Anders katholisch - Gerhard Feige - E-Book

Anders katholisch E-Book

Gerhard Feige

0,0

Beschreibung

Katholiken sind im Lande Luthers die Minderheit. "Auf diesem Hintergrund meint ´anders katholisch´ also, vor Ort eine eigene Geschichte zu haben und mit besonderen Prägungen und Herausforderungen unterwegs zu sein, die sich von der kirchlichen Wirklichkeit in anderen Ländern oder Regionen merklich unterscheiden. Oftmals verbindet sich damit sogar ein unverwechselbarer ´Stallgeruch´." Dass das nicht Anlass zu Verdruss oder Selbstmitleid, sondern Gelegenheit zum freimütigen Auftreten sein kann, zeigt der Magdeburger Bischof Gerhard Feige in seinen Predigten und Ansprachen. Aus dem Rückblick in Zeiten der Auseinandersetzung mit Protestantismus und Sozialismus gewinnt er Orientierung für Gegenwart und Zukunft. Die Wege, die er aufzeigt, mögen klein und schmal sein – aber sie führen in die Zukunft und die Weite.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 306

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Feige

Anders katholisch

Vom Mut zum kleinen Weg

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,

vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe

© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Stefan Weigand, wunderlichundweigand

Umschlagmotiv: © ErwinMeier/Wikimedia Commons

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-38847-7

ISBN E-Book 978-3-451-81843-1

Das Kapitel Katholiken im »Lande Luthers« ist unter dem Titel »Katholiken im Lande Martin Luthers: Ab-, Um- und Aufbrüche« zuerst erschienen in: Lutherland Sachsen-Anhalt, hg. von der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt in Zusammenarbeit mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Halle (Saale) 2015, 148–176; ins Englische übersetzt: »Catholics in ›Martin Luther’s country‹: Ruptures, upheavals and developments«, in: Luther’s Land Saxony-Anhalt, published by the Investment and Marketing Corporation Saxony-Anhalt (IMG), Halle (Saale) 2016, 100–118.

Das Kapitel Warum ich Christ bin ist unter dem Titel »Eine schöpferische Minderheit« zuerst erschienen in: P. Bukovec/C. Tröbinger (Hg.), Warum ich Christ bin. 26 Antworten von Persönlichkeiten der Gegenwart, Ostfildern 2019, 91–107.

Inhalt

Vorwort

1. Historische Einblicke

Katholiken im »Lande Luthers«: Ab-, Um- und ­Aufbrüche

2. Biografische Erfahrungen

Warum ich Christ bin

3. Predigten, Briefe, Grußworte

»Um Gottes und der Menschen willen« – Predigt anlässlich des 10. Jahrestages der Bistumsgründung am 9. Oktober 2004 in Magdeburg

»Du hast uns herausgeführt, hin zur Fülle« (Ps 66) – Brief zur österlichen Bußzeit 2009

Als Hoffnungsgemeinschaft unterwegs – Brief zur österlichen Bußzeit 2012

Kreuzesnachfolge – Predigt bei der Ölweihmesse 2012

»Fürchte dich nicht, du kleine Herde!« (Lk 12,32) – Predigt zur Bistumswallfahrt 2013

85. Geburtstag von Bischof Leo Nowak – Grußwort am 17. März 2014

»Ökumenisch weitergehen!« – Brief zur österlichen Bußzeit 2014

»Bete, als hinge alles von dir ab, handle, als hinge alles von Gott ab«. – Predigt bei der Ölweihmesse 2014

Im Fremden Christus erkennen: ein Zeichen der Zeit – Brief zur österlichen Bußzeit 2015

»Alles in Christus vereinen«. – Predigt zum 25-jährigen Bischofsweihejubiläum von Bischof Leo Nowak am 24. März 2015

Prinzip »Hoffnung« – Predigt am Ostersonntag 2015

1000 Jahre Grundsteinlegung der Magdeburger ­Kathedrale St. Sebastian – Grußwort zum Festakt am 16. Mai 2015

Aus Völkern und Nationen: Hoffnungszeichen in der Welt – Predigt zur Bistumswallfahrt 2015

2015 nach Christus – Predigt am 1. Weihnachtsfeiertag 2015

»Siehe, nun mache ich etwas Neues« (Jes 43,19a) – Predigt bei der Ölweihmesse 2016

Die österliche Alternative – Predigt am Ostersonntag 2016

Diaspora – Predigt zur Verabschiedung von Generalvikar Raimund Sternal und zur Einführung von Generalvikar Bernhard Scholz am 1. September 2016

Vom Evangelium ergriffen – den Menschen nahe – Predigt bei der Bistumswallfahrt 2016

»… dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll« – Brief zur österlichen Bußzeit 2017

»Bleibt hier und wacht mit mir« (Mt 26,38b) – Predigt bei der Ölweihmesse 2017

»Mittendrin – von Himmel und Erde berührt« – Predigt bei der Bistumswallfahrt 2017

Auf der Suche nach Heimat – Predigt am 1. Weihnachtsfeiertag 2017

Nicht unter unserer Würde – Brief zur österlichen Bußzeit 2018

Freude – Predigt bei der Ölweihmesse 2018

4. Entwicklungen und Perspektiven

Auf dem Weg in die Zukunft: Zu den Erneuerungs­bemühungen im Bistum Magdeburg seit 2004

Über den Autor

Vorwort

Wieso »anders katholisch«? Gilt nicht allgemein als katholisch, »was« – wie Vinzenz von Lérins († um 435) es formuliert hat – »überall, immer und von allen geglaubt wurde« und wird? Tatsächlich bezieht sich der Begriff »katholisch« von seinem Wortsinn her auf den Glaubenskonsens, der sowohl die Zeiten übergreift und auf den Ursprung zurückweist als auch in der Gegenwart weltweit verbindet. Folglich ist er gewissermaßen – auch im Zusammenhang unseres kirchlichen Glaubensbekenntnisses – ein Synonym für universal und integral.

Zugleich wurde »katholisch« im Laufe der Zeit aber schon bald zu einem Kriterium der Unterscheidung von Abweichlern oder Andersgläubigen. Infolge der Reformation und weiterer zwischenchristlicher Auseinandersetzungen entwickelte sich dieses Wort sogar immer mehr zu einem konfessionalistischen Abgrenzungs- und Kampfbegriff. Letztendlich haben die damit verbundenen Profilierungen in Leben und Lehre aller Kirchen auch die jeweils beanspruchte Katholizität vermindert und zu mancher Verarmung und Enge geführt.

Inzwischen ist ein solcher Konfessionalismus durch verschiedene Erneuerungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts jedoch weitgehend überwunden, sodass man mit Kardinal Walter Kasper sagen kann: »Katholische Kirche ist dort, wo kein Auswahlevangelium und keine parteiische Ideologie, sondern der ganze Glaube aller Zeiten und Räume in seiner Fülle ohne Abstriche verkündet wird, wo man Jesus Christus bei allen Völkern und in allen Kulturen für alle Menschen ungeachtet ihres Standes, ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer Kultur bezeugt und der Christusglaube alle Dimensionen des Menschen ganzheitlich zu durchdringen sucht, wo innerhalb der Einheit einer größtmöglichen Vielfalt Raum gegeben wird und wo man im Heiligen Geist hör- und lernbereit ist für das je Größere und je Neue der in Jesus Christus in menschlicher Gestalt erschienenen Fülle. Katholizität … meint das Gegenteil von bornierter Engstirnigkeit und Abgrenzungsmentalität. Sie ist keine statische, sondern eine dynamische Wirklichkeit.«1

Dazu gehört aber auch, nicht verschwommen und unbestimmt zu sein oder zu bleiben, sondern im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext konkret Fuß zu fassen und sichtbar Gestalt anzunehmen. Von Inkulturation ist dabei die Rede. Zur Einheit kommt folglich die Vielfalt hinzu. Insofern kann man durchaus sagen, dass nicht überall alles genauso katholisch ist: in Italien wie in Schweden, in Polen wie in Deutschland, in Papua-Neuguinea wie in den USA, in Bayern wie in Schleswig-Holstein, im Rheinland wie in Sachsen-Anhalt. Auf diesem Hintergrund meint »anders katholisch« also, vor Ort eine eigene Geschichte zu haben und mit besonderen Prägungen und Herausforderungen unterwegs zu sein, die sich von der kirchlichen Wirklichkeit in anderen Ländern oder Regionen merklich unterscheiden. Oftmals verbindet sich damit sogar ein unverwechselbarer »Stallgeruch«.

Zweifellos trifft das auch auf das Bistum Magdeburg zu. Obwohl es erst 1994 errichtet wurde – wir feiern gerade sein 25-jähriges Bestehen –, sieht es sich doch in der Reihe einer alten und ehrwürdigen Tradition. Bereits 804 – also vor über 1200 Jahren – entstand hier das Bistum Halberstadt. Noch bedeutsamer für unsere Geschichte wurde freilich die Errichtung des Erzbistums Magdeburg 968; im vergangenen Jahr haben wir dieses Ereignisses anlässlich des 1050. Jubiläums besonders gedacht. Auch wenn das Erzbistum infolge der Reformation unterging, ist der katholische Glaube aus unserer Region doch nie völlig verschwunden. Wirtschaftlicher Aufschwung und die damit verbundene Zuwanderung führten zu neuen Gemeindegründungen. Am stärksten wuchs die Zahl der Katholiken im Bereich des heutigen Bistums Magdeburg jedoch infolge der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten an. Als katholisches Missionsgebiet angesehen, gehörten wir formal gesehen von 1821 bis 1994 zum Bistum bzw. Erzbistum Paderborn. Ab 1961 waren wir jedoch durch die deutsch-deutsche Grenze für lange Zeit fast vollständig voneinander getrennt und mussten immer selbstständiger werden. Unter russischer Besatzungsmacht und in einem sozialistischen Staat mit einer marxistisch-leninistischen Einheitspartei wurde das kirchliche Leben zunehmend schwieriger. In dieser Situation sind auch katholische und evangelische Christen dichter zusammengerückt. Nach der friedlichen Revolution und der gesellschaftlichen Wende von 1989 stand die katholische Kirche Magdeburgs dann wieder einer grundsätzlich anderen Situation gegenüber. Neue Herausforderungen, Möglichkeiten und Probleme taten sich auf. Eine gewaltige Umstellung war zu leisten.

Heutzutage sind wir mit einem Territorium von 23.000 km2 in Deutschland flächenmäßig das viertgrößte der 27 Bistümer, mit etwa 81.000 Katholiken2 der Gläubigenzahl nach jedoch das zweitkleinste. Eines unserer Spannungsfelder besteht also darin, dass wenige Katholiken über ein weites Gebiet verteilt sind und in der Gesamtbevölkerung nur etwa 3–4 % ausmachen; ungefähr 14 % sind evangelisch und mehr als 80 % gelten als religionslos oder entkirchlicht. Statistisch ermittelt sind unter uns Katholiken inzwischen etwa 12 % Ausländer aus über 100 Nationen und etwa ebenso viele Bürger aus den sogenannten alten Bundesländern. Durch Zuzug sind wir zwar vielfältiger, durch Wegzug aber auch weniger geworden. Und die Überalterung schreitet weiter voran. Inzwischen ist der »Gottesglaube in Ostdeutschland der geringste weltweit«, wie eine internationale Studie herausfand. Auf jeden Fall ist es in unserer Region »normal«, keiner Kirche oder anderen Religion anzugehören. Man muss das nicht rechtfertigen. Es ist gesellschaftlich legitimiert. »Religion ist« – wie Julia Knop sagt – »in dieser Gegend schlicht keine Kategorie der Selbstdefinition« – weder durch Zustimmung noch durch Abgrenzung.

Sich als Ortskirche auf eine solche Befindlichkeit einzustellen, erfordert eine große Offenheit und einen langen Atem. Zweifellos wirken sich diese Umstände auch auf unser Selbstverständnis, unsere gesellschaftliche Rolle und unsere ganz praktischen Vollzüge aus. Bereit, sich kritisch und konstruktiv dem Pluralismus zu stellen, versuchen wir nach Kräften und Möglichkeiten, die Gesellschaft mitzugestalten. Obwohl wir um unsere Begrenzungen und Schwächen wissen, haben wir dennoch selbstbewusst und zugleich demütig im Rahmen unseres Pastoralen Zukunftsgespräches 2004 formuliert: »Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, sondern die allen Menschen Anteil an der Hoffnung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist … Deshalb nehmen wir die Herausforderung an, in unserer Diasporasituation eine missionarische Kirche zu sein. Einladend, offen und dialogbereit gehen wir in die Zukunft.« In diesem Sinn verstehen wir wenigen Katholiken uns in der säkularen Gesellschaft Mitteldeutschlands heute – auch wenn die äußere Gestalt der Kirche sich noch dramatischer verändern wird als bisher – als eine »schöpferische Minderheit«, die in ökumenischem Geist und in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Partnern durchaus Möglichkeiten hat, auch in Zukunft vielfältig und lebendig das Evangelium zu bezeugen. Eine solche Gesinnung ist für uns die Grundlage aller unserer Überlegungen, Initiativen und Erneuerungsversuche.

Als Bistum Magdeburg sind wir nicht der »Nabel der Welt«, aber auch nicht nur ein »Anhängsel« der katholischen Kirche in Deutschland. Jemand hat uns sogar einmal als »evangelisch (protestantisch) geprägte Provinz der katholischen Weltkirche« bezeichnet. Sicher erscheinen wir in vielem anders als andere: vielleicht nicht so traditionsbezogen, folkloristisch und trachtenreich, sondern eher nüchterner und ernsthafter oder auch ökumenischer. Damit sind wir aber nicht weniger katholisch. Dies noch deutlicher werden zu lassen und aufschlussreiche Einblicke in das Denken und Empfinden sowie Leben und Wirken von katholischen Christen und ihrer Kirche im Osten Deutschlands zu vermitteln, ist das Anliegen dieser Textsammlung. In unterschiedlich gearteten Beiträgen findet das seinen Ausdruck.

Zunächst zeichnet ein historischer Artikel die Ab-, Um- und Aufbrüche nach, die die Katholiken im sogenannten »Land Luthers« seit der Reformation durchlebt und durchlitten haben: Niedergänge und Durststrecken wie Bewährungs- und Entscheidungszeiten oder Abenteuer- und Gestaltungsphasen. Eine Kirche wird erkennbar, die weithin vom Zuzug gelebt hat und lebt, eine mehr oder weniger große Minderheit bildet, über Erfahrungen mit konfessioneller Diaspora wie mit einem religionsfeindlichen Staat verfügt, schon lange ökumenisch gesinnt ist, in die Freiheit hinausgeführt wurde und in einer extrem entkirchlichten säkularen Gesellschaft neu nach ihrem Selbstverständnis, ihrer Berufung und Sendung gesucht hat.

Was das für einen einzelnen Christen bedeuten kann, der hier in den letzten Jahrzehnten – vor und nach 1989 – aufgewachsen ist, für seine Sicht von Leben und Kirche, seinen Glauben und seinen Beruf, versucht biografisch der zweite Artikel mit der Überschrift »Warum ich Christ bin« aufzuzeigen.

Zahlreiche weitere Texte sind Predigten zu Bistumswallfahrten und Ölweihmessen, Ostern und Weihnachten oder anderen Anlässen sowie mehrere Fastenhirtenbriefe und zwei Grußworte. Sie stammen aus den Jahren 2004 bis 2018 und sind chronologisch angeordnet. In ihnen geht es sowohl grundsätzlich als auch existenziell und situativ um Fragen wie: Woran erkennt man Christen? Was ist für uns typisch als Kirche? Wozu ist ein Bistum gut? Wie soll ein Bischof sein? Wofür leben wir Katholiken? Was ist wesentlich und was nicht? Zugleich kann man daraus erfahren, dass wir als Katholiken im Bistum Magdeburg »vom Evangelium ergriffen« »um Gottes und der Menschen willen« »als Hoffnungsgemeinschaft« »aus Völkern und Nationen« »unterwegs« sein und »ökumenisch weitergehen« wollen, nicht als »geschlossene Gesellschaft«, sondern »mittendrin – von Himmel und Erde berührt«. Das aber heißt auch, »im Fremden Christus« zu »erkennen« und nicht »unter unserer Würde« zu leben. Wir wissen um die Gefahren und Chancen der »Diaspora« und des »kleinen Weges«, wir sind uns auch der Zumutung einer »Kreuzesnachfolge« bewusst und mühen uns um »Buße und Erneuerung«. Zugleich teilen wir mit unseren Zeitgenossen die »Sehnsucht nach Heimat« und sind nicht ohne »Freude« und »Hoffnung«. Dabei richten sich diese Überlegungen und Anregungen nicht nur an Katholiken in einer extremen Minderheitensituation, sie dürften auch andere ansprechen und in ihrem Christsein bestärken oder neu herausfordern.

Im letzten Teil geht es schließlich unter dem Titel »Auf dem Weg in die Zukunft« um die inhaltliche wie strukturelle Entwicklung des Bistums Magdeburg seit 2004: vom »Pastoralen Zukunftsgespräch« zur Bildung von Gemeindeverbünden und Errichtung neuer Pfarreien, um unsere »Zukunftsbilder« und die ersten »Pfarreien ohne kanonischen Pfarrer«. Dabei ist auch von sogenannten »VOlK«-Teams (Vor Ort lebt Kirche) zu lesen, die sich um das kirchliche Leben in kleineren Gemeinden kümmern, oder von Teams, die durch den Bischof alternativ zur bisher üblichen Form gemeinsam mit der Leitung einer Pfarrei beauftragt sind. Schließlich wird der Versuch geschildert, in einer säkularen Gesellschaft noch diakonischer Kirche zu sein. Insgesamt – so die Erkenntnis und Botschaft – kommt es entscheidend darauf an, dass möglichst viele der Getauften und Gefirmten ihre Würde und Berufung entdecken und leben. Das ist noch einmal etwas anderes als nur mitmachen oder mitbestimmen zu wollen. Dazu gehört wesentlich auch das individuelle und gemeinschaftliche Hören auf das, »was der Geist uns eingibt«.

Das aber bedeutet auch, unsere kirchliche und gesamtgesellschaftliche Situation nicht nur oberflächlich zu betrachten und uns über äußere Umstände zu ereifern, sondern tiefer anzusetzen und z. B. zu fragen: Warum mutet Gott uns das zu? Was will er vielleicht damit erreichen? Woran erkennt man den Erfolg des Evangeliums? Hat uns Gott verlassen oder wirkt er ganz anders, als wir uns das vorstellen oder erwarten? Zweifellos verändert sich die äußere Gestalt der Kirche schon jetzt dramatisch – nicht nur im Osten Deutschlands, sondern auch anderswo, wo bislang noch volkskirchliche Verhältnisse anzutreffen waren und es vielleicht auch noch sind. Das aber bedeutet nicht unbedingt ihren Untergang. Die Kirche ist nicht an bestimmte Verhältnisse gebunden; sie kann überall – auch unter schwierigsten Umständen – Wurzeln schlagen, sich entfalten und ihrer Bestimmung gerecht werden. Dessen gewiss und im Vertrauen darauf, dass die Kirche nicht nur ein menschliches, sondern vor allem ein göttliches Unternehmen ist, mühen wir Katholiken im Bistum Magdeburg uns auch weiterhin, unserer Berufung und Sendung zu entsprechen. Und wir möchten mit unseren Erfahrungen und Überzeugungen, wie sie in diesem Buch aufscheinen, auch anderen Mut machen, ihren eigenen Weg zu suchen und zu finden – in katholischer Gemeinsamkeit, aber sicher oder vielleicht auch je anders.

Gerhard Feige

1 W. Kasper, Die Kirche Jesu Christi – auf dem Weg zu einer Communio-Ekklesiologie, in: ders., Die Kirche Jesus Christi. Schriften zur Ekklesiologie I, Freiburg 2008, 15–120, hier 54.

2 Die angegebene Gläubigenzahl variiert in diesem Band, dies spiegelt den jeweils bei der Verfassung der Texte aktuellen Stand wider.

1. Historische Einblicke

Katholiken im »Lande Luthers«: Ab-, Um- und ­Aufbrüche

Als die Reformation begann, gehörte das Gebiet des heutigen Bistums Magdeburg und größtenteils auch des heutigen Landes Sachsen-Anhalt zu den Bistümern Verden, Havelberg, Brandenburg, Halberstadt, Magdeburg, Merseburg, Meißen, Naumburg-Zeitz und Mainz.1 Unter politischen Gesichtspunkten handelte es sich hierbei vor allem um das Hochstift Magdeburg, die anhaltischen Länder, die brandenburgische Altmark und den sächsischen Kurkreis, daneben aber auch um Teile des Herzogtums Sachsen, die Grafschaften Mansfeld, Stolberg-Wernigerode und Blankenburg-Regenstein, die Hochstifte Halberstadt, Merseburg und Naumburg sowie um die Herrschaft Barby und die Abtei Quedlinburg.2 Besonders bedeutsam war das im Jahre 968 durch Kaiser Otto I. gegründete Erzbistum Magdeburg. Mit seinen ihm zu- und untergeordneten Suffraganbistümern – dazu zählten die im selben Jahr errichteten Bistümer Merseburg, Naumburg-Zeitz und Meißen sowie die schon etwas länger bestehenden Bistümer Havelberg (946) und Brandenburg (948) – gehörte es zu den einflussreichsten Bistümern im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation.3

Doch schon seit dem 8. Jahrhundert hatte sich das Christentum westlich der Saale und bis zur Elbe allmählich ausgebreitet. Einen markanten Ausdruck fand diese Entwicklung bereits 804, als das Bistum Halberstadt gegründet wurde. Bis zum 16. Jahrhundert waren unzählige Klöster und Pfarreien entstanden, hatten Romanik und Gotik die Landschaft geprägt. Zugleich gingen bis dahin relativ viele Heilige aus dieser Region hervor.4 Zu ihnen gehören z. B. Adalbert, der erste Erzbischof von Magdeburg, und Norbert von Xanten, der dieses Amt von 1126 bis 1134 ausgeübt hat, Burchard von Halberstadt und Bruno von Querfurt, Königin Mathilde und Jutta von Sangerhausen oder die mittelalterlichen Mystikerinnen Gertrud von Helfta, Mechthild von Magdeburg und Mechthild von Hackeborn. Durch die Reformation wurde diese jahrhundertelange christliche bzw. altkirchliche Prägung des heutigen Mitteldeutschlands schwer erschüttert und grundsätzlich infrage gestellt. Ein gewaltiger Ab- und Umbruch war die Folge. Der Raum zwischen Harz und Elbe, Altmark und Thüringen wurde zum Kernland der Reformation.

Die Reformation setzt sich durch

Vom Beginn bis zur flächendeckenden Durchsetzung der Reformation dauerte es freilich noch einige Zeit. Zudem verliefen die Auseinandersetzungen in den einzelnen Territorien des heutigen Sachsen-Anhalts unterschiedlich intensiv.

Im Kurfürstentum Sachsen mit Wittenberg als Residenzstadt und gewissermaßen Wiege der Reformation in Deutschland – hier hatte Martin Luther mit nur geringfügigen Unterbrechungen von 1508 bis zu seinem Tod 1546 gelebt und gewirkt – wurde, durch landesherrliche Visitationen unterstützt, bereits im Jahre 1539 die Einführung der Reformation abgeschlossen.5

Im Erzstift Magdeburg hingegen, in dem besonders heftig gestritten wurde, zog sich dieser Prozess noch länger hin. Das betraf vor allem sowohl Halle, wo sich seit 1506 die Residenz des Erzbischofs befand, als auch Magdeburg.6 Lange Zeit versuchte Kardinal Albrecht von Brandenburg als Landesherr zu verhindern, dass evangelische Prediger eingesetzt würden. Dabei erschienen ihm als einem hochgebildeten, weltoffenen und geistlichen Mann diplomatische Verständigung, Ausgleich und Frieden angebrachter als ein gewaltsames Vorgehen. So hat er sich auch von einigen katholischen Reformtheologen unterstützen lassen. Außerdem gelang es ihm, den Dominikaner Michael Vehe nach Halle als Propst des Domstiftes zu berufen und ihn – als Reaktion auf Luthers liturgische Initiativen – dafür zu gewinnen, das erste katholische Gesangbuch herauszugeben; dieses enthielt etwa 50 geistliche Lieder, bereits bekannte, aber auch nach Psalmen neu gedichtete. Trotz vieler katholischer Bemühungen fasste die Reformation im Erzstift Magdeburg immer mehr Fuß und begann sich auszubreiten. In Magdeburg selbst kam es schon 1524 nach Predigten Luthers und aufgrund intensiver Bestrebungen der Stadt, von der Herrschaft des Erzbischofs unabhängig werden zu wollen, dazu, dass sich die sechs Pfarrkirchen der Altstadt und das Augustinerkloster der Reformation anschlossen. Andere Klöster sowie das Domkapitel und zwei Vorstadtpfarreien blieben zunächst noch katholisch. In den folgenden Jahren aber entwickelte sich Magdeburg recht schnell zu einer Hochburg des Protestantismus und des Widerstandes gegen Kaiser Karl V. (1500–1558). Zahlreiche Druck- und Flugschriften gingen von hier aus, sodass die Stadt evangelischerseits schon bald als »Unseres Herrgotts Kanzlei« bezeichnet wurde.

Für Halle war das Jahr 1541 ein entscheidendes. Zum einen setzte sich in ihm die Reformation durch, zum anderen verließ Kardinal Albrecht resigniert die Stadt. Nach einem längeren Aufenthalt in Aschaffenburg ist er dann 1545 in Mainz gestorben. Sowohl für Halle als auch für Magdeburg dauerte es aber noch bis 1561, ehe Erzbischof Sigismund von Hohenzollern schließlich in seinem Machtbereich der Reformation endgültig zum Durchbruch verhalf. Nach seinem Tod trat 1567 auch das Domkapitel zum evangelischen Bekenntnis über, die Dompropstei jedoch vollzog diesen Schritt wohl erst 1723. Damit hatte das Erzbistum Magdeburg fast 600 Jahre nach seiner Gründung aufgehört zu existieren.

In den anhaltischen Gebieten7 war es vor allem Fürst Wolfgang von Anhalt-Bernburg-Köthen, der sich schon 1526 ausdrücklich der Reformation zuwandte und sie bald auch in seinen Territorien einführte. Im Fürstentum Anhalt-Dessau hingegen verteidigte Margarete von Münsterberg, die als Witwe seit 1516 die Regentschaft innehatte, bis zu ihrem Tod 1530 leidenschaftlich die alte Kirche, bemühte sich aber auch mithilfe eines katholischen Theologen um notwendige Reformen. Ihre drei Söhne jedoch, die danach gemeinsam die Herrschaft übernommen hatten, bekannten sich zur Reformation und führten sie 1534 endgültig ein. In besonderer Weise geht dies auf den profiliertesten von ihnen, Fürst Georg III., zurück. In Anhalt-Zerbst schließlich, das sowohl von Bernburg-Köthen als auch von Dessau gemeinsam regiert wurde, konnten der Rat und ein Großteil der Bürger trotz ihrer frühzeitigen Sympathie für die Reformation seit 1522, als Luther dort gepredigt hatte, diese wegen des Widerstandes, der vor allem von der Dessauer Fürstin Margarete kam, erst mittels Gewaltaktionen 1527 einführen.

In der Altmark, die zu Brandenburg gehörte, gab es bis 1535 kaum irgendwelche reformatorischen Bewegungen.8 Kurfürst Joachim I., ein Bruder von Kardinal Albrecht und energischer Verteidiger der alten Kirche, wusste dies zu verhindern. Nach seinem Tod jedoch wendete sich das Blatt. Sein Sohn, Kurfürst Joachim II., mühte sich bis 1541 zwar noch um kirchliche Reformen und Vermittlung zwischen den sich bildenden Konfessionen, orientierte sich daneben aber zunehmend an reformatorischen Vorstellungen und Praktiken. Schließlich billigte er auch eine neue Kirchenordnung und ließ bis 1544 Visitationen durchführen. Männerklöster wurden aufgelöst und Frauenklöster in Damenstifte umgewandelt. In diesem Zusammenhang setzte sich auch in den Städten der Altmark die Reformation immer mehr durch.

In den heute vor allem im Süden Sachsen-Anhalts gelegenen Gebieten, die zum Herzogtum Sachsen gehörten, verlief die Entwicklung ähnlich.9 Bis zu seinem Tode bekämpfte Herzog Georg der Bärtige mit allen Mitteln ein Eindringen der Reformation in seinem Machtbereich, zugleich unterstützte er aber andere kirchliche Reformvorstellungen und holte entsprechende Theologen – wie z. B. auch Julius von Pflug – an seinen Hof. Sein Bruder Heinrich der Fromme hingegen stellte sich 1539 seinen Untertanen gleich als protestantischer Fürst vor und nutzte eine Visitation, um die Reformation in weiteren Städten seines Herzogtums einzuführen.

In der Grafschaft Mansfeld, wo Martin Luther – 1483 in Eisleben geboren und dort schließlich 1546 auch verstorben – einen Teil seines Lebens verbracht hatte, bekannten sich zwei der Grafen – Gebhard und Albrecht – schon 1525 zur Reformation, während der dritte – Hoier – bis zu seinem Tod 1540 katholisch blieb.

Auch in den anderen Grafschaften – Stolberg-Wernigerode, Blankenburg-Regenstein und Barby – sowie in der Abtei Quedlinburg gelang es größtenteils erst über zwanzig Jahre nach dem Beginn der Reformation, diese endgültig einzuführen.10

In den Hochstiften bzw. Bistümern Merseburg, Naumburg-Zeitz und Halberstadt brauchte das sogar noch wesentlich mehr Jahre.11 Zunächst hatten in Merseburg bis 1544 Bischöfe regiert, die die Reformation energisch abzuwehren versuchten. Als fünf Jahre lang ein evangelischer Administrator die Macht innehatte, setzte sich die Reformation fast durch. Doch von 1549 bis 1561 wurde ihr Siegeslauf noch einmal durch den katholischen Bischof Michael Helding unterbrochen. Auch in Naumburg-Zeitz verzögerte – gewissermaßen als Zwischenspiel – die Amtszeit des letzten katholischen Bischofs und Vermittlungstheologen Julius von Pflug von 1546 bis 1564 noch einmal die vollständige Durchsetzung der Reformation.12 Am längsten ließ die Vollendung der Reformation in Halberstadt auf sich warten. Nach gescheiterten Versuchen in den Jahren 1525 und 1530 gelang 1540 zwar ein Durchbruch. Aber erst 1587 kann man nach einer erneuten Visitation durch Bischof Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel davon reden, dass Halberstadt nunmehr wirklich evangelisch geworden war. Das Domkapitel trat sogar nur zum Teil zur neuen Lehre über.

Die Reformationsgeschichte des heutigen Sachsen-Anhalts war also geografisch wie zeitlich sehr vielgestaltig. Alle betreffenden Bistümer außer Mainz gingen unter. Zumeist erlosch jegliches katholische Leben. Nur an wenigen Orten verschwand es nicht völlig.

Einige Klöster existieren weiter

Interessanterweise haben auf dem Gebiet des ehemaligen Bistums Halberstadt zwölf Klöster und auf dem Gebiet des ehemaligen Erzbistums Magdeburg fünf Klöster die Reformation überstanden und sind katholisch geblieben.13 Was die Klöster in und um Halberstadt angeht, hing dies sicherlich damit zusammen, dass das katholische Domkapitel von 1566 nach der Erwählung des erst zweijährigen Heinrich Julius zum Bischof zwölf Jahre hindurch bis zu dessen Volljährigkeit das Bistum leitete. Zudem spielte für den Fortbestand aller betreffenden siebzehn Klöster offenbar auch eine Rolle, dass diese Orden angehörten, die sich schon vor der Reformation um Reformen bemüht hatten oder von Grundbesitz leben konnten und nicht aufs Betteln angewiesen waren. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erhielten sie durch die Vereinbarungen des Westfälischen Friedens von 1648 dann ausdrücklich die Garantie, auch unter neuen politischen Gegebenheiten weiterhin als katholische Klöster bestehen bleiben zu dürfen. In sieben von ihnen lebten Zisterzienserinnen, in je zweien Benediktiner beziehungsweise Augustiner, und auf die übrigen sechs verteilten sich je ein Konvent von Benediktinerinnen, Augustinerinnen, Dominikanern, Franziskanern und Cellitinnen. Letzteres Kloster löste sich nachträglich aber doch noch auf. Den stärksten Konvent bildeten am Anfang des 18. Jahrhunderts die Franziskaner in Halberstadt mit 43 Brüdern, alle anderen bewegten sich in der Spanne zwischen zehn und 27 Personen. Wenige katholisch gebliebene Christen schlossen sich diesen Klöstern an und bildeten trotz mancher Widerstände des Landesherren und der evangelischen Konsistorien kleine Gemeinden, denen nach einem Bericht von 1711 insgesamt gegenüber 325 Ordensleuten 1.932 andere Gläubige angehörten. Einhundert Jahre später hatte sich deren Zahl in den fünf Klosterpfarreien in und um Magdeburg von 710 auf 4.070 erhöht; ähnliche Steigerungen können wohl auch – obwohl es darüber jedoch leider keine Aufstellung gibt – von den anderen Klosterpfarreien in und um Halberstadt angenommen werden. Während der Nachwuchs der Klöster noch lange Zeit nach der Reformation hauptsächlich aus der näheren Umgebung und dabei besonders aus Halberstadt kam, zeigte sich aufgrund einer Nachfrage des preußischen Königs von 1721, dass jetzt neue Ordenseintritte fast nur noch aus anderswo gelegenen katholischen Gebieten zu verzeichnen waren, hauptsächlich aus den Bistümern Hildesheim oder Köln und Paderborn. Um zu überleben, war man nunmehr vor allem auf auswärtige Unterstützung angewiesen. Andererseits hatten diese Klöster für die Seelsorge an den katholischen Christen in ihrer näheren und bald auch weiteren Umgebung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Vor allem trifft das auf die Halberstädter Franziskaner zu. Diese gründeten sowohl 1712 in Halle als auch 1719 in Dessau Seelsorgestellen – besonders für Studenten und Soldaten oder auch fürstliches Dienstpersonal – und betreuten von dort aus auch weitere Katholiken in anderen Orten. Die Benediktiner von Groß Ammensleben wandten sich besonders der Altmark zu und wirkten in Stendal wie in Salzwedel oder Gardelegen. Nach Aschersleben kamen zunächst Augustiner aus Hamersleben, dann Dominikaner aus Halberstadt. Soldaten, die in Burg stationiert waren, wurden von Zisterziensern aus dem Magdeburger St.-Agnes-Kloster betreut.

In Ermangelung ordentlicher Bistümer kümmerte sich zunächst die Kölner Nuntiatur von 1607 bis 1669 um die übrig gebliebenen Klöster mit ihren Gemeinden, d. h., dass im Auftrag des Papstes katholische Oberhirten bestellt wurden, die für diese Gebiete rechtlich und pastoral zuständig sein sollten.14 Um den Kölner Nuntius zu entlasten, ordnete die durch Papst Gregor XV. 1622 gegründete Kongregation zur Verbreitung des Glaubens die Verhältnisse der durch die Reformation untergegangenen Bis­tümer neu und errichtete dazu 1667 ein sogenanntes Apostolisches Vikariat. 1709 wurde dieses dann noch einmal unterteilt in ein »Apostolisches Vikariat der Nordischen Missionen« mit Schwerpunkt Skandinavien und ein »Apostolisches Vikariat von Ober- und Niedersachsen«, zu dem auch preußische Gebiete gehörten. Ab 1669 war damit jeweils ein Apostolischer Vikar im bischöflichen Rang – als Titularbischof, Weihbischof oder auch eigenständiger Bischof eines anderen Bistums – beauftragt, sich um die Katholiken im Raum Halberstadt und Magdeburg zu sorgen. Einige residierten in Hannover, andere in Paderborn, Hildesheim oder Osnabrück; auch Hamburg und Neuzelle spielten zeitweise eine Rolle.

Für die erhalten gebliebenen Klöster brachte das Jahr 1803 eine vernichtende Entscheidung: den sogenannten Reichsdeputationshauptschluss, infolge dessen alle Klöster aufgelöst wurden und es zur Enteignung von kirchlichem Grundbesitz und sonstigem kirchlichen Eigentum kam. Dieser Vorgang wird auch Säkularisation genannt. Dadurch sollten die erblichen deutschen Fürsten für ihre territorialen Verluste links des Rheins entschädigt werden, die sie durch Napoleon Bonaparte (1769–1821) erlitten hatten. Später beriefen sich auch viele deutsche Kleinstaaten auf diese Regelung, um sich an kirchlichen Besitztümern zu bereichern. Dabei gingen oftmals wertvolle Kunstgegenstände und Bibliothekssammlungen verloren. Ein solches Schicksal widerfuhr auch den katholischen Klöstern im Raum Halberstadt und Magdeburg.15 Den größten Teil der katholischen Klostergemeinden – dreizehn – erkannte der preußische Staat aber doch als Pfarreien an und überließ diesen die bisherigen Klosterkirchen als Pfarrkirchen.16 Zugleich verpflichtete man sich, diese ihrer ökonomischen Existenzgrundlage beraubten Pfarreien finanziell zu unterhalten.

Von Einfluss auf die Situation der Katholiken zwischen Harz und Elbe sowie Saale war dann am Anfang des 19. Jahrhunderts auch noch das infolge der napoleonischen Fremdherrschaft zwischen 1807 und 1813 bestehende Königreich Westfalen, das von Napoleons Bruder Jérôme regiert wurde. Nunmehr galt auch für Katholiken ungehinderte Religionsfreiheit. Auf diesem Hintergrund errichtete der Apostolische Vikar des Nordens, Fürstbischof Franz Egon Freiherr von Fürstenberg, 1811 für das Elbe- und Saale-Departement und den Distrikt Helmstedt ein eigenes sogenanntes Kommissariat und beauftragte den Pfarrer der Huysburg, Carl van Eß, mit dessen Leitung.17 Sich selbst nannte van Eß »Fürstbischöflicher oder Bischöflicher Kommissar« und das ihm anvertraute Gebiet »Apostolisches Kommissariat«. Kurze Zeit hieß es »Geistliches Kommissariat für die Altmark, Magdeburg und Halberstadt« und dann »Bischöfliches Kommissariat«.

Neue Gemeinden entstehen

Schon im 18. Jahrhundert war die Zahl der Katholiken im heutigen Sachsen-Anhalt stellenweise wieder etwas angestiegen. Zum einen hing das damit zusammen, dass die preußischen Könige ihre antikatholische Haltung relativierten und gewissermaßen jeden »nach seiner Fasson selig werden« lassen wollten, zum anderen, dass gerade unter den Soldaten, die anderswo angeworben wurden, um in der preußischen Armee zu dienen, relativ viele katholisch waren.18 An manchen Orten wurden so auch Gottesdienste für Soldaten zur Keimzelle neuer katholischer Gemeinden. Hinzu kam, dass z. B. in Halle nach der Gründung der Universität 1694 vermehrt Händler, Handwerker und Studenten zuzogen, zu denen auch Katholiken gehörten. Trotz zunehmender religiöser Toleranz dauerte es aber noch einige Zeit, ehe katholische Gottesdienste nicht mehr strafbar waren, sondern öffentlich gefeiert werden konnten.19 Dennoch hielten sich auch weiterhin manche Widerstände. Erst am Anfang des 19. Jahrhunderts gelang es den Katholiken infolge der französischen Zwischenherrschaft und der anschließenden Bestätigung durch die preußische Regierung der neu gebildeten Provinz Sachsen, die volle staatliche Anerkennung zu erlangen und der evangelischen Landeskirche gleichgestellt zu werden. Zu dieser Zeit betrug einem Bericht des Kommissars Carl van Eß von 1824 zufolge die Gesamtzahl der Katholiken 10.941. Darunter bildeten Magdeburg mit 2.944, Halberstadt mit 1.934 und Halle mit 1.277 Gläubigen die drei größten Pfarreien.20

Schon drei Jahre vorher waren die Katholiken des Kommissariates direkt in das Bistum Paderborn eingegliedert worden. Dies stand im Zusammenhang mit der politischen Neuordnung des europäischen Staatengefüges durch den Wiener Kongress von 1814/15. Daraufhin hatte Papst Pius VII. 1821 durch die Bulle De salute ­animarum die kirchlichen Verhältnisse in den preußischen Gebieten ebenfalls neu geregelt.21 Damit war das bisherige Kommissariat für das Elbe-Saale-Departement – aber ohne das ja braunschweigische und nicht preußische Helmstedt – jetzt mit dem Bistum Paderborn durch eine Real- und Personalunion verbunden. Als das Bistum Paderborn nach Konkordatsregelungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Preußen über 100 Jahre später 1929 schließlich Erzbistum wurde, erfolgte nochmals eine Neuumschreibung der kirchlichen Gebiete. Seitdem gehörten zu seinem Ostteil neben den nunmehr vollständigen Gebieten der früheren mittelalterlichen Bistümer Magdeburg, Merseburg und Naumburg-Zeitz auch einige Anteile der ehemaligen Bistümer Brandenburg, Halberstadt, Havelberg, Verden, Meißen und Mainz.22 Befand sich der Sitz des jeweiligen Kommissars zunächst auf der Huysburg, so wechselte er 1828 erstmals und 1835 dann endgültig nach Magdeburg, wo er seitdem bis 1952 mit der dortigen Pfarr- bzw. Propststelle verbunden war.23

Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs kam es im Gebiet des Magdeburger Kommissariates im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer beträchtlichen Zunahme der Zahl an Katholiken und zur Gründung vieler neuer Gemeinden. Zunächst zog die aufblühende Zuckerrübenindustrie in der Magdeburger Börde weitere landwirtschaftliche Arbeitskräfte an. Diese kamen vor allem aus dem katholischen Eichsfeld und verstärkten ab 1840 etwa die hier bereits bestehenden Pfarreien. Allmählich wurde es darüber hinaus aber auch notwendig, neue sogenannte Missionspfarreien zu gründen. 24 solcher Gemeinden entstanden allein zwischen 1850 und 1868 von Torgau bis Sangerhausen und von Salzwedel bis Zeitz; 1858 betraf dies auch die »Lutherstädte« Eisleben und Wittenberg.24 Neben der Landwirtschaft gewann für Katholiken ab 1885 immer mehr die in den Städten sich enorm entwickelnde Maschinen- und Braunkohlenindustrie an Bedeutung. Viele der katholischen Eichsfelder wanderten dahin ab. In die Landwirtschaft hingegen strömten jetzt sogenannte Schnitter aus den preußischen Ostprovinzen: Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien. Viele davon waren Polen. Aufgrund der preußischen Pangermanisierungspolitik mussten diese jedoch unverheiratet sein und durften sich nur zwischen dem 1. ­April und dem 15. November in Mitteldeutschland aufhalten.25 Durch diese Saisonarbeiter kam es, dass vor allem in den katholischen Gemeinden der Börde die Zahl der Mitglieder im Sommerhalbjahr doppelt so hoch war wie sonst. Das Kommissariat sah darin eine große Herausforderung und organisierte für die im Vergleich zur anderen Bevölkerung wesentlich schlechter gestellten katholischen Landarbeiter eine besondere Seelsorge, wozu über den Ersten Weltkrieg hinaus zusätzlich polnische Priester besorgt bzw. einheimische Priester beauftragt wurden. Manche dieser auch »Sachsengänger« genannten ausländischen Fremdarbeiter heirateten ein und konnten dadurch dann in Mitteldeutschland wohnen bleiben. Eine Folge der zeitweisen Anwesenheit so vieler polnischer Schnitter in den katholischen Gemeinden war auch, dass sich »polnisch« unter den einheimischen Protestanten mittels des Begriffs »Polacken« zum abwertenden Synonym für »katholisch« entwickelte.

Formierten sich neue Gemeinden, so verband sich das oftmals mit dem Vorhaben, eine Kirche zu bauen und eine Bekenntnisschule zu gründen. Zudem entstanden mancherorts noch andere Einrichtungen in katholischer Trägerschaft. Später gehörten auch – durch Ordensgemeinschaften geführt – einige Kinder- und Altersheime oder sogar – wie z. B. in Halle und Magdeburg – Krankenhäuser dazu. Darin zeigte sich, dass zur katholischen Identität nicht nur der Gottesdienst gehört, sondern dafür auch darüber hinaus die Verkündigung einschließlich von Erziehung und Bildung sowie der karitativ-soziale Dienst am Nächsten wesentliche Merkmale sind. Aufschwung erhielt das katholische Leben auch durch die Gründung vieler Vereine. Neben speziellen Kirchbauvereinen zählten dazu u. a. Jünglings-, Gesellen-, Jungfrauen-, Mütter- und Männervereine. Sie verliehen vielen Katholiken über die Zugehörigkeit zu einer Pfarrei hinaus Halt und Geborgenheit.

Als besonders markante und folgenreiche Begebenheit in der Geschichte des mitteldeutschen Raumes kann aus katholischer Perspektive die Konversion des Herzogs Ferdinand von Köthen und seiner Frau Julie angesehen werden.26 1825 traten beide aus persönlicher Überzeugung in Paris zur katholischen Kirche über, machten aber deutlich, dass der seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 geltende Grundsatz »cuius regio, eius religio« – d. h., wer im jeweiligen Gebiet die Macht innehat, bestimmt auch die Weltanschauung – nicht zur Anwendung komme und alle protestantischen Untertanen bei ihrem Bekenntnis bleiben könnten. Zugleich verzichtete Herzog Ferdinand als unumschränkt regierender Herrscher jedoch nicht auf seine »oberbischöflichen Rechte« über die evangelische Landeskirche. War die katholische Seelsorge zuvor in Anhalt nur spärlich entwickelt gewesen, bekam sie nun einen kräftigen Anschub. Aus der kleinen Missionsstation Köthen wurde 1826 eine eigene Pfarrei für das ganze Herzogtum Anhalt-Köthen; zugleich wurde dieses der Verantwortung des Apostolischen Vikariats des Nordens entzogen und dem Nuntius in München unterstellt. In dessen Zuständigkeitsbereich kamen 1834 auch die Herzogtümer Anhalt-Bernburg und Anhalt-Dessau. Zuvor war die Missionsstation Dessau schon 1830 zur Pfarrei erhoben worden; für Bernburg und Zerbst erfolgte dies 1859. Da die letzte Regelung als Einmischung des Nuntius in die kirchlichen Verhältnisse Anhalts angesehen wurde und Ärger ausgelöst hatte, kam es 1868 dazu, dass das Apostolische Vikariat Anhalt durch Rom nunmehr dem Bischof von Paderborn übertragen wurde. 1921 wurde diese Zugehörigkeit durch einen Vertrag mit dem Heiligen Stuhl dann endgültig bestätigt. Damit gehörte Anhalt jetzt auch zum Kommissariat Magdeburg.27 Für Köthen selbst brachte die Konversion des Herzogspaares mit sich, dass – von diesem veranlasst – ab 1826 Jesuitenpatres die Seelsorge übernahmen. Je erfolgreicher sie wirkten und Einzelne zum Übertritt in die katholische Kirche bewegten, umso argwöhnischer wurde die protestantische Bevölkerung. Der katholischen Pfarrei wurden durch den Herzog 1827 und nach dessen Tod durch die Herzogin 1832 je ein Gut zugeeignet. Ein katholischer Friedhof entstand. Zudem kam es zur Errichtung einer katholischen Volksschule und einer sogenannten Kommunikantenanstalt, die Kinder aus dem Umland auf den Empfang der ersten Heiligen Kommunion vorbereiten sollte. Als Herzog Ferdinand 1830 starb, endete auch der katholische Aufschwung am Köthener Hof. Sein Bruder und Nachfolger, Herzog Heinrich, tolerierte zwar den katholischen Glauben, verhalf dem Protestantismus aber wieder zur uneingeschränkten Geltung. Herzogin Julie verließ Köthen und ging zunächst nach Stolberg; 1848 ist sie dann in Wien verstorben. 1833 konnte die seit 1827 im Bau befindliche katholische Kirche – ein spätklassizistischer Zentralbau – eingeweiht werden. In ihrer Gruft hat das Herzogspaar auch seine letzte Ruhe gefunden. 1848 wurden schließlich die noch verbliebenen Jesuiten aus Köthen vertrieben; die Pfarrei aber lebte weiter und wurde nun durch Weltgeistliche geleitet.

Die Zahl der Katholiken wächst an

1919 war die Zahl der Katholiken im Bischöflichen Kommissariat Magdeburg einschließlich der Pfarreien des Regierungsbezirks Merseburg bereits auf 107.804 angestiegen. 1939 gab es im nunmehr Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg 148.173 Katholiken. Und 1948, nach dem Zweiten Weltkrieg, soll deren Zahl 702.058 betragen haben.28