man ihr zugestehen. Die berühmte deutsche Disziplin sollte das sein, das kompromisslose Sich-Zusammenreißen auch angesichts des gemeinsten Katers.

Nach einer Viertelstunde lief die Psychologin in die Küche, Haare tropfend, gerötetes Gesicht, ein Bild der morgendlichen Frische. Die Kleine hatte ihre Tasche geholt und druckte sich bei Nero im Flur herum. Ich beeilte mich mit der Spülmaschine und da stand Frau Schmid schon wieder vor mir: geschminkt, Haare gebunden und wie üblich die halbe Flasche ihres Parfüms tragend. Das ganze Haus ertrank darin.

„Heute musst du das Silber polieren, wenn du mit dem Haushalt fertig bist. Das Ganze, bitte!“, sagte Frau Schmid sehr nachdrücklich. Ich nickte.

„Und, Verena, im Keller steht Wäsche, bügeln. Okay? Im Kühlschrank ist Essen, nimm dir was du willst. Okay?“

Das rote Gesicht bemühte sich freundlich zu wirken, aber die Augen blieben blutunterlaufen von Selbst- und Welthass. Frau Schmid drehte sich um und gemeinsam mit der Tochter gingen sie hinaus. Nero schaute ihnen nach, ohne Anstalten zu machen ihnen zu folgen. Das Haus wurde wieder todstill.

Mein Blick fiel auf den langen Flur, die Küche und das riesige Wohnzimmer. Ich sah nicht mehr den Reichtum und den Überfluss. Jetzt sah ich nur viele Teppiche, die staubgesaugt werden mussten und viele Flure, die gewischt werden mussten. Nein, heute werde ich wieder keine Zeit für mich haben. Wieder kein bisschen.

„Mein Name ist Venera!“, schrie ich im totenstillen Haus auf. Nero zuckte mit dem Kopf hoch und schaute mich beunruhigt an. „Es kommt vom Altromanischen und bedeutet Venus!“, schrie ich zur Decke, während wütende Tränen unaufhaltsam meine Wangen herunterliefen. Der Hund beobachtete mich, seine Augen ähnlich trüb wie die der Tochter. Ich fing regelrecht an zu schluchzen.

Später, als ich mich ausgeweint hatte, hob ich den Telefonhörer und rief Lily an.

1 Die DM–Preise glichen die im Euro.

2 Hochprozentiger Schnaps, ähnlich wie Obstler oder Grappa. Nicht zu verwechseln mit dem türkischen Raki, der einen Anisgeschmack aufweist.

Kapitel 3Eine wunderbare Freundschaft

Schnell nach ihrem Telefongespräch mit meiner Tante schrieb mich Frau Schmid in einer Sprachschule ein. Im Zentrum. Lilie hatte mir eigentlich nahegelegt, dass ich sofort die Familie wechsele, aber ich musste es hinkriegen. Ich konnte mich bestimmt noch etwas anstrengen!

Nun war ich seit einer Woche im richtigen Deutschkurs und trieb mich davor so lange in der Stadt herum wie es nur ging. Es gab jedes Mal Wildneues zu entdecken, aber am meisten faszinierten mich die Menschen!

In meinem Land trauten sich Frauen ohne Make-up und aufreizende Kleider nicht aus dem Haus, und hungerten sich zu Skeletten herunter. Ich war in Bulgarien nicht nur von meiner Mutter als „Riese“ und „Mondgesicht“ beschimpft worden und hatte gelernt, meine hohen Wangenknochen und meine Kurven zu hassen. Viele Frauen hier aber liefen in engen Jeans oder Hose herum, ungeachtet ihres Körperbaus und schminkten sich kaum. In Deutschland herrschte offensichtlich eine ziemliche Gelassenheit, was das Aussehen betraf. Ich war jetzt hin und hergerissen zwischen angelerntem Hohn diesen „schlampigen“ Frauen gegenüber; dem Neid auf ihre Freiheit und einer daraus entstandenen Bewunderung.

Freiheit hatten die deutschen Frauen, einfach zu sein. Sie mussten nicht Karriere machen und gleichzeitig perfekt aussehen, mussten nicht Kinder und Mann großziehen und dazu unternehmungslustige Freundinnen bleiben. Sie durften Fehler haben, Ecken und Kanten. In Bulgarien waren die Ansprüche ans weibliche Geschlecht viel höher. Dabei wurden sie nicht selten von dicken und faulen Männern gestellt.

Mein neues Freiheitsgefühl intensivierte sich mit jedem Ausgang in die Großstadt auch wegen einer anderen Gegebenheit. Hier starrte keiner schadenfroh hinterher, wenn füllige oder ungünstig angezogene Personen auf der Straße schlenderten. Keiner brach ins Gekicher oder stieß beleidigende Kommentare aus, wie in meiner Provinzstadt. In Deutschland – oder war es doch die Großstadt? – schien jeder mit dem eigenen Anliegen beschäftigt und steckte die Nase nicht in die Dreckswäsche seiner Mitmenschen. Das fand ich auf eine prickelnde Weise befreiend.

Wiederum die deutsche Sprache, die ich jetzt schnell lernte, würde ich auch in 100 Jahren nicht liebgewinnen. Umständlich, trocken und plump erschienen mir Satzbau und Vokabular und die Grammatik ärgerte mich immens.

„Immer dieses „habe...gesagt“, „habe...gemacht“. Verben wie Güterwaggons aneinandergereiht, von denen das eine immer die Lokomotive spielen muss und das andere den letzten Waggon! Die jede Ausdrucksweise, jegliche Sprachmelodie so spannend machen wie ein Trip durchs Flachland!“, erboste ich beim Pauken. Und die Wortlänge, die Wortlänge... Es gab so viele absurd lange Wörter im Deutschen, die in keiner anderen Sprache existierten. Lange, drei-substantivierte Mauern, die es zu bezwingen galt.

„Tiefkühlpizza’“, schrieb ich unter Frusttränen meinem Ex-Freund Iorgu, mit dem ich regelmäßig Korrespondenz führte. „Draußen wird es dunkel, bis ich das Wort ausspreche! Man sagt „frozen pizza“ auf Englisch oder einfach „Pizza“ in jeder normalen Sprache. Es wird im Gespräch sowieso klar, was für eine das ist! Nein, auf Deutsch muss es „Tief-kühl-pizza“ heißen. Wahrscheinlich damit von Anfang an ja kein Missverständnis über ihre Herkunft entsteht!“

Herkunft war in den 90er-Jahren Deutschlands ein sehr wichtiges Thema. Anders als im neuen Jahrtausend, das Multikulturalismus immer größer schrieb, waren die 90er noch sehr deutsch und weiß. Ich hasste die wachsende Lähmung, die simple Angelegenheiten bei mir auslösten, wie ein Gespräch im Supermarkt. Ich konnte schon sprechen, es war mein Akzent, der die Leute so interessierte. Fragen über meine Herkunft schossen hervor sobald ich den Mund aufmachte, beim Bäcker, im Park oder wo auch immer, und sie wurden nicht nett gestellt. Fast immer erkundigten sich die Leute auch, ob ich denn nach dem Au-pair-Jahr wieder zurück nach Bulgarien gehe. Keiner meiner Landsleute hätte es fertiggebracht, so eine Frage einem Ausländer zu stellen. Lag es an den Hannoveranern oder waren alle Deutsche so unfreundlich? Hatten die Menschen hier etwas gegen Ausländer?

Mit solchen Gedanken lief ich eines Tages in die VHS. Ich war früh dran und freute mich darauf, eine Zigarette in der Küche zu rauchen.

An einem der Bartische saß alleine eine in Minirock und tailliertes Sakko gekleidete junge Frau, die ich vom Sehen kannte. Sie hielt sich auf dem Barhocker mit stolzer Anmut, der angelernt wirkte. Ich fragte sie lächelnd nach einem Feuerzeug und das Mädel nickte wichtigtuerisch. Ihre leuchtend grünen Augen und die hohen Wangenknochen waren von langen, schwarzen Haaren umrahmt. Dann schmunzelte sie plötzlich mit einer entwaffneten Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen.

„ChaLLo! Sjetz dich, wjenn du willst“, sagte sie lässig, das „h“ und das „l“ hart betonend wie keine Deutsche. Dann streckte sie eine zierliche Hand aus.

„Mein Name ist Irina. Ich kommje aus RussLLand. Wie cheißt du? Aaa, Venera, wirklich?!

Bjist du auch Au-Pjer-Mjädchen chiir?“

Wir verfielen einem unbeschwerten Schwätzchen und hatten Mühe aufzuhören, als die Deutschstunde anfing. Wir tauschten Zettelchen, flüsterten uns Scherze zu, kicherten und störten die anderen Teilnehmer. Es war wie in der Schule!

In den nächsten Wochen hörten wir auf, den Deutschkurs zu besuchen. Ausgehungert nach Kommunikation, die teils auf Deutsch, teils auf schlechtem (von meiner Seite) Russisch verlief; endlich aus einer Isolation ausgebrochen, konnten Irina und ich nicht genug voneinander bekommen.

Mit Ira war es so heimisch. Das Flirten mit allen sympathischen Jungs. Das Wiehern wegen des kleinsten Scheißes und das Draufpfeifen auf schockierte Blicke. Wir teilten ja den spezifischen schwarzen Kommunismus-Humor, wie in einem der Stücke der Brüder Presnjakow3. Irina war in ihren Emotionen zurückhaltender, ließ sich aber zu jeder Dummheit anstacheln, die mir einfiel. Oft gingen wir zu einem gehobenen griechischen Imbiss in der Nähe der VSH, wo wir am billigsten etwas trinken konnten. Der junge Chef kam jedes Mal zum Tisch, um uns zu begrüßen und meistens gab uns einer der Stammkunden Getränke aus. Er war schick angezogen und seine Gefolgschaft – allesamt dunkle, gut angezogene Männer – schienen ihn zu verehren.

„Hier, von Papa Bedo. Prost, prost!“, rief der, doch stets von seinem eigenen Tisch. Wir waren dankbar für die Drinks, belächelten ihn aber heimlich, denn er war um die 50 und unbeholfen, trotz seines autoritären Auftrittes.

Ich hatte wenig schlechtes Gewissen darüber, dass Frau Schmid den Sprachkurs weiterhin bezahlte. Sie nannte mich immer noch Verena.

3 Bruder Presnjakow (geb. 1969 und 1974) sind die weltweit meistgespielten russischen Theaterautoren, die sich dem Absurden und dem schwarzen Humor bedienen. Ihr erstes Buch Tötet den Schiedsrichter (dt. 2007) feierte ebenso großen internationalen Erfolg.

Kapitel 4Brot und Öl

Im Dorf war die Sonne aufgegangen, die Dämmerungs-Hähne hatten schon gekräht. Die ersten wenigen Menschen eilten über den Schnee in ihre Höfe, gehüllt in schäbige, aber dicke Mäntel. Es war ein eisiger Wintermorgen und magische Figuren zeichneten sich ab im Scheibenfrost an den undichten Holzfenstern im Haus. Morgens war der Kohlenofen schon seit Stunden aus und man hatte das Gefühl, drinnen wäre es kälter als draußen, wo die Wintersonne immer stärker schien.

Danka sprang aus dem Bett und flitzte zur Tür, sich selbst umarmend und leise fluchend.

Hinter der Tür an einem Haken hingen ihre Kleider für den Tag sowie Strickjacken, Schals und Mützen. Im anderen Bett schlief mit unzufriedenem Gesichtsausdruck ihre 40-jährige Tochter Katja. Seufzend beschloss Danka, den Kohleofen abermals selbst nach draußen zu tragen.

Sie war eine winzige Frau mit dunklen Haaren ohne eine weiße Strähne und mit den hohen Wangenknochen, die nur ihre ältere Enkelin geerbt hatte. Ihre asiatischen Augen guckten ernst, ihre Nase war schmal und gerade, sie sah wie eine amerikanische Ureinwohnerin aus. Jetzt lief sie wie eine junge Frau über den schneebedeckten Hof und in der kleinen Scheune angekommen, füllte sie mit erschreckend schnellen Bewegungen den Kohlenofen mit Briketts. Als Danka sich im Nu wieder im Haus befand und den Ofen anwarf, setzte sie Tee auf und ging ihre jüngste Enkelin wecken.

„Vassilena-a! Steh auf, Mädchen, es ist Zeit!“, rief sie halblaut von der Tür zu einem strohblonden Schopf, dessen Gesicht sich unter der Decke versteckte. Die Heranwachsende machte große Augen auf und blinzelte. In Vassis Zimmer war es jetzt so kalt wie draußen.

„Hast du die Nixen heute Nacht auch gehört? Sie sangen im Wald! Ich hatte Angst, das Lied wird mich zu ihnen ziehen, egal wie ich mich dagegen wehre“, richtete sich das Mädchen auf und ihre verschmitzte Augen trafen die der Oma.

„Was du manchmal vom Quatsch erzählst?! Zieh dich schnell an und komm! Es gibt Tee und Marmeladenbrote“, zischte Danka.

Vassilena schien zuweilen eine andere Welt zu bewohnen als die hiesige, was ihre Oma Angst einjagte. Und dann wiederum brachte sie Mahnungen von der Schule wegen Unterrichtsstörung und Nachbarn beschwerten sich, dass sie unwirsche Widerrede gab; so dass man wusste, Vassi war auch im Hier gut präsent.

Während Oma und Enkelin in der Stube ihren Tee tranken und einen Happen zu sich nahmen, machte Katja die Augen auf und murmelte, „Ist es schon Zeit?“ Danka starrte sie einen Moment lang an und ein Muskel in ihrem Kiefer fing an zu zucken. Wäre Katja keine Mutter gewesen, hätte sie Danka mit forschen Worten aus dem Bett geholt. Ihr waren diese städtischen Sitten unbegreiflich, nach Sonnenaufgang liegen zu bleiben.

Katja gähnte furchterregend, während die ältere Frau an Vassilenas Schulter klopfte, die bewegungslos vor sich hinstarrte. „Komm, Mädchen. Kämm' dir die Haare, wir müssen los! Du darfst diesen Bus nicht verpassen, sonst verspätest du dich für das Gymnasium!“,

mahnte sie ihre Enkelin wie jeden Morgen an. Katja fing an sich mürrisch anzuziehen, immer noch heftig gähnend.

Das Gymnasium – ein magisches Wort. Danka selbst hatte eins absolviert, damals während des Weltkrieges, als es überaus schwer für die Leute war, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Besonders in der Stadt. Ein kinderloser, aber wohlhabenderer Onkel hatte ihr geholfen, den Danka nie vergessen hatte...

Zehn Minuten später schlitterten Oma und Enkelin auf die verschneite, sonnige und belebte Dorfstraße. Man konnte nicht sagen, wer von beiden schneller lief. Danka brachte Vassilena zur Bushaltestelle und hastete danach wie eine Gejagte zum Magasin, zum Dorfgeschäft. Die Häuser, an welchen sie vorbeilief, sahen zum größten Teil ähnlich wie ihr Eigenes aus – einstöckig, aus altem Backstein und mit alten Holzfenstern, doch mit riesigen Gemüsegärten und Gewächshäusern. Nur wenige hatten einen Putz.

Das Leben hier war so hart geworden wie in Dankas Jugend während des zweiten Weltkriegs. Bulgarien, ein Land am Rande Südosteuropas, war immer im Pakt mit dem Bösen gewesen. Damals, genau wie jetzt, musste Danka nach dem Auffüllen des Kohlenofens zum Magasin rennen und sich an der langen Schlange erst für Brot und dann für Öl anstellen, wofür alle Coupons von der Regierung erhielten. Wenn es nur um sie selbst gegangen wäre... Ihre Tochter war aber nach dem Auswandern Veneras zu ihr gezogen mit der Kleinen, und Vassi brauchte täglich Brot und Öl.

Danka war lebenslang Bulgarischlehrerin gewesen, hatte dazu täglich wie eine Ameise im Obstgarten geschuftet, von Frühling bis Spätherbst und hatte nicht vor aufzuhören, solange ihre Beine sie trugen. In Wahrheit hielt der Garten sie gesund, zurechnungsfähig.

Er spendete schwarze Riesenkirschen und rubinrote Sauerkirschen, Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Maulbeeren weiß und schwarz, blutrote Wassermelonen und orange Honigmelonen, vom Saft triefende Pfirsiche und Aprikosen, süße Feigen, Weintrauben, Birnen, Quitten, gelbe und blaue Pflaumen, Walnüsse, allerlei sonniges Gemüse und Gewürze. Danka produzierte Rakia, Wein, Wallnusslikör, Pfefferminzlikör, Sauerkirschlikör und hielt Nutztiere, die Fleisch und Eier gaben.

Am Rande ihres riesigen Obst- und Gemüsegartens lief einen Blumengarten und hinter ihm, Hof und Haus. Ein Blumengarten voller ineinanderfließender Farben. Danka hatte weiße, rote und gelbe Rosen gleich nach dem eisernen Tor eingepflanzt, von welchem eine schmale Betonallee in den Hof hineinführte, eine Kurve machte und zum Brunnen und den Ställen ging. Hoch über die Betonallee überwucherten im Sommer Weintrauben den ganzen Hof. Sie erstreckten sich auf eiserne Röhren, welche ein langgezogenes Skelett bildeten und als lebenspendender Schatten in der unerträglichen Sommerhitze diente. Und natürlich als Weingut. Das einstöckige Haus rechts vom Tor hatte einen Weinkeller, eine winzige Sommerküche und eine große Vorratskammer.

Unterirdisch im Obst- und Gemüsegarten wohnte der Blinde Hund, der schon im Frühling zur Plage wurde. Überirdisch gab es Hennen und Küken, Schweine im Stall, der Hund, der über den Hof wachen sollte und viele Katzen und scheue Kätzchen. Es gab ganze Froschchöre in den heißen Sommernächten, Grillen, Gottesanbeterinnen, riesige Nachtfalter, Riesenspinnen, Echsen und Wiesel. Vor allem gab es aber manchmal den Sauger, wie ihn die Leute nannten, der Eidechsennatter, der zweieinhalb Meter erreichen konnte. Und von welchem zu Unrecht furchterregende Geschichten erzählt wurden.

Das ganze Dorf war (außer im Winter) von ständigen Lauten der Lebewesen geprägt. Am meisten natürlich von den Wachhunden, ohne welche jeder Hof undenkbar gewesen wäre, weil wie verrückt geklaut wurde. Im Winter wie jetzt hörte man manchmal abends die Wölfe aus dem Wald heulen, die vom Berg herunterkamen, weil sie oben nichts mehr zu fressen fanden. Es war schon immer unheimlich gewesen, in der Finsternis nach Hause zu laufen und dem Geheul zu lauschen.

Auch deshalb hatten Danka und ihr Mann Vassil versucht, den Enkeln, die in den Ferien zu ihnen kamen, den Kneipenausgang zu verbieten. Danka malte sich düstere Szenarien aus, was sich alles nachts auf der Dorfstraße rumtrieb; und auch hatte sie als Bulgarischlehrerin ein Gesicht zu bewahren. Zu ihrer Zeit wurden Leute öffentlich getadelt in den so genannten „genössischen Gerichtshöfen“, wo jeder jeden kritisieren konnte wegen Sachen wie fremdgehen oder zu viel trinken. Zudem hatten die Großeltern Angst, dass Venera und ihr Cousin Kaloyan das Trinken lernen würden – was diese natürlich taten.

Hinter Angelowis Haus erstreckten sich die Weiden, der Bewässerungskanal (in dem schon viele Betrunkene und Kinder den Tod gefunden hatten), und darüber gleich der Friedhof. Am Rande des Friedhofs fing der Kleinwald an, die Kornfelder und hinter ihnen ragten die Rhodopen empor. Es war eine wilde Natur, die es zu bezwingen und auszutricksen galt. Es war ein raues Leben, das viele nur mithilfe vom Rakia oder den üppigen Mahlzeiten zu ertragen schienen.

Paradoxerweise hatte man in der post-kommunistischen Misere immer noch die besten Lebensmittel des südlichen Klimas, die sich hervorragend als Wintervorrat eigneten.

Früher konnte man einiges noch kaufen, aber die Dörfler bevorzugten ihre Saucen, Brotaufstriche, Alkohol, Sirups und Fleisch selbst zu produzieren. Dankas Familie würde jetzt ohne den Wintervorrat, den sie sich den ganzen Herbst angelegt hatte, gar nicht überleben.

Der Wintervorrat oder Simnina, wie sie ihn nennen, war dieses Jahr spärlich ausgefallen.

Es gab dennoch Kompotte, Lutenica (den Paprika-Brotaufstrich, ähnlich wie Ajvar), Marmelade, Hähnchenfleisch in Einmachgläsern, eingemachte Tomaten, Paprika und grüne Bohnen, weiße Bohnen, Walnüsse, eingelegter Kohl, Schnaps und sogar ein Fass Rotwein, das vor allem für Katja und zur Aufbesserung ihres Budgets angelegt wurde.

Mit genauem Rationieren würden sie noch Monate damit überstehen. Sie hatten Glück – sie lebten im Dorf.

Was Danka nicht hatte, tauschte sie mit den Nachbarn aus wie alle anderen. Als der Opa noch lebte, kauften sie sich jedes Frühjahr ein–zwei Schweine, mästeten sie im Stall und schlachteten sie an Weihnachten. Wie alle anderen im Dorf lebten sie vom Fleisch das ganze Jahr. In diesem Jahr hatten sie aber kein Schwein. Katja, die unregelmäßig Alimente von ihrem Ex-Mann für Vassi erhielt, konnte kaum das Nötigste kaufen.

Alles hatte sich so zum Schlechten verändert! Seit neustem waren auch die Leute geizig geworden. Sie feierten keine Feste und Geburtstage mehr. Jeder guckte, dass seine Kinder zu essen hatten, darüber hinaus gab es nichts. Gemeinschaften wurden nur für Zigaretten und Kaffee gebildet.

Die Dorfleute hielten dafür ausgiebig Plausch an der Coupon-Schlange (die in der Regel zwei oder drei Stunden dauerte), lachten ab und zu und weinten sich an einer freundlichen Schulter aus. Nachbarn teilten beim Morgenkaffee in Plastikbechern Zigaretten und machten sich gegenseitig Mut für die täglichen Herausforderungen. Es war eine instinktive Selbsthilfegruppe, in der es keine Rassentrennung gab, wie sonst zwischen Bulgaren und Roma. Jeder, der seine Felder oder Gewächshäuser schwer beackerte und nebenbei Kinder großzog, verdiente es angehört zu werden. Und Hilfe – mit Handwerkzeugen, Düngern, Maschinenteilen, Pferden für die Felder und Kutschen, und Eseln für die Lasten.

Als das Warten endlich vorbei war und im besten Falle alle Brot und Öl hatten, tranken viele Männer ihren zweiten Rakia für den Tag und gingen auf die Felder. Im Winter hatten sie draußen wenig zu tun, außer Kohleöfen auftanken oder Holz hacken und machten sich drin handwerklich nützlich. Fast jeder von ihnen verstand sich mit dem Strom im Haus und Hof, wusste Autoreparaturen durchzuführen oder zu schreinern. Nur noch wenige hatten eine Arbeit in den Fabriken der nahgelegenen Stadt oder im postkommunistischen Staatsapparat. Die Arbeitenden erhielten einen Hungerlohn und alle erhielten Coupons für Brot und Öl.

Der Opa Vassil war vor zwei Jahren gestorben und mit ihm starb auch Dankas Herz. Sie wollte kein Wort von Venera hören, die in Deutschland andere Sitten erlebte und als Einzige es wagte zu fragen, ob sich die Oma nicht einen Kameraden zum Altwerden nehmen wollte. Danka war schön und jung geblieben und konnte jeden anständigen Witwer im großen Umkreis haben, aber Vassil war der Typ Mann gewesen, der eine riesige Leere hinterließ. Ebenso empfand es das ganze Dorf.

Leute hielten seine Enkel weinend auf der Straße an und sprachen über ihn auch noch 15 Jahre nach seinem Tod. Vassil war autoritär gewesen wie seine Helden – Marx, Engels, Garibaldi, die ruhmreichen altbulgarischen Könige. Er liebte Geschichte und war durch Selbstbildung erstaunlich belesen. So oft wurde aber die autoritäre Weltanschauung durch sein vom Bauch sprudelnden Lachen übertönt, sodass die Leute vergaßen wie stählern er sein konnte. Vassil war ein blauäugiger Kommunist gewesen, einer von denen, die Bulgarien eigenhändig nach dem Krieg wiederaufgebaut hatten. Er hatte ein Leben lang keinen Profit aus dem System geschlagen, obwohl er mehrmals die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Danka kannte keinen so fortschrittlichen Mann, besonders keinen Dörfler im malerischen Tal vor dem Rhodopa-Gebirge. Während viele Nachbarn zuhause von ihren hochschwangeren Frauen wie Paschas bedient wurden (obwohl die Frauen noch dazu schwer ackerten), kochte Vassil, wenn Danka spät von Elternabenden kam. Er ermutigte seine Braut in Hosen herumzulaufen und Fahrrad zu fahren und erzog seine kleine Katja selbstbewusst und angstfrei. Einem anderen Mädchen hätte diese Erziehung gutgetan.

*

Als Danka mit Öl und Brot zurück nach Hause kam, hatte Katja das Haus gefegt, die Böden gewischt, Holz gehackt und Vassis Kohleofen wiedergefüllt. Katja war erneut arbeitslos, aber ihre Eltern hatten ihr von klein auf beigebracht, nicht untätig herumzusitzen. Gerade lernte sie zu stricken und die zwei Frauen machten sich jetzt daran. Tag für Tag saßen sie an beiden Holzfenstern und Danka häkelte Wollsocken, Wollmützen, Strickjacken und sogar fingerlose Handschuhe nach der neuesten Mode, die sich Vassi erbettelt hatte. Danka strickte auch für ihre übrigen Enkel und Verwandten, so wie es die meisten Omas in diesem Land taten.

Am Nachmittag kochte dann die Großmutter so gute Gerichte wie es ihre Mittel zuließen, damit die Kleine was Vernünftiges auf dem Tisch hatte, als sie von der Schule kam. (Die Enkelinnen hatten durchsickern lassen, dass sie als Kinder stundenlang auf ein Essen hatten warten müssen.) Danka freute sich, wenn sich Vassi abends wie ein hungriges Hündchen auf die warme Mahlzeit stürzte. Katja nutzte diese Zeit, um ihre Tochter mit Anmahnungen über die ungewaschenen Haare und die Klamottenzu überhäufen, strenge Fragen über ihre Schulleistungen zu stellen und sie hasserfüllt anzustarren. Aber war es denn so unnachvollziehbar? Katja war selbst mit harter Autorität und Schlägen seitens ihrer Mutter aufgewachsen, erinnerte sich Dankas Herz blutend.

Zu ihrer Zeit und selbst jetzt war Dresche eine bewährte Erziehungsmethode, die Danka selbst ausgiebig genossen hatte. Gewalt war überall – in der Familie, auf der Straße, in der Schule. Und daran hatte sich nichts geändert.

Das leibliche Wohl – als Oma verstand es Danka aber besser zu hüten als viele in den „zivilisierten“ Ländern. Z. B. gab sie Vassi täglich einen rubinroten Apfel und solche Äpfel waren schon damals schwer zu finden. Sie hatten ein himmlisches Aroma, weiche Haut und gelbes Fleisch, das wie Honig schmeckte. Und sie brachten die Kleine durch diesen grausamen Hungerwinter. Danka hatte auch immer frische Socken parat, die bei Katja anscheinend nie vorhanden gewesen waren; warme Kleidung (die um Gottes willen das untere Kreuz bedecken musste!) und als Vassis Mandeln herausgenommen wurden, erbettelte Danka von einer Freundin Ziegenmilch und machte Eis mit magischem Tannenzäpfchenhonig, den sie von den Bergleuten gegen getrocknete Paprika tauschte.

Von Schmerzen geplagt, war Vassi tagelang nur Imstande, das gesunde Eis ihrer Oma zu essen. Das Mädchen krähte heiser wie ein Rabe, schrie aber auf, als an ihrem Geburtstag im Dezember ein Paket von ihrer Schwester ankam. Drin waren: ein Nirvana T-Shirt, eine Nirvana–CD, ein Nirvana-Kalender, ein Paar Stiefel und ein paar Souvenirs. Nirvana hatte sich durch MTV längst in dieser Generations Wachträumen katapultiert, das Mädchen lebte und atmete Nirvana.

Auf einmal wurde Vassi eine richtige Berühmtheit im Gymnasium. Kein Mensch hatte in Bulgarien so ein Nirvana T-Shirt auch nur gesehen! Zudem hatte Vassilena skandinavisch blonde Haare und große blaue Augen, und viele Jungs pfiffen ihr nach.

Längst nicht alle in der Schule waren aber von ihr eingenommen.

„Stört den Unterricht andauernd... Fehlt für ganze Tage und fälscht dann eure Unterschriften... Ich habe sie im Hof Zigaretten rauchen sehen!“, hörte Katja bei jedem Elternabend. Und verprügelte Vassi danach.

Die Kleine übte ihre Rache aus, indem sie eine Schar der coolsten Mädchen um sich ansammelte, die direkt aus der Stadt kamen und als pfiffiger galten. Und mit welchen sie plante Drogen zu nehmen.

„Habt ihr das neuste Video von Nirvana gesehen?!“, fragten sie sich gegenseitig, während sie lässig Zigaretten rauchten. (Sie waren Bulgariens erste MTV-Generation.)

„Checkt ihr, worüber sie singen?! Heroin, man... Bin so neugierig aufs Gefühl! Aber wie sollen wir hier drankommen, pffff. Aber woran wir rankommen, Leute, sind Parkisan und Ephedrin! Wenn man sie mit Alkohol nimmt, erlebt man einen Rausch! Wer ist dabei?!“,

stachelte Vassi alle an.

Damals war alles ohne Rezept zu bekommen – Morphin, Antidepressiva, Amphetamine.

Und Danka wohnte vielleicht im Dorf, aber weltfremd war sie niemals gewesen; sie ahnte was durch den Kopf ihrer jüngsten Enkelin ging. Armes Entlein, selbst ihr Klavier wurde im Rosenkrieg der Eltern verkauft, sodass Vassi nicht einmal mehr den Trost ihrer Musik hatte. Und doch sollte sich ein Mensch nie so gehen lassen! Alleine ihre Haare, sie bestand geradezu darauf, sie wochenlang nicht zu waschen! Die Overalls, die sie trug, erinnerten Danka an die Maissäcke, die sie im Herbst kaufte und wenn Vassi schon einmal ein Kleid anzog, musste es unbedingt unförmig sein. Und das mit ihrer Schönheit!

Danka fand, dass all ihre Enkel – wenn sie schlank genug blieben – hübsch waren, konnte es dennoch nicht sagen. Sie war in einer Großfamilie erzogen worden, die im ständigen Kampf mit der Erde stand und machte auf die Menschen einen kalten Eindruck. So anders als Vassil, der trotz seiner Strenge ständig Scherze riss, schallend und lange lachte und ein gutes Wort auch für den letzten Alkoholiker im Dorf hatte. Danka zeigte ihre Liebe auf die einzige Weise, die ihr beigebracht wurde – mit gutem Essen, mit sauberen Socken und über die ständige Sorge einer Mutter um die Gesundheit ihrer Kleinen. Sie merkte, dass ihre Enkelinnen netter mit ihr sprachen als mit der eigenen Mama. Das freute sie einerseits. Andererseits wäre es besser gewesen, wenn Katja selbst eine solche Bindung zu ihren Töchtern gehabt hätte... aber sie hatte ja selbst keine Bindung zu Katja.

Es tat daher jedes Mal so gut die ältere Enkelin zu hören, die seit dem Sommer in Deutschland war. Danka hatte seit Jahren Angst auch um sie.

„Du warst ein fleißiges und sonniges Kind, das Menschen mochte! Dieser Sarkasmus und diese Wut jetzt, was ist los?“, fragte Danka in den letzten Jahren. „Du hast auch deinen Fleiß verloren. Und stellst dich so stur an, dass nicht einmal Opa gegen dich ankommt!

Warum?!“ Aber ihre Enkelin schwieg.

Danka ahnte dunkel, dass diese Veränderung mit Katja und ihrer kaputten Ehe zu tun hatte. Sie redete sich aber ein, dass Mütter und Töchter oft auf Kriegsfuß standen und dass sich Venera fangen würde, wenn sie selber Mutter wird. Zudem flüsterte ihr die eigene Erziehung zu, dass Kinder sich den Älteren fügen mussten; und sie fühlte sich schuldig, dass sie Katja als Kind so viel geschlagen hatte.

Einmal bekam die Oma mit (und knöpfte sich danach ihre Tochter vor), wie ihre ältere Enkelin Katja weinend drohte zu erzählen, was ihr die Mutter alles antat.

„Dann werden sie dich enterben und zum Teufel jagen! Wenn sie es wüssten, du widerliche – “, schluchzte die Enkelin, die Danka noch nie zuvor so schluchzen gehört hatte.

„Halt dein faules Maul! Dein Opa hat ein schwaches Herz“, zischte Katja so, dass Dankas Nackenhaare sich aufgerichtet hatten. „Sag ihm nur was und sieh zu, wie er einen Herzanfall kriegt – was nur deine Schuld sein wird!“ „Was ist hier los?“, war Danka um die Ecke geeilt. Katja ließ prompt ihren Kopf hängen, ihre Augen dunkel vor Bosheit. Venera aber drehte sich um und lief weg. Und egal wie Danka es versuchte, kriegte sie aus den beiden nichts heraus. So starb der Opa, ohne das Geheimnis erfahren zu haben. Katjas Drohung hatte einen großen Effekt erzielt, stellte Danka nicht zum ersten Mal fest, während ihre Hände wie aufgezogen häkelten. Plötzlich konnte sie es nicht mehr ertragen zu sitzen.

„So! Jetzt essen wir zu Mittag!“ Sie sprang auf und bis ihre Tochter ihre Strickreihe beendet hatte, hatte sie den Tisch gedeckt. Im Winter aßen sie in der Stube wo der Kohleofen war, der Ofen in Vassis Zimmer wurde erst gen abends angemacht, damit es die ganze Nacht hielt. Ihren eigenen werden sie abends noch einmal leeren und füllen, und diesmal wird das ihre Tochter erledigen.

Katja rekelte sich ausgiebig und setzte sich ihrer Mutter gegenüber.

Sie war klein, wenn auch größer als ihre Mutter. Ihre Töchter ragten über sie hinaus, was schon immer Grund zum Triumphieren für Katja gewesen war. (In Bulgarien waren lange Frauen nicht besonders beliebt.) Katja hatte große Kastanienaugen, eine prominente Nase und einen wie mit Bleistiftstrichen gezeichneter Mund. Viele Männer machten von ihr sofort Aufheben, sie konnten sich nicht einmal vor ihrer Mutter halten. Danka runzelte dabei wütend die Augenbrauen, denn das Wohlwollen der bezirzten Katja in der ganzen Gegend plätscherte. Doch die meisten Verehrer sahen nicht, wie Katjas markanter Mund stets zusammengezogen war. Wie jetzt.

„Was hat Venera am Telefon gesagt? Wird sie sich endlich eine richtige Arbeit suchen?

Seitdem sie im Deutschkurs ist, haben wir keine Stotinka (Pfennig) mehr von ihr gesehen!“, sagte Katja nicht zum ersten Mal. Dann nahm sie einen großen Happen Porree mit Eiern und fing an zu kauen. Ihre Augen waren dunkel vor Abneigung, wie so oft.

Danka schluckte verärgert runter, es blieb ihr aber im Hals stecken und sie kippte hastig einen Schluck Holundersirup hinterher.

„Du weiß genau, dass sie nur als Au-pair tätig sein darf! Mir ist das Ganze unheimlich was du von ihr verlangst. Wenn sie was anderes arbeiten ginge, wird es illegal sein! Was ist, wenn sie erwischt wird?!“

Katja trank Rotwein, der zu keiner Mahlzeit fehlen durfte, einen Anflug von Angst auch über ihr Gesicht huschend. Doch danach füllten sich ihre Augen mit einer Starre, die selbst Danka Angst einjagte.

„Sie ist gerissen und sieht so deutsch aus. Die erwischen sie nie!“

„Ja, das sagt sich so leicht!“ Die ältere Frau ließ ihre Gabel und das Stückchen Brot auf den Tisch fallen. „Warum muss sie denn die Au-pair-Stellung aufgeben, sie hilft uns doch auch so immer wieder!“

„Wie hilft sie uns immer wieder? Das bisschen, was sie geschickt hat, was gerade für Vassis Fahrkarte und Schulsachen reichte?“, funkelte Katja sie an und schob sich den nächsten großen Happen in den Mund. Danach fuhr sie mit vollgestopften Wangen fort.

„Hat sie nicht behauptet, sie wird Vassi ein neues Klavier kaufen? Sie wälzt da im Luxus, schwimmt in Swimmingpools und wir sind hier am Verhungern!“

Sie verschlang den großen Happen und begoss ihn mit reichlich Rotwein.

Dankas Blut schnellte ihr ins Gesicht hoch und eine Welle durchflutete sie, die sie zu ersticken drohte. Sie nahm ihre Hände zusammen und atmete tief ein und aus. Ihre Tochter aß weiter, ein Lächeln an ihrem Mundwinkel zerrend – es machte Spaß, die alte Frau zu ärgern. Sie goss sich ein neues, volles Glas Rotwein ein.

„Aber wir werden auch ohne ihr Geld überleben, siehst du doch!“, bettelte Danka.

„Wenn sie legal bleibt, kann sie später studieren. So, schwarz zu arbeiten in Deutschland, auf krumme Geschäfte mit krummen Leuten angewiesen zu sein – wer weiß, was ihr alles zustoßen kann??“

Die Wut hatte in eine nagende Angst umgeschlagen, die Angst einer Großmutter um ihre bedrohten Kleinen. Danka vergaß das Essen und ihre Augen wurden feucht. Sie weinte selten und nicht vor anderen, aber jetzt war sie kurz davor.

Katja wiederum ballte die Fäuste, wie ihr Vater das gegen die Angst beigebracht hatte.

Und verkündete feierlich: „Gestern in der Stadt ging ich zur Wahrsagerin. Weißt schon, die den Fall der Mauer vorausgesagt hat und die im Kontakt mit den Toten steht. Sie meinte, Venera wird es sogar schaffen, uns bald nach Deutschland zu bringen!“

„Sag mal, hörst du dich noch reden?“, zischte Danka, deren Gliedmaßen rasch abkühlten.

„Wie soll Venera das schaffen, sie lassen doch kaum einen rein oder raus! Wie soll sie auch euch nach Deutschland holen, hä?“

Ihre Stimme zitterte am Ende und schon da wusste sie, dass alles was sie sagte, keinen Unterschied machen würde. Je.

„Aaach, Venera schafft das doch!“, lächelte Katja einer Horrorpuppe ähnlich. „Du weißt doch wie stur und gerissen sie ist. Ich hatte schon solche Probleme mit ihr deswegen!

Die wird schon einen Weg finden. Hat mir die Wahrsagerin versichert. Und besser auch, sie braucht mich. Ich muss ein Auge auf diesen dicken Schädel werfen.“

Ihre Hände nahmen eine Gebetsstellung ein und sie schloss die Augen. Ihre Lippen murmelten Litaneien zu all den okkulten Energien des Universums, die Venera unterstützen würden. Danka wandte ihr Gesicht ab.

Draußen war die Sonne verschwunden, der Himmel war grau und flauschige Schneeflocken fielen über den Hof. Danka zitterte, obwohl der Kohleofen fröhlich knackte und es im Zimmer mollig warm war. Sie stand abrupt auf und fing an, ihr fast unberührtes Essen wegzuräumen, gedankenversunken und von Angst geplagt. Als sie alleine in der Küche den Abwasch erledigte, kamen die Tränen und sie ließ sie auch zu, denn sie waren das Einzige, das Erleichterung brachte.

Kapitel 5Weihnachtlich?

Meine Mutter schrieb jetzt wöchentlich Briefe, die herzzerreißend klangen. Angesichts des Untergangs Bulgariens konnten sie sogar Tatsachen schildern.

Leute sterben tagtäglich an Hunger und Kälte. So eine Inflation haben nur Oma und Opa als Kinder zur Kriegszeit erlebt. Hilf uns doch! Du bist in diesem reichen Land. Das muss doch gehen!