Anjas Tagebuch - Neverland - Doreen Gehrke - E-Book

Anjas Tagebuch - Neverland E-Book

Doreen Gehrke

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Beschreibung

»Anjas Tagebuch – Neverland« ist der Folgeband zu »Anjas Tagebuch«. Anders als im ersten Band setzt sich die Protagonistin nicht mehr nur mit dem Einfluss der digitalen Welt auf unser Leben auseinander, sondern beginnt, sich immer mehr selbst zu reflektieren, hinterfragt ihren Platz in der Gesellschaft und versucht, Zusammenhänge zwischenmenschlicher Beziehungen zu verstehen – sei es die zu ihren Eltern und anderen Verwandten, oder zu Freunden und Lehrern. Besonders die Stille in Neverland hilft Anja, ihre Gedanken zu sortieren und ihr Verhalten in der Schule und Zuhause zu verstehen. Oma Ritas Anekdoten und Weisheiten über das Leben tragen ihr Übriges dazu bei, sodass die Ostertage zu den Philosophischen Tagen in Neverland werden. Das Ferienhaus, irgendwo in der Uckermark, ist Anjas liebster Ort zum Nachdenken und zum Schreiben. Dort kann sie abschalten und ganz in ihre eigene Welt abtauchen.

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Doreen Gehrke

Anjas Tagebuch - Neverland

2. Tagebuch

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttps://www.dnb.de/abrufbar.

https://www.doreen-gehrke-verlag.de/

Alle Rechte: © Doreen Gehrke Verlag, 2016

3. Auflage, Doreen Gehrke Verlag, 2024

Abbildungen zu „Anjas Tagebuch “: © Doreen Gehrke

ISBN: 978-3-9822748-3-6

Sonntag, 01.01.2017

Mein liebes Tagebuch ...

heute ist der 1. Januar des neuen Jahres 2017 und für einen gelungenen Start ins neue Jahr, dachte ich, wäre es doch super, wenn ich dich aus der Schublade meines Schreibtisches hole und dich auf den aktuellsten Stand bringe.

Sicher kannst du dich an meine letzten Sätze erinnern. Die Sommerferien hatten begonnen, meine Eltern unterstützten mich bei meiner Challenge – eine Woche ohne jegliche mediale Beschallung, besonders aus den sozialen Netzwerken – und der Kurzurlaub in der Uckermark stand vor der Tür, fern von Funk und Fernsehen. Und ja, ich weiß, eigentlich wollte ich dort an dich weiterschreiben und die Ruhe, die ich bereits in der Woche davor kennengelernt hatte, nutzen, um aus dir ein richtiges Buch zu machen. Aber es war genau diese Ruhe, eben diese Auszeit, die wir alle drei brauchten, sodass ich einfach mal gar nichts gemacht habe.

Das war so schön! Ich habe nicht mal ein schlechtes Gewissen, weil mir dieses entspannte Leben so gutgetan hat. Aus keinem Urlaub zuvor konnte ich so viel Kraft schöpfen wie aus den Tagen am See, irgendwo in der Uckermark. Sicher, ich könnte dir hier schreiben, wo genau wir uns vor der Welt da draußen versteckt hielten. Aber stelle dir vor, irgendjemand klaut dich mal und liest dann von unserem geheimen Ort. Denn genau das ist er oder ist er geworden – zu unserem Versteck, das Mutti noch im Sommer, na ja dann im Spätsommer, vom Besitzer oder eben jetzt Vorbesitzer gekauft hat. Ich habe auch gestaunt. Nicht, dass sie dieses schnuckelige Ferienhaus nicht ihr Eigen nennen wollte. Nein, bereits am zweiten Tag meinte sie, so einen Zufluchtsort unbedingt haben zu müssen. Da hatten Papi und ich noch gelacht. Aber als wir zurück in Berlin waren, setzte sie sofort alle Hebel in Bewegung, um dieses „Loch“, wie Oma es nannte, ohne es je gesehen zu haben, von Opas vererbten Geld zu kaufen.

Sind die Sätze schon zu lang und verschachtelt, oder geht`s noch? Okay.

Vielleicht ist Oma auch einfach nur sauer, weil Mutti das Geld für eine „einfache Hütte“ irgendwo im nirgendwo ausgegeben hat und nicht für ihre Altersvorsorge spart. In der Uckermark sei der Hund begraben, kein Mensch bei klarem Verstand würde dort leben wollen, geschweige denn sterben. Außerdem könne sie diese „Hundehütte“ nie gewinnbringend veräußern, weil niemand, außer wir, am Ar*** der Welt sein will. Nein, alle wollen rein nach Berlin. Und genau das ist es, sagte Mutti. Wir wollen raus, zumindest ab und zu.

Nun, dafür, dass meine Eltern so wahnsinnig viel arbeiten und dann auch noch der Umzug in den Herbstferien über die Bühne gebracht werden musste, waren wir beinahe jedes Wochenende in Neverland. Die Idee für den Namen hatte Papi. Nicht zu fassen, oder? Während meiner Challenge war mir natürlich schon aufgefallen, dass beide ihre eigenen Auszeiten oder Herausforderungen brauchten, und ich habe sie mit meiner Idee wohl angesteckt.

Wobei hier Auszeit und Herausforderung zusammengehören. Wir führen alle irgendwie ein digitales Leben, jeder auf seine eigene Art und Weise, mal mehr, mal weniger. Nur ein Rückzugsort, der von der digitalen Welt ausgeschlossen ist, kann uns vor Augen führen, dass wir unsere eigene Fantasie freien Lauf lassen müssen, wenn wir alleine etwas erschaffen wollen. So ungefähr lauteten Papis Worte, und er muss es ja wissen. Papi hat doch tatsächlich im Urlaub angefangen, ein Buch zu schreiben.

Genau. Er hat sozusagen das geschafft, was ich gar nicht erst versucht hatte.

Ich finde, Papi hat sich im Vergleich zu Mutti und mir am meisten verändert. Seit dem Sommer sind wir alle ruhiger geworden und vor allem wachsamer. Damit meine ich, dass wir jetzt bewusst mehr von dem, was um uns herum geschieht, wahrnehmen und darüber auch mehr nachdenken. Das ging ganz automatisch, weil wir aufhörten, unsere Smartphones ständig zu benutzen. Aber Papi hat zudem ein neues Projekt gefunden, was ihm auch in seiner Freizeit davon abhält, Fake-Nachrichten oder andere blöde Posts zu lesen. Bei mir gibt es nur Schule und sich von der Schule erholen. So wie es bei Mutti nur ihre Firma gibt, oder ihr Firmchen, wie Papi Muttis Unabhängigkeit von der Männerwelt liebevoll nennt, und eben Neverland an den Wochenenden. Was geblieben ist, sind die kurzen Momente im Zustand des Schocks und der Angst.

So schreibt doch kein Teenager, brüllt gerade meine Deutschlehrerin in meinem Schädel. Die ist auch geblieben. Nix mit neues Schuljahr, neues Glück. Ach, und Daniel ist doch ein Ar***. Aber das erkläre ich dir mal zu einem anderen Zeitpunkt.

Ich meine, was in jüngster Vergangenheit hier in Berlin geschehen ist. Zum Beispiel der Anschlag auf einen unserer tollen Weihnachtsmärkte. Wir waren nicht dort, aber wir waren unterwegs und keiner von uns wusste vom anderen, wo er war, als das passierte. Erst als wir alle zu Hause waren und Papi beim Essen das Radio einschaltete, hörten wir davon. Da ging das Geschrei dann los, kurz nachdem wir uns für gefühlt eine Stunde ausdruckslos angestarrt hatten. Die Behörden hätten nicht richtig aufgepasst, es wäre sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen und wir hätten nur Glück gehabt, weil wir gerade woanders unterwegs waren, es hätte ja auch dort geschehen können. Zum Beispiel in der U-Bahn. Bis zu diesem Abend war nur in unseren Köpfen, dass eine Frau von einer Treppe getreten wurde. In der letzten Woche soll ein Obdachloser angezündet worden sein. Der Terror ist oft Thema Nummer Eins bei unseren Tischgesprächen. Das Leben ist gefährlicher geworden! Wer beschwert sich denn heute noch über den Alltagsstress oder macht sich über Leute lustig, die Pokémon Go spielen?

In der Neujahrsansprache unserer Bundeskanzlerin Merkel hieß es, der Staat sei stärker als der Terror, wir seien stärker als der Terror. Daran zu glauben fällt mir schwer. Denn nur selten erhalten wir die Unterstützung, die wir als „Normalbürger“ doch eigentlich haben wollen. Oder nicht? Zum Beispiel in der Silvesternacht in Köln. Damit nicht das Gleiche wie im letzten Jahr geschieht, haben Polizisten bereits am Bahnhof Hunderte von jungen Männern, die nordafrikanisch aussahen, festgehalten und nicht zum Kölner Dom gelassen. In den Nachrichten wird dieses Vorgehen der Polizei kritisiert. Ich aber fand das richtig und erwarte ehrlich gesagt, mehr von der Polizei zu sehen. Wer glaubt denn schon, dass sich so große Gruppen zusammenrotten, nur um gemeinsam friedvoll Silvester zu feiern? Man sieht ja auch so immer Gruppen von fünf oder sieben, manchmal sogar noch mehr Flüchtlinge oder eben Deutsche mit Migrationshintergrund durch die Gegend stolzieren, Frauen und Mädchen belästigen. Außerdem werden bestimmte Fan-Gruppen bei Fußballspielen auch von der Polizei festgehalten oder begleitet. Öffentliche Plätze, öffentliche Verkehrsmittel. Alles, was öffentlich ist, kann von mir aus mit Polizisten und Kameras übersät sein. Wenn ich mich dann wieder sicher fühle, dann glaube ich auch an die Worte unserer Bundeskanzlerin – wir schaffen das!

In diesem Sinne soll es von mir erst einmal gewesen sein. Ich schreibe dir dann, wie meine erste Schulwoche im neuen Jahr war. Einige Schüler fanden es nämlich ziemlich lustig, als ich erzählte, dass ich Silvester mit meinen Eltern zu Hause verbringe. Mal sehen, was sie über ihre tollen Partys erzählen. Aber ich muss erst Mittwoch hin und die nächsten Tage sind Mutti und ich mit Oma beschäftigt. Ich meine Oma Hilde, Papis Mutti, die sich entschieden hat, in eine Seniorenresidenz zu ziehen. Papi kommt damit überhaupt nicht klar, weshalb Mutti und ich Oma helfen. Er nennt diese wirklich schön angelegte Anlage das „Totenheim“ und glaubt, dass Oma nicht mehr lange leben wird, wenn sie erst einmal dort ist. Aber dazu dann später mehr.

Also, bis zum nächsten Mal.

Sonntag, 08.01.2017

Mein liebes Tagebuch ...

wie versprochen melde ich mich wieder. Natürlich verspätet. Aber bedenkt man mal, dass ich monatelang nichts geschrieben habe, bin ich doch auf einen guten Weg. Ob das auch für Papi gilt, kann ich nicht sagen. Das Jahr hat für ihn mit dem Einzug von seiner Mutter in eine Seniorenresidenz nicht gut begonnen. Auch für mich und Mutti waren der Montag und Dienstag nicht gerade prickelnd. Als dann am Mittwoch auch noch die Schule wieder begann, hätte ich mich gerne irgendwo versteckt. Jeder hatte etwas über sich zu erzählen und wollte der Erste sein. Da habe ich dann an Omas Umzug gedacht und mir fiel auf, wie kindisch die sind. Also mit „die“ meine ich nur ganz bestimmte Schüler. Nicht alle sind gleich. Aber ich fand einfach, dass die sich lächerlich machten, schließlich gibt es Wichtigeres als Silvester. Als dann nach meiner „Party“ gefragt wurde, war ich auch ganz cool und meinte, ich hätte einen schönen Abend mit meinen Eltern gehabt und könnte mir vorstellen, wieder so Silvester zu feiern.

Und rate mal. Der große Lacher blieb aus! Ehrlich. Es wurde nicht weiter danach gefragt, und ich glaube, es war Vanessa oder Sophie (Die beiden best friends sehen sich so ähnlich, sie könnten als Zwillinge durchgehen.), die sogar genickt hat und mir damit sagen wollte, dass sie das toll fand. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Oder eben nicht. Kann doch sein, dass ihr gefallen hat, wie selbstbewusst ich zu meinen Entscheidungen stehe. Zumindest sind noch viele 14-Jährige so drauf, dass die alles machen müssen, was andere auch machen.

Da fällt mir gerade ein, Erwachsene sind da auch nicht anders. Es kommt wohl doch darauf an, ob man eine eigene Persönlichkeit entwickelt oder nicht. Ich will immer nur ich sein und mit dieser Einstellung fühle ich mich wohl. Womit ich mich noch nicht wohlfühle, ist meine Angst, im passenden Moment nicht richtig zu reagieren oder selbstbewusst genug zu sein, wenn ich merke, ich werde abgelehnt oder man macht sich über mich lustig. Ich glaube, da muss man einfach Geduld haben und sich sein ICH in Ruhe entwickeln lassen.

Ja, ich weiß, zu später Stunde noch so philosophisch. Ich gucke mal auf die Uhr. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Zweite Kalenderwoche hat schon begonnen, und ich kann es gar nicht abwarten, bis wieder Sommer ist. Das hat nichts mit dem Wetter zu tun. Sicher, tiefe Minustemperaturen sind nicht gerade angenehm und auch die vereisten Straßen und Wege können einem auf die Nerven gehen. Aber ich habe überhaupt keine Lust auf die Schule. Ich bin eine gute Schülerin und ging bis vor kurzem immer gerne zur Schule. Nur hat sich in mir etwas entwickelt, und ich bin noch dabei herauszufinden, was es ist. Die Lustlosigkeit kann nicht einfach aus dem Nichts gekommen sein. Aber passiert ist nichts. Ich meine, niemand aus meiner Familie ist gestorben, mir ist keine Gewalt angetan worden und Freunde habe ich auch. Keine Ahnung. Es macht einfach keinen Spaß mehr - das Leben und so.

Nein, nein, nein. Du brauchst keine Angst haben! Ich tue mir nichts an. Ich finde nur, ich brauche etwas in meinem Leben, damit ich wieder sagen kann oder nicht sagen kann, aber … hm, na ja … Wenn ich morgens meine Augen aufmache, will ich wieder gerne aufstehen können. Das wünsche ich mir für 2017.

Gute Vorsätze schön und gut. Aber wenn man nicht weiß, was man will, ist es mit Herausforderungen etwas schwierig. Huch ... ein guter Gedanke – eine Challenge. Das ist es. Ich brauche eine neue Challenge. Hm, und was? Na, darüber denke ich noch nach. Vielleicht kann ich dir nächste Woche Genaueres schreiben. Vorausgesetzt ich halte den Wochenrhythmus durch und mir fällt überhaupt etwas ein. Etwas Spannendes muss es sein, yeah!

Wovon ich dir aber eigentlich berichten wollte, ist Oma Hildes Umzug. Mutti und ich hatten am Montag und Dienstag natürlich nicht alles geschafft. Deswegen musste Papi gestern und heute doch noch mit. Die Umzugsfirma war am Dienstag da und hat die Möbel, die Oma zum Teil mitnehmen wollte, in ihre neue Wohnung gebracht. In dieser Seniorenresidenz, „Residenz Sonnenschein“ heißt sie übrigens, mietet Oma ein kleines Appartement, Wohn- und Schlafzimmer, Badezimmer und Wohnküche. Die Appartements mit Balkon sind schon alle vermietet gewesen. Aber dafür gehört zu ihrer Parterrewohnung eine kleine Terrasse. Damit hat sie genügend Platz, um sich ein paar Pflanzkübel hinzustellen und natürlich ihre alten Balkonmöbel, die, wie sie meinte, hoffentlich oft von Gästen genutzt werden. Ja, Oma, wir besuchen dich ganz oft.

Beim Einpacken am Montag und Dienstagvormittag saß sie die ganze Zeit auf einen Stuhl vor ihrer Balkontür und hat von dort aus alles gemanagt. Mir war das am Dienstagnachmittag aber ziemlich peinlich, weil die Umzugsleute dann da waren und ja nicht mit uns bekannt oder befreundet sind. Aber die gingen ganz locker mit Omas „Befehlen“ um. Die sind das bestimmt gewöhnt.

Was Papi angeht, kann ich jetzt ein bisschen besser verstehen, warum er sich so gewehrt hat, uns zu helfen, oder vielmehr seiner Mutter. Jedes Mal wenn Mutti oder ich ein Bild, einen Staubfänger oder keine Ahnung was in Zeitungspapier einwickelten, kam vom General am Fenster eine Bemerkung und manchmal eine Anekdote aus Papis Kindheit. „Die Vase haben wir bestimmt dreimal zusammenkleben müssen, weil Andreas die immer wieder runter geschmissen hat. Die konnte er wohl nicht ab.“ „Das kleine Bild da, Anja, das du da gerade einwickelst, hat dein Vater mal für mich zum Muttertag gemalt. Da war er erst sechs, na ja vielleicht auch schon acht oder so. Beinahe jeder fragte mich, warum ich denn das Bild eines kleinen Jungen in meiner Anbauwand zu stehen habe. Ich habe denen jedes Mal gesagt, dass sie keine Ahnung hätten. Bilder von seinen Kindern hebt man immer auf, und das Beste steht dann für jeden sichtbar in der Anbauwand.“ So in etwa ging das die ganze Zeit. Zu Beginn fand ich das noch lustig, Geschichten aus Papis Kindheit zu erfahren. Ich hatte dann immer Bilder im Kopf und stellte mir vor, wie er als kleiner Junge Omas Lieblingsvase kaputt machte oder seiner Mutter ein Bildchen malte. Wie süß!

Irgendwann bemerkte ich aber Muttis konzentrierten Gesichtsausdruck. Sie hatte schlichtweg abgeschalten und war in ihrer eigenen Welt. Darüber dachte ich natürlich nach, und ich glaube, meine Eltern, Papi ja mehr als Mutti, aber eben beide machen sich so ihre Gedanken über Omas Tod und wie sie damit umgehen werden. Oma ist fit wie ein Turnschuh und hat sich sogar auf den Umzug in die Seniorenresidenz gefreut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bald sterben wird. Aber es ist eben genau diese Veränderung, die Papi so zu schaffen macht. Er hat einfach Angst, dass es bald zu einer weiteren Veränderung kommen wird, nämlich diese von der er sprach, die immer ganz schnell geschehen soll, wenn man alte Leute ins „Totenheim“ bringt.

Oma kann sicher am besten von uns mit dem Thema „Tod“ umgehen. Das macht einfach das Alter. Je älter man wird, desto besser versteht man, dass der Tod mit zum Leben gehört. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Unfälle geschehen immer, Krankheiten können einem wortwörtlich das Leben zu schaffen machen. Aber das sind alles Dinge, an die man erst denkt und mit denen man sich erst auseinandersetzt, wenn es soweit ist. Aber der Tod? An den Tod denkt man als gesunder Mensch doch erst, wenn man irgendwann in einem Alter ist, in dem man ihn erwarten kann und sich dann vielleicht tatsächlich fragt: „Nun Hilde, wie sieht`s aus? Bist du bereit? Es könnte bald soweit sein.“

Huch … Gänsehautalarm! Ich hoffe, ich werde ein langes Leben führen , vor allem ein gesundes Leben. Wenn ich dann alt bin, werde ich keine Angst mehr haben. Und weil ich jetzt gerade so darüber nachdenke, kommt mir die Beerdigung in den Sinn. Also, jetzt nur so im Allgemeinen. Als das Kind von jemandem ist es ja meine Aufgabe, mich, wenn es dann soweit ist, darum zu kümmern. Ich glaube aber nicht, dass es das ist, wovor sich Papi so fürchtet. Es wird wohl eher die Tatsache sein, dass Oma dann nicht mehr da sein wird.

Ups … schon wieder Gänsehautalarm! Ich dachte gerade, dass meine Eltern so alt wie ein Baum werden sollten. Je länger sie leben, desto mehr Zeit habe ich, erwachsen zu werden und mich auf deren Tod und Nichtmehrdasein vorzubereiten. Auf das es mir gelingen wird!

Beim nächsten Mal schreibe ich dir von Papis Tapezierkünsten. In Omas alter Wohnung musste laut Mietvertrag vor Schlüsselübergabe noch weiße Raufasertapete an die Wände geklatscht werden, was Papi unbedingt selbst machen wollte. Das Ergebnis sieht dementsprechend aus. Mal sehen, was der Vermieter sagt.

Also, dann bis nächste Woche.

Sonntag, 15.01.2017

Mein liebes Tagebuch ...

wweißt du eigentlich, dass der Januar ein sch*** Monat ist? Ja genau, sch*** steht für sehr bescheiden. Es ist der Prüfungsmonat schlechthin. Selbst am Ende des Sommerhalbjahres machen die Lehrer nicht so viel Stress. Wenn du dann mal fragst, warum die Klausuren zeitlich nicht so verschoben werden können, dass man vielleicht schon im Dezember ein paar schreibt, dann kommt immer die Antwort, wir hätten Anfang Januar noch so viel zu lernen, da mache es keinen Sinn, vorher schon welche zu schreiben. Ich meine aber schon. Man könne über das gesamte Halbjahr viele kleine Prüfungen verteilen, anstatt nur wenige zu schreiben, die immer ganz viel Lernstoff verlangen. Es sind doch noch keine Abiturprüfungen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Außerdem ist es nicht unsere Schuld, dass im Dezember zwei Wochen Schule wegfallen. Papi meinte, es läge immer am richtigen Zeitmanagement, ob man kontinuierlich gleich viel arbeitet oder in Phasen mal zu wenig und mal zu viel. Als ich Mutti davon erzählte, sagte sie dann noch, Lehrer seien nur Angestellte, die hätten keine Ahnung von Zeitmanagement. Mit diesem Kommentar hob sie natürlich ihre Unabhängigkeit als Selbstständige hervor, inbegriffen ihre Fähigkeit, gut strukturiert ihr Arbeitspensum zu schaffen.

Das hilft mir aber auch nicht weiter. Am Freitag hatte ich in der ersten Stunde eine Prüfung in Geografie (die war easy) und dann noch in der dritten und vierten die dicke Deutschklausur. Kannst du rechnen? Das macht gleich zwei Klausuren an einem Tag. Am Freitag, verstehst du?! Am Freitag!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Ich war fix und fertig. Als ich dann gegen halb zwei vom Klo kam und Richtung Ausgang schlurfte, hörte ich, wie Julia und, ich meine, Sophie über den ganzen Prüfungsmarathon quatschten. Sie hätten das Gefühl, die meisten Tests würden wir an Freitagen schreiben, und das nur, damit die Lehrer sich an diesen Tagen ausruhen könnten und somit ein verlängertes Wochenende hätten. Diesen Gedanken habe ich auch schon mal gehabt, und ich überlegte noch, ob ich zu ihnen gehen und meinen Senf dazugeben sollte. Aber ich war so müde. Ich wollte einfach nur noch nach Hause und mich hinlegen.

Die ganze Woche war ich schon so müde gewesen. Ob es am Schnee und an der Kälte liegt?! Du weißt ja, sobald in Berlin eine Schneeflocke fällt, selbst wenn sie so klein ist, dass man sie nur unter einem Mikroskop erkennt, dann ist Chaos pur angesagt. Als ob die Leute vergessen hätten, ihre Gehirne einzuschalten. „Huch, Eisblumen am Fenster. Ich muss jetzt in Panik geraten!“

War es am Montag oder Dienstag gewesen? Weiß ich nicht mehr. Könnte auch Mittwoch gewesen sein. Jedenfalls, da ich mit dem Bus zur Schule fahre und dieser im Moment immer zu spät kommt, wollte Mutti mich hinfahren. Was sie dann auch tat. Aber zuvor musste das Eis von den Scheiben gekratzt werden. Papi wollte das unbedingt für Mutti machen. Er argumentierte, dass das schließlich seine eheliche Pflicht sei, seinem ihm anvertrautem Weibe auch in schlechten Zeiten beizustehen. Auf diese nur sarkastisch gemeinten Worte reagierte Mutti mit einem Fingerzeig gegen ihre Stirn und erwiderte, er habe die letzten zwei Tage auch kein Eis gekratzt und wäre gleich zur U-Bahn abgehauen. Aha, es war also Mittwoch. Ich wollte auch irgendetwas sagen und meinte: „Zum Eiskratzen brauchen wir keine Männer!“

Ich weiß, ich weiß. Das war wieder so ein Moment, bei dem die gedachten Worte im Kopf ganz anders klingen, als wenn sie dann gesprochen werden.

Papi wusste dazu gar nichts zu sagen und guckte mich völlig überrascht an. Mutti lachte und verwies auf seine Tapezier- und Streichkünste in Oma Hildes alter Wohnung. Sie wollte nur ungern, dass ihr heiß und innig geliebter Opel „Popel“ Corsa so aussieht wie die Wände in der Wohnung. Du musst nämlich wissen, liebes Tagebuch, der Vermieter war mit dem Ergebnis äußerst unzufrieden. Papi musste dann einen Handwerker bestellen und hatte umsonst gearbeitet. Du glaubst gar nicht, wie sehr er sich darüber geärgert hat. Schließlich hätte er diese Zeit für sein Buch nutzen können, so sagte er jedenfalls. Gedacht habe ich, und ich glaube auch Mutti, dass er die Zeit mit seiner Mutter hätte verbringen können. Auch dieses Wochenende hat er sie nicht besucht. Mutti und ich waren am Samstagnachmittag und heute Vormittag bei ihr. Sie wollte vor ihrer Terrassentür ein bisschen Grünzeug haben. Papi sagte dazu, Oma Hilde würde sich also schon selbst ihr Grabschmuck besorgen. Da sei sie im Totenheim ja genau richtig. Mutti ist dann ganz schön laut geworden und nannte ihn einen kindischen Feigling.

Ja, genau, wir sind alle schon wieder so gestresst.

Ich wollte den Streit gleich im Keim ersticken und erklärte schnell, dass es sich nur um eine Winterdekoration handelt. Ein paar Zweige Fichte, vielleicht war es auch Tanne, und dann diese roten Beeren, die wir nur Vogelbeeren nennen. Dann hat Oma Hilde etwas auf ihrer Terrasse zu stehen und vielleicht kommen ja ein paar Vögel vorbei. Na, da hat Papi mich vielleicht angeguckt! Nicht so verdutzt wie am Mittwochmorgen. Aber so, als ob er sich ertappt fühlte. Dabei habe ich mit dem Teil, dass vielleicht ein paar Vögel vorbeikommen, gar nicht an Papi gedacht und auch nicht, um ihm an einen Besuch bei seiner Mutter zu erinnern.

Im Moment haue ich immer wieder solche Dinger raus. Also Sätze, die mir einfach entgleiten und über die ich mir keine Gedanken mache. Auf die Idee, dass meine Worte vielleicht jemandem wehtun könnten, komme ich einfach nicht. Wie zum Beispiel an diesem Mittwochmorgen beim Eiskratzen. Mutti und ich waren so vertieft bei der Sache, dass wir gar nicht bemerkten, wie plötzlich jemand hinter uns stand. Ich erschrak, als der Typ lallte: „Ja, ja, ganz schön vereist.“ Dazu hat er auch noch gestunken und sah aus, als wäre er gerade jemanden oder etwas von der Schippe gesprungen. Alles zusammen hat mich so wütend gemacht, dass ich sagte: „Ja, Opa. Geh mal einen saufen. Dann wird dir schon wieder warm ums Herz.“ Der Mann nickte nur und ging seiner Wege. Aber Mutti kochte vor Wut. Sie meinte, ich solle mir erst mal mehr Menschenkenntnis aneignen, bevor ich über andere urteile. Das hat mich bis zur großen Pause beschäftigt. Ich erzählte Julia davon und im Moment des Erzählens ging mir schließlich ein Licht auf. Der Mann sah zwar aus wie ein Schwein, aber sein Verhalten war es ganz und gar nicht. Sicher wollte er nur einen kurzen Moment Gesellschaft haben und weil man als Obdachloser, wenn er denn überhaupt einer war, meistens nur unter seines Gleichen ist (Ja, ich weiß, das hört sich schlimm an), weiß man wahrscheinlich nicht so richtig, wie man jemanden anspricht. Julia hat mir dann zur Aufmunterung ihren Snickers gegeben. So habe ich dann auch diesen Schultag geschafft.

Gestern, fällt mir gerade ein, habe ich noch mal so ein ähnliches Intermezzo gehabt.

---ENDE DER LESEPROBE---