Angst bei Kindern und Jugendlichen - Cecilia A. Essau - E-Book

Angst bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Cecilia A. Essau

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Mit diesem Buch erhalten Studierende der Psychologie, Psychotherapie sowie Pädagogik, Sozialpädagogik, und des Lehramts einen Überblick über das psychologische Basiswissen zur Angststörung bei Kindern und Jugendlichen. Für die spätere Praxis besonders wichtig: Die gängigen Therapie-Manuale für Angststörungen werden anschaulich erklärt und kritisch eingeordnet.

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Seitenzahl: 407

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utb 2398

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Professor Dr. Cecilia A. Essau, lehrt und forscht an der University of Roehampton, London, im Department Psychologie, Fachbereich Entwicklungspsychopathologie; sie leitet außerdem das Centre for Applied Research and Assessment in Child and Adolescent Wellbeing (CARACAW), London. Von der Autorin außerdem im Ernst Reinhardt Verlag / utb lieferbar: „Depression bei Kindern und Jugendlichen“ (ISBN 978-3-8252-5953-2).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2398

ISBN 978-3-8252-5953-2 (Print)

ISBN 978-3-8385-5953-7 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5953-2 (EPUB)

3. Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © istock.com/Juanmonino

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Danksagung

IMerkmale der Ängste, Furcht, Angststörungen

1Einleitung

1.1Angst, Furcht, Phobie und Panik

1.2Normales Erleben

1.2.1Normale Rituale und Wiederholungsverhalten

1.2.2Normale Furcht

1.2.3Normale Besorgnis

1.3Angst und Phobien in verschiedenen Kulturen

1.4Übungsfragen zum 1. Kapitel

2Beschreibung und Klassifikation von Angststörungen

2.1Störung mit Trennungsangst

2.2Panikstörung

2.3Agoraphobie

2.4Spezifische Phobie

2.5Soziale Phobie

2.6Zwangsstörung

2.7Die Generalisierte Angststörung

2.8Posttraumatische Belastungsstörung

2.9Akute Belastungsstörung

2.10Andere Phobien und Ängste: Schulvermeidungsverhalten, Prüfungsangst, Selektiver Mutismus

2.11Übungsfragen zum 2. Kapitel

3Erhebungsmethoden und Diagnostik

3.1Klinische Interviews

3.1.1Unstrukturierte Interviews

3.1.2Strukturierte Interviews

3.1.3Multi-Informant

3.2Selbstbeurteilungsfragebögen

3.3Verhaltensbeobachtungen

3.3.1Der „Behavioral Avoidance Task“

3.3.2Rating-Skalen zur Verhaltensbeobachtung

3.3.3Rollenspiel-Tests

3.3.4Andere Verhaltensbeobachtungs-Methoden

3.4Selbstbeobachtungsverfahren: Tägliches Tagebuch

3.5Rating von Bezugspersonen

3.6Psychosoziale Beeinträchtigung

3.7Maße für mit Angst zusammenhängende Konstrukte

3.7.1Erfassung der familiären Situation

3.7.2Erfassung des Temperaments

3.8Welche Erfassungsmethoden sollen eingesetzt werden?

3.9Übungsfragen zum 3. Kapitel

4Epidemiologie

4.1Häufigkeiten von Angststörungen

4.2Angststörungen und Geschlecht

4.3Angststörungen und Alter

4.4Panikattacken bei Kindern und Jugendlichen

4.5Übungsfragen zum 4. Kapitel

5Komorbidität und Alter bei Störungsbeginn

5.1Komorbidität zwischen Angst und anderen Störungen

5.1.1Alter bei Störungsbeginn von Angststörungen

5.1.2Zeitliche Abfolge von Angst- und depressiven Störungen

5.2Klinische Auswirkungen von Komorbidität

5.3Übungsfragen zum 5. Kapitel

6Psychosoziale Beeinträchtigung und Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten der psychosozialen Versorgung

6.1Psychosoziale Beeinträchtigung und Angststörungen

6.2Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten

6.3Übungsfragen zum 6. Kapitel

7Verlauf von Angststörungen

7.1Verlauf von Angststörungen bei Erwachsenen

7.2Verlauf von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen

7.2.1Im klinischen Setting

7.2.2In der Allgemeinbevölkerung

7.3Prädiktoren von negativem Verlauf

7.4Übungsfragen zum 7. Kapitel

IITheorien und Risikofaktoren

8Modelle von Angststörungen

8.1Klassische Konditionierung

8.2Die Zwei-Faktoren-Theorie der Vermeidung

8.3Lernen durch Beobachtung

8.4Rachmans Modell

8.5Das Krankheits-Vermeidungs-Modell

8.6Kognitive Modelle

8.6.1Kognitives Modell von Panikattacken

8.6.2Kognitive Theorie der Agoraphobie

8.6.3Kognitives Modell der Sozialen Phobie

8.7Die psychoanalytische Theorie

8.8Das Bindungsmodell

8.9Das Temperaments-Modell

8.10Übungsfragen zum 8. Kapitel

9Risikofaktoren

9.1Familiäre Faktoren

9.1.1Familiäre Häufung bei Angststörungen

9.1.2Familiäre Faktoren nach Berichten von Erwachsenen mit Angststörungen

9.1.3Familiäre Faktoren bei ängstlichen Kindern

9.1.4Beobachtungsstudien und Angststörungen

9.2Temperamentsfaktoren

9.3Kognitive Faktoren

9.4Lebensereignisse und Bewältigungsstrategien

9.5Übungsfragen zum 9. Kapitel

IIIPsychologische Intervention

10Psychologische Interventionen

10.1Verhaltensbezogene Interventionen

10.1.1Expositionsverfahren

10.1.2Systematische Desensibilisierung

10.1.3Kontingenzmanagement

10.1.4Emotive Vorstellungsübungen

10.1.5Modell-Lernen

10.1.6Der Einsatz von Tokens

10.2Kognitive Interventionen: Selbstinstruktions-Training

10.3Kognitiv-behaviorale Interventionen

10.4Kombinierte Interventionen

10.4.1Das „Coping Cat“

10.4.2Das „Coping Koala“

10.4.3Das FREUNDE-Programm

10.4.4Training sozialer Kompetenzen: Förderung sozialer Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen

10.4.5Behandlung der Sozialen Phobie

10.5Training mit sozial unsicheren Kindern

10.6Familienbezogene Interventionen

10.6.1Systemische Modelle der Familientherapie

10.6.2Strukturelle Familientherapie

10.6.3Strategische Familientherapie

10.7Psychodynamische Interventionen am Beispiel der Spieltherapie

10.8Effektivität der psychologischen Intervention

10.9Übungsfragen zum 10. Kapitel

11Zusammenfassung und Ausblick

11.1Klassifikation

11.2Erhebungsverfahren

11.3Epidemiologie und Beeinträchtigungen

11.4Komorbidität

11.5Verlauf

11.6Risikofaktoren

11.7Behandlung

11.8Fazit

Glossar

Literatur

Sachverzeichnis

In liebendem

Andenken an meine Eltern

Essau Indit († 09.05.1992)

Runyan Megat († 26.05.1992)

Vorwort und Danksagung

Mein Interesse für Angst bei Kindern und Jugendlichen entstand in den Jahren meiner Tätigkeit am Max-Planck Institut für Psychiatrie in München. Damals machte ich erste klinische Erfahrungen mit Erwachsenen mit Angststörungen und begann, auch auf diesem Gebiet zu forschen. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen zahlreicher Studien, wurde mir in dieser Zeit Folgendes klar: (a) Angststörungen beginnen häufig im Jugendalter; (b) eine Angststörung in der Jugend erhöht das Risiko weiterer Störungen im Erwachsenenalter, und (c) früh beginnende Angststörungen tendieren dazu, chronisch zu werden. Darüber hinaus sind Ängste bzw. Angststörungen oft mit Langzeit-Beeinträchtigungen psychosozialer Art verbunden. Das Ausmaß dieser Probleme hat zu verstärkten Forschungsaktivitäten im Bereich der Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen geführt. Infolgedessen wuchsen die wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet in großem Maße an. Daher ist das Ziel dieses Buches, einen umfassenden Überblick über den derzeitigen Forschungsstand im Hinblick auf Angst bei Kindern und Jugendlichen zu geben.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beinhaltet eine Einführung in das Gebiet Angststörungen, einschließlich Klassifikation, Erhebungsstrategien, Epidemiologie, psychosoziale Beeinträchtigung und Verlauf. Der zweite Teil besteht aus zwei Kapiteln und gibt einen umfassenden Überblick über die neuesten empirischen Befunde in Zusammenhang mit verschiedenen Theorien und Risikofaktoren von Angststörungen. Im dritten Teil werden zahlreiche psychologische Interventionen für Kinder und Jugendliche dargestellt.

Ich danke meinen zahlreichen Kollegen für ihre anregenden Ideen, kritischen Kommentare und dafür, dass sie mir in den verschiedenen Stadien dieses Buchprojektes das notwendige Material zur Verfügung gestellt haben. Viele dieser Kollegen haben mich auch durch ihre direkte Mitarbeit an meinen Forschungsprojekten unterstützt: Prof. Dr. Susan H. Spence (University of Queensland, Australien), Dr. Paula Barrett (Griffith University, Australien), Prof. Mark Dadds (University of New South Wales, Australien), Prof. Dr. Peter M. Lewinsohn (Oregon Research Institute, USA), Prof. John R.Weisz (University of California at Los Angeles, USA), Prof. Thomas Ollendick (Virginia University, USA), Prof. Yuji Sakano (Waseda University, Japan), Prof. Peter Muris (Maastricht University, Niederlande).

Ebenfalls danke ich Britta Faßbender und Annika Brämswig für ihr aufmerksames Korrekturlesen. Auch möchte ich mich bei meinen vielen Kollegen und Studenten bedanken für ihr Feedback bezüglich des ersten Buches in dieser Serie der Klinischen Kinderpsychologie („Depression bei Kindern und Jugendlichen“) und für die Ermunterung, das vorliegende Buch zu schreiben.

Ebenso gilt mein Dank meiner Assistentin und Freundin Dipl.-Psych. Judith Conradt, die mich in jeder Phase meines Vorhabens tatkräftig unterstützt hat und durch ihre Geduld und Hilfe entscheidend zur Entstehung dieses Buches beitrug. Schließlich möchte ich meiner Familie in Malaysia, Kanada und Deutschland für ihre unaufhörliche emotionale Unterstützung danken.

Münster, im Oktober 2002

Cecilia A. Essau

I Merkmale der Ängste, Furcht, Angststörungen

1Einleitung

Affektzustand

Angst ist ein Affektzustand, der durch die Wahrnehmung von Gefahr oder Bedrohung in der Umwelt oder im Individuum ausgelöst wird. Sie ist eine universelle Erfahrung und damit Teil der menschlichen Existenz. Angst dient als biologisches Warnsystem, das bei Gefahr aktiviert wird. Als Reaktion auf eine Bedrohung richtet sie sich auf zukünftige Ereignisse. Bei dieser Bedrohung kann es sich um eine gefährliche Situation handeln, um fehlende Unterstützung oder um etwas Unbekanntes. Normale Angst bereitet das Individuum auf eine Reaktion zu seinem Schutz vor. So verhindert die Angst vor Schmerz, dass ein Kleinkind die heiße Herdplatte ein zweites Mal berührt. Ein geringes Maß an Angst kann bei der Bewältigung widriger Situationen hilfreich sein. Die Angst, bei einer Prüfung durchzufallen, führt dazu, dass sich der Prüfling vorbereitet.

Angst ist eine komplexe Erfahrung, die sich auf verschiedenen Ebenen ausdrückt. Sie hat körperliche, kognitive und behaviorale Komponenten (Tab. 1.1).

Das körperliche System: Wird eine Gefahr wahrgenommen oder erwartet, wird das sympathische Nervensystem aktiviert, und es entsteht die Kampf/Flucht-Reaktion. Diese Bezeichnung ist darauf zurückzuführen, dass sie den Körper auf Kampf- oder Fluchtaktivitäten vorbereitet. Die Aktivierung dieses Systems hat wichtige biochemische und körperliche Auswirkungen, die den Organismus handlungsbereit machen. Adrenalin und Noradrenalin werden freigesetzt. Die Herzfrequenz steigt an, durch die Beschleunigung des Blutkreislaufs und die erhöhte Abgabe von Sauerstoff an das Gewebe wird der Körper in Aktionsbereitschaft versetzt. Die Atmung wird tiefer und schneller, dadurch gelangt mehr Sauerstoff ins Gewebe. Das kann Gefühle von Atemnot, Erstickungsgefühle oder Schmerzen in der Brust hervorrufen. Die Blutzufuhr zum Kopf kann abnehmen, dadurch entstehen Schwindelgefühle, Sehstörungen und Erröten. Es kommt zu verstärktem Schwitzen, wodurch der Körper gekühlt wird. Die Pupillen weiten sich, um mehr Licht einzulassen, was zu getrübter Sicht oder zur Wahrnehmung kleiner Punkte vor den Augen führen kann. Der Speichelfluss nimmt ab, es kann Mundtrockenheit auftreten. Eine Verringerung der Aktivität des Verdauungssystems kann zu Übelkeit führen. Die Muskeln spannen sich an, bereit zum Kampf oder zur Flucht, was zum Gefühl von Anspannung, Schmerzen und Zittern führen kann. Diese körperlichen Symptome sind bekannte Anzeichen von Angst. Insgesamt wird durch die Kampf/Flucht-Reaktion der gesamte Stoffwechsel aktiviert (Rapee et al. 1996).

Tab. 1.1 Beispiele von Angstsymptomen (modifiziert nach Barrios/Hartmann 1997)

Körperlich

Erhöhte Herzfrequenz

Erröten

Müdigkeit

Übelkeit

Hitze- oder Kälteschauer

verstärkte Atmung

Schwitzen

muskuläre Anspannung

Taubheitsgefühle

Urinieren

Magenbeschwerden

Mundtrockenheit

Erbrechen

Kopfschmerzen

getrübte Sicht

Kognitiv

Black-out oder

Vergesslichkeit

Gedanken an Verunreinigung

Gedanken an Gefahr

Gedanken daran, verletzt zu werden

Gedanken daran, verrückt zu werden

Gedankenrasen

Konzentrationsschwierigkeiten

Gedanken daran, dumm zu erscheinen

Selbstkritische Gedanken

Behavioral

Vermeidungsverhalten

Weinen oder Schreien

Nägelkauen

Starre Haltung

Zittern der Stimme

Zittern der Lippe

Stottern

Zähneknirschen

Daumenlutschen

Vermeidung von Augenkontakt

Verkrampfte Kiefermuskulatur

Das kognitive System: Da das Hauptziel des Kampf/Flucht-Systems es ist, eine mögliche Gefahr zu signalisieren, wird dadurch sofort die Suche nach einer potenziellen Bedrohung eingeleitet. Die kognitiven Aspekte umfassen die Unsicherheit darüber, wie mit bestimmten Situationen umzugehen ist, sowie Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft. Dazu gehören auch Sorge, die Erwartung einer Katastrophe und die Angst, mit bestimmten Umständen nicht fertig zu werden. Kinder mit Angststörungen haben Schwierigkeiten, sich auf alltägliche Aufgaben zu konzentrieren, denn ihre Aufmerksamkeit ist auf die ständige Suche nach einer Bedrohung oder einer Gefahr gerichtet. Wenn die Kinder keine Anzeichen von Gefahr entdecken, richten sie möglicherweise ihre Aufmerksamkeit nach innen: „Wenn da draußen nichts ist, das mich bedroht, dann muss etwas mit mir nicht in Ordnung sein“. Oder sie verzerren die Situation: „Wenn ich es auch nicht finden kann, ich weiß, da ist etwas, wovor ich mich fürchten muss.“ Kinder mit Angststörungen erfinden Erklärungen für ihre Angst: „Jeder wird denken, dass ich ein Dummkopf bin, wenn ich etwas sage.“ Wird das kognitive System durch Angst aktiviert, führt das häufig zu Gefühlen von Furcht, Nervosität, Konzentrationsschwierigkeiten und Panik (Rapee et al. 1996).

Das behaviorale System: Die überwältigenden Impulse, die mit der Kampf/Flucht-Reaktion einhergehen, sind Aggression und der Wunsch, der Situation zu entfliehen (Rapee et al. 1996). Soziale Zwänge verhindern jedoch möglicherweise, dass diesen Impulsen nachgegeben wird. Durch Vermeidungsverhalten wird die Angst trotz momentaner Erleichterung aufrechterhalten. Vermeidungsverhalten wird negativ verstärkt. Das heißt, es wird bekräftigt, wenn es die Entfernung eines unangenehmen Ereignisses zur Folge hat. Infolgedessen versucht das Kind jedes Mal, wenn es mit einer angsterzeugenden Situation konfrontiert ist, schneller aus ihr herauszukommen, die Angst geht schneller vorbei, und das Vermeidungsverhalten des Kindes wird immer stärker.

Vermeidungsverhalten

Bei Kindern kann sich Vermeidungsverhalten in Form von Weinen, Schreien oder Sichverstecken äußern, wie auch durch Anklammern und die Bitte an die Eltern, dem Kind zu helfen, um der gefürchteten Situation zu entkommen. Weitere Formen von Vermeidungsverhalten sind Ablenkung und Distanzierung. Ältere Kinder oder Jugendliche können bei Konfrontation mit angsterzeugenden Situationen versuchen, sich abzulenken (indem sie beispielsweise mit einem Stift oder mit ihrer Hand spielen) oder sich innerlich von der Situation zu distanzieren (z. B. in eine Ecke des Raumes starren).

1.1Angst, Furcht, Phobie und Panik

Angst

Es ist wichtig, das Phänomen der Angst von drei damit zusammenhängenden Emotionen (Furcht, Phobie und Panik) zu unterscheiden. Angst ist ein Gefühlszustand, der gekennzeichnet ist durch negative Emotionen und körperliche Symptome von Anspannung. Der Begriff Angst leitet sich von dem lateinischen Wort „anxius“ ab und definiert einen Zustand von Erregung und Belastung (Beck/Emery 1985). Er hat denselben Wortstamm wie das lateinische „angere“, was so viel wie „bedrängen“ oder „beengen“ bedeutet.Wie Lewis (1971) bemerkte, bezieht sich die Bedeutung des Wortes „anxius“ möglicherweise auf ein Beengungsgefühl, das ängstliche Menschen häufig erleben. Angst ist eine zukunftsorientierte Emotion, gekennzeichnet durch Befürchtungen und das Gefühl, zukünftige, möglicherweise bedrohliche Situationen nicht kontrollieren zu können.Angst stellt nicht in jedem Fall ein Krankheitssymptom dar. Die normale Angst ist ein Alarmzeichen für den Organismus, das ihn in die Lage versetzt, einer tatsächlichen oder vermuteten Bedrohung gegenüberzutreten und sie zu bewältigen bzw. zu beseitigen. Im Gegensatz zur Furcht und zur Phobie ist Angst ein diffuseres Gefühl von geringer Spezifität.

Furcht

Furcht ist eine unmittelbare Alarmreaktion auf eine gegenwärtige Gefahr oder eine lebensbedrohliche Situation. Sie ist eine gegenwartsbezogene emotionale Reaktion, die sich durch starke Fluchttendenzen und eine Aktivierung des gesamten sympathischen Nervensystems auszeichnet. In den meisten Fällen ist Furcht bei Kindern eine adaptive Reaktion und spiegelt die Entstehung kognitiver Fähigkeiten wieder. Darüber hinaus ziehen Formen von Furcht meist keine intensiven oder anhaltenden Reaktionen nach sich und sind kurzlebiger Natur.

Phobie

Eine Phobie zeichnet sich durch den intensiven Wunsch aus, die gefürchtete Situation zu vermeiden und ruft bei Konfrontation mit der Situation große Angst hervor (Beck/Emery 1985). Das Wort „Phobie“ leitet sich aus dem griechischen Wort „phobos“ ab, was so viel wie Furcht oder Schrecken bedeutet. Phobos war auch der Name einer griechischen Gottheit, von dem man annahm, dass er unter den Feinden der Griechen Furcht und Schrecken verbreitete. Eine Phobie unterscheidet sich in verschiedenen Punkten von einer Furcht. Nach Marks (1969) und Miller et al. (1974) ist eine Phobie den Erfordernissen der Situation nicht angemessen, kann nicht erklärt werden, ist jenseits willentlicher Kontrolle, führt zur Vermeidung der gefürchteten Situation, bleibt über einen ausgedehnten Zeitraum bestehen, ist fehlangepasst und altersunspezifisch.

Panik

Panik ist eine plötzliche, überwältigende Periode intensiver Furcht oder Unbehagens, das mit körperlichen und kognitiven Symptomen einer Kampf/Flucht-Reaktion einhergeht (s. Kap. 2). Das Wort Panik geht auf den griechischen, ziegengestaltigen Naturgott Pan zurück. Pan erschreckte Reisende, die es wagten, seinen Schlaf am Wegesrand zu stören, und überraschte sie mit einem lauten Schrei. Dieser Schrei war so intensiv, dass er manchmal die Eindringlinge zu Tode erschreckte. So wurde das unerwartete und vernichtende Gefühl von großem Schrecken als „Panik“ bekannt.

1.2Normales Erleben

Da ein gewisses Maß von Furcht und Angst durchaus eine adaptive Emotion darstellt, ist es nicht überraschend, dass Emotion und Rituale, die ein Gefühl von Kontrolle erhöhen, während der Kindheit und Jugend häufig auftreten. Nur wenn sie übermäßig stark sind oder in einem entwicklungsunangemessenen Kontext stehen, geben sie Anlass zu Besorgnis.

1.2.1Normale Rituale und Wiederholungsverhalten

ritualisiertes Verhalten

Rituale und ein starres Festhalten an der Wiederholung bestimmter Handlungen sind Merkmale der Zwangsstörung (s. Kap. 2). Ritualistische, sich wiederholende Aktivitäten sind bei Kindern in frühem Alter sehr verbreitet und keineswegs pathologisch. Sich wiederholendes, ritualisiertes Verhalten, starre Vorlieben und Abneigungen und das Bewusstsein von Einzelheiten und Unvollkommenheiten von Spielzeug oder Kleidung sind Beispiele für „normales“ Verhalten von Kindern. Schon im Kleinkindalter zeigen Kinder sich wiederholendes, zwangsähnliches Verhalten. Rituale bei Kindern zeigen sich häufig in Zeiten des Übergangs (Schlafenszeit, Mahlzeiten, Baden). Der Wunsch, dieselbe Geschichte immer wieder anzuschauen ist ein gängiges Beispiel für das „Bestehen auf Gleichförmigkeit“ und Wiederholungen, die für das Verhalten vieler Kinder charakteristisch sind.

Ein anderes Verhalten bei Kindern weist Parallelen zu Phänomenen der Zwangsstörung auf und bezieht sich auf die sensorische Wahrnehmung und das Gefühl von „Richtigkeit“ (z. B. Dinge in eine bestimmte Ordnung zu bringen oder bestimmte Aufgaben zu erfüllen, bis gewisse subjektive, sensorisch wahrnehmbare Kriterien von „Richtigkeit“ erfüllt sind; Leckman et al. 1994). So kann beispielsweise ein Kind darauf bestehen, dass die Karotten an einer bestimmten Stelle des Tellers liegen und das übrige Essen nicht berühren dürfen. Wenn die Karotten an einer anderen Stelle liegen, ist das Kind nicht zufrieden. Weitere Beispiele für das Bestehen auf „Richtigkeit“ umfassen die Aufmerksamkeit in Bezug auf Einzelheiten: die Anordnung von Dingen in symmetrischen Mustern und die allgemeine Strukturierung der Umgebung. So besteht das Kind möglicherweise darauf, dass die Tür einen genau bestimmten Spalt breit offen gelassen wird.

Abb. 1.1: Einschlafrituale bei Kindern

zwangsähnliches Verhalten

Nach Gesell et al. (1974) ist zwangsähnliches Verhalten in frühem Kindesalter ein Mechanismus der Organisation und Anpassung an die Umwelt sowie der Bewältigung derselben. Piaget (1952) sah Wiederholungen im Kindesalter im Rahmen einer Entwicklung von reflexartigen zu absichtsvolleren, zielgerichteten Aktivitäten, die zur Anpassung an eine sich verändernde Umwelt erforderlich sind.Anderen Autoren zufolge (z. B. Kopp 1989) dient sich wiederholendes und ritualistisches Verhalten dazu, das soziale und emotionale Bedürfnis des Kindes nach einem Gefühl von Selbstkontrolle und Emotionsregulation zu erfüllen.

Die Häufigkeit von zwangsähnlichem Verhalten ändert sich mit dem Alter. Gemäß Elternberichten auf der Basis des „Childhood Routines Inventory“ zeigten die Zwei-, Drei- und Vierjährigen häufiger zwangsähnliches Verhalten als die Kinder, die jünger als ein Jahr oder älter als vier Jahre waren (Evans et al. 1997; Kasten 1.1). Das heißt, über 75 % der Kinder aus der Altersgruppe von 24 bis 35 und 36 bis 47 Monaten wiesen nach Elternberichten zwangsähnliches Verhalten auf (z. B. perfektionistisch zu befolgende Routinen zur Schlafenszeit, starke Vorlieben für bestimmte Speisen). Wie Tab. 1.2 zeigt, beginnt Wiederholungsverhalten früher als Verhaltensweisen, die auf „Richtigkeit“ abzielen. Einigen Autoren zufolge (z. B. Berkson 1983) spiegelt das Wiederholungsverhalten möglicherweise eine frühe biologische Rhythmusabhängigkeit von Kindern wider. Auf

„Richtigkeit“ bezogenes Verhalten jedoch erfordert entwickeltere und absichtsvollere motorische, sensorische und Wahrnehmungsfähigkeiten, was den späteren Beginn dieser Verhaltensweisen erklären könnte.

Tab. 1.2 Durchschnittsalter (in Monaten) für den Beginn bestimmter Gewohnheiten im Kindesalter (nach Evans et al. 1997, 64; übers. v. d.Autorin)

Gewohnheit

Alter bei Beginn (Monate)

Sehr an einem bestimmten Ort hängen

13.9

Vorliebe für täglich wiederkehrende Abläufe

15.4

Feste Gewohnheiten zeigen

15.8

Starke Vorlieben für bestimmte Speisen und bestimmte Handlungen

17.1

Sich mit bestimmten Handlungen auf die Schlafenszeit vorbereiten, bestimmte Dinge auf eine festgelegte Art sagen oder tun

17.4

Bestimmte Handlungen immer wieder ausführen

18.1

Vorliebe dafür, Speisen auf eine bestimmte Art zu essen

18.7

Sehr aufmerksam auf bestimmte Einzelheiten zu Hause achten (z. B. Beschädigung von Spielzeug)

19.6

Vorliebe dafür, dass Dinge in einer bestimmten Ordnung oder auf eine bestimmte Art getan werden

21.0

Besonderes Achten auf Schmutz bzw. Sauberkeit

21.8

Dinge ordnen oder ein bestimmtes Verhalten ausführen, bis alles „richtig“ ist

22.5

Vorliebe dafür, an einem Spiel oder einer Aktivität festzuhalten, eher als etwas Neues zu tun

22.9

Dinge in geraden Linien oder symmetrischen Mustern anordnen

23.7

Darauf bestehen, dass bestimmte Dinge an „ihrem Platz“ sind

23.9

Dieselbe Sache immer wieder im Spiel darstellen

24.2

Dinge sammeln oder aufbewahren

25.3

Starke Vorlieben und Abneigungen, bestimmte Kleidung zu tragen

25.9

Forderungen stellen oder Entschuldigungen finden, um später ins Bett gehen zu dürfen

26.2

Kasten 1.1 Häufigkeit und Entwicklung zwangsähnlichen Verhaltens bei Kindern

1.2.2Normale Furcht

Die meisten Kinder erleben ein gewisses Maß an Furcht im Laufe ihrer Entwicklung. In der klassischen Arbeit von Jersild und Holmes (1935) berichteten Mütter im Durchschnitt von vier bis fünf Dingen, vor denen sich ihre zwei- bis sechsjährigen Kinder fürchteten. In der Studie von Lapouse und Monk (1959) berichteten 43 % der Mütter, dass sich ihre Kinder vor sieben oder mehr Dingen fürchteten. In einer neueren Studie von Muris et al. (2000) gaben 75.8 % der Vier- bis Zwölfjährigen an, sich vor mindestens einem Reiz zu fürchten, bei den meisten Kindern waren es mehrere Reize.

Die Art der Reize, die diese Furcht auslösen, verändern sich jedoch im Laufe der Kindheit. Aus Ängsten vor unmittelbar greifbaren Dingen werden Ängste vor zukünftigen Ereignissen, die weniger greifbar sind. Zum Beispiel wurde von den Kindern im Alter von vier bis sechs, sieben bis neun und zehn bis zwölf Jahren am häufigsten die Angst vor Tieren berichtet (Muris et al. 2000); am nächsthäufigsten trat bei den Vier- bis Sechs- und Sieben- bis Neunjährigen die Angst vor Phantasiegestalten auf, wohingegen die Zehn- bis Zwölfjährigen häufig Angst vor bedrohlichen sozialen Situationen hatten. Am dritthäufigsten lösten Umweltbedrohungen bei den Vier- bis Sechsjährigen Ängste aus, bei den Sieben- bis Neunjährigen handelte es sich um angsterzeugende Träume oder Filme, und bei den Zehn- bis Zwölfjährigen war es die Angst davor, entführt zu werden.

Ollendick et al. (1991) zufolge nimmt Furcht im Laufe des Kindesalters als Folge der kognitiven Entwicklung und der zunehmenden Fähigkeit, Gefahren in verschiedenen Situationen zu erkennen, unterschiedliche Formen an. Diese Autoren nehmen an, dass Furcht sich in dem Maße entwickelt, wie das Kind in der Lage ist, potenzielle Gefahren wahrzunehmen, aber weder die Situation vollständig begreift noch fähig ist, sie zu beherrschen. Daher ist Furcht adaptiv, weil sie zu Schutzreaktionen auf Reize führt, die weder verständlich noch beherrschbar sind. Eine solche Furcht als Bestandteil der normalen Entwicklung kann jedoch durch Bezugspersonen des Kindes so verstärkt werden, dass sie sich verfestigt und weiterhin fortbesteht, obwohl sie für das Kind keinen „Überlebenswert“ mehr hat, da es die gefürchtete Situation längst meistern könnte.

Wie Tab. 1.3 zeigt, ruft in den ersten sechs Monaten extreme Stimulierung, wie etwa laute Geräusche, Furcht hervor. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres tritt eine normale Furcht vor Trennung auf, das Kind fürchtet sich vor Fremden und vor Trennungen von Bezugspersonen. Im Kleinkindalter sind Phantasiegestalten oder übernatürliche Wesen eine Quelle der Furcht. In der mittleren Kindheit wird sich das Kind mehr und mehr der wirklichen Welt und der Welt, wie sie von den Medien dargestellt wird, bewusst. Und es beginnt, sich vor Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Gewittern zu fürchten, oder es fürchtet sich vor Krankheitsepidemien, die in den Medien dargestellt werden. Während der Adoleszenz tritt Furcht vor der Ablehnung von Gleichaltrigen auf.

Tab. 1.3 Ängste und Furcht in verschiedenen Altersstufen (modifiziert nach Morris/Kratochwill 1991)

Alter

Für die Entwicklung von Ängsten und Phobien relevante Kompetenzen und Befürchtungen

Ursachen der Angst/Furcht

Frühes Säuglingsalter (0 – 6 Monate)

Sensorische Fertigkeiten dominieren die Anpassung des Säuglings

Starke sensorische Stimuli; laute Geräusche

Spätes Säuglingsalter (6 – 12 Monate)

Senso-motorische Schemata verursachen und beeinflussen die Objekt-Konstanz

Fremde; Trennung

Kleinkindalter (2 – 4 Jahre)

Prä-operationales Denken; Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, aber Unfähigkeit, zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden

Phantasiegestalten; potenzielle Einbrecher; die Dunkelheit

Frühe Kindheit (5 – 7 Jahre)

Konkretes operationales Denken; Fähigkeit, in konkreten logischen Begriffen zu denken

Natürliche Katastrophen (z. B. Feuer, Überflutungen, Gewitter); Verletzungen; Tiere; medienbasierte Ängste

„mittlere“ Kindheit (8 – 11 Jahre)

Selbstwert konzentriert sich auf akademische und sportliche Leistungen in der Schule

Schlechte/geringe akademische und sportliche Leistungen

Adoleszenz (12 – 18 Jahre)

Formal-operationale Gedanken; Fähigkeit, zukünftige Gefahren vorwegzunehmen; Selbstwert leitet sich von Beziehungen zu Gleichaltrigen ab

Zurückweisung durch Gleichaltrige

Mädchen scheinen in fast jedem Alter furchtsamer als Jungen zu sein; sie beurteilen sich selbst auch als furchtsamer und berichten intensivere und einschränkendere Gefühle von Furcht als Jungen (Ollendick et al. 1985). Obwohl Ängste mit dem Alter allgemein abnehmen, bleiben einige – wie beispielsweise schulbezogene Ängste – stabil, andere (z. B. soziale Ängste) nehmen möglicherweise zu.

1.2.3Normale Besorgnis

Besorgnis

Besorgnis ist eine kognitive Komponente von Angst und beinhaltet unkontrollierbare negative Gedanken bezüglich zukünftiger Ereignisse. Besorgnis gehört zu zukunftsorientierten Gedanken an einen beängstigenden Reiz in Abwesenheit desselben. Sie hat eine wichtige adaptive Funktion für eine normale Entwicklung. In gemäßigter Form kann sie dazu beitragen, dass Kinder sich auf zukünftige Ereignisse vorbereiten – z. B. indem sie für eine Klassenarbeit lernen.

Abb. 1.2: Bemühen um Kontrolle in der kindlichen Welt

Kinder aller Altersgruppen machen sich über verschiedene Dinge Sorgen. Orton (1982) berichtete, dass mehr als 70 % aller Grundschulkinder zehn oder mehr Dinge nannten, über die sie sich Sorgen machen. Ähnlich stellten Silverman et al. (1995) fest, dass Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren durchschnittlich 7.64 Sorgen berichteten. In dieser Studie betrafen die am häufigsten genannten Sorgen die Gesundheit, Schule und körperliche Verletzungen. Parallel zu diesem Ergebnis wurden Sorgen über ihre Sicherheit und persönliche Unversehrtheit als am intensivsten beurteilt. Die gefürchteten Situationen gehörten jedoch zu denen, die am seltensten auftraten. Das heißt, obwohl sich die Kinder übermäßige Sorgen über ihre Sicherheit und persönliche Unversehrtheit machten, traten solch bedrohliche Situationen kaum auf. In einer Studie von Muris et al. (2000) berichteten 67.4 % der Kinder der Gesamtstichprobe mindestens eine Sorge. In einer anderen Studie gaben 68.9 % der acht- bis 13-jährigen Kinder an, sich „ab und zu“ Sorgen zu machen (Muris et al. 1998). Die Kinder berichteten, sich an zwei bis drei Tagen in der Woche intensiv Sorgen zu machen. Die häufigsten Sorgen bezogen sich auf Schulleistungen, Gesundheit/Sterben und soziale Kontakte.

Obwohl sich Kinder jeden Alters Sorgen machen, ist die Art der Sorgen unterschiedlich. So teilten Vasey et al. (1994) Kinder in drei Altersgruppen ein (5–6, 8–9, 11–12) und stellten fest, dass bei den Fünf- bis Sechsjährigen die selbstbezogenen Sorgen am ausgeprägtesten waren. Jedoch nahmen diese Art von Sorgen mit zunehmendem Alter der Kinder in signifikantem Maße ab. In den beiden älteren Gruppen von Kindern bezogen sich die am häufigsten genannten Sorgen auf kompetentes Verhalten, soziale Bewertung und psychisches Wohlbefinden. Des Weiteren berichteten die älteren Gruppen von Kindern größere Bereiche, über die sie sich Sorgen machten. In einer Studie von Muris et al. (2000) bestand die größte Sorge der Vier- bis Sechsjährigen darin, von den Eltern getrennt zu werden. Diese Sorge verringerte sich jedoch, je älter die Kinder wurden. Ein umgekehrtes Muster zeigte sich bei Prüfungsleistungen: Keines der jüngeren Kinder machte sich darüber Sorgen, bei den Sieben- bis Neunjährigen war es die dritthäufigste Sorge und bei den Zehn- bis Zwölfjährigen die häufigste Sorge. Sorgen im Kindesalter scheinen von vorübergehender Natur zu sein und das Alter des Kindes und seine Lebensumstände widerzuspiegeln.

Kinder mit Angststörungen sorgen sich nicht notwendigerweise mehr als andere Kinder, ihre Sorgen scheinen aber intensiver zu sein (Perrin/Last 1997; Weems et al. 2000). Intensive Sorgen darüber, „von fremden Menschen umgeben zu sein“, „zur Schule zu gehen“ oder darüber, „dass dem Kind oder seinen Eltern schlimme Dinge zustoßen“, treten häufig bei Kindern mit Angststörungen auf. Bei anderen Kindern sind sie eher selten. Andere intensive Sorgen über Dinge wie persönliche Unversehrtheit, seine Sache gut zu machen oder darüber, in eine peinliche Situation zu geraten, treten in beiden Gruppen auf, häufiger jedoch bei Kindern mit Angststörungen. Intensive Besorgnis über schulische Belange, Schmerzen und Beschwerden oder sportliche Leistungen sind bei allen Kindern in gleichem Maße verbreitet. Mädchen nannten eine signifikant größere Anzahl von Sorgen als Jungen (Muris et al. 2000; Silverman et al. 1995). Untersuchungen zeigten jedoch Unterschiede in Bezug auf den Inhalt der berichteten Sorgen. In der Studie von Silverman et al. (1995) berichteten die Mädchen, sich häufiger über die Schule, Klassenkameraden, zukünftige Ereignisse und ihre äußere Erscheinung Sorgen zu machen. In der Studie von Muris et al. (2000) gaben Mädchen im Vergleich zu Jungen signifikant mehr Sorgen darüber an, entführt zu werden, wohingegen sich Jungen signifikant häufiger darüber sorgten, bestraft zu werden.

1.3Angst und Phobien in verschiedenen Kulturen

kulturelle Einflüsse

Untersuchungen der kulturellen Aspekte von Angst bei Kindern sind von Bedeutung, da sich dadurch möglicherweise bestimmen lässt, welche Verhaltensmuster universell und welche spezifisch für bestimmte Gruppen oder Settings sind. Eine kulturvergleichende Perspektive kann dazu beitragen, die Validität gegenwärtiger Konzeptualisierungen von Angst bei Kindern zu klären. Jedoch wurde bisher nur in wenigen Studien die Rolle kultureller Einflüsse im Hinblick auf Angst bei Kindern und Jugendlichen untersucht.

In einer Reihe von Studien, die in verschiedenen Ländern mithilfe des „Revised Fear Survey Schedule for Children“ (FSSC-R; Ollendick 1983) durchgeführt wurden, zeigten sich in den meisten Ländern relativ ähnliche Werte. Eine Untersuchung der häufigsten Ängste ergab, dass auch kulturübergreifend diese Ängste viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Hinsichtlich des Gesamtscores wiesen die Kinder in den Niederlanden die niedrigsten und die portugiesischen Kinder die höchsten Werte auf (Fonesca et al. 1994). Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass in romanischen Ländern Gefühle häufiger spontan ausgedrückt werden, während sie in nordischen Ländern eher kontrolliert bzw. verborgen werden.

Dong und seine Kollegen (1994) untersuchten Kinder und Jugendliche aus China und stellten bei den chinesischen Kindern und Jugendlichen größere Angst vor sozialer Beurteilung (z. B. vor Teilnahme an Prüfungen) als bei den Kindern aus westlichen Ländern fest, wobei ältere Kinder (11–13 Jahre) mehr Ängste als jüngere (7–10 Jahre) berichteten. Die Autoren nahmen an, dass dies möglicherweise auf das Erziehungsverhalten in China zurückzuführen ist. Das Erziehungsverhalten chinesischer Eltern wurde als restriktiv, überbehütend und emotional ausdrucklos beschrieben (Leung et al. 1991).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse die Erarbeitung einer zusammenhängenden Theorie kultureller Einflüsse auf Angst bei Kindern und Jugendlichen schwierig gestaltet.

In einer Untersuchung kultureller Einflüsse auf psychische Störungen im Kindesalter benutzten Weisz et al. (1987) Elterninformationen, um amerikanische Kinder mit Kindern aus Thailand zu vergleichen. Bei den untersuchten Störungen handelte es sich um internalisierende Störungen (z.B. Angst) sowie externalisierende Störungen (z.B. Aggression). Es wurde argumentiert, dass kulturell vermittelte Werte und Sozialisationspraktiken möglicherweise die Entwicklung bestimmter Probleme verhindern und andere Probleme begünstigen können. Darüber hinaus wurde angenommen, dass Amerika und Thailand sich im Hinblick auf internalisierende und externalisierende Probleme bei Kindern unterscheiden.

In der buddhistischen Tradition und in der thailändischen Gesellschaft sind Verbote gegen aggressive, grausame oder andere externalisierende Verhaltensweisen stärker verankert als in der amerikanischen Gesellschaft. So schrieb Moore (1974, 182, übers. v. d. Autorin): „Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit werden von den Thailändern wahrscheinlich am häufigsten als wichtigste aller persönlichen Tugenden genannt [. . .] Die meisten Äußerungen des Lobes oder der Bewunderung für eine Person beziehen sich auch auf ihre Friedfertigkeit. Die meisten negativen Urteile über eine Person umfassen Bemerkungen über ihre Streitlust und Aggressivität.“ Buddhistische Mönche sind als Vorbilder des Friedens und der Ruhe das kulturelle Ideal. Dieses Ideal spiegelt sich in Erziehungs- und Sozialisierungspraktiken wider. Aggressives, respektloses, verletzendes oder auf andere Weise externalisierendes Verhalten von Kindern wird von Eltern und anderen Erwachsenen in Thailand nicht toleriert (Suvannathat 1979). Stattdessen wird Kindern ein Kanon von Friedfertigkeit, Höflichkeit und Respekt vermittelt. Er wird durch den „Wai“ symbolisiert, die tiefe, respektvolle Verbeugung, die soziale Interaktionen in Thailand dominiert. Das thailändische Ideal ist „krengchai“, eine Haltung voller Bescheidenheit und Respekt, deren Ziel es ist, eine Störung anderer zu vermeiden.

Darüber hinaus werden möglicherweise internalisierende Verhaltensweisen durch thailändische Erziehungspraktiken gefördert (Suvannathat 1979). Auch sanktionieren die sozialen Werte der thailändischen Gesellschaft den starken, offenen Ausdruck von Emotionen und fördern Selbstkontrolle und die Beherrschung von Emotionen.

Vorgehen und Ergebnisse: Die Gesamtstichprobe umfasste 760 Kinder und Jugendliche (376 in Thailand und 384 in den USA) im Alter von sechs bis 17 Jahren, die in klinische Behandlung überwiesen worden waren. Bei allen Kindern und Jugendlichen der Stichprobe wurde der schriftliche Bericht des Aufnahmegesprächs mit den Eltern ausgewertet und jedes Problem des Kindes wörtlich aufgezeichnet. Im Anschluss daran wurden die Probleme der Kinder als internalisierend, externalisierend oder als „andere“ kodiert.

Die Ergebnisse zeigten, dass internalisierende Probleme in der thailändischen Stichprobe sehr viel häufiger als in der US-Stichprobe auftraten, bei Jugendlichen mit größerer Häufigkeit als bei Kindern. Besonders bemerkenswert war in der thailändischen Stichprobe die große Häufigkeit somatischer Beschwerden ohne bekannte körperliche Ursache. Externalisierende Probleme waren in den USA häufiger als in Thailand. In beiden Kulturen wurden Kinder häufiger wegen externalisierender Probleme an Kliniken überwiesen als Jugendliche, wobei Jungen häufiger als Mädchen überwiesen wurden.

Diese Ergebnisse stimmen mit der Annahme überein, dass die buddhistisch geprägten Traditionen der Gewaltlosigkeit, Höflichkeit und des Respekts und die damit einhergehenden Erziehungspraktiken die Entwicklung externalisierender Probleme bremsen.

Kasten 1.2 Externalisierende und internalisierende Verhaltensprobleme bei Kindern in Thailand und Amerika

Angst wird anormal, wenn:

•ihre Dauer und Intensität dem Potenzial einer Gefährdung nicht angemessen ist,

•sie in harmlosen Situationen oder ohne jegliche wahrnehmbare Bedrohung auftritt,

•sie überdauernden (chronischen) Charakter hat,

•das Individuum keine Möglichkeit der Erklärung, Reduktion oder Bewältigung der Angst hat und seine Lebensqualität massiv beeinträchtigt wird.

Kasten 1.3 Wann wird Angst pathologisch?

1.4Übungsfragen zum 1. Kapitel

1.Wie würden Sie „Angst“ definieren?

2.Was sind die Merkmale von Ängsten?

3.Warum sind Rituale und Wiederholungsverhalten wichtig?

4.Wie unterscheiden sich Furcht und Phobie?

5.Worin unterscheiden sich Angst, Phobie und Panik?

6.Wie verändert sich Angst mit zunehmendem Alter?

7.Wann wird Angst pathologisch?

2Beschreibung und Klassifikation von Angststörungen

Klassifikationssysteme

Die am häufigsten eingesetzten Klassifikationssysteme für Angststörungen sind das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-IV; American Psychiatric Association 1994 (APA); deutsche Version: Saß et al. 1996) und die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD; World Health Organization 1993; deutsche Version: Dilling et al. 1994). Im Gegensatz zu früheren Versionen beider Klassifikationssysteme stimmen die derzeitigen Fassungen in großen Teilen überein (Tab. 2.1). Sie unterscheiden sich in einigen Punkten.

Hauptunterschiede zwischen dem DSM-IV und der ICD-10 bestehen darin, dass in der ICD-10 die Angststörungen in (a) Phobische Angststörungen (F40) und (b) andere Angststörungen (F41) unterteilt sind, die die Panikstörung und die Generalisierte Angststörung umfassen. Im DSM-IV wird die Zwangsstörung als ein Subtyp von Angststörungen klassifiziert, während in der ICD10 zwischen Ängsten und Zwängen unterschieden wird. Ein anderer wichtiger Unterschied ist, dass die ICD-10 eine Kategorie gemischter „Angst- und depressiver Störungen“ beinhaltet, die das DSM-IV nicht enthält. Diese Kategorie ist für Fälle bestimmt, in denen Symptome von Angst und Depression vorliegen, wobei weder die Angstnoch die Depressionssymptome für sich genommen schwer genug sind, um die Diagnose einer Angststörung oder einer depressiven Störung zu rechtfertigen. Diese Kategorie ist zwar nicht in der Hauptklassifikation des DSM-IV vertreten, jedoch Bestandteil einer Liste von Kategorien, die in weiteren Studien untersucht werden sollen.

DSM-II, DSM-III, DSM-III-R

In der ersten Ausgabe des DSM (APA 1952) wurden Phobien zuerst als psychoneurotische Reaktionen identifiziert (Tab. 2.2). Im DSM-II (APA 1968) wurde diese Kategorie geändert und Phobien als phobische Neurosen bezeichnet. Im DSM-II wurde auch die Überängstlichkeitsreaktion als eine eigene diagnostische Kategorie für Kinder und Jugendliche eingeführt. Im DSM-III (1980) und DSM-III-R (1987) unternahm man erste Versuche, auf die Entwicklung abgestimmte diagnostische Kriterien für Angst und Phobische Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu entwerfen. Es wurden die Störung mit Trennungsangst, die Störung mit Überängstlichkeit und die Störung mit Kontaktvermeidung unterschieden. Zusätzlich konnten bei Kindern und Jugendlichen die Angststörungen Erwachsener diagnostiziert werden. So markierten das DSM-III und das anschließende DSM-III-R den Beginn von Studien, in denen die Aspekte von Angststörungen in der Kindheit untersucht wurden. Derartige Studien haben zu Veränderungen der diagnostischen Kriterien einiger Angststörungen im DSM-IV und in der ICD-10 geführt.

Tab. 2.1 Klassifikation von Angststörungen nach ICD-10 und DSM-IV

ICD-10

DSM-IV

F40 Phobische Störungen

F40.0 Agoraphobie

F40.1 Soziale Phobien

F40.2 Spezifische (isolierte) Phobien

F40.8 Sonstige Phobische Störungen

F40.9 Nicht näher bezeichnete Phobische Störungen

300.22 Agoraphobie ohne Panikstörung

300.23 Soziale Phobie

300.29 Spezifische Phobie

300.00 Angststörung NNB

F41 Sonstige Angststörungen

F41.0 Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst)

F41.1 Generalisierte Angststörung

F41.2 Angst und depressive Störung, gemischt

F41.3 Sonstige gemischte Angststörungen

F41.8 Sonstige näher bezeichnete Angststörungen

F41.9 Nicht näher bezeichnete Angststörungen

300.21 Panikstörung mit Agoraphobie

300.01 Panikstörung ohne Agoraphobie

300.02 Generalisierte Angststörung

300.00 NNB Angststörung

F42 Zwangsstörung

F42.0 Vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang

F42.1 Vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale)

F42.2 Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt

F42.8 Sonstige Zwangsstörungen

F42.9 Nicht näher bezeichnete Zwangsstörung

300.3 Zwangsstörung

F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen

F43.0 Akute Belastungsreaktion

F43.1 PosttraumatischeBelastungsstörung

F43.2 Anpassungsstörungen

F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung

F43.9 Nicht näher bezeichnete Reaktion auf schwere Belastung

308.3 Akute Belastungsstörung

309.81 PosttraumatischeBelastungsstörung

Tab. 2.2 Klassifikation der Angststörungen im DSM-III-R und DSM-IV

DSM-III-R

DSM-IV

Angststörungen des Kindes- und Jugendalters

309.21 Störung mit Trennungsangst

313.21 Störung mit Kontaktvermeidung

313.00 Störung mit Überängstlichkeit

Andere Störungen des Kleinkind-, Kindes- und Jugendalters

309.21 Störung mit Trennungsangst

Angststörungen (Erwachsenenteil)

300.22 Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte

300.21 Panikstörung mit Agoraphobie

300.01 Panikstörung ohne Agoraphobie

300.02 Generalisierte Angststörung

300.23 Soziale Phobie

300.29 Einfache Phobie

300.30 Zwangsstörung

309.89 Posttraumatische Belastungsstörung

Angststörungen (Erwachsenenteil)

300.22 Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte

300.21 Panikstörung mit Agoraphobie

300.01 Panikstörung ohne Agoraphobie

300.02 Generalisierte Angststörung

300.23 Soziale Phobie

300.29 Spezifische Phobie

300.30 Zwangsstörung

309.81 Posttraumatische Belastungsstörung

DSM-IV

Das DSM-IV (APA 1994) unterscheidet sich in einigen Punkten von den zwei vorherigen Fassungen (DSM-III [APA 1980]; DSM-III-R [APA 1987]). Während die früheren Ausgaben drei verschiedene diagnostische Kategorien von Angststörungen beinhalteten (Störungen mit Überängstlichkeit, Störung mit Kontaktvermeidung und Störung mit Trennungsangst), wurde in der aktuellen Version des DSM die Störung mit Überängstlichkeit unter der Generalisierten Angststörung und die Vermeidungsangst unter der Sozialen Phobie subsumiert. Als einzige Angststörung unter „Störungen, die gewöhnlich im Kleinkindalter, der Kindheit oder der Adoleszenz diagnostiziert werden“ (Saß et al. 1996), bleibt somit die Störung mit Trennungsangst bestehen. Die übrigen Angststörungskategorien können sowohl auf Kinder und Jugendliche als auch auf Erwachsene angewandt werden: Agoraphobie, Soziale Phobie, Spezifische Phobie, Panikstörung, Zwangsstörung, Generalisierte Angststörung, Posttraumatische und Akute Belastungsstörung (Tab. 2.3).

All diese Angststörungen sind durch eine übermäßige oder unangemessene Angst gekennzeichnet, die bei den Betroffenen zu einer deutlichen Funktionsbeeinträchtigung führt. Sie unterscheiden sich jedoch bezüglich der Beschaffenheit des gefürchteten Reizes und den dadurch ausgelösten Angstreaktionen. Um eine Angststörung nach dem DSM-IV zu diagnostizieren, dürfen sich die Symptome nicht besser durch eine andere psychische Störung, eine medizinische Ursache oder als Ergebnis eines Substanzgebrauchs erklären lassen.

ICD-10

Die ICD-10 unterscheidet vier kind- und jugendspezifische Angststörungen: die emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0), die Phobische Störung des Kindesalters (F93.1), die Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2) und die emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3). Sie werden der Kategorie „emotionale Störungen des Kindesalters“ zugeordnet. Die kindspezifische Generalisierte Angststörung (F93.80) wird nicht in den klinisch-diagnostischen Leitlinien, sondern ausschließlich in den Forschungskriterien aufgeführt. Deshalb sollte bei dem Gebrauch der ICD-10-Klassifikation sowohl die klinisch-diagnostischen Leitlinien als auch die Forschungskriterien parallel verwendet werden. Die anderen Arten von Angststörungen wurden folgenden Kategorien zugeordnet:

•Phobische Störungen (z. B. Agoraphobie [F41.0], Soziale Phobie [F40.1], Spezifische Phobien [F40.2], sonstige Phobische Störungen [F40.8]);

•sonstige Angststörungen (z. B. Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst; F41.0], Generalisierte Angststörung [F41.1], Angst und depressive Störung, gemischt [F41.2]);

•Zwangsstörung (F42) und

•Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (z. B. Akute Belastungsreaktion [F43.0)], Posttraumatische Belastungsstörung [F43.1] und Anpassungsstörungen [F43.2]).

Tab. 2.3 Kernmerkmale der Angststörungen nach DSM-IV (nach Saß et al. 1996)

Angststörungen

Beschreibung

Störung mit Trennungsangst

Eine übermäßige und wiederkehrende Angst, die bei einer Trennung von zu Hause oder von Bezugspersonen entsteht. Eine solche Angst muss angesichts des Alters des Kindes und seines Entwicklungsstandes unangemessen sein.

Spezifische Phobie

Eine übermäßige und anhaltendende Angst, die als Reaktion auf ein besonders gefürchtetes Objekt oder eine gefürchtete Situation oder durch die Erwartung desselben entsteht.

Soziale Phobie

Eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor sozialen Situationen oder Leistungssituationen, in denen Peinlichkeiten auftreten können.

Panikstörung

Wiederkehrende Panikattacken, die völlig unerwartet auftreten und entweder gefolgt werden von einer mindestens einen Monat ständig anhaltenden Besorgnis über das mögliche Auftreten einer weiteren Attacke, der Sorge über die Konsequenzen der Attacke oder einer Verhaltensänderung aufgrund der Attacke.

Agoraphobie

Wird durch Angst charakterisiert, die aufgrund von Situationen entsteht, in denen Flucht oder Vermeidung nicht möglich oder in denen Hilfe im Falle des Auftretens von Paniksymptomen nicht verfügbar ist.

Zwangsstörung

Gekennzeichnet durch Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, die zu Belastungen führen, zeitraubend sind und das tägliche Leben des Kindes beeinträchtigen.

Generalisierte Angststörung

Exzessive Angst und Besorgnis über eine Reihe von Ereignissen, die ein Kind schwer kontrollieren kann.

Posttraumatische Belastungsstörung

Die Entwicklung charakteristischer Symptome als Folge des Erlebens einer extrem traumatischen Situation.

Akute Belastungsstörung

Die Akute Belastungsstörung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie während oder innerhalb eines Monats nach einem extrem traumatischen Stressor auftritt.

2.1Störung mit Trennungsangst

Die achtjährige Paula ist in letzter Zeit kaum wiederzuerkennen. Sie weicht ihrer Mutter nicht mehr von der Seite. Am liebsten würde sie sie auf Schritt und Tritt begleiten, denn sie hat Angst, dass ihrer Mutter etwas Schlimmes passieren könnte. Zum Beispiel befürchtet sie, ihre Mutter könnte auf dem Weg zum Einkaufen von einem Auto überfahren werden, oder sie könnte entführt werden und nicht mehr zurückkommen. Oft träumt sie auch davon, dass sie gewaltsam von ihrer Mutter getrennt wird, wacht nachts auf und kann sich nur schwer wieder beruhigen. Morgens weigert Paula sich oft, zur Schule zu gehen, denn sie will nicht so lange von ihrer Mutter getrennt sein. Sie klagt auch über Bauchschmerzen und Kopfschmerzen, und häufig wird ihr schwindlig, aber der Arzt konnte keine körperliche Ursache dafür feststellen. Die Mutter muss ihre ganze Überzeugungskraft einsetzen, damit Paula überhaupt zur Schule geht, aber auch das klappt nicht immer. Ihre Freundinnen, mit denen sie früher am Nachmittag gern spielte, geht sie auch nicht mehr besuchen. Sie befürchtet, dass ihrer Mutter in der Zwischenzeit etwas Schlimmes zustoßen könnte.

Trennungsangst

Trennungsangst ist in einer bestimmten Altersstufe normal. Ab dem Alter von sieben Monaten bis durch die Vorschulzeit hindurch sind die meisten Kinder nicht gern von ihren Eltern getrennt. Einige Kinder, wie Paula, weisen auch in späterem Alter eine solche Angst auf. Die Störung mit Trennungsangst wurde zuerst im DSM-III beschrieben und ist die einzige Störung des Kleinkind-, Kindes- und Jugendalters, die in der Kinder-Sektion des DSM-IV verblieben ist. Das Kennzeichen der Störung mit Trennungsangst ist übermäßige Angst vor einer Trennung von zu Hause oder von Hauptbezugspersonen (d. h. von Eltern oder älteren Geschwistern). Eine solche Angst muss angesichts des Alters des Kindes und des erwarteten Entwicklungsstandes unangemessen sein. Die kognitiven Verzerrungen von Kindern mit Trennungsangst bestehen in einer überwältigenden Furcht davor, Bezugspersonen zu verlieren oder von ihnen durch Katastrophen getrennt zu werden. Wie Paula haben viele dieser Kinder Angst, dass ihre Eltern Opfer eines Unfalls oder eines anderen schrecklichen Ereignisses werden könnten, und dass sie sie nie wiedersehen werden. Wie auch Paula berichten diese Kinder häufig von wiederkehrenden Alpträumen, in deren Zentrum die Trennung von den Eltern steht.

Vermeidungsverhalten

Kinder mit Trennungsangst können ein breites Spektrum von Vermeidungsverhalten aufweisen, das sich anhand eines Schweregrad-Kontinuums beschreiben lässt. Leichtes Vermeidungsverhalten kann sich beispielsweise darin äußern, dass das Kind verlangt, die Eltern während der Schulstunden telefonisch erreichbar zu wissen. Mittelschweres Vermeidungsverhalten zeigt sich bei kleinen Kindern z. B. darin, dass sie sich an die Eltern anklammern, bei älteren Kindern kann es sich darin ausdrücken, dass sie sich weigern, in Abwesenheit ihrer Eltern das Haus zu verlassen oder an irgendwelchen Aktivitäten teilzunehmen (Bell-Dolan/ Brazeal 1993). Kinder mit schwerem Vermeidungsverhalten können sich weigern, die Schule zu besuchen oder in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen.

Die Störung mit Trennungsangst kann sich nach und nach manifestieren, aber auch plötzlich auftreten. Häufig stellt sie sich nach einem wichtigen Lebensereignis (z. B. Tod eines Angehörigen, Umzug oder Schulwechsel), nach langen Ferien oder Abwesenheit von der Schule (z. B. Sommerferien) oder nach bestimmten Entwicklungsübergängen (z. B. Schuleintritt) ein. Die Symptome der Trennungsangst können auch über die Jahre hinweg in Abhängigkeit von Belastungen und Veränderungen im Leben des Kindes fluktuieren.

Diagnostische Kriterien

Hauptbezugspersonen

Die Angst vor einer Trennung von zu Hause oder von Hauptbezugspersonen (Tab. 2.4) wird deutlich durch (Saß et al. 1996):

(a)wiederholt auftretende, übertriebene Verzweiflung, wenn eine Trennung von zu Hause oder von Hauptbezugspersonen stattfindet oder vorweggenommen wird;

(b)andauernde und übertriebene Besorgnis darüber, eine Hauptbezugsperson zu verlieren oder darüber, dass einer Hauptbezugsperson etwas Schlimmes zustoßen könnte;

(c)andauernde und übertriebene Besorgnis darüber, dass ein unerwartetes Ereignis zur Trennung von einer Hauptbezugsperson führen wird;

(d)andauernde Unwilligkeit oder Weigerung, zur Schule oder an andere Orte zu gehen aus Angst vor Trennung;

(e)andauernde und übertriebene Angst oder Weigerung, in anderer Umgebung allein oder ohne Hauptbezugspersonen oder ohne andere bedeutende Erwachsene zu sein;

(f)andauernde Unwilligkeit oder Weigerung, ohne die Nähe einer Hauptbezugsperson schlafen zu gehen oder an einem anderen Ort zu übernachten;

(g)wiederholte Alpträume, die eine Trennung zum Inhalt haben und

(h)wiederholte Klagen über physische Symptome, wenn eine Trennung von Hauptbezugspersonen erfolgt oder bevorsteht. Körperliche Beschwerden können Herzklopfen, Schwindelgefühle, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Übelkeit umfassen.

Für eine Diagnose der Störung mit Trennungsangst müssen mindestens drei dieser acht Symptome für die Dauer von wenigstens vier Wochen vorgelegen haben. Die Störung muss vor dem Alter von 18 Jahren einsetzen und von klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Bereichen begleitet sein. Die Diagnose wird nicht gestellt, wenn die Störung ausschließlich im Zuge einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen Psychotischen Störung auftritt oder wenn sie bei Jugendlichen und Erwachsenen durch die Panikstörung mit Agoraphobie besser erklärt werden kann.

Die zwei Klassifikationssysteme unterscheiden sich bezüglich der Kriterien für das Alter bei Störungsbeginn. Im DSM-IV liegt der Störungsbeginn vor dem 18. Lebensjahr, im ICD-10 vor dem sechsten Lebensjahr. Jedoch kann im DSM-IV die zusätzliche Spezifikation „früher Störungsbeginn” verwendet werden, wenn die Störung vor dem sechsten Lebensjahr begonnen hat.

2.2Panikstörung

Klaus ist zwölf Jahre alt, und er lebt in Angst und Schrecken, seit er vor ein paar Wochen im Fußballstadion einen seltsamen Anfall hatte: Ohne dass er gewusst hätte, warum, fing sein Herz plötzlich wie wild an zu schlagen, der Schweiß brach ihm aus, er fing an zu zittern und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Ihm wurde schwindelig und er dachte, er würde in Ohnmacht fallen. Die Angst wurde so groß, dass er befürchtete, er müsse sterben oder würde verrückt werden. Dann, auf einmal, es hatte vielleicht zehn Minuten gedauert, war der Spuk vorbei. Ein paar Wochen später passierte ihm dasselbe auf dem Schulhof, als er gerade dabei war, sich mit seinen Freunden über einen Film zu unterhalten, den sie am Tag zuvor zusammen gesehen hatten. Seitdem befürchtet er, dass er erneut eine solche Attacke bekommen könnte, und dass er beim nächsten Anfall endgültig verrückt werden oder sterben könnte. Er ist ganz verzweifelt.

Tab. 2.4 Diagnostische Kriterien für Störung mit Trennungsangst (nach Saß et al. 1996, 153 [DSM-IV]; Dilling et al. 1994, 195f [ICD-10])

DSM-IV (Störung mit Trennungsangst)

ICD-10 (Störung mit Trennungsangst des Kindesalters)

A. Eine entwicklungsmäßig unangemessene und übermäßige Angst vor der Trennung von zu Hause oder von Bezugspersonen, wobei mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen:

1) wiederholter übermäßiger Kummer bei einer möglichen oder tatsächlichen Trennung von zu Hause oder von wichtigen Bezugspersonen;

2) andauernde und übertriebene Besorgnis, dass sie wichtige Bezugspersonen verlieren könnten oder dass diesen etwas zustoßen könnte;

3) andauernde und übermäßige Besorgnis, dass ein Unglück sie von einer wichtigen Bezugsperson trennen könnte (z.B. verloren zu gehen oder entführt zu werden);

4) andauernder Widerwille oder Weigerung, aus Angst vor der Trennung zur Schule oder an einen anderen Ort zu gehen;

5) ständige und übermäßige Furcht oder Abneigung, allein oder ohne wichtige Bezugspersonen zu Hause oder ohne wichtige Erwachsene in einem anderen Umfeld zu bleiben;

6) andauernder Widerwille oder Weigerung, ohne die Nähe einer wichtigen Bezugsperson schlafen zu gehen oder auswärts zu übernachten;

7) wiederholt auftretende Alpträume von Trennungen;

8) wiederholte Klagen über körperliche Beschwerden (wie z.B. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen), wenn die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson bevorstehtoder stattfindet.

B. Die Dauer der Störung beträgt mindestens vier Wochen.

C. Der Störungsbeginn liegt vor dem18. Lebensjahr.

D. Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.