Don`t let it get you, Ben! Du bist nicht allein - Doreen Gehrke - E-Book

Don`t let it get you, Ben! Du bist nicht allein E-Book

Doreen Gehrke

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Beschreibung

Bei »Don`t let it get to you, Ben! Du bist nicht allein.« handelt es sich um ein Jugendbuch/Buch für junge Erwachsene. Es ist der erste Band der sechsbändigen Don`t let it get to you!-Reihe, die die Geschichten von drei Teenagern erzählt. Ein Neueinstieg in den Bänden 3 und 5 ist möglich, ohne zuvor vorangegangene Bände gelesen zu haben. Die vergangene Kindheit sowie gegenwärtige Erlebnisse der drei Protagonisten werden in jeweils zwei Bänden geschildert. Ben ist Musiker. Wenn er nicht essen, trinken oder schlafen müsste, würde Ben darauf verzichten, solange er nur Musik machen kann. Als Teenager ändern sich die Prioritäten aber manchmal ziemlich schnell. Seine Bandkollegen beginnen, sich anders zu orientieren und haben keine Lust mehr auf die Band. Ben, der so schon eher der sensible Typ ist, lässt sich deswegen gehen und ist weit entfernt von Don`t let it get to you! Oder wie es im Klappentext steht: Man ist für sein Leben selbst verantwortlich, und man sollte es selbst in die Hand nehmen, und nicht darauf warten, dass jemand kommt, einen an die Hand nimmt und zeigt, wie man sein Leben leben kann. Denn es heißt auch nicht umsonst »Können liegt im Wollen«. Aber so einfach, wie es sich anhört, ist es meistens nicht. Äußere Einflüsse, wie Arbeit, Familie und Freunde können einen behindern, seinen eigenen Weg zu gehen. Aber nichts ist schwerwiegender, als sich selbst im Weg zu stehen. Es wird keine neue Band kommen, die mit Ben Musik machen möchte. Er muss es schon selbst in die Hand nehmen. Gegen seine Abneigung zu Musik-Shows, die ständig und überall herumgeistern, nimmt Ben an einer teil. Dort versucht er, sich durchzuschlagen. Das ist alles andere als einfach für ihn. Denn Ben hat noch nicht verstanden, dass er im Leben immer wieder mit Leuten zu tun haben wird, von denen er nicht viel hält. Zudem wird Ben immer mal wieder in Situationen geraten, die es einem schwermachen, mit ihnen zurechtzukommen. Hinzu kommt, dass Bens Umfeld alles andere als perfekt ist. Zu Hause gibt es immer wieder finanzielle Probleme. Es gibt kriminelle Freunde. Eine alleinerziehende Mutter, die sich für ihre Kinder halb tot gearbeitet hat und an Depressionen und Angstzuständen leidet. Daher kommt Vieles zusammen, was für Ben kaum zu verkraften ist. In diesem Buch geht es nicht nur um das Abenteuer »Musik-Show«, sondern vielmehr um Familie und Freundschaft.

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Doreen Gehrke

Don`t let it get to you, Ben!

Du bist nicht allein.

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Sämtliche Texte in diesem E-Book wurden ohne Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de/ abrufbar.

https://www.doreen-gehrke-verlag.de/

Alle Rechte: © Doreen Gehrke Verlag, 2014

2. Auflage, Doreen Gehrke Verlag, 2024

Abbildungen zu „Don`t let it get to you!“ Band 1 - 3: © Marie Sann

ISBN: 978-3-9820009-5-4

Sommer 2013

Mit Supernova Tommy Boy im Kopf und neuer Stärke im Herzen fuhr ich weiter zum Bahnhof. Ich fühlte mich frisch, aufgetankt, brannte vor lauter Energie und konnte es kaum erwarten, nach Jacksonville zu fliegen. Noch vor ein paar Monaten hatte ich nicht geglaubt, das Leben jemals so positiv sehen zu können, schon gar nicht mit einer derart starken Lust darauf. Noch nie hatte ich den Wunsch empfunden, das Leben in vollen Zügen auskosten zu wollen. Jeder einzelne Moment würde von nun an wahrgenommen, genossen und gelebt werden. Das Leben ist einzigartig. Das Leben ist schön. Um diese Einstellung zu erlangen, musste ich viele Tiefs durchqueren, viele Steine aus dem Weg räumen und so vieles lernen, um zu verstehen. Vor allem musste ich lernen, mich zu verstehen. Es war ein weiter Weg, von dem ich berichten möchte, und er begann, wie für viele Teenager, in der Schule.

Erstes Kapitel – Das gewisse Etwas

Damals hatte ich nur wenige Freunde. Ich war nicht besonders beliebt und versteckte mich vor anderen Schülern in der Rolle des Außenseiters. Für mich schien das kein Problem zu sein, denn ich hatte meine eigene Band und das war meine Welt.

Wir trafen uns mehrmals in der Woche bei Franky. Eigentlich heißt Franky Francois, weil seine Mutter Französin ist und unbedingt für ihre Kinder einen französischen Vornamen haben wollte. Franky hatte mal gemeint, er und seine drei Schwestern hätten nur französische Vornamen bekommen, damit ihr Vater sich stets daran erinnerte, dass ihre Mutter für ihn ihr Heimatland verlassen hatte und er das gefälligst zu würdigen hätte. Er spielte die E-Gitarre. Er hatte sich stets bemüht.

Die Bassgitarre spielte Leon-Pascal. Auch so ein doofer Name. Man sollte sich für die Namensgebung vielleicht ein bisschen Zeit nehmen, hatte ich gedacht, als ich ihn das erste Mal getroffen hatte. Eine groß gewachsene Statur, sogar mit Muskeln bepackt. Den hatten wir nicht bei seinem Namen nennen können. Wir hatten ihn Mücke getauft. Mücke war ein paar Jahre älter als ich und jobbte mal hier und mal dort und mal auch gar nicht. »Ich bin ein richtiger Rocker!« Dieser Satz war seine persönliche Note. Immer wenn es Streit gab, nutzte er ihn, um klarzustellen, dass ihm etwas nicht passte, weil er ja ein Rocker war und Rocker müssten so sein wie er und spielen wie er. Mücke war zwar nicht der Chef, aber irgendwie dachte jeder, der uns sah, dass er es sei. Manchmal, wenn wir irgendwo spielten, dachten die Leute auch, er sei unser Manager. Das war super. Mit einem Manager, selbst wenn er noch nicht mal einen Schulabschluss hatte, kamen wir in Clubs, in denen wir niemals hätten spielen dürfen. Merkwürdigerweise störte es nie jemanden, dass unser Manager auch gleichzeitig unser Bassist war.

Schlagzeug spielte Junior. Eigentlich Samuel A. Jefferson II, aber alle nannten ihn Junior. In so einer Kleinstadt, wie es Sleepy Water nun mal war, konnte sich keiner verstecken. Wenn an der Tankstelle Bier geklaut wurde und es hieß, es war Junior, wusste man, wer gemeint war. Junior spielte Schlagzeug mit Ausdauer und Leidenschaft. Er war immer schneller als wir.

Dann gab es da noch mich, Ben. Eigentlich Benjamin, aber Benjamin klang mir nie erwachsen genug. Ich war der Frontmann der Band, sang und schrieb die Songs, und manchmal hatte auch ich eine Gitarre in der Hand. Aber singen und spielen zusammen war noch nie eine Stärke von mir. Meine Stärke lag eher darin, die Band zusammenzuhalten und alle zu motivieren, weiterzumachen. Aber mit der Zeit wurde es immer schwieriger, alle Bandmitglieder zu einer bestimmten Zeit zusammenzukriegen und zu proben.

Die Garage von Frankys Mom als Proberaum war für mich schon ein zweites Zuhause geworden. Wenn meine Mom mich zu Hause nicht finden konnte, rief sie einfach bei Franky an und wusste dann Bescheid. Mittlerweile müsste in unserem Proberaum der Staub schon drei Meter hoch liegen, und an Auftritte war schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu denken.

Mücke jobbte immer häufiger, weil angeblich seine Freundin so viel kosten würde, und die anderen, die ich zwar jeden Tag in der Schule sah, hatten so ihre Termine, wie Basketball, Nachhilfe, mit Mom einkaufen fahren oder Hausaufgaben machen. Wobei die letzten beiden genannten Ausreden für mich immer wie »Ich habe kein Bock drauf!« klangen und im Grunde nicht hinzunehmen waren. Aber was sollte ich machen?

Als Teenager oder junger Erwachsener, wie Mücke, ändern sich die Prioritäten manchmal schneller, als man dachte. Für mich aber sollte die Band mal alles sein, aber dann war sie nichts. Nach der Schule hing ich einfach nur so rum, guckte Fernsehen oder lag auf meinem Bett und starrte die Decke an. Aber manchmal, manchmal da erwischte es mich so richtig. Ich nahm einen Block zur Hand und schrieb meine Gedanken auf. Und aus meinen Gedanken wurden meine Songs. Meine Songs, meine, für mich ganz allein, weil ja niemand mehr da war, mit dem ich sie hätte teilen können. Das machte mich fertig.

»Mark Twain soll einmal gesagt haben: Twenty years from now you`ll be more disappointed by things you didn`t do than by the ones you did do. So, throw off the bowlines. Sail away from the save harbor, catch the trade winds in your sails. Explore. Dream. Discover.«¹, hörte ich die Stimme meiner Englischlehrerin, als ich mal nicht aus dem Fenster schaute und an mein langweiliges Leben dachte. Mark Twain hatte recht, und ich spürte, wie meine Wangen Feuer fingen, weil ich mich so sehr angesprochen fühlte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich als alter Mann Pfeife rauchend auf der Veranda meines abrissreifen Schuppens in einem Liegestuhl sitze, hinaus auf den großen Mississippi schaue und dabei meine vertanen Chancen vorbeiziehen sehe. Mir wurde schlecht, und ich wäre am liebsten aus dem Klassenzimmer gelaufen. So erging es mir manchmal, wenn die Zeit wie Gummi war und ich am liebsten ganz woanders gewesen .

Die Noten in der Schule wurden schlechter und meine Mom deswegen gereizter. Nicht, dass ich jemals zuvor dem Unterrichtsverlauf Aufmerksamkeit geschenkt hatte, aber irgendwann lag die Konzentration wirklich nur noch bei null Prozent. Mein Dasein war nur noch physischer Natur. Ich ging durch die Flure, nein, eigentlich schlurfte ich durch die Flure. Ich schlurfte mit einer dicken schwarzen Wolke im Schlepptau, die kurz davor war, mich zu überrollen. So fühlte es sich jedenfalls an. Wenn ich dann doch mal meinen Kopf hob und die Blicke anderer Schüler erhaschte, bildete ich mir ein, dass sie mich verstünden und mir mit ihren verstörten und ängstlich dreinschauenden Gesichtern ihr Mitgefühl äußerten.

Aber weit gefehlt. An einem Dienstagvormittag stand auf einmal Susi vor mir. Und das war wirklich nicht zu fassen. Denn es war ja nicht irgendeine Susi, sondern meine hübsche Nachbarin-Susi, und ihre schönen langen schwarzen Haare hatte sie gleich mitgebracht. Ich erinnerte mich, wie wir früher bei uns im Garten Fangen und Verstecken gespielt hatten. Das war bevor ihr besessener Vater die Grenze zwischen unseren Grundstücken hatte brettern lassen. Dann waren wir mit den Fahrrädern abgehauen oder zum Kiosk gelaufen und hatten uns Süßigkeiten gekauft. Aber dann, als die pubertären Mädcheninteressen wie Nägel lackieren und Schminken aufkamen, hing sie nur noch mit der coolen Janine und deren Gefolge rum. So eine Tussitruppe. Das hätte ich mir damals von Susi nie vorstellen können.

Aber dann stand sie vor mir, und die Welt stand still.

»Ben!«, rief sie.

Wahrscheinlich hatte sie es bereits dreimal rufen müssen, bis ich es endlich mitbekam. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sagte ich: »Ja, ich bin hier.«

»Ich weiß, dass du hier bist. Du stehst ja direkt vor mir. Was ist los mit dir? Du schleuderst hier durch die Gegend rum, als ob du ein Attentat vorhättest. Du weißt doch, wie empfindlich alle geworden sind. Wäre ja nicht das erste Mal, wenn ein Outsider Leute abknallt. Geht es dir gut, Ben?«

Da war sie wieder, meine Susi, wie ich sie kannte. »Schleudern«, »Outsider« oder »Leute abknallen«. Solche Ausdrücke würde die ach so kultivierte Tussitruppe bestimmt nicht benutzen.

»Es geht mir gut«, stolperte es aus mir heraus, und ich spürte, wie meine Mundwinkel beinahe meine Ohren erreichten.

»Du siehst aber nicht besonders gut aus«, erwiderte Susi und sagte weiter: »Irgendetwas ist mit dir. Komm, lass uns nach Hause gehen!«

Es war wirklich erstaunlich. Beinahe wie in alten Zeiten hauten wir einfach ab. Warum sollten wir auch in der Schule bleiben? Ich hatte ihr schließlich viel zu erzählen. Allerdings sprudelte es nicht gerade wie ein Wasserfall aus mir heraus. Bis zum Verlassen des Schulgeländes huschte kein Wort über meine Lippen. Ich dachte an früher, an die Zeit, als noch nicht alles so kompliziert war.

Mir fielen unsere Fahrradtouren ein, und ich wollte diese gerade zum Besten geben, als Susi das Wort ergriff: »Ben, du weißt doch, dass ich dein Freund bin, oder? Wenn du jemanden zum Reden brauchst, dann kannst du ruhig mit mir reden. Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen, aber du kannst mir Geheimnisse anvertrauen. Bei mir sind sie sicher. Ich denke jedenfalls, dass dich irgendetwas belastet, und du solltest diese Last loswerden, bevor sie dich ganz kriegt und es zu spät ist. Eigentlich habe ich in letzter Zeit nichts gehört, aber hast du wieder Streit mit deinem Bruder gehabt?«

Ich blieb stehen. Waren mein Bruder und ich wirklich so laut? Ich schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, ich hatte mit Charly schon lange keinen Streit mehr. Er kommt aber auch nicht mehr so oft. Seine Freundin und er haben sich eine Wohnung genommen. Er kommt nur noch zum Wäsche waschen.«

Susi lächelte. Sie sah einfach umwerfend aus und mit ihrer sarkastischen Art, die ich schon früher so mochte, sagte sie: »Was? Seine Emanzen-Freundin wäscht seine Wäsche nicht?«

Wir lachten und gingen weiter.

Ich hoffte, wir könnten uns immer noch so gut verstehen, wie wir es früher einmal taten. Mich ihr anzuvertrauen, fiel mir dann nicht schwer, und ich begann zu erzählen. »Ich will Musik machen. Etwas anderes spielt in meinem Leben keine Rolle mehr. Wenn ich nicht atmen, essen und schlafen müsste, würde ich selbst darauf verzichten, weil auch das nicht so wichtig ist wie die Musik. Ich bin aber allein. Meine Band ist mir irgendwie davongelaufen und das frustriert mich so, denn ich habe so eine Lust, Musik zu machen. Kannst du dir das irgendwie vorstellen?«

Susi nickte.

»Ja, ehrlich gesagt kann ich das ganz gut. Man fühlt sich blockiert. Es ist irgendetwas da, was einen daran hindert, es einfach zu tun. Und dieses ›Etwas‹ muss man ausschalten, dann klappt es auch.«

Was war das denn? Sprach sie vielleicht über sich selbst? Hatte sie selbst ein Problem?

»Redest du jetzt von dir? Du kannst mir auch etwas anvertrauen«, bot ich ihr mit einem Lächeln an.

Sie schaute mir direkt ins Gesicht, mit einer ernsten Miene, die mir neu war, und mir kam der Gedanke, dass ich Susi vielleicht doch nicht so gut kannte.

»Nein, Ben. Wenn du etwas machen möchtest und du versuchst es nicht einmal, dann wirst du das irgendwann bereuen. Und wenn es erst Jahre später ist. Stell dir vor, du machst dein Leben lang etwas, was du vielleicht nicht ausstehen kannst. Und das jeden Tag. Jeden Tag funktionierst du wie ein Roboter. Leblos, gefühllos, weil es diese scheiß Gesellschaft vielleicht so will und du selber zu schwach zum Ausbrechen bist. Und dann kommst du spät abends, nach was weiß ich wie vielen Überstunden, nach Hause, bist total fertig und deprimiert, und lässt deine ganze Wut an deine Familie aus. Das ist doch schlimm, oder nicht? Und ich will nicht, dass du auch so wirst. Ben, es wird keine neue Band kommen und an deine Tür klopfen und sagen ›Mach mit uns Musik!‹. Du musst es selber in die Hand nehmen. Such dir neue Leute. Oder geh doch mal zu einer dieser Castings. Du kannst doch singen. Selbst wenn du nicht die beste Stimme haben solltest, reicht es unter Umständen trotzdem, weil du vielleicht das gewisse Etwas hast.«

Ich dachte an Mark Twain, der im Grunde das Gleiche gemeint hatte. Aber anders als er, erhielt ich von Susi konkret einen Vorschlag, der mich allerdings wütend machte.

Empört polterte ich: »Also, zu so einer bescheuerten Musik-Show gehe ich ganz bestimmt nicht!«

Aber sie lächelte nur und ließ nicht locker.

»Warum denn bescheuerte Musik-Show? Du könntest erst einmal auf dich aufmerksam machen. Leute kennenlernen. Stell dir vor, du gehst da hin und dann sind dort auch Jungs wie du, und ihr schmeißt euch zusammen zu einer Band. Warum soll das nicht möglich sein? Und außerdem musst du erst einmal durch ein Casting, um überhaupt bei einer Show zugelassen zu werden. Und dann kannst du dir ja immer noch überlegen, ob du das machen willst. Ich finde Castings eigentlich richtig gut. Du gehst hin, stellst dich vor, bekommst eine Kritik, vielleicht sogar ein paar Tipps, und dann gehst du eben wieder. Das ist doch nicht schlimm. Die Shows sind vielleicht manchmal sehr oberflächlich, aber du kannst sie ja, zumindest stell ich mir das so vor, zu deinem eigenen Nutzen benutzen. Weißt du, wie ich das meine? Ich finde, du solltest es probieren. Chancen fliegen dir nicht entgegen, Ben, sondern eher vorbei. Du musst sie einfangen und festhalten!«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Es brodelte in mir, denn ich wusste, sie hatte recht. Auch, dass ich ein Schisser bin wusste sie, das war ich schon immer. Ich konnte dann nicht mehr mit ihr reden und verabschiedete mich mit der Ausrede, noch an der Tankstelle etwas besorgen zu müssen.

An der Tankstelle angekommen, hätte mich beinahe Frankys Mutter überfahren. Hätte sie in diesem Moment nicht woanders sein können?!

Sie stieg auch sofort aus und stammelte: »Bist du irre, du Idiot! Ach, Ben, Chéri, was machst du denn hier? Müsstest du nicht in der Schule sein?«

»Nein, die letzten zwei Stunden fallen heute aus«, antwortete ich nüchtern und ging an ihr vorbei.

»Hm, was fällt denn bei dir aus?«, fragte sie.

Ich blieb stehen, rollte mit den Augen und hätte die Frau erwürgen können.

»Sag mal Ben, du warst ganz schön lange nicht mehr bei uns. Macht ihr keine Musik mehr zusammen? Francois, du und die anderen?«

»Na ja, weiß nicht so genau. Ich …«

»Dann ist ja gut. Ich wollte schon längst die Garage zu einer 1-Raum-Wohnung umbauen lassen. Warum etwas ungenutzt lassen, wenn man damit Geld verdienen könnte, nicht wahr?«

Dann schwang sie sich in ihren Wagen und brauste los. Ein Mann, der an Säule 4 seinen Wagen tankte, schrie ihr noch hinterher: »Fahren Sie gefälligst ordentlich! Sie sind hier nicht in Frankreich!«

Auf diese Weise war ich den Proberaum auch noch losgeworden. Damit war es endgültig. Meine Band existierte nicht mehr.

Ich schleppte mich in das Tankstellengebäude. Da starrte mich July May an, gephotoshopt auf dem Cover des Rolling Stone. Hübsch ist sie ja, mit ihren schwarzen Haaren und den blauen Kulleraugen. Trotzdem fand ich, dass sich jedes ihrer Lieder fast gleich anhörte. Unglaublich, wie schnell sie erfolgreich geworden ist. Offensichtlich hatte sie das gewisse Etwas.

Plötzlich landete eine dicke Hand, sanft, aber bestimmt, auf meiner Schulter. »Junger Mann! Wenn du die Zeitschrift lesen willst, dann musst du sie auch kaufen!«, züngelte der Tankwart.

Mit der Zeitschrift in meiner Hand und meinem so schon chronisch klammen Geldbeutel in der Tasche schlurfte ich nach Hause. Wann war dieser Tag nur endlich vorbei? Es sollte noch eine Weile dauern.

Zu Hause angekommen, landete die Zeitschrift erst einmal in der Ecke. Ich schmiss mich aufs Bett und schloss meine Augen, die ich im nächsten Moment gleich wieder öffnete, weil ich merkte, wie mein Bruder neben mir stand.

»Was machst du denn hier? Ist die Schule schon vorbei?«, fragte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Ich antwortete ganz nüchtern und ohne jedes schlechte Gewissen: »Nein, ich musste vorzeitig abhauen. Ich hielt es heute einfach nicht mehr aus.«

»Wieso? Hast du Stress mit ein paar Lehrern oder Schülern?«, fragte er weiter.

Ich überlegte und sagte leise: »Nein, eher mit mir selbst.«

Er setzte sich auf die Bettkante und fragte: »Hast du Lust, darüber zu reden? Die Waschmaschine läuft bestimmt noch eine halbe Stunde.«

»Ich weiß nicht. Im Moment ist einfach alles scheiße! Meine Band gibt es jetzt endgültig nicht mehr. Frankys bescheuerte Mom will die Garage vermieten. Und wenn wir nicht einmal mehr einen Proberaum haben, dann haben wir auch keinen Ort, wo wir uns treffen können, und darum auch keinen Grund mehr, uns zu treffen.«

Charly nickte. »Hm, ja, so ähnlich lief es damals mit meiner Band auch. Als Teenie willst du unbedingt ein Rockstar sein. Auf Schule hast du keine Lust mehr, weil du die ja nicht mehr brauchst, denn schließlich wirst du mal berühmt sein, und als Berühmtheit brauchst du keinen Schulabschluss. Doch irgendwann verändert sich das Ganze. Die Band spaltet sich in zwei Lager. Das eine Lager will weitermachen und ist sehr ambitioniert, schläft nicht, isst nicht, wäscht sich nicht einmal. Und dann gibt es das andere Lager. Das fängt auf einmal an rumzubrüllen: ›Wir müssen endlich mal erwachsen werden! Wir müssen Geld verdienen! Um Geld verdienen zu können, müssen wir eine Ausbildung machen! Um eine Ausbildung zu bekommen, brauchen wir einen Schulabschluss!‹ Dann saß ich wieder auf der Schulbank. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Es gibt diese blöden Musik-Shows, mittlerweile auf fast jedem Sender. Alles sieht so einfach aus. Wenn man die Kandidaten sieht, denkt man: ›Das könnte ich doch viel besser machen!‹ oder ›Eigentlich müsste ich da stehen!‹. Aber du kannst die tollste Stimme haben, Gitarre auf dem Rücken spielen. Das nützt dir alles nichts, wenn du nicht das gewisse Etwas hast. Denn heutzutage brauchst du das.«

Da war es schon wieder, das gewisse Etwas.

»Und was ist das gewisse Etwas?«, wollte ich genervt wissen.

»Also, wenn ich mir die zahlreichen Möchtegern-Stars so anschaue, die für nichts unverschämt viel Geld verdienen, dann würde ich sagen, nach einem clever ausgeklügelten Konzept zu funktionieren. Dann kannst du heute sehr erfolgreich werden.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich mit meiner Musik sehr erfolgreich sein will. Aber ich weiß, dass ich Musik machen will, und zwar meine Musik. Und ich sehe, dass ich im Moment so gar nichts an Musik machen kann. Ich wünschte, ich hätte ein paar Leute um mich herum, die … Ach, ich weiß auch nicht.«

Ich drehte mich zur Seite und schaute aus dem Fenster.

»Ist schon in Ordnung, Bruderherz«, sagte Charly und tätschelte meine Schulter.

»Ich komme übrigens heute Abend zum Essen. Sagst du Mom Bescheid?«

»Ja, mach ich.«

Daraufhin verließ Charly mein Zimmer, und ich war mit mir und meinen Gedanken allein.

Und wie ich so zum Fenster schaute, sah ich sie wieder. Susi, meine Susi, meine einzige Freundin und vielleicht auch mein einziger Freund.

Ihr Fenster war schräg gegenüber von meinem, und immer wenn ich auf dem Bett lag und zum anderen Haus schaute, konnte ich einen Blick in ihr Zimmer werfen. Ich sah, wie sie, ich konnte es kaum glauben, Hausaufgaben zu machen schien. Es war noch nicht mal mittags. Sie saß am Schreibtisch, ihr Kopf war gesenkt, und sie schien, etwas zu schreiben. Nicht zu fassen. Normalerweise machte man Hausaufgaben nachts oder morgens, bevor die Schule begann. Ich jedenfalls hatte nicht mehr den Elan, Hausaufgaben zu machen, drehte mich zur Seite und schlief ein.

Zweites Kapitel – Das schlechte Gewissen

Es war bereits abends, als Mom die Treppe heraufpolterte, in mein Zimmer stampfte und mir einreden wollte, dass ich mich mit meinen siebzehn Jahren doch langsam mal zusammenreißen solle und wenigstens einen Tag Schule aushalten müsse, denn ich ginge ja schließlich nicht wie sie von morgens bis abends arbeiten. Sie habe doch etwas Besseres verdient, als auf Arbeit einen blöden Anruf von dieser französischen Kuh aus der Gesellschaft der Besserverdienenden zu bekommen, die noch nie in ihrem Leben gearbeitet haben soll und ihr vorschrieb, sie müsse ihre Kinder besser erziehen.

»Weil ich ja auch so viel Zeit habe wie diese Tussi, dass ich ständig mit meinem Mercedes durch die Gegend fahren und nach meinen Kindern Ausschau halten kann, ob diese auch ja in der Schule sind. Die Schlampe hat doch überhaupt keine Ahnung, wie es ist, alleinerziehend zu sein. Denkst du, ich fand es toll, als sie mich angerufen hat und durchs Telefon schrie, sie würde das Jugendamt informieren? Was bildet sich diese blöde Kuh eigentlich ein? Und dann noch meine Kollegen, die haben das alles mitbekommen. Diese Arschlöcher, die nur darauf warten, dass ich endlich kündige und mich verpisse. Weißt du, wie das ist, jeden Tag mit einem enormen Druck zur Arbeit zu gehen, ja nichts falsch zu machen, denn bei der ersten Gelegenheit schmeißen sie mich raus? Das kennst du nicht Ben, weil du keine Familie zu versorgen hast. Du musst keine Rechnung bezahlen, denn das mache ich, und ohne Job geht das nicht.«

»Ich weiß Mom. Tut mir leid. Ich reiß mich jetzt zusammen. Das war das letzte Mal. Versprochen.«

Sie setzte sich aufs Bett und nahm mich in ihre Arme. Ich liebte meine Mom. Ihren Geruch würde ich nie vergessen.

»Ben, irgendwann wird es dir wieder besser gehen. Charly hat es auch geschafft. Du kannst auch etwas anderes machen als Musik. Es ist sowieso meistens eine brotlose Kunst. Du musst es dir nicht so schwer machen. Du bist doch ein kluger Junge. Wenn du jetzt noch ordentlich ranklotzt, kriegst du vielleicht doch noch ein Stipendium und kannst aufs College gehen.«

»Ich weiß Mom. Ist schon gut, Mom.«

Ich löste mich von ihr und schaute sie an. Ihr Lächeln war herzlich.

»Ich gehe jetzt runter in die Küche und koch für uns. Okay?«

»Okay, Mom. Ich soll dir übrigens von Charly sagen, dass er heute Abend zum Essen kommt.«

»Ach so, na ja. Ein Esser mehr wird uns schon nicht umbringen.«

Sie verließ mein Zimmer im selben Tempo, wie sie es betreten hatte, und ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen. Ich starrte die Decke an und dachte nach. Im Grunde hatte Mom recht. Ich sollte nicht so egoistisch sein. Ich könnte auch noch später Musik machen, nach der Schule, nach dem College und vielleicht nach ein paar Jahren Arbeit, wenn ich etwas Geld gespart hätte. Mom war doch die Beste, sie baute mich immer wieder auf.

Ich drehte mich zur Seite. Susi war nicht mehr an ihrem Schreibtisch. Es war ja auch schon abends. Man konnte ja nicht den ganzen Tag Hausaufgaben machen. Ich fragte mich, was sie gerade in diesem Moment, als ich auf dem Bett lag, machte.

Als ich so darüber nachdachte, fühlte ich mich auf einmal beobachtet. Ich rollte auf die andere Seite, und da stand sie, die kleine Göre vom Zimmer gegenüber. Ein kleiner Giftzwerg, gerademal 1,42 m groß, mit langen dunkelblonden Haaren und einem Grinsen im Gesicht, das selbst den Joker erschrecken ließ. Meine kleine Schwester Samantha. Der ganze Stolz meiner Mutter.

»Na, du Nervensäge. Hast du wieder alles mit angehört?«, fragte ich erwartungsvoll.

»Ja, es war sehr aufschlussreich, und ich habe wieder etwas für mein Tagebuch. Vielleicht kann ich damit irgendwann viel Geld verdienen. Man weiß ja nie.«

»Du sollst nicht immer so frech sein, du kleine Klugscheißerin! Ich bin hier der Mann im Haus, also hab gefälligst Respekt vor mir!«

Über diese Bemerkung mussten wir beide natürlich lachen. Eher war sie es, die von uns beiden die Hosen anhatte.

Sie sprang auf mein Bett, und ich kitzelte sie. Ich mochte sie schon immer. Selbst als sie als Baby die Windel voll hatte, mochte ich sie. Sie hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Der kleine Sonnenschein in unserer Familie. Aber mit elf Jahren ist wahrscheinlich noch jeder so unbekümmert wie sie, und das ganze Leben ist wie Friede, Freude, Eierkuchen.

Meine Mutter hatte drei Kinder von drei Männern, aber sie war eine gute Mutter. Dass sie sich immer die falschen Männer ausgesucht hatte, war eben Pech gewesen. Es gab uns nun mal, und ich wusste, sie hatte es nie bereut. Ich war stolz auf meine Mom. Alleinerziehend mit drei Kindern war schon eine große Leistung. Selbst wenn Charly vor kurzem zu seiner Freundin gezogen war, wurden die Kosten nicht viel geringer.

Samantha erzählte mir von ihrem Schultag, der für sie auch nicht so besonders gut verlaufen war. Sie erzählte, sie habe in Mathe nur ein B bekommen und das würde ihr ganz schön zu schaffen machen. Außerdem sei das Mittagsessen immer viel zu viel und sie habe ihren Pudding nicht mehr geschafft. Solche Probleme wollte ich mal haben.

»Es war einfach eine viel zu große Portion, Ben. Man könnte doch verschieden große Portionen anbieten. Ich würde dann die kleinere Portion für weniger Geld nehmen und könnte noch dabei sparen. Das wäre doch gut, oder nicht?«

Ich lächelte und strich ihr übers Haar. »Du brauchst nicht zu sparen, Sam. Wir kommen schon klar. Lass dir einfach mehr Zeit beim Essen, dann geht auch noch der Pudding rein.«

Ich liebte meine Schwester. Sie war sehr klug und hatte bereits mit ihren jungen Jahren ein unglaublich gutes Gespür für Menschen.

Dann erzählte sie mir noch von einem Jungen, der Tobi hieß. Er würde immer ihre Bücher tragen wollen, aber sie würde das nicht wollen und wisse nicht, wie sie ihn loswerden solle. Als älterer Bruder hätte ich natürlich das Recht, mir diesen Tobi mal zur Brust zu nehmen, aber ich glaubte, ihre Bücher zu tragen war dafür noch nicht schwerwiegend genug. Außerdem schien Sam eher den Eindruck zu machen, als würde es ihr doch gefallen, dass Tobi ihre Bücher tragen wollte, und sie bräuchte nur jemanden, mit dem sie darüber reden konnte.

»Du kannst diesem Milchbubi ruhig deine Bücher geben, denn ich glaube, der will nur mit dir quatschen. Falls du dann den Eindruck hast, er will doch etwas anderes, als nur deine Bücher tragen, dann sagst du mir Bescheid, okay? Ich kümmere mich dann darum.«

»Danke, Ben.«

Sie hopste von meinem Bett und war in der nächsten Sekunde schon wieder verschwunden.

Ich drehte mich zurück zum Fenster. In Susis Zimmer brannte kein Licht mehr. Sie war wahrscheinlich unten in der Küche und aß mit ihren Eltern zu Abend. Ich selber hatte auch Hunger, raffte mich vom Bett auf und polterte runter und in die Küche.

Mom war gerade dabei den Tisch zu decken. Ich hielt es für angebracht, ihr aufgrund meines Schulschwänzens zu helfen, nahm hastig das Besteck aus der Schublade und begann, es sorgfältig neben die Teller zu legen. Aus den Augenwinkeln sah ich Mom lächeln. Ich gab mir auch die größte Mühe und wollte einen guten Eindruck machen.

Dann musste ich plötzlich an Susi denken und an das, was sie mir gesagt hatte. Susi hatte schließlich auch recht, irgendwie. Ich sollte es wenigstens versuchen. Als ich gerade anfangen wollte, Mom von dem Gespräch mit Susi und der Idee, zu einem Casting zu gehen, zu erzählen, platze Charly mit einem »Danke für die Einladung, Mom.« herein.

»Mom, ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich dir deine Post mitbringe. Ein Brief guckte raus, und dann habe ich den Rest auch gleich rausgefischt«, fügte er, die Post in den Händen haltend, hinzu.

»Nein, schon gut. Ich hatte vergessen, die Post mit reinzunehmen, als ich nach Hause gekommen bin. Was ist denn dabei?«

»Nichts Besonderes. Rechnungen, wie immer. Sams Bastelzeitschrift. Und, oh, ein Liebesbrief für Ben, von Susi, seiner schönen Nachbarin.«

»Halt die Klappe, du Arsch!«, schrie ich.

Jeder wusste, dass ich heimlich in sie verliebt war, aber das musste man ja nun wirklich nicht an die große Glocke hängen.

»Ach Ben, das ist aber schön, dass du wieder Kontakt mit Susi hast. Sie ist so ein nettes Mädchen. Gut, dass sie mehr nach ihrer Mutter kommt. Ihr Vater ist so ein Arsch….«

Bevor Mom ausführlich über ihre Abneigung zu Susis Vater sprechen konnte, mischte sich Sam ein. Sie konnte sich immer fantastisch anschleichen und erklärte: »Mom, du hast gerade ein Schimpfwort gesagt. Das darf man nicht.«

»Ja Schatz, da hast du recht. Aber er hat es verdient. Und als Erwachsener darf man auch mal eine Ausnahme machen.«

Charly und ich guckten uns an.

Er, mein ach so erwachsener Bruder, begann wie ein Angestochener in der Küche herumzuhüpfen und wedelte mit dem Brief. So ein Idiot. Dann wollte er den Brief auch noch öffnen und ihn vorlesen. Ich versuchte, es zu verhindern, lief wie blöd um den Tisch herum und griff immer wieder nach dem Brief. Das gelang mir natürlich nicht. Aber gut, dass ich meine kleine Schwester hatte.

»Charly, hör sofort auf damit! Das ist total kindisch von dir. Das machen ja noch nicht mal Kinder in meinem Alter«, quietschte sie.

Sie riss den Brief an sich und gab ihn mir.

Dann gafften mich alle an. Hatten die gedacht, ich lese ihn vor? Ich wollte nach oben in mein Zimmer gehen, aber Mom bestand darauf, dass ich in der Küche blieb und erst einmal zu Abend aß.

Während des Essens, es gab übrigens aufgewärmten Eintopf, war es mucksmäuschenstill. Alle drei starrten mich an und warteten darauf, dass ich den Löffel hinlegte und meinen Brief vorlas. Einen Liebesbrief bekam man ja nicht alle Tage. Und dazu war er noch an mich adressiert. Charly hatte bestimmt schon Tausende von diesen Dingern bekommen, der kleine Charmeur. Aber wer wusste schon, ob seine Verflossenen überhaupt schreiben konnten? In Rekordzeit löffelte ich meinen Teller aus und verschwand aus der Küche, nachdem Mom mich noch darauf hingewiesen hatte, den Teller gefälligst in die Spüle zu stellen.

Ich schlug die Tür zu meinem Zimmer zu und, wie konnte es auch anders sein, mein selbst gebasteltes Eckregal fiel in sich zusammen. Handwerklich war ich nicht besonders begabt. Wenn man mich sah, zweifelte man keines Augenblickes daran. Ungeachtet dem schallendem Gelächter von unten aus der Küche, schwang ich mich auf mein Bett und begann zu lesen.

Mein lieber Ben,

ich hoffe, es ist dir nicht unangenehm, dass ich dir schreibe, aber von wem sollte ich mich sonst verabschieden, wenn nicht von dir. In der ganzen Stadt bist du der Einzige, der mir noch wichtig ist, und ich möchte, dass du weißt, was los ist.

Ich weiß, du und auch deine Familie habt schon lange mitbekommen, wie es bei mir zu Hause so zugeht. Und heute habe ich das erste Mal mit jemandem darüber gesprochen oder es zumindest angesprochen. Dieses Gerede über Chancen wahrnehmen und seine Wünsche erfüllen, schwirrte mir schon lange im Kopf herum, und heute hat es mich nun endlich dazu bewegt, das zu tun, worüber ich mit meiner Mom schon seit langem diskutiere. Ich werde die Stadt verlassen und zu meiner Tante nach New York ziehen. Das letzte Schuljahr werde ich dort verbringen. Ich bin mir mit meiner Entscheidung sicher. Ich glaube, wenn ich nicht gehe, dann würde ich mich irgendwann vor einen Zug werfen. Mittlerweile ist es so schlimm, dass mein Vater nicht mehr nur rumbrüllt, sondern schon Möbelstücke kaputt schlägt. Ich habe meine Mom schon so oft gebeten, ihn zu verlassen, aber sie hat zu viel Angst.

In ein paar Wochen beginnen die Ferien. Meine Mom bringt mich nach der Zeugnisausgabe direkt zum Bahnhof. Von dort aus fahre ich mit dem Bus nach New York und werde ein paar Tage unterwegs sein. Denn weil meine Mom von meinem Vater nur Geld zum Einkaufen bekommt, kann ich mir kein Flugticket leisten. Das macht aber nichts. Jetzt, wo ich das hier so schreibe, freue ich mich schon auf New York.

Ben, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Bitte sprich mich auf meinen Umzug nicht an, ich möchte nicht darüber reden. Es wäre vielleicht auch besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden. Mein Vater weiß nichts davon. Und wenn ich erst einmal weg bin, wird er meine Freunde ausfragen, wo ich denn bin. Niemand soll etwas darüber wissen. Nur du, meine Mom und natürlich meine Tante wissen darüber Bescheid. Und wenn ich erst einmal in New York bin, dann kann er nichts mehr machen. Meine Tante ist sehr reich, und ihr Mann ist glücklicherweise Anwalt. Hinzu kommt eine schriftliche Erlaubnis von meiner Mom, dass ich bei meiner Tante leben darf.

Es ist also kein Weglaufen, zumindest nicht aus Spaß am Weglaufen. Ich habe dich sehr gern, Ben. Das war schon immer so, und du wirst immer in meinen Gedanken sein.

In Liebe, Susi.

Noch am Vormittag hatte ich geglaubt, eine Freundin wiedergefunden zu haben, und bald sollte sie schon wieder weg sein. Dass es manchmal sehr laut bei Susi zuging, hatten wir natürlich mitbekommen. Nicht umsonst hielt Mom so wenig von Susis Vater. Sie kannte solche Männer. Aber die Tatsache, dass Susi deswegen abhauen wollte, zeigte mir, wie wenig wir dann doch mitbekommen haben mussten. Oder wir hatten nicht darauf geachtet und waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt.

Ohne Vater aufzuwachsen, war für mich nie eine Belastung gewesen, denn ich hatte ja Charly. Und für Charly selbst war es mit Sicherheit eine Befreiung gewesen, als Mom sich von Sams Vater trennte. Unvergessen und in mir eingebrannt ist der Moment, als ich damals die Treppe runtergehüpft war und meinen Bruder durch die halbe Küche fliegen sah. Mom hatte geweint, Sam hatte geweint, und Charly war an mir vorbei und aus dem Haus gerannt. Am Tag darauf war Sams Vater verschwunden und Charly wieder da.

Es gab keine perfekten Familien, auch nicht nebenan.

Ich freute mich für Susi, dass sie wegging, um keine Angst mehr haben zu müssen. Aber es zerriss mir auch mein Herz, sie vielleicht nie wiederzusehen. Selbst wenn wir uns nur noch ein Jahr in der Schule gesehen hätten und dann jeder seiner Wege gegangen wäre, hätten wir trotzdem immerhin noch ein Jahr gehabt, und es wäre nicht so plötzlich gewesen. Wie plötzlich aus dem Leben gerissen. So, als ob sie schon am nächsten Tag nicht mehr da wäre und die Susi, die ich in den noch verbleibenden Wochen in der Schule sehen würde, wäre nur ein Geist. Susi schon, aber nicht in vollem Glanz, sondern nur verschwommen und von Tag zu Tag durchscheinender, bis sie mich am letzten Schultag unsichtbar verlassen würde. Für immer und ewig. Früher hatte ich mir unter »für immer und ewig« mit Susi eigentlich etwas anderes vorgestellt.

Ich drehte mich zu ihrem Fenster, es war wieder beleuchtet. Sie war noch da, sie existierte noch, und ich liebte sie so sehr. Ich versprach mir, ihren Wunsch zu respektieren und ihren Rat zu befolgen. Ich würde zum nächstbesten Casting gehen und mir die Seele aus dem Leib schreien. Für Susi wollte ich das machen. Als Abschiedsgeschenk. Obwohl ich wusste, meiner Mom nie mehr in die Augen sehen zu können. Aber ich konnte nicht anders und bekam wieder ein schlechtes Gewissen. Ich schaute zum Fenster, schaute, bis ich einschlief.

Drittes Kapitel – Susis Abschied

Am nächsten Morgen taten mir alle Knochen weh, und ich schleppte mich irgendwie zur Schule.

Am schwarzen Brett sah ich ein Plakat mit dem weltberühmten »I want you«-Slogan hängen. Es ging dabei um eine Musik-Show, die in kürzester Zeit starten sollte. Ein Casting würde in gut zwei Wochen stattfinden. Einen Tag nach dem letzten Schultag. Susi wäre dann auf dem Weg nach New York, und ich würde zum Casting nach Memphis fahren. Ich hatte es mir versprochen und wollte auf gar keinen Fall kneifen.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Es war Franky.

»Hey Ben, wieso glotzt du denn so auf das Plakat? Du willst doch wohl nicht daran teilnehmen, oder?«, fragte er lachend und stolzierte weiter.

So ein Arschloch! Was bildete der sich denn ein? Es gab Leute, die versuchten es wenigstens, und ich würde einer von ihnen sein. Aber Franky war so verzottelt und verwöhnt. Der bräuchte bestimmt kein Stipendium fürs College, Daddy würde schon zahlen. Ich sah ihm nicht weiter nach und entschied in diesem Moment, dass Franky und die anderen abgehakt waren.

Es gab nur noch mich und das Casting. Auf nichts anderes würde ich mich in den nächsten Wochen konzentrieren. Meine ganze Kraft würde ich in dieses Casting stecken.

Als ich mich umdrehte und ins Klassenzimmer gehen wollte, sah ich Susi. Sie kam direkt auf mich zu und schwebte dann mit der blöden Tussitruppe im Schlepptau an mir vorbei. Aber das war egal, denn sie war noch da und sah wunderschön aus. Ich hatte das Gefühl, sie leuchtete richtig, und im Vorbeigehen zwinkerte sie mir sogar zu. Susi hatte das Plakat bestimmt auch gesehen, und sie wusste, dass ich dort hingehen würde.

In den Tagen bis zum Casting ging ich gerne in die Schule, um Susi noch so oft wie möglich sehen zu können. Wohlmöglich dachte sie genauso, denn wir sahen uns immer wieder. Jedenfalls sehr viel häufiger, als wir uns in den Jahren zuvor gesehen hatten.

Nach der Schule übte ich fürs Casting. Ich hatte so einige Lieder drauf. Für alle Fälle, denn ich wusste ja nicht, was die Jury hören wollte.

Schließlich waren es dann noch zwei Tage bis zum letzten Schultag, und ich musste immer mehr an Susi denken. Da fiel mir ein, dass sie mit dem Bus tagelang unterwegs sein würde. Ich fragte mich, was wäre, wenn ich ihr ein Flugticket nach New York besorgen könnte. Sie wäre nicht so lange unterwegs. Wenn ihr Vater mitkriegen würde, dass sie irgendwo im Bus säße, könnte er die Polizei verständigen, und die würde sie dann vielleicht zurückbringen. Es wäre also besser, wenn sie so schnell wie möglich zu ihrer Tante käme. ›Wie viel kostet wohl ein Ticket nach New York‹, fragte ich mich? Keine Ahnung. Ich musste es herausfinden.

Am darauffolgenden Tag in der Schule, schlich ich mich in die Bibliothek. Dort angekommen, musste ich feststellen, dass ich nach fünf Jahren High School doch noch nicht alle Räume der Schule kannte. Mein hilfloser Blick fiel der Bibliothekarin auch gleich auf, und sie gesellte sich zu mir und bot an, mir zu helfen, was ich sofort annahm. Ich erklärte ihr, dass ich für eine Hausarbeit, die ich nachreichen sollte, einige aktuelle Informationen über den Lufttransport der USA benötigen würde und darum das Internet benutzen müsste.

Sie führte mich auch gleich zum PC-Pool und sagte: »Kleiner, da ich dich hier noch nie gesehen habe, denke ich, dass du deinen Account, den du als Schüler dieser Schule automatisch bekommst, noch nicht freigeschaltet hast. Das musst du aber machen, wenn du einen PC benutzen willst. Weißt du, wie das geht?«

Ich glotzte sie an und antwortete: »Ich will Rockstar werden. Mit Computern habe ich nichts am Hut.«

Sie lächelte ein aufgesetztes Lächeln. »Das dachte ich mir schon. Hast du deinen Schülerausweis dabei? Den brauchst du dafür.«

»Ich glaube schon.«

»Was, du glaubst nur? Na, gib mal her.«

Ich wollte ihr den Ausweis gerade geben, da entriss sie ihn mir schon aus der Hand. Irgendwie penetrant diese Frau, aber ich brauchte sie in dieser Situation.

»Wie heißen wir denn? Ach, Benjamin, Benjamin Miller. Na, Miller heißt ja nun auch wirklich Hinz und Kunz.«

Ich hätte der Frau in den Arsch treten können. Sie nutzte meine Hilflosigkeit schamlos aus. Und es ging weiter.

»Also, die Nummer ist ja kaum noch zu erkennen. Wie schlampig kann man nur mit seinem Ausweis umgehen?!«

Im nächsten Moment wäre es soweit gewesen. Ich hätte die Fassung verloren und zugeschlagen.

»So, ich glaube, das war es. Hat funktioniert. Du bist jetzt eingeloggt und kannst solange surfen, bis die Schule schließt. Das ist jetzt noch knapp eine Stunde.«

»So früh schon? Normalerweise ist bis achtzehn Uhr geöffnet«, schmetterte ich ihr selbstbewusst entgegen.

»Ja«, sagte sie, »normalerweise schon. Aber nicht kurz vor den Ferien. Da sind die Öffnungszeiten kürzer, schließlich kommen keine Schüler mehr und recherchieren für ihre Hausarbeiten. Du bist der Einzige.«

Sie grinste und wollte gerade gehen, als ihr noch einfiel, mich auf etwas hinzuweisen, was sie meinte, ich auf gar keinen Fall hätte wissen können, denn sie sagte: »Ach so, das kleine schwarze Ding, das so rot leuchtet, ist die Maus. In einer Stunde werde ich abschließen, sei bis dahin fertig, sonst schließ ich dich ein.«

›Dann wäre ich aus einem Fenster geklettert‹, dachte ich und schaute verdutzt zur vergitterten Fensterreihe.

Eine Stunde. Ich durfte also nicht zu viel Zeit verlieren und suchte erst einmal heraus, wann am nächsten Tag nach Schulschluss, also kurz nach Mittag, der Greyhound-Bus in Richtung New York fuhr. Das war um halb zwei vorm Bahnhofsgebäude. Dann suchte ich einen Flug nach New York raus, den Susi nehmen könnte. Halb sechs am Gate 12, Terminal 1. Das müsste sie schaffen, wenn sie um vierzig nach eins den Tingel-Express auf Gleis 1 zum Flughafen in Memphis nähme. Das würde ganz schön knapp werden. Ich müsste sie also vor halb zwei am Bahnhof abfangen und sie dann in den Tingel-Express nach Memphis stecken. Das bedeutete, ich müsste nach der Zeugnisausgabe so schnell wie möglich abhauen, um rechtzeitig da zu sein. Wann fuhr der Bus Richtung Bahnhof? Immer stündlich um viertel vor um oder dreiviertel nach um. Also viertel vor eins spätestens. Das wäre ja alles noch zu schaffen. Das einzige Problem, das noch bestand, galt der Bezahlung des Flugtickets. Online ohne Konto war natürlich nicht möglich. Außerdem hatte ich sowieso nicht genug Kohle. Das Geld, das ich über Jahre fürs Rasenmähen zusammengespart hatte, reichte nicht. Das musste ich noch irgendwie regeln.

Ich nahm meinen Rucksack und lief aus der Bibliothek.

Charly arbeitete in einer Großbäckerei, und er hatte an diesem Tag Spätschicht. Er müsste also dort sein. Ich lief durch die halbe Stadt zum Industriegebiet. Ich hatte Glück. Die Seitentür stand offen, und ich lief rein.

Jede Menge Bänder voll mit Brötchen und Kuchen durchliefen die Halle. Die Angestellten waren so beschäftigt, dass sie mich nicht wahrnahmen, und so lief ich quer durch die Halle. Charly stand vor einem riesigen Ofen. Mir fiel ein, dass wir noch nie über seine Arbeit gesprochen hatten. Es hieß immer, er arbeite in einer Großbäckerei, und das war es. Irgendwie war ich beeindruckt. Ich könnte so eine riesige Maschine wahrscheinlich nicht bedienen, ich konnte mich ja noch nicht einmal in einen PC einloggen.

Ich stand direkt hinter ihm und rief: »Charly!«

Er drehte sich auch gleich um und brüllte: »Bist du bescheuert hier so rumzubrüllen! Wenn dich jemand sieht! Was machst du hier?«

Ich war völlig außer Atem und brachte nur ein »Susi, es geht um Susi.« raus.

Er schob mich sofort an die Seite.

»Hör mal, ich habe jetzt keine Zeit, mir deinen Liebeskummer anzuhören. Ich arbeite hier.«

»Ich weiß, und es tut mir leid, dass ich dich störe. Aber Susi verlässt morgen die Stadt und geht nach New York. Sie darf aber nicht den Bus nehmen, weil das zu lange dauert und ihr Vater könnte sie dann finden und wieder zurückholen. Darum will ich ein Flugticket kaufen. Dafür brauche ich dich, weil ich nicht genug Kohle habe.«

Mir lief der Schweiß die Stirn runter. Ich war völlig ausgepowert.

Dann stand auf einmal sein Vorgesetzter hinter uns und blickte Charly mit einer finsteren Miene an. Charly zog das Eisen aus dem Feuer und rief zu seinem Vorgesetzten: »Das ist mein kleiner Bruder. Ich schmeiß ihn selber raus.«

Daraufhin ging er mit mir ein Stück zum Ausgang und sagte: »Pass auf! Wir treffen uns heute Abend um halb elf vorm Internetcafé auf dem Boulevard gegenüber dem Musikladen. Weißt du, wo das ist?«

»Ja, weiß ich. Okay. Bis dann.«

Ich lief aus der Halle und rief ihm noch ein »Danke!« zu.

Gut, dass ich ihn hatte. Es war aber erst halb fünf. Ich musste also noch eine ganze Zeit lang warten und ging nach Hause, wollte dort etwas essen und später zurück in die Stadt gehen. Unterwegs fiel mir ein, dass ich irgendwo in der Garage ein Fahrrad hatte. Ich könnte es für den nächsten Tag ganz gut gebrauchen, falls ich vielleicht den Bus verpassen würde, es aber doch noch rechtzeitig zum Bahnhof schaffen wollte.

Zu Hause angekommen, lief ich auch gleich zur Garage, die natürlich verschlossen war, denn schließlich könnte ja irgendjemand den ganzen nutzlosen Krempel klauen. Ich glaubte, den Schlüssel für die Garage mal in der Küche hängen gesehen zu haben.

Ich lief also in die Küche, der Schlüssel war nicht da, aber dafür Mom, die gerade den Abwasch erledigte. »Mom, hast du irgendwo den Schlüssel für die Garage gesehen?«

»Der Schlüssel ist vor Monaten mal verloren gegangen. Hätte ich den Schlüssel, hätte ich die Garage bestimmt schon mal aufgeräumt. Aber so ist es etwas schwierig.«

»Dann müssen wir die Garage eben aufbrechen. Weißt du, wie das geht?«

»Bedaure. Ich kam mein ganzes Leben noch nie in den Genuss, irgendwo einzubrechen.«

»Na, dann wird es mal Zeit. Sonst wirst du es irgendwann in deinem Leben bereuen, dass du es niemals getan hast.«

Sie war genervt, lächelte aber, warf mit dem Geschirrhandtuch nach mir und fragte: »Was befindet sich denn so Wichtiges in der Garage, dass du es unbedingt haben willst?«

»Na, mein Fahrrad!«

»Dein Fahrrad? Wann bist du denn das letzte Mal damit gefahren? Das ist doch bestimmt schon Jahre her.«

»Na und. Ich möchte damit aber morgen zur Schule fahren.«

Ich begann, in der Küche die Schubladen zu durchwühlen, vergebens. »Hast du hier nirgends Werkzeug?«, rief ich Mom etwas angesäuert zu

und wühlte weiter.

»Nein, habe ich nicht. Das habe ich woanders.«

»Und wo ist es?«

»In der Garage.«

»Hm. Da ist es ja gut aufgehoben, dein Werkzeug.«

Ich stampfte aus dem Haus in Richtung Garage und wollte eigentlich gegentreten, als ich sah, dass die Garage von Susis Vater offen stand. Die Karre von Susis Alten war noch nicht da, also war er noch auf Arbeit. Ich drehte mich um und guckte, ob jemand guckte. Es war kein Mensch zu sehen, und ich schlich mich zur Garage. Vielleicht gab es ja dort Werkzeug, das ich mir mal kurz ausborgen könnte.

Ich wollte gerade ganz unauffällig die Garage betreten, als Susi auf einmal vor mir stand.

»Hallo Ben.«

»Äh, hallo Susi«, stammelte ich.

Sie guckte an mir vorbei und sagte: »Hallo Samantha, lange nicht gesehen.«

Ich drehte mich um und sah meine Schwester, wie sie einen Schlüssel in der Hand hielt. Sie müsste mir mal zeigen, wie man sich richtig anschlich. Offensichtlich war sie Experte darin.

»Hallo Susi. Du, Ben, ich habe den Schlüssel für die Garage gefunden. Dann brauchst du jetzt kein Werkzeug mehr zu klauen, um das Garagentor aufzubrechen.«

Ich rollte mit den Augen. War es denn nötig gewesen, mich vor Susi so zu blamieren?

»Du wolltest Werkzeug von mir klauen, Ben? Das hättest du auch so haben können.«

»Ja, ich weiß. Aber anscheinend ist dein Vater nicht hier. Also wollte ich ihm etwas Gutes tun.«

Sie lächelte, ich lächelte, und ich glaubte, Sam mit den Augen rollen zu sehen.

Ich fragte sie, wo sie den Schlüssel denn gefunden habe, schließlich hatte er nicht in der Küche am Schlüsselbrett gehangen. Sie meinte, der Schlüssel sei wohl vom Brett gefallen und genau hinterm Mülleimer gelandet, der direkt unterhalb des Brettes stand. Dort habe er gelegen. Glaubten wir ihr das mal.

Ich nahm den Schlüssel an mich, und wir gingen zu dritt zur Garage. Dort steckte ich den Schlüssel ins Schloss und drehte nach rechts, der Schlüssel brach ab. So eine Überraschung.

Fassungslos guckte ich auf die Uhr, es war halb sieben. Ich hatte also noch gut vier Stunden Zeit, an mein Fahrrad ranzukommen, es mit Sicherheit noch zu reparieren, wenigstens Luft aufzupumpen, und dann zum Internetcafé zu fahren, welches dann nur noch eine halbe Stunde geöffnet war, und ich hatte das letzte Mal am Morgen etwas gegessen.

Ich presste meinen Kopf ans Tor und stöhnte: »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Ben, was willst du denn aus der Garage, das so wichtig ist?«, fragte Susi.

Klugschwätzerin Sam musste unbedingt darauf antworten: »Sein kleines süßes Minifahrrad, das er schon Jahre nicht mehr benutzt hat. Und er vermisst es so sehr, dass er extra von dir Werkzeug klauen wollte.«

Ein breites Grinsen huschte über Sams Gesicht. Sie war ein Schelm durch und durch.

Aber ich konterte: »Das ist kein Minifahrrad. Das ist ein BMX-Rad. Und ich war damals sehr oft Rasenmähen, um zumindest einen Teil davon bezahlen zu können. Vielleicht solltest du auch mal arbeiten, damit du weißt, wie das ist, Geld zu verdienen.«

»Ich bin erst elf. Da kann man noch nicht arbeiten gehen«, rechtfertigte sie sich.

»Das ist mir doch egal«, erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass das ziemlich kindisch von mir war.

Aber wenigstens hatte Susi was zum Lachen.

»Ben, mir fallen gerade unsere Radtouren ein. Besonders die, als wir nach Memphis abhauen wollten und es noch nicht mal bis zur Stadtgrenze geschafft haben, weil dein Fahrrad einen Platten hatte. Wiedermal.«

Sie lachte und konnte sich nicht mehr beruhigen. Sam begann auch zu lachen, obwohl sie gar nicht bei den Radtouren dabei war, aber über ihren Bruder zu lachen, bereitete ihr immer viel Freude.

Ich versuchte, mich aus der Affäre zu ziehen und erwiderte: »Ich gebe zu, die Schläuche waren nicht die Besten. Aber so ein BMX-Rad braucht nun mal Qualitätsschläuche, und die konnte ich mir nicht leisten.«

Sam schlug zum Gegenangriff. »Na, dann wäre ein kleines Minifahrrad, wie ich es habe, doch ausreichend gewesen. Und vielleicht hättest du auch nicht solche Probleme mit den Schläuchen gehabt.«

Die Mädels gackerten, und ich kam mir wie der letzte Trottel vor.

Plötzlich hörte ich Schritte und drehte mich um. Es war Susis Vater. Er musste gerade gekommen sein.

Er blickte streng zu Susi und meinte: »Geh ins Haus, Kleine! Mom hat bestimmt schon das Essen fertig.«

Für Susis Mom hoffte ich, dass sie das Essen fertig hatte, sonst würde sie bestimmt Schläge kriegen. Susi lief auch gleich ins Haus. Ich wollte nicht, dass das das Letzte war, was ich von Susi sah und wurde wütend. Es kochte regelrecht in mir, und das merkte wohl auch Sam.

Sie sprach ihn an: »Guten Abend, Mr Hudson. Sie kommen aber spät von der Arbeit. Sie haben bestimmt einen anstrengenden Beruf, oder?«

Nicht zu fassen, sie begann, sich bei ihm einzuschleimen.

»Ja, Kleines. Das kann man wohl sagen. Als Geschäftsführer eines Autohauses hat man viel zu tun und viel Verantwortung«, stimmte ihr Susis Vater zu.

Dabei war es nur ein Gebrauchtwagenhandel, der nicht besonders gut lief, sonst müsste seine Familie ja nicht in solch einer Gegend wohnen.

Sam marschierte weiter voran. »Sagen Sie, Mr Hudson, könnten Sie uns vielleicht helfen? Meinem Bruder ist der Schlüssel für das Garagentor abgebrochen. Wir bräuchten aber unbedingt die Sägemaschine, die wir schon Familie Jefferson versprochen haben. Die wollen bei sich Bretter für ihren Anbau sägen, und das kann nicht warten.«

Ich wusste, dass Familie Jefferson anbaute, aber dass wir eine Sägemaschine hatten, das war mir neu.

Mr Hudson glotzte mich an. Ich nickte zustimmend. Was hatte der denn gedacht, dass meine Schwester wie gedruckt lügen könnte? Mr Hudson fiel drauf rein und holte gleich das passende Werkzeug aus seiner Garage.

Er stellte sich gar nicht so blöd an. Im Nu war die Garage auf. Dann musste er sich nur noch verpissen. Nicht, dass er noch die nicht existierende Sägemaschine sehen wollte.

Sam wühlte sich bereits an Kisten vorbei und tat so, als ob sie etwas suchen würde. Ich wusste gar nicht, dass unsere Garage so voll mit Krempel war.

Plötzlich kam Susi angerannt und rief: »Daddy, das Essen wird kalt. Wenn du noch länger hier draußen bleibst, dann muss es noch mal warm gemacht werden.«

»Nein, ich komme. Aufgewärmtes Essen schmeckt nicht.«

Kotzbrocken! So ein Ekel! Susi hatte bestimmt von der Tür aus alles beobachtet und kam genau zur rechten Zeit.

Sam stolperte zurück aus der Garage. »Und, Ben? War ich nicht fantastisch? Ich sollte Schauspielerin werden.«

»Ja, das solltest du wirklich. Ich hatte gar nicht gewusst, dass wir eine Sägemaschine besitzen.«

»Ich auch nicht«, sagte sie und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Ich liebte sie und war ihr dankbar.

»Dein cooles Bike, Ben, liegt übrigens hinten in der Ecke. Sieht nicht so aus, als würde es noch fahren können.«

»Na, mal sehen. Vielleicht kriege ich es noch repariert.«

»Ich gehe jetzt wieder ins Haus. Mom hat bestimmt schon das Essen fertig. Kommst du gleich nach?«

»Ja, ich komme gleich. Ich will mir nur noch schnell das Rad ansehen.«

»Okay, kannst mir später danken.«

»Ich danke dir, Schwesterchen.«

Sam grinste wie der Joker und hüpfte zurück ins Haus.

Das Rad sah wirklich nicht so toll aus. Beide Reifen waren platt, die Kette hing runter, und zugestaubt war es auch. Aber ich hatte früher oft mein Rad reparieren müssen, ich war darin geübt.

Es war bereits dunkel, als ich Richtung Innenstadt und Internetcafé fuhr. Das Fahrrad rollte gut über die Straße, die Schläuche hielten bestimmt bis zum Nachmittag des nächsten Tages.

Charly war da und schien ziemlich aufgebracht zu sein. Ich machte mir Gedanken, ob er wegen mir wohl noch Ärger mit seinem Vorgesetzten bekommen hatte.

»Ist alles in Ordnung, Charly? Oder hat dein Vorgesetzter noch was gesagt?«

»Er wollte wissen, was du wolltest. Ich hatte mir schnell was ausgedacht.«

»Gut. Und ich finde es auch gut, dass du mir helfen willst.«

»Jedes Kind sollte so einen Arsch von Vater loswerden. Und für ein Flugticket nach New York reicht es immer.«

Wir gingen beide ins Internetcafé. Außer einer jungen Frau war dort niemand.

»Hallo Nicole. Wie geht`s?«, rief Charly und strahlte sie an.

Was sollte das denn hier werden?

»Hallo Charly. Heute in Begleitung?«

»Ja, das ist mein Bruder Ben.«

»Hallo Ben. Ich bin Nicole. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich hatte schon gedacht, ich lerne nie jemanden von Charlys Familie kennen.«

»Freut mich auch, dich kennenzulernen«, stammelte ich überrascht.

Ich dachte immer Sandra sei seine Freundin, weil er mit ihr zusammenwohnte. Aber so wie es aussah, hatte er wohl zwei Frauen am Start. Konnte mir ja auch egal sein, ich wollte nur ins Internet, weswegen ich auch sofort fragte: »Wir müssten kurz ins Internet. Welchen PC können wir benutzen?«

»Charly benutzt am liebsten den PC, von dem er alles überblicken kann. Dort.«

Sie zeigte auf einen PC in der rechten Ecke der hintersten Reihe. Ich ging schon mal voraus, während sich die beiden noch über irgendeine Party unterhielten.

Als ich dann soweit war und den passenden Flug herausgesucht hatte, musste ich aber dazwischen gehen. »Charly, könntest du jetzt mal herkommen?«

Na, endlich! Er gab Susi als Passagier an und zückte dann seine Kreditkarte.

»Wieso hast du eigentlich eine Kreditkarte?«, wollte ich wissen.

Er konterte in seiner typisch sarkastischen Art: »Na ja, es könnte ja mal sein, dass mein kleiner Bruder von heute auf morgen ein Ticket nach New York braucht.«

Aber wahrscheinlich sparte er jeden Cent, den er verdiente und lebte ansonsten nur von Brot und Wasser. Ohne ausreichend viel Geld auf dem Konto, hätte er gar keine Kreditkarte bekommen. Zumindest glaubte ich das. Susi könne sich das Ticket am Schalter abholen. Ich müsse es ihr nur noch rechtzeitig sagen. Das sei alles.

Ich verließ das Internetcafé. Allein. Charly wollte noch etwas bleiben. Fünf Minuten später hätte das Café geschlossen, aber vielleicht machte Nicole eine Ausnahme, und vielleicht hatte Nicole schon oft eine Ausnahme gemacht.

Es war eine laue Sommernacht. Ich dachte an Susi und wie ich mit ihr früher durch diese Straßen von Sleepy Water gefahren war. Früher hatte die Jackson Street noch nicht so viele Schlaglöcher gehabt.

Als ich zu Hause ankam, guckte ich sofort, ob ihr Fenster noch beleuchtet war, aber sie schien schon zu schlafen. Ich hätte natürlich eine Leiter anstellen können. Die Garage war ja jetzt offen. Aber so viel Glück wie ich immer hatte, würde ich mir wahrscheinlich den Hals brechen, oder noch schlimmer: Ihr Vater würde mich von der Leiter holen.

Ich ging ins Haus und in die Küche. Dort saß im Dunkeln Mom, die ich völlig vergessen hatte.

»Sag mal, Ben. Was meinst du denn, wenn du deiner Schwester sagst, du würdest gleich hinterherkommen? Kommen jetzt die schlechten Gene deines Vaters durch, oder was? Der war auch immer ein paar Tage nicht zu Hause, und keiner wusste, wo er steckte.«

Ich stand völlig überrascht vor ihr und stammelte: »Tut mir leid, Mom. Ich hatte mein Fahrrad repariert, bin dann durch die Gegend gefahren und habe die Zeit vergessen. Entschuldige.«

»Vielleicht denkst du, weil du ab morgen Ferien hast, könntest du machen, was du willst. Aber selbst dann hast du Bescheid zu sagen, damit ich weiß, wo du steckst. Das wird doch wohl nicht so schwer sein.«

Sie stand auf und machte das Licht an. Ich schaute sie an und konnte erkennen, dass sie wieder geweint hatte.

In den letzten Wochen sah sie öfters mal verheult aus, weswegen ich mir auch Sorgen machte und mir insgeheim wünschte, sie könnte ein anderes Leben leben. Ich wollte ihr ein guter Sohn sein und gab mir wirklich die größte Mühe. Nur manchmal konnte ich nicht anders und enttäuschte sie. Das tat mir leid, und bei dieser Sache konnte ich ihr noch nicht mal sagen, warum ich sie enttäuscht hatte.

»Ich habe dir dein Essen in die Mikrowelle gestellt. Du brauchst nur den großen Knopf zu drücken. Das schaffst du doch, oder?«

»Ja, Mom. Danke, Mom.«

Sie verließ traurig die Küche.

Völlig in meine Gedanken vertieft, schaufelte ich einen Berg Käsemakkaroni in meinen Mund. Es war ja bekannt, dass man mit vollem Bauch besser schlafen könnte.

Und vielleicht auch besser verschlafen könnte? Ich guckte am nächsten Morgen ungläubig auf die Uhr. Das konnte doch nicht wahr sein! Es war halb zehn. Die Schule hatte bereits angefangen, und ich lag noch in der Kiste. Nur gut, dass ich in der Nacht zuvor, gleich so wie ich war, ins Bett gefallen war. Ich war also schon angezogen, nahm meinen Rucksack, rannte zu meinem Fahrrad und fuhr zur Schule.

Im Klassenzimmer gab es dann ein riesiges Gelächter. Der Lehrer meinte auch gleich zu mir, dass es eher ungewöhnlich sei, wenn Schüler am letzten Schultag verschliefen und zu spät zum Unterricht kamen. Normalerweise geschah das immer am ersten Schultag. Das Gequatsche und ob ich noch einen Verweis bekommen würde, war mir aber wirklich sehr egal.

Ich hatte meinen Rucksack sogar noch auf dem Rücken, als ich mich auf meinen Platz setzte. Schließlich wollte ich gleich wieder los. Um zwölf hatte ich dann aber immer noch nicht mein Zeugnis in der Hand. Ich begann, fast jede Minute auf die Uhr zu gucken.

Als der Bus, der in Richtung Bahnhof fuhr, an der Schule vorbeifuhr, bekam ich endlich mein Zeugnis, mit dem Hinweis, ich sollte mich doch besser anstrengen, sonst würde es wohl doch nichts mehr mit dem College werden. Diese nett gemeinte Bemerkung interessierte mich aber nicht mehr. Ich war nur froh, dass ich mit dem Fahrrad da war, steckte den Wisch in meinen Rucksack und lief aus der Schule, schnappte mein Fahrrad und raste los.

Bis zum Bahnhof war es eigentlich nicht so weit. Aber während der Mittagszeit konnte es selbst in so einem Nest wie Sleepy Water zum Stau kommen. Ich schlängelte mich an den Autos vorbei und überholte sogar den Bus, der mich eigentlich zum Bahnhof fahren sollte.