Depression bei Kindern und Jugendlichen - Cecilia A. Essau - E-Book

Depression bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Cecilia A. Essau

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Dieses Lehrbuch gibt einen systematischen Überblick über Theorie und Forschung zur Depression im Kindes- und Jugendalter. Es führt systematisch in Klassifikation, Diagnose, Prävention und Psychotherapie der Störung ein. Es schildert theoretische Erklärungsmodelle zur Entstehung von Depression und gibt einen Überblick über die wichtigsten Forschungsergebnisse zu den vielfältigen Risikofaktoren. Gezeigt wird außerdem, wie man depressive Kinder und Jugendliche wirkungsvoll therapieren und der Entstehung von Depression vorbeugen kann.

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Seitenzahl: 299

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Prof. Dr. Cecilia A. Essau, Professorin für Entwicklungspsychopathologie an der Roehampton University, London.Von derAutorin im Ernst Reinhardt Verlag außerdem lieferbar:

Essau: Angst bei Kindern und Jugendlichen. utb M

ISBN 978-3-8252-5953-2

Hinweis: Soweit in diesemWerk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2294

ISBN 978-3-8252-5965-5 (Print)

ISBN 978-3-8385-5965-0 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5965-5 (EPUB)

3. Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © istock.com/ipolonina

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Danksagung zur 1. Auflage

Einleitung

IMerkmale der Depression

1 Beschreibung und Klassifikation depressiver Störungen

1.1Depressive Störungen

1.1.1Major Depression

1.1.2Dysthyme Störung

1.2Bipolare Störungen

1.3Andere affektive Störungen im DSM-IV

1.4Übungsfragen zum 1. Kapitel

2 Erhebungsmethoden und Diagnostik

2.1Diagnostische Interviewschemata

2.2Selbstbeurteilungs-Fragebögen

2.3Ratings von Bezugspersonen

2.4Verhaltensbeobachtung

2.5Familienevaluation

2.6Maße für mit Depression zusammenhängende Konstrukte

2.7Psychosoziale Beeinträchtigung

2.8Übungsfragen zum 2. Kapitel

3 Epidemiologie

3.1Häufigkeiten von Depression

3.2Depression und Geschlecht

3.3Depression und Alter

3.4Depression und Pubertät

3.5Übungsfragen zum 3. Kapitel

4 Komorbidität

4.1Komorbidität depressiver Störungen

4.2Alter bei Störungsbeginn und zeitliche Abfolge der Störungen

4.2.1Zeitliche Abfolge depressiver Störungen

4.2.2Zeitliche Abfolge von Depression und Angst

4.3Mögliche Erklärungen für Komorbidität

4.4Klinische Auswirkungen von Komorbidität

4.5Übungsfragen zum 4. Kapitel

5 Psychosoziale Beeinträchtigung und Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten der psychosozialen Versorgung

5.1Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten bei Depression

5.2Übungsfragen zum 5. Kapitel

6 Verlauf

6.1Studien zur Untersuchung des Verlaufs depressiver Störungen

6.1.1Klinische Studien

6.1.2Hochrisiko-Studien

6.1.3Epidemiologische Studien

6.2Dauer der depressiven Episoden

6.3Raten und Prädiktoren von Genesung

6.4Rückfallraten und -prädiktoren

6.5„Switch Rates“ von Depression zur Bipolaren Störung

6.6Übungsfragen zum 6. Kapitel

IITheorien und Risikofaktoren

7 Entstehungsmodelle von Depression

7.1Kognitiv-behaviorale Modelle

7.1.1Die Kognitive Theorie von Beck

7.1.2Das Modell der gelernten Hilflosigkeit

7.1.3Problemlösungsmodelle

7.1.4Das zweidimensionale Kontrollmodell

7.1.5Das assoziative Netzwerk-Modell von Bower

7.1.6Die Differentielle-Aufmerksamkeits-Hypothese von Teasdale

7.1.7Rehms Selbstkontrollmodell der Depression

7.1.8Das „Competency-Based-Model“

7.1.9Verstärker-Verlust-Modell der Depression

7.2Psychoanalytische bzw. psychodynamische Modelle

7.3Multifaktorielle Modelle

7.3.1Das Integrative Modell

7.3.2Das multifaktorielle Modell

7.4Übungsfragen zum 7. Kapitel

8 Familiäre Faktoren

8.1Mechanismen zur Erklärung der familiären Häufung von Depression

8.2Studien mit depressiven Eltern

8.3Studien mit Kindern depressiver Eltern

8.4Beobachtungsstudien und Depression

8.5Familiäre Interaktion

8.6Übungsfragen zum 8. Kapitel

9 Kognitive Faktoren

9.1Kognitionen bei depressiven Jugendlichen

9.2Kognitive Faktoren und der Verlauf von Depression

9.3Übungsfragen zum 9. Kapitel

10 Lebensereignisse und Bewältigungsstrategien

10.1Lebensereignisse und der Verlauf von Depression

10.2Mechanismen und Prozesse

10.3Übungsfragen zum 10. Kapitel

IIIPrävention und Intervention

11 Psychologische Prävention und Intervention

11.1Kognitive Verhaltenstherapie

11.1.1Der „Adolescent Coping with Depression Course“ (CWD-A)

11.1.2Das „Primary and Secondary Control Enhancement Training Program“ (PASCET)

11.1.3Das „Problem Solving for Life Program“

11.2Präventionsprogramme für Kinder mit hohem Risiko

11.2.1„Lust An Realistischer Sicht & Leichtigkeit Im Sozialen Alltag“ (LARS & LISA)

11.2.2Das „New Beginnings Program“

11.2.3Das Präventionsprogramm für Kinder depressiver Eltern

11.3Psychoanalytische bzw. psychodynamische Ansätze

11.3.1Spieltherapie

11.4Familientherapie

11.4.1Die „Family Therapy for Depressed Adolescents“

11.4.2Interpersonale Psychotherapie

11.4.3Die „Interpersonal Family Therapy“

11.5Effektivität der psychologischen Interventionen bei Jugendlichen

11.6Übungsfragen zum 11. Kapitel

12 Psychopharmaka

Glossar

Literatur

Sachverzeichnis

In liebendem

Andenken an meine Eltern

Essau Indit († 9. 5. 1992)

Runyan Megat († 26. 5. 1992)

Vorwort und Danksagung zur 1. Auflage

Die ersten systematischen Studien depressiver Störungen bei Kindern und Jugendlichen wurden in den späten 70er und frühen 80er Jahren durchgeführt. Zuvor wurde Depression bei Kindern und Jugendlichen in der Literatur als nicht existent, larviert oder durch Symptome charakterisiert beschrieben, die sich deutlich von den Symptomen depressiver Erwachsener unterscheiden. Daneben gab es das Konzept depressiver Ausdrucksformen von Kindern wie beispielsweise aggressives Verhalten, Hyperaktivität und Delinquenz, ebenso wie psychosomatische und hypochondrische Störungen.

Trotz dieser frühen Annahmen wurde zunehmend anerkannt, dass Kinder und Jugendliche die grundlegenden Merkmale von Depression zeigen, die auch Erwachsene aufweisen. Dieser Standpunktwechsel spiegelt sich im Gebrauch derselben Kriterien für depressive Störungen sowohl für Erwachsene als auch für Kinder seit der Einführung des DSM-III wider. Seitdem stieg die Anzahl von Studien über depressive Störungen in dieser Altersgruppe sprunghaft an. Daher ist das Ziel dieses Buches, einen umfassenden Überblick über den derzeitigen Forschungsstand im Hinblick auf depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu geben, der sowohl wissenschaftlich (z. B. Prävalenz- und Komorbiditätsraten, Risiko- und Schutzfaktoren depressiver Störungen) als auch klinisch (z. B. Prävention und psychologische Intervention) relevant ist.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beinhaltet eine Einführung in das Gebiet depressiver Störungen, einschließlich Klassifikation, Erhebungsstrategien, Epidemiologie, psychosoziale Beeinträchtigung und Verlauf. Der zweite Teil besteht aus vier Kapiteln und gibt einen umfassenden Überblick über die neuesten empirischen Befunde im Zusammenhang mit verschiedenen Theorien und Risikofaktoren depressiver Störungen. Im dritten Teil werden zahlreiche Präventionsstrategien und psychologische Interventionen für Kinder und Jugendliche dargestellt.

Einige Teile dieses Buches stützen sich auf meine Habilitationsschrift, die ich während meiner Tätigkeit an der Universität Bremen vorlegte. Ich möchte Herrn Prof. Dr. Franz Petermann, Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie der Universität Bremen, für seine Unterstützung danken. Ich danke auch meinen zahlreichen Kollegen in unterschiedlichen Einrichtungen auf der ganzen Welt für ihre anregenden Ideen, kritischen Kommentare und dafür, dass sie mir in den verschiedenen Stadien dieses Buchprojektes das notwendige Material zur Verfügung gestellt haben: Prof. Dr. Peter M. Lewinsohn (Oregon Research Institute, USA), Prof. John R. Weisz (University of California at Los Angeles, USA), Prof. Dr. Ian Gotlib (Stanford University, USA) und Prof. Dr. Susan H. Spence (University of Queensland, Australien). Ebenfalls gilt mein Dank Dipl.-Psych. Fumiyo Aihara und Dipl.-Psych. Friederike Schönhöfer, die dafür sorgten, dass uns immer die neueste Literatur über Depression zur Verfügung stand.

Meine Freundin und Assistentin, Dipl.-Psych. Judith Conradt, ermutigte mich in jeder Phase meines Vorhabens und trug durch ihre Geduld und Hilfe zum Entstehen dieser Arbeit entscheidend bei. Schließlich möchte ich meiner Familie in Malaysia und Kanada für ihre unaufhörliche emotionale Unterstützung danken. Meinem Mann und meiner Tochter danke ich dafür, dass sie meine Abwesenheit während vieler Tage und Nächte, die ich an meinem PC verbrachte, geduldig ertrugen.

Münster, im September 2001Cecilia A. Essau

Einleitung

Bis vor ungefähr drei Jahrzehnten war man davon überzeugt, dass Depression bei Kindern und Jugendlichen nicht existiert oder nur sehr selten auftritt. Wenn sie überhaupt existiert, nahm man an, dass es sich dabei um vorübergehende Erfahrungen handelt, die mit dem normalen Entwicklungsprozess zusammenhängen. Die Annahme, dass Kinder keine Depression im klinischen Sinn entwickeln könnten, wurde von psychodynamischen Theoretikern wie Rochlin (1959) und Rie (1966) gestützt. Sie argumentierten, dass Depression ein „Überich-Phänomen“ sei, das Kindern fehle. So verneinten diese Theoretiker die Existenz von Depression in dieser Altersgruppe vollständig. Eine andere Gruppe von Autoren vertrat die Auffassung, dass es Depression bei Kindern zwar gäbe, jedoch die Hauptmerkmale, die bei depressiven Erwachsenen aufträten, bei Kindern nicht vorlägen (Cytryn/McKnew 1972). Im Rahmen dieser Position wurde argumentiert, dass sich Depression in einer Vielzahl von Verhaltensweisen ausdrücke, die ein „depressives Äquivalent“ oder eine „larvierte Depression“ darstellen (Toolan 1962). Daher hielt man Depression bei Kindern für ein Phänomen, das von verschiedenen Symptomen von Verhaltensstörungen wie Schuleschwänzen und Wutausbrüchen verdeckt wird bzw. sich darin widerspiegelt. Durch Studien von Kovacs und Beck (1977) und Lefkowitz und Burton (1978) wurden der psychodynamische Ansatz und das Konzept der „larvierten Depression“ infrage gestellt.

In den 70er Jahren war eine kleine Anzahl bedeutender Klinik- und Forschungsberichte erschienen, die die Wichtigkeit betonten, Depression bei jungen Menschen zu untersuchen. Im Jahre 1970 publizierten Poznanski und Zrull einen herausragenden Artikel, in dem sie klinische Fälle darstellten, die ambulant behandelt wurden. Bei diesen Jugendlichen umfassten die primären Symptome von Depression: Traurigkeit, niedergeschlagene Erscheinung, Rückzug, Gefühle von Zurückweisung, negatives Selbstbild und geringes Selbstwertgefühl. Ebenfalls zu dieser Zeit erschienen die ersten Berichte über den Einsatz von Antidepressiva, die für die Therapie Erwachsener entwickelt wurden, in der Depressionstherapie bei Kindern. Überarbeitete Kriterien für Erwachsene wurden zuerst von Weinberg und Kollegen (1973) auf Kinder übertragen, kurz nachdem die Kriterien für Erwachsene von Feighner publiziert worden waren. Ihren Studien zufolge waren viele depressive Kinder in der Lage, Fragen hinsichtlich ihrer Stimmung und ihres Verhaltens zu beantworten; und sie wiesen eine ähnliche Psychopathologie wie Erwachsene auf, was eine Anwendung derselben Klassifikationssysteme auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene erlaubte.

In den frühen 80er Jahren wurde damit begonnen, die Gangbarkeit einzelner Konzepte von Depression bei Kindern zu testen. Christ und seine Kollegen (1981) untersuchten das Konzept der larvierten Depression unter Auswertung der Klinikakten von über 10.000 psychiatrisch behandelten Kindern und Jugendlichen. Die Autoren fanden heraus, dass Kinder und Jugendliche mit der Diagnose einer depressiven Störung eine größere Anzahl gleichzeitiger Depressionssymptome aufwiesen, wohingegen larvierte Merkmale bei depressiven Kindern und Jugendlichen im Vergleich mit Altersgenossen mit anderen psychischen Störungen seltener auftraten. Diese und andere Autoren (Cytryn/Mc Knew 1972; Kandel/Davies 1982; Poznanski/Zrull 1970) vertraten nun die Position, dass Depression in der Kindheit sehr wohl auftritt, und zwar mit einem klinischen Bild, das dem von Erwachsenen in weiten Teilen entspricht.

Im Jahre 1980 veröffentlichte die American Psychiatric Association die dritte Fassung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-III, American Psychiatric Association [APA] 1980). Obwohl noch immer darüber debattiert wird, ob dieselben Kriterien für Depression über die gesamte Altersspanne verwendet werden sollten, bestätigen die empirischen Ergebnisse die im DSM vertretene Position. In den letzten 20 Jahren verstärkte sich zunehmend der Trend, Depression bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als ähnlich zu betrachten (Kovacs/Beck 1977; Puig-Antich 1982). Diese Haltung wurde durch verschiedene weitere Ergebnisse bekräftigt:

•ähnliche Symptomcluster bei Erwachsenen und bei Kindern (Carlson/Kashani 1988);

•hohe Raten depressiver Störungen bei Verwandten depressiver Kinder sowie erhöhte Vulnerabilität für depressive Störungen bei Kindern depressiver Eltern (Beardslee et al. 1996);

•biochemische Vorgänge, die bei Erwachsenen eine Depression kennzeichnen, wie beispielsweise Dexamethasonsupression, wurden ebenfalls bei den meisten depressiven Kindern festgestellt (Puig-Antich et al. 1984).

Seit der Einführung des DSM-III wurde Untersuchungen von Depression bei Jugendlichen große Aufmerksamkeit zuteil. Dieses Interesse wurde durch neuere Erkenntnisse über Depression bei Erwachsenen verstärkt, in denen sich Folgendes zeigte (Essau et al. 1999):

•Depression beginnt meist im Jugendalter und tritt vermehrt in der jüngeren Generation auf. Zum Beispiel konnten Lewinsohn et al. (1993) in einem Vergleich von Jugendlichen, die zwischen 1968 und 1971 geboren waren, mit Jugendlichen, die zwischen 1972 und 1974 geboren waren, einen Kohorteneffekt feststellen. So hatten z. B. 7.2 % der Jugendlichen der jüngeren Geburtskohorte im Alter von 14 Jahren eine depressive Episode erlebt, während es in der älteren Geburtskohorte lediglich 4.5 % waren;

•Eine depressive Episode in frühen Jahren erhöht das Risiko zukünftiger Depressionen sowie anderer psychischer Störungen während des Jugendalters (Lewinsohn et al. 1999, 2000; Kovacs et al. 1984; Orvaschel et al. 1995) sowie zu späteren Lebenszeiten in beträchtlichem Ausmaß (Harrington et al. 1990; Lewinsohn et al. 1998a);

•Depressive Störungen mit frühem Beginn tendieren zu Chronizität und gehen mit langfristiger psychosozialer Beeinträchtigung im Erwachsenenalter einher (Regier et al. 1984; Wittchen et al. 1991; Wittchen/Essau 1993a, b). Versucht man, die Belastungen durch Depression in wirtschaftlichen Begriffen auszudrücken, so zeigt ein Bericht von Rice und Miller (1998), dass diese Störungen die kostenaufwändigsten aller psychischen Störungen in den Vereinigten Staaten sind. Im Jahre 1990 betrugen die gesamten, durch Depression verursachten Kosten (d. h. Ausgaben für gesundheitliche Versorgung sowie Produktivitätseinbußen bzw. -verlust) 30.4 Milliarden US-Dollar.

I Merkmale der Depression

1Beschreibung und Klassifikation depressiver Störungen

Fallbeschreibung

David, 14 Jahre, sagt „Manchmal wünsche ich mir, vom Dach zu springen oder mich irgendwie anders selbst zu verletzen.“ In den letzten drei Monaten hat er sich mehr und mehr zurückgezogen, und seine Gefühle von Traurigkeit, Wertlosigkeit und Selbsthass machen ihm Angst. Seine Lehrer beschreiben David als „einen Einzelgänger, sehr besorgt und unglücklich“. Er war immer ein guter Schüler, aber jetzt hat er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, schreibt schlechte Arbeiten und ist völlig unmotiviert. Es fällt ihm schwer zu schlafen, ihm fehlt der Appetit und häufig klagt er über Kopf- und Bauchschmerzen. An den meisten Tagen bleibt er in seinem Zimmer und tut nichts. Wenn seine Mutter ihn bittet, etwas zu tun, wird er extrem wütend. Sie sagt, er ist meist reizbar und „schlecht gelaunt“.

Vielleicht kennen Sie ein Kind, das die meiste Zeit über unglücklich wirkt, für nichts Begeisterung aufbringen kann, schlecht gelaunt ist oder schlimmstenfalls das Leben als nicht lebenswert empfindet. Dieses Kind könnte eine depressive Störung haben, bei der eine Stimmungsstörung das zentrale Merkmal ist. Kinder mit einer depressiven Störung leiden unter extremem, anhaltendem und exzessivem Unglücklichsein. Wie David sind diese Kinder dysphorisch oder erleben längere Phasen von Traurigkeit. Sie haben wenig Spaß an Dingen, die sie tun, und verlieren das Interesse an fast allen Aktivitäten. Viele depressive Kinder bringen diese Gefühle von Traurigkeit und Interessensverlust zum Ausdruck. Manche jedoch geben an, überhaupt nicht traurig zu sein. Bei ihnen drückt sich die Depression eher als reizbare Stimmung aus. Andere beschreiben sie als schlecht gelaunt, reizbar oder leicht aufgebracht. Es ist nicht einfach, mit diesen Kindern zusammen zu sein, denn jede Kleinigkeit kann sie zum Explodieren bringen.

Depression – verstanden als niedergedrückte Stimmung, die als Reaktion auf unangenehme Erfahrungen, Enttäuschungen oder Erschütterungen vorkommt – ist ein Bestandteil der allgemeinen Erfahrung jedes Menschen. Eine solche Stimmung dauert einige Augenblicke, Stunden oder auch Tage, führt jedoch im Normalfall nicht zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen. Die meisten Menschen würden sagen, dass solche Perioden schnell vorübergehen, und sie erwarten von sich selbst und anderen, dass sie mit Aktivität, Anstrengung und Willenskraft durchgestanden werden.

Tab. 1.1 Klassifikation von Depression in ICD-10 und DSM-IV

ICD-10

DSM-IV

F32.Depressive Episode

F32.0 leicht

F32.1 mittel

F32.2 schwer ohne psychotische Symptome

F32.3 schwer mit psychotischen Symptomen

F32.8 sonstige depressive Episoden

F32.9 nicht näher bezeichnete depressive Episode

296.2x Major Depression, einzelne Episode

• leicht

• mittel

• schwer ohne psychotische Symptome

• schwer mit psychotischen Symptomen

• teilremittiert

• vollremittiert

• unspezifisch

F33. Rezidivierende depressive Episode

F33.0 gegenwärtig leicht

F33.1 gegenwärtig mittel

F33.2 gegenwärtig schwer ohne psychotische Symptome

F33.3 gegenwärtig schwer mit psychotischen Symptomen

F33.4 gegenwärtig remittiert

F33.8 sonstige rezidivierendedepressive Störungen

F33.9 nicht näher bezeichneterezidivierende depressive Störung

296.3x Major Depression, rezidivierende Episoden

• leicht

• mittel

• schwer ohne psychotische Symptome

• schwer mit psychotischen

• Symptomen

• teilremittiert

• vollremittiert

• unspezifisch

F34. Anhaltende affektive Störung

F34.0 Zyklothymia

F34.1 Dysthymia

F34.8 sonstige anhaltende affektive Störungen

F34.9 nicht näher bezeichnete anhaltende affektive Störung

300.4 Dysthyme Störung

F38. Andere depressive Störungen

F38.0 sonstige einzelne affektiveStörungen

F38.1 sonstige rezidivierende affektive Störungen

F38.8 sonstige affektive Störungen

F39. Nicht näher bezeichneteaffektive Störung

311 Nicht näher bezeichnete depressive Störung

klinische Depression

Im Gegensatz zum normalen Phänomen der niedergedrückten Stimmung ist die klinische Depression (depressive Störung) dadurch gekennzeichnet, dass sie weder mit Anstrengung noch mit Willenskraft kontrolliert werden kann, wobei eine Reihe von Symptomen über einen längeren Zeitraum stabil bleiben und die Funktionstüchtigkeit des Betroffenen beeinträchtigen bzw. völlig lahmlegen. Die klinischen Merkmale einer Depression lassen sich in vier breite Kategorien einteilen:

Stimmung (Affekt): traurig, niedergedrückt, unglücklich, leer, besorgt, reizbar.

Kognition: Verlust von Interesse, Konzentrationsschwierigkeiten, geringes Selbstwertgefühl, negative Gedanken, Unentschlossenheit, Schuldgefühle, Suizidgedanken.

Verhalten: psychomotorische Verlangsamung oder Erregung, Weinen, sozialer Rückzug, Abhängigkeit, Suizid.

Somatisch (körperlich): Schlafstörungen (Schlaflosigkeit oder vermehrtes Schlafbedürfnis), Müdigkeit, verminderter oder gesteigerter Appetit, Gewichtsverlust oder -zunahme, Schmerzen, Störungen des Verdauungstraktes, Libidoabnahme.

DSM-IV und ICD-10

Die Klassifikationssysteme, die am häufigsten zur Diagnose depressiver Störungen herangezogen werden, sind das DSM sowie die Internationale Klassifikation Psychischer Störungen (ICD; Dilling et al. 1995; World Health Organization, 1993; Tab. 1.1). Diese operationalisierten diagnostischen Kriterien markieren einen bedeutenden Fortschritt bei der Entwicklung des derzeitigen Konzeptes depressiver Störungen bei Kindern. Anders als die früheren Versionen stimmen das DSM-IV und die ICD-10 zu 90 % in der Kategorisierung der Störungen überein (Essau et al. 1997a). Wie Tab. 1.1 zeigt, weisen DSM-IV und ICD-10 viele Gemeinsamkeiten auf. Beide beschreiben eine niedergedrückte Stimmung, depressive Kognitionen und Suizidgedanken als zentrale Symptome einer depressiven Episode. In beiden Systemen wird zwischen primär affektiven Störungen und anderen Zustandsbildern unterschieden, bei denen affektive Symptome als Sekundärmerkmale auftreten. Innerhalb der primären affektiven Störungen wird eine Unterscheidung zwischen unipolaren und bipolaren sowie schwereren episodisch auftretenden und leichteren, aber chronisch verlaufenden Störungen getroffen (d. h. Dysthymie und Zyklothymie). Jedoch bestehen weiterhin Unterschiede hinsichtlich der Definition der depressiven Störungen, ihrer psychosozialen Konsequenzen und des Gebrauchs multiaxialer Systeme.

In diesem Kapitel sollen die diagnostischen Kriterien von depressiven Störungen auf der Grundlage des DSM-IV kurz dargestellt werden, da die meisten bisherigen Studien auf dem DSM-III, DSM-III-R und DSM-IV basieren.

1.1Depressive Störungen

Im DSM-IV (APA 1994) sind depressive Störungen durch das Vorliegen einer depressiven Stimmung zusammen mit einer Reihe zusätzlicher Symptome charakterisiert, die zeitlich andauern und eine Beeinträchtigung in verschiedenen Funktionsbereichen darstellen. Unter depressive Störungen fallen Major Depression, die dysthyme Störung und die nicht näher bezeichnete depressive Störung.

Während prinzipiell alle depressiven Störungen bei Erwachsenen auch in der Kindheit und Jugend diagnostiziert werden können, wurden für Kinder und Jugendliche trotzdem die Kriterien geringfügig geändert. Dabei wurde bei der Diagnose der Major Depression „depressive Verstimmung“ gegen „Reizbarkeit“ ausgetauscht. Diese Anpassung trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Belastung depressiver Jugendlicher häufig als Reizbarkeit äußert, und dass diese Jugendlichen möglicherweise keine subjektiv negative Gefühlslage zum Ausdruck bringen. Eine weitere Modifikation besteht darin, dass „Gewichtsverlust“ gegen „Ausbleiben der erwarteten Gewichtszunahme“ ausgetauscht wurde. Die Diagnose der dysthymen Störung bei Jugendlichen ist dann erfüllt, wenn die Symptome über einen Zeitraum von einem Jahr anhalten (im Gegensatz zu zwei Jahren bei Erwachsenen).

1.1.1Major Depression

depressive Episode

Die Major Depression ist durch eine oder mehrere depressive Episoden gekennzeichnet. Bei der Episode einer Major Depression muss über mindestens zwei Wochen an fast allen Tagen eines der beiden folgenden Kernsymptome festzustellen sein: (a) depressive Verstimmung (bei Kindern und Jugendlichen auch „reizbare Verstimmung“); (b) deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten. Darüber hinaus müssen mindestens vier zusätzliche Symptome aus folgender Kriterienliste vorliegen: (c) deutlicher Gewichtsverlust oder deutliche Gewichtszunahme bzw. verminderter oder gesteigerter Appetit (bei Kindern ist das Ausbleiben der zu erwartenden Gewichtszunahme symptomatisch); (d) Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf; (e) psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung; (f) Müdigkeit oder Energieverlust; (g) Gefühle von Wertlosigkeit oder übermäßige bzw. unangemessene Schuldgefühle; (h) verminderte Denk- und Konzentrationsfähigkeit oder verringerte Entscheidungsfähigkeit und (i) wiederkehrende Gedanken an den Tod, wiederholte Suizidvorstellungen ohne genauen Plan, tatsächlicher Suizidversuch oder die genaue Planung eines Suizids.

Die Episode muss mit klinischem Leiden oder psychosozialen oder beruflichen bzw. schulischen Beeinträchtigungen einhergehen. Die Diagnose einer Major Depression darf nicht gestellt werden, wenn die Symptome (a) die Kriterien einer gemischten Episode erfüllen; (b) auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurückgehen; (c) besser durch eine einfache Trauerreaktion erklärt werden können; und wenn (d) die Episoden durch eine schizoaffektive Störung besser zu erklären sind oder sie durch eine Schizophrenie, eine schizophreniforme Störung, eine wahnhafte Störung oder eine nicht näher bezeichnete psychotische Störung überlagert sind.

Symptomanzahl und Symptomstärke

Die Major Depression kann als Einzelepisode oder rezidivierend auftreten. Abhängig von der Anzahl der Symptome, der Symptomstärke und dem Grad der Beeinträchtigung und Belastung können Episoden einer

Major Depression als leicht, mittel und schwer klassifiziert werden:

Leichte Episoden sind charakterisiert durch das Vorliegen von fünf oder sechs depressiven Symptomen, die leichte Beeinträchtigung in beruflichen Funktionsbereichen, bei gewöhnlichen sozialen Aktivitäten oder in zwischenmenschlichen Beziehungen verursachen;

Mittlere Episoden sind gekennzeichnet durch das Vorliegen von Symptomen, deren Schweregrad oder Funktionsbeeinträchtigung zwischen leicht und schwer liegen;

Eine schwere Episode ohne psychotische Züge liegt vor, wenn die Anzahl der Symptome die für die Diagnosestellung notwendige Symptomanzahl überschreitet und Arbeit, soziale Aktivitäten und zwischenmenschliche Beziehungen deutlich beeinträchtigt sind;

Eine schwere Episode mit psychotischen Zügen ist dann zu diagnostizieren, wenn Wahnvorstellungen oder Halluzinationen vorliegen, die mit depressiven Inhalten wie persönliche Schuld und Todeswahn übereinstimmen (d. h. stimmungskongruente psychotische Züge) oder die keine Verbindung zu depressiven Inhalten haben wie Verfolgungswahn oder Gedankeneingebung (d. h. stimmungsinkongruente psychotische Züge).

Remission

Wenn die depressive Episode diese Schweregrad-Kriterien nicht erfüllt, wird sie als in völliger oder teilweiser Remission beschrieben. Völlige Remission bedeutet die Abwesenheit signifikanter Symptome einer Major Depression während der vorausgegangenen zwei Monate. Bei einer Teilremission sind die Kriterien nicht voll erfüllt, oder die Hauptsymptome einer Episode von Major Depression halten weniger als zwei Monate an. Eine Episode von Major Depression kann als chronisch, mit katatonen Merkmalen, mit melancholischen Merkmalen, mit atypischen Merkmalen und mit postpartalem Beginn spezifiziert werden:

Eine Episode von Major Depression ist als chronisch zu bezeichnen, wenn sie mindestens zwei Jahre andauert;

Katatone Merkmale zeichnen sich aus durch ausgeprägte psychomotorische Störungen, die beinhalten: motorische Unbeweglichkeit (Katalepsie); übermäßige motorische Aktivität, die ziellos und nicht durch externe Reize beeinflusst zu sein scheint; extremer Negativismus (offensichtlich grundloser Widerstand gegen alle Aufforderungen oder Einnahme einer rigiden Körperhaltung mit Widerstand gegen äußere Bewegungsversuche) oder Mutismus; bizarre Willkürbewegungen, unangemessene oder sonderbare Haltung, stereotype Bewegungen oder auffälliges Grimassieren. Echolalie (d. h. sinnlose Wiederholung von Worten oder Sätzen, die jemand anderes gesprochen hat), Echopraxie (d. h. Imitation der Bewegungen einer anderen Person);

Melancholische Merkmale sind charakterisiert durch den Verlust von Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten oder das Fehlen von Reaktionen auf normalerweise als angenehm empfundene Reize. Die niedergedrückte Stimmung bleibt bestehen, selbst wenn sich etwas Erfreuliches ereignet. Zusätzlich müssen mindestens drei der folgenden Symptome vorliegen: besondere Qualität der depressiven Verstimmung (d. h. sie wird als deutlich verschieden von der Trauer über den Verlust einer geliebten Person empfunden), Morgentief, Früherwachen, psychomotorische Hemmung oder Erregung, deutliche Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust, übermäßige oder unangemessene Schuldgefühle;

Atypische Merkmale zeichnen sich aus durch das Vorliegen von affektiver Reagibilität (d. h. Aufhellbarkeit der Stimmung durch tatsächliche oder erwartete positive Ereignisse) während der vorhergehenden Wochen zusammen mit mindestens zwei der folgenden Symptome: gesteigerter Appetit oder Gewichtszunahme, Hypersomnie (d. h. ausgedehnter Nachtschlaf oder Schlaf tagsüber), bleierne Schwere in Armen oder Beinen, pathologische Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisungen;

Depressionen mit postpartalem Beginn setzen innerhalb von vier Wochen nach der Geburt eines Kindes ein und können psychotische Merkmale miteinschließen, wie z. B. den Wahn, dass das Neugeborene vom Teufel besessen sei oder dass es ein schreckliches Schicksal erwartet. Es können Suizidideen auftreten, zwanghafte Gedanken hinsichtlich Gewaltanwendung gegenüber dem Kind, Schlaflosigkeit, spontane Weinkrämpfe (nach der als „Wochenbettempfindlichkeit“ bekannten Phase drei bis sieben Tage nach der Geburt), Panikattacken und Desinteresse am Neugeborenen.

Zahlreiche andere Spezifizierungen wurden im DSM-IV eingeführt: (a) Zusatzkodierungen des Langzeitverlaufs: mit bzw. ohne Vollremission im Intervall. „Mit Vollremission im Intervall“ bedeutet eine volle Remission zwischen den letzten beiden Phasen affektiver Störungen. Die Zusatzcodierung „ohne Vollremission im Intervall“ trifft zu, wenn keine vollständige Remission zwischen den letzten beiden Phasen affektiver Störung stattgefunden hat. (b) Die Zusatzcodierung mit saisonalem Muster bezieht sich auf Beginn und Remission einer depressiven Störung zu spezifischen Zeiten des Jahres. Die depressiven Episoden beginnen im Allgemeinen im Herbst oder Winter und remittieren im Frühling; dieses Muster muss in den vergangenen zwei Jahren aufgetreten sein.

1.1.2Dysthyme Störung

chronische Form der depressiven Störungen

Bei der Dysthymen Störung handelt es sich um eine chronische, aber weniger schwere Form der depressiven Störungen. Sie ist durch eine chronisch depressive Verstimmung (bei Kindern und Jugendlichen auch reizbare Verstimmung) über die meiste Zeit des Tages und an mehr als der Hälfte der Tage über mindestens zwei Jahre (bei Kindern und Jugendlichen ein Jahr) hinweg gekennzeichnet. Während der depressiven Verstimmung müssen mindestens zwei der folgenden Symptome vorliegen: Appetitlosigkeit oder gesteigertes Bedürfnis zu essen, Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis, Energiemangel oder Erschöpfung, geringes Selbstwertgefühl, Konzentrationsstörung oder Entscheidungserschwernis und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

In der betreffenden Zeitperiode (ein bzw. zwei Jahre) darf es keinen Zeitraum von mehr als zwei Monaten ohne die beschriebenen Symptome geben. Auch bei dieser Störungsform müssen für die Vergabe der Diagnose Beeinträchtigungen in psychosozialen Funktionsbereichen oder ein klinisch bedeutsamer Leidensdruck vorliegen. Die Dysthyme Störung kann einen frühen Beginn haben (d. h. die Symptome einer Dysthymen Störung treten vor dem Alter von 21 Jahren erstmalig auf), einen späten Beginn (d. h. die Symptome treten nach dem Alter von 21 Jahren erstmalig auf), und sie kann atypische Merkmale haben.

Die Diagnose darf nicht gestellt werden, wenn (a) in dem Zeitraum eine Episode einer Major Depression bestanden hat, d. h. dass das Störungsbild besser durch eine chronische oder teilremittierte Major Depression erklärt werden kann; (b) zu einem Zeitpunkt eine manische, eine gemischte oder eine hypomane Episode vorhanden war, und die Kriterien für eine zyklothyme Störung erfüllt waren; (c) die Störung ausschließlich im Verlauf einer chronischen psychotischen Störung wie Schizophrenie oder wahnhafte Störung aufgetreten ist und (d) die Symptome auf die direkte Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurückgehen.

1.2 Bipolare Störungen

manische Episode

Die Bipolaren Störungen sind in Bipolar I, Bipolar II, Zyklothyme Störung und nicht näher bezeichnete Bipolare Störung unterteilt (DSM-IV; APA 1994; Tab. 1.2). Die Bipolar I Störung ist gekennzeichnet durch das Vorliegen von mindestens einer manischen oder gemischten Episode (DSM-IV; APA 1994). Bei den betroffenen Personen ist oft mindestens eine Episode von Major Depression aufgetreten. Eine Manische Episode wird beschrieben als eine erkennbare Periode unnormaler und durchgehend gehobener, expansiver oder reizbarer Stimmung, die mindestens eine Woche lang fortbesteht. Zusätzlich müssen drei von sieben folgenden Symptomen vorliegen (vier, wenn das Hauptsymptom Gereiztheit ist): Größenwahn, vermindertes Schlafbedürfnis, erhöhte Gesprächigkeit, Ideenflucht, Ablenkbarkeit, vermehrte zielgerichtete Aktivität und ein übermäßiges Engagement in angenehme Aktivitäten mit einem hohen Potenzial schmerzhafter Konsequenzen. Eine gemischte Episode zeichnet sich aus durch eine Periode von mindestens einer Woche, in der die Kriterien der manischen Episode sowie die Kriterien einer Episode von Major Depression fast täglich erfüllt sind. Die diagnostischen Kriterien der Bipolar I Störung sind nicht erfüllt, wenn die Symptome auf eine substanzinduzierte affektive Störung oder auf eine affektive Störung aufgrund eines körperlichen Zustandes zurückzuführen sind. Die Episoden sind von einer schizoaffektiven Störung zu unterscheiden und überlagern keine Schizophrenie, schizophreniforme Störung, einen Wahn oder eine nicht näher bezeichnete psychotische Störung.

hypomanische Episode

Die Bipolar II Störung ist durch das Auftreten einer oder mehrerer Episoden von Major Depression gekennzeichnet, die von mindestens einer hypomanischen Episode begleitet wird (DSM-IV; APA 1994). Eine hypomanische Episode ist definiert als ein Zeitraum gehobener, expansiver oder reizbarer Stimmung, die mindestens vier Tage lang anhält. Mindestens drei der folgenden Symptome treten in diesem Zeitraum auf: erhöhtes Selbstwertgefühl, vermindertes Schlafbedürfnis, Rededrang, Ideenflucht, Ablenkbarkeit, vermehrte zielgerichtete Aktivität und ein übermäßiges Engagement in angenehme Aktivitäten mit einem hohen Potenzial für schmerzhafte Konsequenzen. Obwohl die affektive Störung von anderen bemerkt wird, ist die Episode im Gegensatz zur Bipolar I Störung nicht stark genug, um eine ausgeprägte Beeinträchtigung im sozialen und beruflichen Bereich zu verursachen oder um einen Krankenhausaufenthalt erforderlich zu machen. Die Bipolar II Störung wird nicht diagnostiziert, wenn eine manische oder eine gemischte Episode vorliegt. Episoden einer substanzinduzierten affektiven Störung oder einer affektiven Störung aufgrund eines körperlichen Zustandes fallen nicht unter die Diagnose einer Bipolar II Störung.

Tab. 1.2 Klassifikation Bipolarer Störungen nach DSM-IV und ICD-10 (nach APA 1994)

ICD-10

DSM-IV

F30Manische Episode

F31Bipolare affektive Störung

296Bipolar I Störung

296.89Bipolar II Störung

F34.0 Zyklothymia

301.13 Zyklothyme Störung

F31.9Nicht näher bezeichnete Bipolare affektive Störung

296.80Nicht näher bezeichnete Bipolare Störung

Stimmungsschwankungen

Die Zyklothyme Störung ist eine chronische, fluktuierende affektive Störung, die zahlreiche Episoden mit depressiven oder hypomanischen Symptomen umfasst und die bei Kindern und Jugendlichen während eines Jahres, bei Erwachsenen über einen Zeitraum von zwei Jahren auftreten (DSM-IV; APA 1994). Jedoch sind Anzahl, Schweregrad, Durchgängigkeit und Dauer der hypomanischen Symptome nicht ausreichend, um die Kriterien einer Manischen Episode vollständig zu erfüllen. Die Zyklothyme Störung wird nicht diagnostiziert, wenn die Stimmungsschwankungen durch eine schizoaffektive Störung bedingt sind oder von einer anderen psychischen Störung überlagert werden. Die Störung darf keine Folge direkter physiologischer Wirkungen einer Substanz oder eines körperlichen Zustandes sein. Die Symptome verursachen bedeutsame Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen wie Arbeit und soziale Kontakte.

Die Häufigkeit depressiver Symptome

Angesichts der traditionellen Auffassung, dass die Symptome depressiver Jugendlicher sich von denen Erwachsener unterscheiden (z. B. larvierte Depression), ist es angezeigt zu untersuchen, welche depressiven Symptome von Jugendlichen berichtet werden. Im „Oregon Adolescent Depression Project“ (OADP; Lewinsohn et al. 1998a) war das häufigste Depressionssymptom nach dem DSM-III-R bei Jugendlichen mit einer Major Depression eine niedergedrückte Stimmung

– sie wurde von 97.7 % der betroffenen Jugendlichen berichtet. Die zweithäufigsten Symptome waren Denkschwierigkeiten (81.8 %), Schlafprobleme (88.6 %) und Gewichts- bzw. Appetitstörungen (79.5 %). Im Allgemeinen war die Rangfolge depressiver Symptome bei Jugendlichen mit diagnostizierter Depression und Jugendlichen mit lediglich depressiver Symptomatik sehr ähnlich. Die durchschnittliche Anzahl von Symptomen bei Jugendlichen mit Major Depression betrug 6.9.

Neuere Analysen der Bremer Jugendstudie zeigten sehr ähnliche Ergebnisse (Essau 2000). Das heißt, zusätzlich zur niedergedrückten Stimmung waren die häufigsten Symptome, die von Jugendlichen mit einer DSM-IV-Diagnose der Depression berichtet wurden, Denk- oder Konzentrationsstörungen und Schlafprobleme. So ist dieses Symptommuster dem von depressiven Erwachsenen in Stichproben der Allgemeinbevölkerung sehr ähnlich.

Phänomenologie und Alter

Obwohl darüber zurzeit Konsensus besteht, dass die DSM-Kriterien mit geringfügigen Veränderungen auf Jugendliche anwendbar sind, ist es doch wichtig, die Frage zu stellen, ob Alter und Geschlecht einige Manifestationen von Depression verändern (Cicchetti 1984). Lewinsohn und Mitarbeiter (1998a) berichteten, dass Suizidgedanken und suizidales Verhalten bei Jugendlichen häufiger auftreten, während Müdigkeit, Appetit- und Gewichtsveränderungen, Reizbarkeit, das Gefühl von Wertlosigkeit, psychomotorische Verlangsamung und Konzentrationsschwäche häufiger bei Erwachsenen anzutreffen sind. Friedman und Mitarbeiter (1982) fanden wenig Unterschiede im Hinblick auf die jeweiligen Symptome bei Subtypen von Depression, als sie die Häufigkeit von Depression bei 26 Jugendlichen und 27 jungen erwachsenen Patienten eines Krankenhauses verglichen. Es gab nur ein Symptom, bei dem sich die beiden Stichproben signifikant unterschieden: Die Jugendlichen berichteten signifikant weniger Selbstmitleid.

Im OADP (Lewinsohn et al. 1998) stimmten die Muster depressiver Symptome bei depressiven Jugendlichen weitgehend mit denen überein, die Erwachsene in der Studie vom „Epidemiologic Catchment Area Program“ (ECA) berichteten. Im Vergleich mit Erwachsenen berichteten depressive Jugendliche mehr Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld, allerdings weniger Gewichts- und Appetitveränderungen und Todes- oder Suizidgedanken.

Phänomenologie in klinischen Stichproben und Stichproben der Allgemeinbevölkerung

Da viele Kinder und Jugendliche der Allgemeinbevölkerung mit Major Depression unbehandelt bleiben (Essau 2000; Lewinsohn et al. 1998a), stellen Stichproben, die sich aus Personen in Behandlung zusammensetzen, möglicherweise eine Gruppe dar, deren Symptomatik besonders schwer und daher vielleicht nicht repräsentativ für das typische depressive Kind oder den typischen depressiven Jugendlichen ist. Daher ist es wichtig, die Phänomenologie depressiver Jugendlicher, die in Stichproben der Allgemeinbevölkerung als „Fall“ diagnostiziert wurden, mit der depressiver Jugendlicher in klinischen Settings zu vergleichen. Zu diesem Zweck verglichen Lewinsohn et al. (1998a) die Prävalenz depressiver Symptome ihrer OADP-Stichprobe mit Daten aus Studien mit Jugendlichen, die sich in Behandlung befinden (siehe Tabelle).

Mit einigen wenigen Ausnahmen glichen die Muster depressiver Symptome bei den Jugendlichen der Allgemeinbevölkerung in ihrer Phänomenologie den Symptommustern der klinisch behandelten Jugendlichen mit Major Depression. Jugendliche in klinischen Settings berichteten jedoch mehr Gedanken an den Tod oder an Suizid als Jugendliche der OADP-Stichprobe mit Teilnehmern aus der Allgemeinbevölkerung. In dieser Stichprobe traten Gewichts- und Appetitstörungen häufiger auf als bei klinischen Fällen. Es zeigten sich geringfügige Geschlechtsunterschiede hinsichtlich des Musters depressiver Symptome bei den depressiven Fällen, aber nicht bei den nichtdepressiven Jugendlichen. Im Vergleich mit depressiven Jungen wiesen depressive Mädchen signifikant höhere Scores in den Bereichen Gewichts- und Appetitstörungen (77 % vs. 58.5 %) auf und berichteten häufiger Gefühle von Wertlosigkeit/Schuld (82.5 % vs. 67.5 %). Lewinsohn und Mitarbeiter (eingereicht) fanden keine systematischen Unterschiede zwischen der Auftretenshäufigkeit spezifischer Symptome bei Personen, die mehrere depressive Episoden hatten, im Vergleich mit Personen, die nur einmal eine solche Episode hatten. Jedoch bestand bei wiederholt auftretenden Episoden die Tendenz zu einer Symptomzunahme.

Tabelle: Vergleich depressiver Symptome der OADP-Stichprobe mit Daten aus Studien mit Jugendlichen in Behandlung (nach Lewinsohn 1998a)

Kasten 1.1 Phänomenologie der Depression

1.3Andere affektive Störungen im DSM-IV

Die Affektive Störung aufgrund eines körperlichen Zustandesist eine anhaltende Störung des Affekts, die auf direkte physiologische Wirkungen eines körperlichen Zustandes zurückzuführen ist. Diese Wirkungen sind anhand der Krankengeschichte, körperlicher Untersuchungen oder anhand von Laborergebnissen zu erklären (DSM-IV; APA 1994). Die Störung kann eine niedergedrückte Stimmung oder merklich verringertes Interesse oder Freude oder auch eine gehobene, expansive oder reizbare Stimmung umfassen. Sie ist nicht auf eine andere psychische Störung zurückzuführen und tritt nicht ausschließlich während eines Deliriums auf. Die Störung ruft eine ausgeprägte Beeinträchtigung im sozialen oder beruflichen Bereich oder auf anderen Funktionsgebieten hervor.

Die Substanzinduzierte Affektive Störung ist eine deutlich wahrnehmbare, anhaltende Störung, die auf die unmittelbare physiologische Auswirkung einer Substanz zurückzuführen ist (DSM-IV; APA 1994). Die Symptome entwickeln sich während oder innerhalb eines Monates der Intoxikation mit einer Substanz oder ihres Entzugs. Die Diagnose wird nicht gestellt, wenn die Störung auf einer affektiven Störung beruht, die nicht substanzinduziert ist, oder lediglich während eines Deliriums auftritt. Die Symptome verursachen deutliche Beeinträchtigungen im sozialen oder beruflichen Bereich oder in anderen wichtigen Funktionsgebieten.

1.4Übungsfragen zum 1. Kapitel

1.Welche Ansicht vertraten viele psychoanalytisch orientierte Theoretiker im Hinblick auf Depression bei Kindern und Jugendlichen?

2.Was bedeutet „larvierte Depression“?

3.Seit wann wird Depression bei Kindern und Jugendlichen verstärkt wissenschaftlich untersucht?

4.Was führte zu der Feststellung, dass auch Kinder depressiv werden können?

5.Wie lauten die vier Hauptmerkmale einer klinischen Depression?

6.Wie heißen die zwei Klassifikationssysteme, nach denen eine Depression diagnostiziert werden kann?

7.Wie viele Arten von Depression gibt es nach dem DSM-IV?

8.Was sind die Merkmale der Major Depression?

9.Wie unterscheiden sich die diagnostischen Kriterien der Major Depression bei Kindern von den Kriterien für Erwachsene?

10.Was sind die Merkmale der Dysthymen Störung?

11.Worin unterscheiden sich die Kriterien für Dysthymie bei Kindern und Erwachsenen?

12.Was sind die Hauptmerkmale der Bipolaren Störung?

13.Was sind die Hauptmerkmale einer Depression mit katatonen Merkmalen?

14.Was sind die Hauptmerkmale einer Depression mit melancholischen Merkmalen?

2Erhebungsmethoden und Diagnostik

Will man Depression bei Jugendlichen untersuchen, sind altersangemessene Erhebungsinstrumente mit guten psychometrischen Eigenschaften erforderlich, um Symptome, ihre Dauer, ihren Schweregrad und ihr erstmaliges Auftreten zu erfassen. Gute Erhebungsinstrumente sind ebenfalls wichtig für die Erfassung psychosozialer Probleme, die mit Depression einhergehen, sowie zur Evaluation des Behandlungserfolgs. Eine weitere Funktion der Erhebungsinstrumente ist das „Screening“, mit Hilfe dessen die Population einer Studie schnell, ökonomisch und valide in wahrscheinlich „gesunde“ und wahrscheinlich „kranke“ Gruppen unterteilt werden kann.

Erfassung