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Seitenzahl: 113
Max Frisch
Andorra
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Sabine Wolf
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Max Frisch: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 762015. (suhrkamp taschenbuch. 277)
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15459
2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961357-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015459-5
www.reclam.de
Andorra, am 2. November 1961 uraufgeführt, war sofort ein großer Erfolg und ist seitdem nicht nur ein sehr häufig aufgeführtes Theaterstück auf deutschsprachigen Bühnen geworden, sondern auch in den Kanon der Schullektüren eingegangen.
Das Drama behandelt eine der brennendsten Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Wie konnte es zu dem Zivilisationsbruch des NS-Staates mit dem bis dahin unvorstellbaren Verbrechen des Völkermords an den Juden kommen? Für Max Frisch waren dabei nicht die Täter im engeren Sinn interessant, sondern die vielen Mitläufer, genau genommen also auch die Zuschauer des Stücks im Parkett. Wie sind sie schuldig geworden, und warum sprechen sie sich davon frei?
Er betrachtet sein Drama allerdings als Modell, das über die konkrete historische Situation hinausweist:
»Eigentlich handelt das Stück gar nicht vom Antisemitismus. Der Antisemitismus ist nur ein Beispiel. […]
Warum ich den ›Jud‹ zum Beispiel nahm? Sein Schicksal liegt uns doch am nächsten, macht die Schuldsituation am deutlichsten.«1
Dies wurde ihm zwar von einem Teil der Kritik zum Vorwurf gemacht, ist aber für heutige Leser und Zuschauer wieder von Interesse: Gibt es nicht immer wieder vergleichbare Situationen auch in unserer Gegenwart? Frisch interessiert sich dafür, wie die Anfänge aussehen,
»die kleinen und scheinbar noch harmlosen Ansätze, die ersten Risse in der Mauer; das bedenkenlose Mitmachertum, die Feigheit, lange bevor Widerstand nur noch für Märtyrer-Typen in Frage kommt. Insofern nicht Rückblick auf das Großverbrechen, sondern didaktisch in der Untersuchung, wie kann das anfangen.«2
Max Frisch zeigt das an dem Schicksal Andris, des 20-jährigen Sohns des andorranischen Lehrers Can. Der Lehrer hat ihn stets als jüdisches Findelkind ausgegeben, tatsächlich aber ist er sein leiblicher Sohn, die Mutter eine »Schwarze« aus dem Nachbarland. Da die »Schwarzen« Feinde der Andorraner sind, hat der Lehrer dies nie offenbart. Das Drama zeigt, wie sich die Andorraner, in ständiger Angst vor einem drohenden Angriff der »Schwarzen«, immer mehr von Andri distanzieren, ihn mithilfe antisemitischer Vorurteile zum Sündenbock machen und ihn, obwohl unterdes bekannt wird, dass er eigentlich kein »Jud« ist, nach dem Einmarsch der »Schwarzen« seinem Schicksal überlassen, dem Tod am Pfahl. Auf der anderen Seite steht Andri, der auf der Suche nach seiner Identität an dem »Bild«, das sich die Andorraner von ihm machen, zerbricht und die ihm zugewiesene Rolle schließlich bewusst annimmt.
Im Ersten Bild werden folgende Probleme aufgezeigt: 1. Der Soldat stellt Barblin nach; 2. es droht ein kriegerischer Überfall, der vor allem für Andri gefährlich wäre (Barblin im Gespräch mit dem Pater); 3. der Tischler will Andri nicht ausbilden und verlangt deshalb vom Lehrer einen enorm hohen Preis; 4. der Wirt nutzt die Not des Lehrers wirtschaftlich aus; 5. Andri führt eine Auseinandersetzung mit dem Soldaten wegen Barblin. Das Erste Bild hat die Funktion einer Exposition, in der die Ausgangssituation des folgenden dramatischen Konflikts dargelegt wird.
Zu Beginn weißelt Barblin das Haus ihres Vaters, dies dient der Vorbereitung auf den kommenden Feiertag, den »Sanktgeorgstag« (S. 7). Der Barblin und der SoldatSoldat, der sie dabei beobachtet, zeigt unverhohlen sein erotisches Interesse an ihr. Barblin jedoch versucht dies mit dem Hinweis auf ihre Verlobung abzuwehren.
Mit dem Pater bespricht Barblin die in Andorra Angst vor einem Überfallkursierenden Gerüchte von einem Angriff der Schwarzen, die »neidisch sind auf unsre weißen Häuser« (S. 10), und von dem Schicksal, das den Juden (Nackenschuss am Pfahl) und deren Bräuten (Kahlrasieren des Kopfes) drohe. Der Pater kennt den eigentlichen Grund für Barblins Besorgnis: »Kein Mensch verfolgt euren Andri« (S. 10), weiß aber nichts zu entgegnen, was Barblin wirklich beruhigen würde – »friedlich«, »schwach«, »fromm« (S. 11), so sieht er das Heimatland. Ihre Frage: »Und wenn sie trotzdem kommen?« (S. 11), lässt er unbeantwortet.
Eine Verhandlung zwischen dem Lehrer und dem Tischler über die Möglichkeit, Andri auszubilden, endet in einer Übereinkunft zu einem Wucherpreis für eine LehrstelleWucherpreis: »Prader, das ist Wucher, 50 Pfund für eine Tischlerlehre!« (S. 14). Der Tischler hält Andri als Juden eigentlich für ungeeignet für eine handwerkliche Tätigkeit. Der Lehrer kann das Geld nur aufbringen, indem er sein Land sehr billig, zu billig, an den Wirt verkauft, der die Lage des Lehrers auszunutzen weiß.
Die Prozession zum Sanktgeorgstag kreuzt die Szenerie, Barblin nimmt daran teil. Auf Andris Ankündigung, eine Tischlerlehre machen zu können, reagiert sie nicht, sie folgt der Prozession. Gewaltbereitschaft des SoldatenBeendet wird die Szene durch eine Konfrontation zwischen Andri und dem betrunkenen Soldaten, der seine sexuellen Absichten gegenüber Barblin nun auch bei ihrem Verlobten deutlich macht. Andri stellt sich ihm mutig entgegen.
Die Vordergrund-Szene spielt (wie die meisten) nach Abschluss der dramatischen Ereignisse: »nach Jahr und Tag« (S. 24). Der Der WirtWirt bestätigt, dass sich »damals« »alle getäuscht« hätten und er geglaubt habe, was »alle geglaubt haben« (S. 24). Damit enttarnt er sich nicht nur als Mitläufer, er hält dies auch für einen Beweis seiner Unschuld. Die Geschichte des Lehrers, die Fehlinformation über Andris Abstammung, habe er »großartig« gefunden. Zum Schluss reduziert er alles auf eine Aussage: »Ich bin nicht schuld« (S. 24). Dass er damit die Ermordung eines Juden implizit billigt, scheint er nicht zu beanstanden oder nicht zu merken. Er lässt vieles ungesagt, z. B. den Betrug am Lehrer beim Landabkauf oder dass er vermutlich den Mord an der Senora begangen hat, der Anlass für die Invasion der »Schwarzen« ist und für den Andri verantwortlich gemacht wird, wie sich später abzeichnet.
Die fünf folgenden Bilder (2.–6.) sind geprägt von Andris Identitätssuche angesichts der fortgesetzten Ablehnung der Andorraner, die ihre Vorurteile gegen den »Jud« pflegen.
Im zweiten Bild führen Andri und Barblin ein KrisengesprächKrisengespräch vor ihrer Kammer. Andri denkt über die Vorwürfe nach, denen er in zunehmendem Maße ausgesetzt ist: Gefühllosigkeit, Geilheit (ohne Gemüt), Feigheit. Er macht außerdem seinem Ärger Luft, dass er dem Lehrer gegenüber zur Dankbarkeit verpflichtet sei, da er ihn als Baby gerettet habe, und erzählt, dass die anderen ihm wieder ein Bein gestellt hätten.
Barblin hingegen möchte nicht über Andris Probleme sprechen, sie versucht stattdessen, Andri zu verführen, z. B. indem sie ihm anbietet, ihre Bluse auszuziehen. Auf seine Schilderungen geht sie nicht ein, sondern versucht, ihn von seinen düsteren Gedanken abzubringen.
Die AngespanntheitAngespanntheit der Lage wird dadurch deutlich, dass die beiden, trotz Barblins Verführungsversuchen und der Küsse, vor der Kammer bleiben und nicht hineingehen. Auf das Geräusch einer Katze reagieren beide schreckhaft und verunsichert, das Grölen in der Ferne bringt Barblin zu dem Geständnis, dass sie das Haus nicht öfter als notwendig verlasse. Die Nacht ist schon bald vorüber, es schlägt drei Uhr, doch Andri will die ganze Zeit wach bleiben und Barblin später wecken. Im Glauben, dass seine Schwester schlafe, verbalisiert Andri seine Befürchtung, dass es verfluchte Menschen gebe, die als Sündenböcke für das Böse dienen müssten: »Das ist kein Aberglaube, o nein, das gibt’s, Menschen, die verflucht sind, und man kann machen mit ihnen, was man will« (S. 28).
Auffällig ist, dass die beiden mit keinem UngesagtesWort erwähnen, dass die Zukunft für sie scheinbar nicht ganz so schwarz aussieht: Andri weiß ja nun, dass er eine Tischlerlehre absolvieren kann und dass die Heirat der beiden daran anschließt.
Der Tischler gibt zwar zu, dass er einen überhöhten Der TischlerPreis für die Aufnahme Andris als Lehrling nahm, lässt alle weiteren Schlussfolgerungen, die er ziehen könnte, aber unausgesprochen. Er beklagt nur, dass Andri nicht Verkäufer habe werden wollen. Er gibt vor, es gut gemeint zu haben mit Andri, und betont seine Unschuld am Geschehen. Damit nimmt er vorweg, dass Andris Lehre in der Tischlerei keinen guten Ausgang nehmen wird. (Und der Zuschauer kann sich darauf konzentrieren, wie es dazu kommt, dass Andri Verkäufer wird.)
Zuspitzung der Handlung: Abbruch der Tischlerlehre durch unfaires Verhalten des Tischlers und des Gesellen, Versetzung in den Verkauf.
Andri und der Geselle Fedri haben jeweils einen Stuhl angefertigt. Sie reden über ihre neu geschlossene Freundschaft und die Absicht, Andri in die örtliche Fußballmannschaft (deren Kapitän der Geselle ist) aufzunehmen. Fedri überprüft die hervorragende Qualität von Andris Stuhl, der Auftritt des Tischlers unterbricht die beiden. Andri spricht ihn auf die vereinbarte LehrlingsprobeLehrlingsprobe an, die der Tischler vergessen hatte, dann aber sogleich vornimmt: Er prüft den Stuhl, den Andri seiner Meinung nach hergestellt hat. Die Qualität ist so schlecht, dass der Tischler den Stuhl mühelos kaputtmachen kann. Andris Einsprüche, dass er den falschen Stuhl prüfe, überhört er mehrfach. Der herbeigerufene Geselle steht nicht zu seiner Arbeit, sondern antwortet ausweichend, so dass der Tischler weiter davon ausgehen kann, dass Andri schlechte Arbeit geleistet hat. Dies schreibt er dem mangelnden handwerklichen Talent des vermeintlichen Juden zu: »Tischler werden ist nicht einfach, wenn’s einer nicht im Blut hat.« (S. 32) Er versetzt ihn folglich in den Verkauf, da er dort die wahren Qualitäten Andris vermutet. Andris Aufbegehren, den erneuten Versuch, dem Tischler klarzumachen, dass er von falschen Voraussetzungen ausgehe, weist der Tischler recht unwirsch zurück.
Andri erhält dann noch ein sich verschlechterndes Angebot für seine Arbeit im Verkauf: »Für jede Bestellung, die du hereinbringst mit deiner Schnorrerei, verdienst du ein halbes Pfund. Sagen wir: ein ganzes Pfund für drei Bestellungen.« (S. 35) Mangels Arbeitsalternative muss er annehmen.
Nach den Geschehnissen in der Tischlerei und der damit einhergehenden Erniedrigung Andris, tritt der Der GeselleGeselle in den Vordergrund. Der scheint seine Schuld im Nachhinein zwar erkannt zu haben – schließlich beginnt er seine Aussage mit den Worten »Ich geb zu: Es war mein Stuhl und nicht sein Stuhl.« (S. 36) –, doch zieht er daraus nicht die eigentlich logischen Schlussfolgerungen. Stattdessen beschränkt er sich darauf, aufzuzählen, weshalb Andri die Mitschuld an allem trage. Sein Einwurf, man habe Andri beim Fußballspielen dabeihaben wollen, kann bei wohlwollender Betrachtung als schlechtes Gewissen gesehen werden.
Am Ende betont auch er, dass er nicht schuld daran sei, dass Andri geholt wurde.
Andri wird erneut mit gängigen Vorurteilen gegen Juden durch den Doktor konfrontiert; der Vater verweigert die Zustimmung zur geplanten Hochzeit von Andri und Barblin.
In Anwesenheit der Mutter untersucht der Doktor Andri – er hat eine harmlose Halsentzündung. Antisemitismus des DoktorsDavon ausgehend, dass es sich um einen Andorraner handele, äußert er sich sehr patriotisch über seine Heimat; zugleich wird deutlich, dass ihm die Karriere andernorts verwehrt geblieben ist, und er den Juden daran die Schuld gibt: Er beklagt die Besserwisserei und den Ehrgeiz der Juden in der akademischen Welt. Da sie zudem »auf allen Lehrstühlen der Welt« (S. 40) hocken würden, könne der schlichte Andorraner einpacken. Dies habe ihn dann zurück in die Heimat gebracht. Er gibt an, »nicht für Greuel« zu sein und schon »Juden gerettet« (S. 40) zu haben. Nachdem er von der Mutter über Andris wahre Herkunft in Kenntnis gesetzt worden ist, verteidigt er sich, zeigt aber kein wirkliches Bedauern und macht gleich typisch jüdische Eigenschaften an Andris Verhalten fest (»sie verstehen keinen Spaß«, S. 42), obwohl er ihn kurz zuvor noch als vorbildlichen Andorraner identifiziert hat.
Der Wutanfall des LehrersVorfall mit dem Doktor macht den Lehrer wütend, er wirft ihn aus dem Haus und redet anschließend auf Andri ein, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen. Statt die Wahrheit zu sagen, deutet er nur an: »Sie wissen ja nicht, was sie reden, und ich will nicht, daß du am Ende noch glaubst, was sie reden. Denke dir, es ist nichts dran« (S. 44).
Mutig Scheiterndes Handanhaltenhält Andri nun beim Vater um Barblins Hand an. Dazu erzählt er die gemeinsame Lebens- und Liebesgeschichte, die teilweise von großer Verzweiflung und einem gemeinsamen Selbstmordversuch geprägt war. Doch der Vater lehnt ohne Begründung ab. Barblin reagiert verzweifelt, die Mutter ist voller Unverständnis, und Andri führt die Verweigerung der Zustimmung auf seine Abstammung zurück: »Weil ich Jud bin.« (S. 47) Daraufhin bekommt der Lehrer erneut einen Wutanfall, nennt aber wieder nicht den wirklichen Grund: dass Andri und Barblin leibliche Geschwister sind.