Don`t let it get to you, Jane! Nicht jeder kann gerettet werden - Doreen Gehrke - E-Book

Don`t let it get to you, Jane! Nicht jeder kann gerettet werden E-Book

Doreen Gehrke

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Beschreibung

Dieses Jugendbuch/ Buch für junge Erwachsene ist der dritte Band der Don`t let it get to you!-Reihe. Ein Einstieg in die Bände 3 und 5 ist möglich, ohne zuvor vorangegangene Bände gelesen zu haben. Die vergangene Kindheit sowie gegenwärtige Erlebnisse der drei Protagonisten werden in jeweils zwei Bänden geschildert. Manga-Girl, wie die 17-jährige Jane genannt wird, lebt in einem Jugendheim in Memphis. Ihre leiblichen Eltern hat sie seit ihrem fünften Lebensjahr nicht mehr gesehen. Zusammen mit ihrer älteren Schwester Miranda wurde sie vom Jugendamt aus der Obhut der gewalttätigen Eltern genommen und in eine Pflegefamilie gebracht. Die Mädchen sind froh, besonders dem Vater, der Miranda sexuell missbraucht hat, entkommen zu sein. Aber ihr Martyrium geht weiter. Sie werden wieder geschlagen, müssen hungern und werden von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht. Solange bis es Janes Schwester nicht mehr aushält und sich das Leben nimmt. Zurückgeblieben versucht Jane, sich auf der Straße durchzuschlagen, bis sie im Jugendheim unterkommt. Damals ist sie vierzehn Jahre alt. Um der Realität zu entkommen, flieht Jane in ihre ganz eigene Welt und zeichnet Mangas. Besonders die Geschichten der Frauen, die sie bei einer Selbsthilfegruppe trifft, werden von Jane auf Papier gebracht. Dabei haben ihre Mangas immer ein Happy End, denn anders als in der wirklichen Welt werden die Opfer gerettet. Aber nicht jeder kann gerettet werden. So, wie vielleicht Jane? Sie ritzt sich und wünscht sich oft, bei ihrer Schwester zu sein. Im dritten Band der Don`t let it get to you!-Reihe wird der Leser in die dunkle, selbstzerstörerische Welt eines zutiefst unglücklichen Teenagers geschickt. Schafft es Jane, sich nicht, von dem vielen Leid um sie herum, unterkriegen zu lassen? Oder folgt sie ihrer Schwester in den Tod? Als im zweiten Band der Reihe Ben seine Schwester Sam im Jugendheim besucht, tritt Jane erstmals in Erscheinung. Sie kümmert sich um Sam, zeigt ihr alles im Heim und hilft ihr beim Einzug in das Appartement des ältesten Bruders Charly. Im dritten Band bleiben beide in Kontakt, da Sam auf die gleiche Schule wie Jane gehen darf. Aber auch durch Mike, dem Gitarristen der Band Supernova Tommy Boy, der wie Jane im Heim lebt, gibt es stets eine Verbindung zu Ben, und Jane wird ihn wiedersehen.

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Doreen Gehrke

Don`t let it get to you, Jane!

Nicht jeder kann gerettet werden.

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Sämtliche Texte in diesem E-Book wurden ohne den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de/ abrufbar.

https://www.doreen-gehrke-verlag.de/

Alle Rechte: © Doreen Gehrke Verlag, 2014

2. Auflage, Doreen Gehrke Verlag, 2024

Abbildungen zu „Don`t let it get to you!“ Band 1 - 3: © Marie Sann

ISBN: 978-3-9820009-9-2

Erstes Kapitel – Melissa

»Heute möchte ich sprechen. Eigentlich wollte ich die letzten beiden Male schon über mich reden, aber ich habe mich nicht getraut und war froh, wenn sich jemand anderes gemeldet hat«, sagte die junge Frau neben mir mit zitternder Stimme. Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Also, ich bin Melissa, und ich wurde missbraucht.«

In den Gesichtern der anderen Gruppenteilnehmer sah man Angst und Hilflosigkeit. Nur Mrs Williams nickte verständnisvoll. Ihre Hände lagen, wie zum Gebet gefaltet, auf ihrem Schoß. Sie hörte konzentriert zu, so wie sie es immer tat.

Melissa, eine blasse junge Frau – ich schätzte sie auf Mitte zwanzig – hielt, wie ich, ihre Taille umfasst. Sie schaute auf ihre Beine, die auf den ersten Blick locker nach vorne ausgestreckt schienen. Doch ihre Knöchel rieben aneinander. Sie war angespannt. Melissa begann, uns ihre Geschichte zu erzählen, aber ich dachte nur an Ben. Entweder war er in diesem Moment in der neuen Wohnung seines Bruders beschäftigt oder bereits in Sleepy Water, wo er ungeduldig darauf wartete, dass sein Freund Charly am nächsten Abend das Finale von »Entertain Us« gewinnen würde.

›Verdammt noch mal! Konzentriere dich auf Melissas Geschichte!‹, sagte ich mir und spürte, wie die Wut erneut in mir hochstieg. Das passierte mir häufig. Jedes Mal ärgerte ich mich darüber, und der Ärger über meine Wut machte mich dann noch wütender. Ich atmete tief durch die Nase ein und presste dabei meine Arme noch stärker um die Taille. ›Erdrücke dich! Los!‹, dachte ich, schloss meine Augen und stellte mir vor, wie meine Arme immer tiefer in meine Taille schneiden und ich schließlich halbiert auseinanderfallen würde.

»Jane! Jane!«, rief Mrs Williams.

Ich hörte sie. Aber erst als Jennifer aufgestanden, zu mir gekommen war und meine Schulter berührt hatte, öffnete ich die Augen.

Dabei sagte ich ruhig und gefasst: »Ist schon gut. Ich reiß mich zusammen.«

»Hör mal, Jane«, sagte Mrs Williams weiter: »Es ist hier für keinen leicht, über sich zu erzählen. Darum wäre es nett von dir, ruhig zu bleiben, damit du Melissa in ihrem Erzählen nicht störst.«

»Ich weiß, Mrs Williams. Aber es ist nicht nur für den Erzähler schwierig, sondern auch für den Zuhörer.«

Jennifer und die anderen Frauen guckten erstaunt, einige entsetzt und waren ganz offensichtlich über mein Argument irritiert. Melissa begann zu weinen. Nur Mrs Williams nickte verständnisvoll, meinte aber, ich solle doch den Raum verlassen und es beim nächsten Mal dann wieder versuchen, wenn ich es jetzt nicht aushalten könne.

Ich nickte, schaute traurig zu Boden und flüsterte: »Tut mir leid, Melissa.«

Melissa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, atmete wieder tief ein und aus, fasste dann zu meinem Erstaunen meine linke Hand. Sie führte sie auf ihren rechten Oberschenkel und hielt sie mit ihrer rechten Hand fest.

Sie hielt meine Hand. Hielt sie die ganze Zeit, während sie über sich sprach und ließ sie nicht mehr los. Sie redete über ihre Kindheit und ihren Nachbarn. Ihre Mutter hatte sie immer wieder gezwungen zu ihm zu gehen. Verkleidet als Bettlerin. Betteln, um vergewaltigt zu werden.

»So begann es jedes Mal. ›Du spielst die Bettlerin, und er spielt den König. Und wenn ihr mit dem Spiel fertig seid, kommst du zurück und erledigst den Abwasch. Verstanden?‹ Das sagte meine Mom jedes Mal. Ich habe nie verstanden, warum ich danach immer noch abwaschen sollte. Ich habe sonst nie abwaschen müssen.«

Melissa drückte meine Hand ganz fest. Es tat weh, aber ich erlaubte mir nicht, etwas zu sagen. Stattdessen fragte ich mich, warum sie, immer wenn sie das Abwaschen erwähnte, meine Hand beinahe zerquetschte. War für sie das Abwaschen etwa schlimmer gewesen, als die Vergewaltigungen durch den Nachbarn? Und warum hielt sie überhaupt meine Hand?

Melissa redete fast die ganze Stunde. Niemand traute sich, sie zu unterbrechen, etwas zu fragen oder zu kommentieren. Nur Weinen und Schluchzen erlaubten ihr kurze Verschnaufpausen. Verschnaufpausen, ja, denn Melissa hatte sich gut vorbereitet. Wahrscheinlich war sie ihren Text tausend Mal durchgegangen. Wie vom Fließband erzählte sie von ihrem Martyrium. Nichts im Detail. Glücklicherweise. Alles nur angerissen.

Als sie meine Hand endlich losließ, merkte ich erst, wie weh sie tat. Sie lag weiterhin auf ihrem Bein. Die feuchte Innenfläche ließ für jeden, der sie sah, erahnen, wie stark Melissa sich an meiner Hand festgehalten hatte und wie deutlich ich ihre Emotionen gespürt haben musste. Ich sah auf meine Hand und dachte an meine Schwester: ›Miranda, hast du das alles auch gehört? Es ist schon wieder passiert. Wieder haben wir erfahren, dass wir nicht die Einzigen waren und sind.‹

»Melissa, vielen Dank, dass du uns deine Geschichte erzählt hast. Wir hören jetzt für heute auf. Es wäre aber schön, wenn ihr alle noch bleiben könntet, denn Jennifer hat einen wunderbaren Kuchen gebacken«, sagte Mrs Williams.

Vielen anwesenden Frauen glitt ein Lächeln über die Lippen.

›Wie geschmacklos, widerlich, unanständig! Wissen die denn nicht, was sich gehört? Melissa hatte gerade all ihren Mut zusammengenommen und über ihre Vergangenheit gesprochen und diese Weiber gehen einfach zur Tagesordnung über und essen Kuchen.‹

Ich nahm meine Hand von Melissas Bein und stand auf.

»Willst du schon gehen?«, fragte sie ganz erstaunt.

Peinlich berührt, schaute ich in ihre rot unterlaufenen Augen. Spätestens dann hatte ich verstanden, dass sie etwas von mir wollte. Ich setzte mich wieder hin und wollte gerade etwas erwidern, als Mrs Williams auf uns zu trat und sagte: »Jane, geh ruhig. Ich bleibe bei Melissa.«

Sie setzte sich neben ihr. Ich stand wieder auf, wollte aber nicht mehr gehen, sondern helfen. Melissa hatte mich darum gebeten. Sie hatte zwar nichts gesagt, aber ihre Augen hatten viel gesprochen, und ich fühlte mich auf einmal verantwortlich. Ich fühlte mich ihr verbunden. Doch Mrs Williams schaute mich auf eine so bestimmte Weise an, so als ob ich mich lieber aus dem Staub machen sollte. Das verstand ich nicht, weil Mrs Williams mich bereits seit vielen Jahren kannte und immer nett zu mir gewesen war.

Anders Melissa, sie kannte mich kaum, sah mich aber beinahe flehend an. Sie bettelte um Hilfe. ›Genau‹, dachte ich: › … die Bettlerin. Sie spielt ihre Rolle immer noch.‹

Ich nahm meine Tasche und verließ den Raum. Lief den kalten Flur entlang, auf den sich spiegelnden grau-blauen Linoleumboden und hinaus auf die Straße.

Dort rannte ich weiter. So lange und so weit, bis ich nicht mehr konnte. Ich lehnte mich an einen Laternenpfahl. Ich keuchte, schwitzte, weinte. Dann sank ich zu Boden, umfasste meine Knie und vergrub das Gesicht, wollte nicht mehr sein.

»Miranda! Miranda! Warum hast du mich verlassen? Du hättest mich doch mitnehmen können. Wir hätten beide gehen können. Du hast mich verlassen. Zurückgelassen.«

Miranda antwortete nicht. Miranda antwortete schon lange nicht mehr. Miranda war die ersten Monate danach noch bei mir gewesen, das hatte ich gespürt. Aber dann hatte sie mich ganz verlassen, und ich war allein. Ich versuchte, immer wieder mit ihr zu reden, aber es schien sinnlos geworden zu sein. Wenn Miranda nicht einmal mehr in meinen Gedanken mit mir sprach, warum war ich dann noch hier? Was machte es denn noch für einen Sinn?

Die Nacht war wieder so düster. Der nächtliche Himmel hätte mit funkelnden Sternen übersät sein können, für mich wäre diese Nacht düster geblieben. So düster wie immer, wie mein Leben. Ich war verzweifelt. Tränen rannen meine Wangen hinunter, meine Augen brannten, mir war schwindelig.

»Was soll ich nur machen?«, fragte ich flüsternd mit mit von Tränen erstickter Stimme. »Weitermachen? Es wieder versuchen? Immer wieder? Ja, ja. Alles ist besser als der Tod. Alles. Besser als der Tod.«

Mein Blick wanderte hinauf zum Laternenkopf.

›Dieses verdammte Licht leuchtet so unschuldig‹, dachte ich und wurde wütend. Ich schrie: »Du tust ja so, als ob nichts passiert wäre! Du beschissenes Licht, du! Ah!«

Ich rüttelte am Laternenpfahl, so kräftig wie ich nur konnte, aber es half nichts. Das Licht brannte unaufhörlich weiter, und erst als ich Scheinwerferlicht wahrnahm, wurde mir bewusst, dass ich nicht allein unterwegs war. Augenblicklich hörte ich auf, an dem Laternenpfahl zu rütteln und sank zurück zu Boden, als ob ich mich vor den vorbeifahrenden Autos verstecken wollte. Wollte ich auch. Ich wollte mich verstecken. Aber ich beschloss, mir mein vertrautes Versteck aufzusuchen, das ich immer nach einer »Sitzung« für die Nacht aufsuchte.

Ich rannte los. Rannte so schnell und so völlig unkoordiniert, dass ich bis dorthin zweimal hinfiel und mir beide Knie aufschlug.

Aber Blut ist warm. Das mochte ich. Warmes, meine Haut entlanglaufendes Blut. Es beruhigte mich. Irgendwie.

Dennoch reichten die aufgeschlagenen Knie nicht. Ich suchte meine Klingen, die ich stets in meiner Handtasche griffbereit hatte. Für alle Fälle. Meine Verbündeten. Meine Seelsorger.

Auf meinen Oberschenkeln zeichnete sich bereits ein fast flächendeckendes gestreiftes, teilweise sogar kariertes Muster ab. Sodass ich mich in letzter Zeit schon oft gefragt hatte, an welcher Stelle ich mich überhaupt noch ritzen konnte. Ich mochte nicht zu weit unten ritzen, denn ich wollte noch meine kurzen Röcke tragen können. Niemand sollte meine Narben sehen. Sonst hätte ich mich ja auch gleich an den Armen ritzen können.

Ein Hilferuf, der für jedermann sichtbar wäre. Aber ich stand im Nebel, mit mir ganz allein. So fühlte ich mich wohl, und kein anderer sollte es wissen. Von Anfang an hatte ich mich für Verschwiegenheit entschieden. Mein Problem, meine Haut, meine Seele.

Jedes Mal sagte ich mir, es wäre das letzte Mal, und für ein letztes Mal müsste doch irgendwo noch ein Platz zu finden sein. Ich ritzte neben der Linie von vor zwei Monaten. Sie war schon gut verheilt. Es tat wieder weh, aber nicht so sehr wie beim allerersten Mal, und eigentlich könnte ich mir als Ritzer auf die Schulter klopfen, weil ich so diszipliniert war, immer nur eine Linie zu ritzen. Wirklich, immer nur eine Linie.

Eigentlich hatte es mal nur eine Einzige werden sollen. Denn ich hatte es nur ausprobieren wollen, um herauszufinden, ob es mir danach besser gehen würde. Damals. Nach der zehnten Linie hatte ich dann aufgehört zu zählen. Ich konnte es nicht sein lassen. Ich wollte mehr. Immer mehr. Das Gefühl, sich vom inneren Druck lösen, ja befreien zu können, war unbeschreiblich schön. Dennoch hielt es immer nur kurz an. Wenn es mich dann verließ, gab es Tränen wie Wasserfälle, und ich begann, zu zittern. Das warme Blut wärmte nicht mehr. Mir war nur noch kalt, und ich wurde müde.

Auch heute. Irgendwann schlief ich ein.

Am nächsten Morgen, es war Samstag und der Tag der großen Entscheidung von »Entertain Us«, begann ich langsam, wieder zu funktionieren. Ich kramte aus der Handtasche mein Schminkset und stellte mein Gesicht wieder her. Klinge, Tupfer, Pflaster, Mullbinden, Kompressen, die ich immer dabei hatte, stopfte ich in meine »Survival Bag«. Zusammen mit den Schminkutensilien platzte meine Handtasche fast aus allen Nähten.

Dann nahm ich etwas vom Toilettenpapier, wischte die Fliesen sauber und versteckte das schmutzige Papier unter meinen Slip. Es sollte nichts, was mich hätte verraten können, hier bleiben.

Um auf Nummer sicher zu gehen, alles so zu verlassen, wie ich es vorgefunden hatte, kontrollierte ich noch einmal jeden Winkel des Appartements. Selbst im Schlafzimmer, in dem ich gar nicht gewesen war, überprüfte ich, ob alles in Ordnung war. Bevor ich die Wohnungstür öffnete, warf ich noch schnell einen Blick auf das Aquarium. Die Fische hatten noch genügend Futter. Schließlich steckte ich den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür zu und schloss ab.

Sylvie hatte mir mal für Notfälle den Zweitschlüssel für ihr Appartement gegeben, und da sie fast jede Nacht auf der Straße war, konnte ich so viele Notfälle haben, wie ich wollte. Sylvie war meine beste Freundin. Sylvie war meine einzige Freundin. Wenn Sylvie nicht gewesen wäre, gäbe es mich wahrscheinlich nicht mehr.

Etwa vier Jahre zuvor. Nachdem Miranda es vorgezogen hatte, sich umzubringen und mich damit verlassen hatte, zog es mich auf die Straße. Ich war dort neu. Deshalb beobachtete ich in den ersten Nächten nur die Frauen, wie sie Autos anhielten und die Männer ansprachen. Dann, eines Nachts, als ich mir genügend Mut angetrunken hatte, wäre ich beinahe in eins dieser Autos eingestiegen, als plötzlich jemand an meiner Jacke zog.

Ich drehte mich um und sah in das Gesicht einer stark geschminkten, wutentbrannten Frau. Ich entschuldigte mich sofort und schwor, nie die Absicht besessen zu haben, ihr ihren Platz streitig zu machen.

Doch darauf reagierte sie gar nicht. Stattdessen schob sie mich beiseite, steckte ihren Kopf in das Auto und brüllte: »Versuch noch einmal dieses Mädchen in dein Auto zu kriegen und ich schneide dir die Eier ab!«

Dann knallte sie die Autotür zu und der Mann fuhr weg.

Das war das erste Mal in meinem Leben, dass sich ein Erwachsener für mich eingesetzt hatte. Mich beschützt hatte. Ich freute mich, empfand etwas wie Glück und versuchte krampfhaft, zu lächeln. Aber mir wurde schlecht, und ich kotzte auf ihre Stilettos. Das war natürlich peinlich, doch ich konnte nur mit Tränen auf diese Situation reagieren.

»Sei bloß froh, dass du mir nur auf die Schuhe gekotzt hast, sag ich dir. Komm! Ich nehme dich mit zu mir und dort bleibst du die Nacht!«, sagte sie entschlossen, aber immer noch wütend.

Ich war mir nicht sicher, ob ich mit ihr mitgehen sollte, weshalb ich zögerte.

»Pass mal auf, Kindchen! Ich habe den Eindruck, dass du in deinem Leben schon viele schwierige Entscheidungen treffen musstest. Aber so läuft das Spiel nun mal. Heute Nacht hast du eine schlechte Entscheidung getroffen, denn du hättest nicht herkommen dürfen. Jetzt, in diesem Moment, musst du dich wieder entscheiden. Du hast die Wahl. Entweder du bleibst hier und man kratzt dich morgen von der Straße ab oder du kommst mit mir und du überlegst dir noch einmal, was du mit deinem Leben anfangen willst. Denn genau darum geht es. Okay? Es ist dein Leben! Deine Entscheidung!«

Ihre Worte faszinierten mich. Wobei man in der Situation, in der ich mich befand, vielleicht nicht von Faszination sprechen konnte, weil einen doch immer etwas Positives beeindruckt. Meine Situation war alles andere als gut. Aber noch nie zuvor hatte mir jemand erklärt, dass ich selbst für mein Leben verantwortlich sei und selbst Entscheidungen zu treffen hätte. Vorher hatten das immer die Leute vom Jugendamt gemacht und die hatten es schlecht gemacht. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte Kopfschmerzen, meine Augen brannten, und ich wollte bei Miranda sein. Aber gleichzeitig wollte ich auch nicht bei Miranda sein.

Ich überlegte lange. Zumindest kam es mir so vor, als ob ich stundenlang nachgedacht hätte. Bewegungslos und stumm. In einer kalten Nacht in den Straßen von Memphis.

Die Frau wartete geduldig auf meine Antwort, meine Reaktion. Auch das hätte mich beinahe umgehauen. Es machte mir richtig zu schaffen. Denn, wer hatte schon zuvor Geduld mit mir gehabt? Niemand. Die Ereignisse hatten sich immer überschlagen. Noch nie hatte mir jemand Zeit gegeben, Luft zu holen und nachzudenken. Zu erfassen, was eigentlich mit mir passierte.

Dann hatte ich plötzlich eine Gelegenheit bekommen. Es war die Gelegenheit, und ich war mir sicher, dass nur eine richtige Entscheidung, mein Weiterleben sicherte. Denn es war, wie die Frau zuvor gesagt hatte meine Wahl. Heute, im Nachhinein betrachtet, kann ich sagen, dass ich damals die richtige Wahl, die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Ich nahm ihren Arm und hakte mich bei ihr ein. Daraufhin schleppte sie mich zu ihrem Appartement, in dem ich erst diese eine Nacht und dann noch viele weitere Nächte schlafen sollte.

Tagsüber hielt ich mich jedoch nie bei ihr auf. Ein Appartement, einer mir fremden Person und ich war wieder nur Gast. Das erinnerte mich an das Leben, Überleben in den Pflegefamilien, in die Miranda und ich gesteckt worden waren. Für uns hatte es dabei nie ein wirkliches Zuhause gegeben und Sylvies Wohnung weckte zu viele schlechte Erinnerungen. Obwohl das Appartement mit seinen vielen Dekorationsstücken aus Tausendundeiner Nacht toll aussah und es auch überall sehr sauber war. Aber mir kam es trotzdem wie ein Gefängnis vor. Ich wollte nicht mehr eingesperrt sein. Ich wollte nicht mehr nur irgendwo Gast sein. Ich wollte zwar einen festen Platz haben, aber gleichzeitig frei sein. Darum hat es mich tagsüber auf die Straße gezogen. Aber nicht in die Gegend, in der Sylvie mich gerettet hatte. Ich wollte ihren Rat, mir über mein Leben klar zu werden, befolgen und war, in der Hoffnung auf eine zündende Idee für meine Zukunft, durch die Straßen von Memphis gelaufen.

Am dritten Tag stand ich vor einem Jugendheim, starrte auf das Schild, auf die Treppe und schaute mir jede Stufe ganz genau an. Ich fragte mich, ob ich hineingehen und einfach fragen sollte, ob man mich aufnehmen würde. In eine Pflegefamilie wollte ich nicht mehr und Miranda, die zu dieser Zeit noch in Gedanken mit mir sprach, war auch der Meinung, dass ich es mit dem Heim versuchen sollte.

Ich holte tief Luft. Nickte, als ob ich mir sagen wollte, mit diesem Schritt genau das Richtige zu tun und hatte schon die ersten zwei Stufen geschafft, als ich plötzlich ein schnell fahrendes Auto herankommen hörte. Es hielt genau hinter mir. Ich bekam Angst und rannte weg; bis zum nächsten Haus und versteckte mich in einem Eingang.

Von dort aus beobachtete ich, wie drei Erwachsene versuchten, einen Jungen aus dem Auto zu zerren. Zwei von ihnen zogen an seinen Armen und Schultern, der dritte schubste ihn aus dem Innenraum des Wagens. Als sie ihn draußen hatten, legten sie ihn auf den Boden und einer von ihnen kniete sich auf ihn.

›Der arme Junge‹, dachte ich und begann zu weinen.

Meine Knie zitterten, mein Gesicht wurde ganz warm, und ich hielt mir die Hand vor den Mund, um ein Schreien zu unterdrücken. Doch ich hatte keine Stimme mehr. Sie war verschwunden und hatte meinen Mut gleich mitgenommen.

Als die Männer den Jungen zu dritt mit Gewalt in das Jugendheim schleppten und dieser verzweifelt versuchte, sich dagegen zu wehren, hielt ich es nicht länger aus und lief zurück zu Sylvies Appartement.

Später hatte sich herausgestellt, dass dieser Junge Mike gewesen war.

Bei Sylvie angekommen, erzählte ich ihr sofort, was ich vorgehabt hatte, wie brutal der Junge in das Jugendheim gebracht worden war und dass dies mich von meinem Vorhaben abgehalten hatte.

»Wie konnte ich nur so naiv sein, zu glauben, dass ich in einem Jugendheim besser aufgehoben sein könnte, als in einer Pflegefamilie? Gut, dass ich da nicht reingegangen bin«, sagte ich.

Ich war noch völlig außer Atem und ließ mich erschöpft auf ihre Couch fallen.

Sylvie aber stand fassungslos vor mir, stemmte ihre Hände auf die Hüfte und entgegnete: »Jane, du solltest es morgen einfach noch einmal versuchen. Wenn du willst, begleite ich dich auch. Vielleicht kannst du ja dort leben und noch etwas von deiner Kindheit haben.«

»Kindheit?«, wiederholte ich schockiert und sagte: »Ich weiß, dass ich noch ein Kind bin. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass ich noch eine Kindheit habe. Als Miranda mich verlassen hat, ist sie nicht fortgegangen ohne etwas mitzunehmen, aber darüber möchte ich nicht reden.«

Ich lief ins Badezimmer und ließ sie stehen. Dort schloss ich mich ein und setzte mich auf den Badewannenrand.

›Sie hat mich verlassen, zurückgelassen‹, dachte ich und fragte mich, warum das keiner verstand.

Sylvie klopfte an die Badezimmertür und bat mich, sie zu öffnen. Sie meinte, sie habe Angst, dass ich mir etwas antun könnte und sagte: »Weißt du, Jane, den Jungen, den du gesehen hast, kennst du doch gar nicht. Vielleicht war es nötig, ihn so zu behandeln. Zu seinem Besten, verstehst du? Wer weiß, was er durchgemacht hat? Wahrscheinlich dachte er, dass ihm diese Männer etwas Böses wollen, weil er möglicherweise nichts anderes kennt. Aber das muss nicht bedeuten, dass es ihm im Heim schlecht geht. Vielleicht ist es dort sogar ganz schön. Na ja, ›schön‹ ist wohl das falsche Wort, aber besser als auf der Straße oder in einer Pflegefamilie auf jeden Fall. Wobei nicht alle Pflegefamilien schlecht sein müssen. Unter Umständen haben deine Schwester und du einfach nur Pech gehabt.«

›Nur Pech gehabt‹, wiederholte ich in Gedanken.

Ich war so wütend, dass ich durchdrehte und alle Sachen auf Sylvies Waschbecken auf den Boden warf. Dann trat ich gegen die Tür so fest wie ich konnte.

»Wut hilft dir in deiner Situation auch nicht weiter. Komm raus und lass uns darüber reden«, sagte Sylvie mit ruhiger, leiser Stimme.

Anscheinend war sie über meinen Wutanfall gar nicht enttäuscht oder aufgebracht. Offensichtlich verstand sie mich sogar und konnte sich in mich hineinversetzen.

Schließlich setzte ich mich zurück auf den Badewannenrand und sagte: »Wahrscheinlich, möglicherweise, vielleicht. Das reicht nicht, Sylvie. Das reicht einfach nicht mehr.«

»Jane, ich möchte dir nicht erzählen, was mir alles passiert ist, und ich möchte auch gar nicht wissen, was dir alles passiert ist. Aber du bist erst vierzehn Jahre alt. Wirf dein Leben nicht weg, indem du auf der Straße bleibst, sondern nimm jede Chance wahr, die dir begegnet. Wenn du es nicht versuchst, Jane, wirst du Jahre später, so wie ich, bereuen, es nicht wenigstens versucht zu haben.«

In diesem Augenblick verstand ich, dass Sylvie recht hatte. Natürlich hatte sie recht, und ich wollte es eigentlich auch versuchen, aber ich hatte noch zu viel Angst, wieder eine Enttäuschung zu erleben.

»Jane, bitte. Mach doch die Tür auf.«

Irgendwann raffte ich mich auf und öffnete die Badezimmertür. Kurzerhand nahm mich Sylvie in ihre Arme und sagte: »Kindchen, ich weiß, ich kenne dich überhaupt nicht. Aber ich will nicht, dass du so wirst wie ich.«

Ich drückte sie ganz fest, begann wieder, zu weinen und glaubte, dass auch Sylvie weinte. Wir setzten uns auf ihre Couch und diskutierten über die Licht- und Schattenseiten des Lebens, die Zukunft, was alles noch geschehen könne und wie schön das Leben eigentlich sein könnte. Aber erst als Sylvie mir anbot, immer zu ihr kommen zu können, wenn es mir nicht gut ginge und mir vertrauensvoll ihren Zweitschlüssel in die Hand drückte, war ich einverstanden.

»Gut. Ich versuche es ein zweites Mal, aber ich möchte nicht, dass du mich begleitest. Okay?«

Darauf schaute sie mich nicht gerade begeistert an, nickte aber und war wahrscheinlich froh, mich überhaupt so weit gebracht zu haben.

Ich blieb eine weitere Nacht und ging am nächsten Morgen zum Jugendheim, noch bevor Sylvie wieder da war.

Dort angekommen, stand ich erst wieder eine Weile vor dem Eingang und betrachtete die Treppe. So viele Stufen hatte sie gar nicht, aber ich hatte das Gefühl, den Mount Everest besteigen zu müssen. Ich holte wieder tief Luft und vergewisserte mich, dass kein Auto vorbeifuhr. Dann lief ich so schnell wie ich konnte die Stufen hoch.

Als ich die letzte Stufe erreicht und schon die Türklinke berührt hatte, öffnete jemand die Tür von innen und der Junge, der einen Tag zuvor in das Gebäude hineingeschleppt worden war, trat heraus.

Er lächelte, er schien glücklich zu sein und sagte: »Hey!«

Erschrocken wich ich zurück und fragte besorgt: »Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?«

Der Junge lachte nur und antwortete: »Ja, klar. Nach einem so guten Frühstück kann es einem ja nur gut gehen. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal ein so gutes Frühstück bekommen habe. Wenn du Glück hast, ist noch was übrig. Dann bis morgen.«

Daraufhin hüpfte er meinen Mount Everest hinunter, lief mit federnden Schritten die Straße entlang und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Mir fielen Sylvies Worte ein, dass dieser Junge wahrscheinlich nichts anderes als Gewalt kannte. Doch es sah so aus, als ob ihm dieses Heim gefiel. Deshalb fasste ich wieder Mut, öffnete die Tür und trat ein.

Hinter der Tür blieb ich stehen und sah mich um. Ich war erstaunt, wie viele Kinder hier herumliefen und das offensichtlich ziemlich gelassen, als ob es das Normalste der Welt sei, in einem Jugendheim zu sein. Sie unterhielten sich, lachten sogar und waren anscheinend ziemlich glücklich.

Fassungslos starrte ich sie an, denn mit fröhlichen Kindern hatte ich nicht gerechnet. Ich fragte mich, wann ich selber das letzte Mal gelacht hatte.

Langsam näherte ich mich ihnen und überlegte, wie ich sie ansprechen sollte. Aber sie waren so mit sich beschäftigt, dass sie mich gar nicht wahrnahmen. Zumal ich auch nicht viel anders aussah als sie selbst. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei eine von ihnen. In diesem Moment begriff ich, dass ich das eigentlich auch war. Auch ich war eins dieser Kinder und wollte zu ihnen gehören, zum Heim gehören.

Die meisten Stimmen kamen von links, aus dem Eingangsbereich am Ende des Ganges. Dorthin ging ich und musste wieder staunen. Hier war die Kantine. So viele Kinder mit wahrscheinlich, möglicherweise, vielleicht den gleichen Problemen, dem gleichen Hintergrund wie ich, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie ließen sich ihr Frühstück schmecken oder waren vergnügt in ihre Gespräche vertieft.

Mein Blick wanderte zur Essensausgabe. Dort standen sie, die Erwachsenen, und ich bekam sofort ein mulmiges Gefühl, das sich noch verstärkte, als eine von ihnen mich zu sich winkte.

Ich fragte mich, ob ich nicht doch lieber wieder gehen sollte, sah dann aber in die strahlenden Gesichter der anderen Kinder und ging schließlich zu der Frau hinter der Theke.

»Ich habe dich hier noch gar nicht gesehen. Bist du neu?«, fragte sie.

Sie war freundlich, sie lächelte. Aber ich wusste nicht, was ich auf die Frage antworten sollte und stammelte: »Weiß nicht ... vielleicht.«

Die Frau nickte und sagte: »Ich verstehe. Was magst du frühstücken? Müsli oder lieber etwas Deftiges? Wir haben auch noch zwei Blaubeer-Muffins. Ich würde an deiner Stelle zuschlagen, bevor sie weg sind.«

Sie machte sogar einen Scherz, sie war lustig. Darauf wusste ich erst recht nicht, was ich sagen sollte.

»Ich gebe dir Müsli, Milch, ein bisschen Saft und einen Blaubeer-Muffin. Okay?«

Ich nickte.

Als sie mir das Tablett reichte, meinte sie, ich solle mir ruhig Zeit lassen. Das versuchte ich auch, denn als ich das Tablett in der Hand hielt, merkte ich, dass meine Hände zitterten. Ich wollte unter keinen Umständen das Tablett fallen lassen und dabei ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Im schlimmsten Fall hätten mich sicher einige der Kinder ausgelacht, und das wäre alles andere als ein gelungener Start gewesen.

Doch ich konnte mich zusammenreißen und suchte mir einen Tisch, an dem nicht so viele Kids saßen, denn ich wollte unauffällig bleiben.

Der Blaubeer-Muffin schmeckte ausgezeichnet, und ich musste an den Jungen, also Mike, denken, der gemeint hatte, sich nicht erinnern zu können, wann er das letzte Mal ein so gutes Frühstück bekommen hatte. Eigentlich aß ich nie so gerne Süßes, weil ich meine schlanke Figur behalten wollte. Außerdem hatte Miranda auch immer darauf geachtet, nie dick zu werden. Aber ich sagte mir, dass ich mir eine Belohnung verdient hätte, weil ich so mutig gewesen war, ins Jugendheim zu gehen.

Als ich den Muffin bis zur Hälfte gegessen hatte, fiel mir auf, dass mich ein paar Mädchen am anderen Ende des Tisches nicht aus den Augen ließen. Ich hörte auf zu essen und wandte mich ihnen zu. Doch wahrscheinlich hatte ich einen provozierenden Eindruck auf sie gemacht, da sie gleich danach aufstanden, ihre Tabletts nahmen, zur Geschirrückgabe gingen und die Kantine verließen. Sie hatten nichts gesagt, sie hatten nicht gelacht. Eigentlich war gar nichts passiert, aber ich fühlte mich nicht willkommen. Darum stand ich auf und wollte gerade mein Tablett wegbringen, als plötzlich die nette Frau von der Essensausgabe hinter mir stand und sagte, ich solle mich nicht verunsichern lassen. Schließlich würde ich mein Leben lang auf Menschen treffen, die mich nicht leiden könnten.

»Aber warum können diese Mädchen mich denn nicht leiden? Sie kennen mich doch gar nicht«, erwiderte ich.

Wenn man mich nicht einmal kennenlernen wollte, warum hätte ich es dann mit dem Heim überhaupt versuchen sollen? Ich war verzweifelt.

»Denk nicht so viel darüber nach, warum andere so sind, wie sie sind. Denk lieber an dich.«

Die Frau begann, die Tische abzuwischen und fuhr fort: »Wenn du möchtest, könnten wir versuchen, einen Platz für dich zu organisieren. Hier im Heim, meine ich. Dazu müssten wir beide ins Sekretariat gehen. Dort würden wir uns unterhalten. Du müsstest ein paar Fragen beantworten, und ich würde mir Notizen machen. Vielleicht hast du ja Glück. Wahrscheinlich müssten wir dann einige Tage warten, bis wir eine Antwort erhalten.«

Mir gefiel diese Frau immer besser, und ich entgegnete: »Möglicherweise, wahrscheinlich, vielleicht. ... diese Worte habe ich schon so oft gehört. Aber das Wort ›wir‹ ist neu.«

Die Frau nickte verständnisvoll.

»Ich bin Mrs Williams. Ich versuche, jeden Samstag hierherzukommen, in der Hoffnung, den Kindern helfen zu können. Vielleicht kann ich dir ja helfen. Also Mädchen, wie heißt du?«

»Miranda«, rutschte es mir heraus.

»Gut, Miranda. Dann iss doch bitte dein Frühstück auf. Wenn du fertig bist, werde ich auch soweit sein, und wir können zusammen ins Sekretariat gehen. Okay?«

Ich nickte, setzte mich wieder an den Tisch und aß mein Frühstück.

Im Sekretariat wusste ich erst wieder nicht, was ich auf Mrs Williams Fragen antworten sollte. Ich dachte an Miranda und an Mrs Williams Worte, ich solle mehr an mich und weniger an andere denken.

Darum sagte ich: »Mrs Williams. Mein Name ist nicht Miranda.«

Wieder nickte Mrs Williams und ich dachte: ›Die Frau scheint Erfahrung zu haben.‹

»Ich heiße Jane. Miranda ist meine ältere Schwester. Sie ist … also … sie ist nicht mehr da.«

Ich ließ meinen Kopf auf die Brust sinken, atmete schwer, konnte spüren, wie mir heiß wurde und begann, zu wimmern. Mrs Williams sagte erst einmal nichts. Aus einer Schublade des Schreibtischs holte sie eine Packung Taschentücher und reichte sie mir.

Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich beruhigte, aber dann erzählte ich ihr alles. Wirklich alles. Ich schilderte Mrs Williams, was Miranda und ich bei unseren leiblichen Eltern erlebt hatten, welches Martyrium wir später bei Pflegeeltern durchleben mussten und wie ich schließlich auf der Straße gelandet war. Auch von Sylvie berichtete ich und dass für mich das Jugendheim die letzte Option wäre, wo ich bleiben könnte.

Mrs Williams verstand mich gut und brachte es auf dem Punkt, als sie sagte: »Das Jugendheim oder der Tod.«

»Ja … also … ich weiß nicht. Ich meine, ich bin mir nicht sicher, aber wahrscheinlich würde ich lieber den Tod wählen, als das alles noch einmal zu erleben.«

Mrs Williams hatte sich dann selbst ein Taschentuch nehmen müssen und trocknete ihre feucht gewordenen Augen.

»Jane, nachdem, was du mir nun alles erzählt hast, muss ich dir jetzt leider eine sehr unangenehme Frage stellen. Eine Frage, die für eine mögliche Zuweisung eines Platzes hier im Jugendheim aber äußerst wichtig ist.«

Ich nickte, weil ich mit Bedingungen gerechnet hatte.

»Jane, tust du dir manchmal selbst weh?«

»Was? Wie meinen Sie das?«

»Ich möchte wissen, ob du dich zum Beispiel ritzt oder ob du dich manchmal fallen lässt. Zum Beispiel eine Treppe hinunter.«

Meine Wangen begannen, zu glühen, und ich fragte mich, was ich darauf antworten sollte.

»Jane, hier darf kein schlechter Einfluss auf andere Kids ausgeübt werden. Verstehst du? Auch Drogen sind tabu. Bei einem Verstoß, muss man das Heim verlassen.«

Im nächsten Moment schüttelte ich mit dem Kopf. Ich hatte die Spielregeln begriffen und antwortete selbstsicher: »Ich nehme keine Drogen und tue mir selber nicht weh. Es sei denn, Sie meinen, dass ich mir wehgetan habe, als ich zu den Mann ins Auto steigen wollte.«

Mrs Williams atmete tief durch und erklärte: »Mädchen, die in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt erfahren haben, zieht es später oft wieder in die Arme der Gewalt. Du wirst in keine Pflegefamilie mehr kommen, und falls es mit dem Heim nicht klappt, solltest du versuchen, bei deiner Freundin Sylvie nicht nur nachts unterzukommen. Die High School und später das College sind Möglichkeiten, die du immer noch wahrnehmen kannst.«

Wieder fing ich zu weinen an und sagte schluchzend: »Mrs Williams, ich will gar nicht sterben. Aber es ist so schwierig, das alles auszuhalten.«

Mrs Williams stand auf, kam zu mir und umarmte mich.

»Ich weiß, Kindchen, ich weiß. Ich werde alles versuchen, damit du hier wohnen kannst. Ich verspreche es.«

Ich blieb noch eine Weile mit ihr im Sekretariat, bis ich mich beruhigt hatte. Als wir uns verabschiedeten, meinte sie, ich solle am nächsten Freitag wiederkommen. Dann hätte sie sicher schon eine Antwort vom Jugendamt. Ich war ihr dankbar, umarmte sie und lief dann so schnell wie möglich zu Sylvie, um ihr von Mrs Williams und dem Heim zu erzählen.

Sylvie freute sich für mich und bot mir an, solange bei ihr zu bleiben.

Die Tage bis Freitag waren wie Gummi. Tag und Nacht dachte ich an Mrs Williams Worte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht ans Ritzen gedacht, aber der Wunsch, mir selbst weh zu tun, war bereits da gewesen und Mrs Williams hatte es mir angesehen.

Am nächsten Freitag stand ich nachmittags wieder vor den Stufen des Jugendheims. Sylvie hatte sich zwei Häuser entfernt postiert und beobachtete mich. Sie hatte unbedingt mitkommen wollen und drückte mir die Daumen. Einige Minuten vergingen, bis ich meinen Mount Everest erklommen hatte und mit pochendem Herzen vor dem Sekretariat stand.

Als ich an die Tür klopfen wollte, öffnete sie jemand von innen und sagte: »Du bist bestimmt Jane, nicht wahr? Wir haben dich schon erwartet.«

Ich sah an den Mann vorbei und erkannte Mrs Williams. Aber auch noch zwei weitere Erwachsene waren im Raum. Wieder schlich sich großes Misstrauen in mein Herz, und ich fragte ängstlich: »Mrs Williams?«

»Hab keine Angst, Jane. Es ist alles in Ordnung. Komm ruhig rein«, rief sie und winkte mich zu sich.

Ich ging hinein und sie wies auf einen Stuhl, auf den ich Platz nehmen sollte. Nachdem mich alle Anwesenden in Augenschein genommen hatten, begann eine Frau vom Jugendamt, zu sprechen.

»Jane, wir haben uns mit Mrs Williams lange über dich unterhalten und wir sind alle der Ansicht, dass ein Aufenthalt hier im Heim für dich am sinnvollsten wäre.«

Erwartungsvoll, aber etwas enttäuscht fragte ich: »Aber?«

Denn das Wort »wäre« hörte sich für mich wie »trotzdem nicht möglich« an.

Mrs Williams versuchte, mich zu beruhigen und erklärte: »Du bekommst einen Platz, Jane. Keine Angst.«

»Ja, genau«, fuhr die Frau vom Jugendamt fort. »Vielleicht habe ich mich nur unklar ausgedrückt.«

Sie lachte. Aber ich fand das alles nicht besonders komisch. Ich stand auf, blieb aber stehen und wusste nicht warum.

»Jane, beruhige dich und setz dich doch bitte wieder hin.«

Ich vertraute Mrs Williams, also setzte ich mich wieder hin. Aber meine Knie zitterten, denn ich hatte Angst. Meine Situation sollte sich verbessern. Das war aber so fremd für mich, dass ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Tagelang hatte ich an nichts anderes gedacht, als an einen möglichen Einzug ins Heim. Ein mögliches Zuhause. Dann war es endlich soweit, und ich wusste einfach nicht, was ich davon halten sollte.

»Jane«, begann der Mann zu sprechen, der mir die Tür geöffnet hatte. »Ich bin dein neuer Sachbearbeiter beim Jugendamt. Ich weiß, es haben sich bereits viele meiner Kollegen um dich gekümmert und es tut mir aufrichtig leid, dass offensichtlich der eine oder andere seinen Job nicht richtig gemacht hat. Es gibt auch gute Pflegefamilien.«

»Ich gehe in keine Pflegefamilie mehr!«, brüllte ich den Mann an.

»Jane, keine Sorge, du kommst in keine Pflegefamilie. Du kannst hier bleiben«, versicherte mir Mrs Williams erneut.

Ich verstand jedoch nicht, warum dieser Mann das mir verhasste Thema »Pflegefamilie« ansprach.

»Jane, Mr Wright will sich nur bei dir entschuldigen«, versicherte mir die Frau, die zuerst gesprochen hatte.

Das aber brachte mich erst recht zum Austicken. Das war zu viel gewesen. Ich stand wieder auf und schrie: »Entschuldigung?! Was heißt denn hier Entschuldigung?! Was ist denn mit meiner Schwester Miranda? Für eine Entschuldigung ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät!«

»Jane, komm mit mir«, schaltete sich Mrs Williams wieder ein. »Ich zeige dir dein Zimmer. Dort wirst du Jody kennenlernen. Sie zeigt dir dann das Haus.«

Sie fasste mich an der Schulter und führte mich aus dem Raum. Bevor sie die Tür schloss, sagte sie zu Mr Wright: »Sie können am Montag wiederkommen. Ich bin mir sicher, dass sich Jane bis dahin an ihre neue Umgebung gewöhnt hat.«

Der Mann nickte, und Mrs Williams brachte mich zu meinem Zimmer. Es war ein Zimmer für vier Mädchen, und Jody hatte bereits auf uns gewartet. Mrs Williams versprach mir, sich am darauffolgenden Tag nach dem Frühstück, wieder Zeit für mich zu nehmen, wenn ich das wollte. Natürlich wollte ich, unbedingt sogar. Ich bedankte mich für ihre Hilfe und sie verließ den Raum.

Durch das Fenster konnte ich Sylvie sehen, die vor einer Häuserwand wartete. Ich öffnete das Fenster und winkte ihr durch den Spalt zweier Gitterstäbe zu. Sie winkte zurück, drehte sich um und ging dann mit schnellen Schritten die Straße hinunter. Ich sah, wie sie die linke Hand zu ihren Augen führte, und dann wusste ich, dass sie weinte. Auch mir war zum Weinen zumute.

Jody, mit der ich das Zimmer teilen durfte, war mir eine gute Freundin geworden. Als sie uns ein Jahr später verlassen musste, brach es mir das Herz. Sie hatte die High School abgeschlossen und konnte nicht mehr im Heim bleiben. Ich sah sie nie wieder.

Aber so waren die Spielregeln des Heims. Es herrschte ein Kommen und Gehen, und ich hatte in meiner Zeit dort nie das Glück, eine richtige Freundin zu finden. Nach Jody war die Einsamkeit mein Freund geworden und später wurden es meine Mangas. Meine eigene Welt, in der ich jemand anderes sein konnte.

Heute. Ich rannte die Stufen zum Jugendheim hoch. Das Frühstück hatte bereits begonnen, und ich bahnte mir mit meiner »Survival Bag« einen Weg zu meinem Zimmer.

Oben angekommen, bog ich nach links in den Flur und traf dort auf Brittany, die mich angrinste, als ob ich ihre beste Freundin wäre.

»Was grinst du denn so bescheuert?! Rennen unten beim Frühstück keine Jungs rum, mit denen du dich prügeln kannst?!«, keifte ich sie an.

Brittany fing zu weinen an und lief an mir vorbei.

Wenn Menschen traurig und verzweifelt sind, können sie nicht immer ihre Probleme verbergen und reagieren

aggressiv auf andere Menschen.

Ich schämte mich, weil ich wusste, dass die dreizehnjährige Brittany jemanden brauchte, zu dem sie aufschauen konnte. So, wie ich damals Jody gebraucht hatte. Das ist jetzt knapp vier Jahre her. Aber ich konnte nicht für Brittany da sein. Ich konnte mich nicht um sie kümmern, und ich musste es auch nicht. Es war nicht meine Aufgabe. Außerdem war Brittany erst dreizehn, demnach war es gut möglich, dass sie von heute auf morgen in eine Pflegefamilie käme. Also warum hätte ich mich mit ihr anfreunden sollen?

Ich öffnete die Zimmertür. Anna und Jennifer, mit denen ich das Zimmer teilte, waren nicht da und Sams Sachen waren schon weg.

›Die arme, kleine Sam‹, dachte ich. Sie musste ins Heim, weil ihr ältester Bruder zusammengeschlagen wurde und deswegen nicht mehr für sie sorgen konnte.

Neben der psychisch kranken Mutter und Sams zweiten Bruder, den 17-jährigen Ben, war Charly der einzige in ihrer Familie, dem das Jugendamt erlaubte, sich um seine Schwester kümmern zu können. Er war nur eine Woche im Krankenhaus gewesen. Für seinen Chef Grund genug, ihn zu kündigen. Als er hier in Memphis eine neue Arbeit und auch eine Wohnung gefunden hatte, erhielt er vom Jugendamt die Erlaubnis, mit Sam zusammenleben zu dürfen.

Ich war erleichtert, aber auch etwas in Sorge, ob mit Sam und Charly alles gut laufen würde.

›Das Jugendamt wird ständig ein Auge auf beide haben‹, sagte ich mir.

Plötzlich musste ich wieder an Brittany denken und fragte mich, warum ich mir mehr Sorgen um Sam machte, als um sie. Das war nicht fair.

Ich warf meine Handtasche in eine Ecke und ließ mich auf mein Bett fallen. Die frische Narbe zog fürchterlich und mir fiel wieder Melissas Geschichte ein. Melissa, die Bettlerin. Melissa, die die ganze Zeit meine Hand hielt, während sie ihre Geschichte erzählte. Melissa, der ich unbedingt helfen sollte, aber der ich nicht helfen konnte.

Jedenfalls nicht in der realen Welt. Ich stand auf, setzte mich an meinen Schreibtisch, nahm Papier und Stifte zur Hand und begann, Melissas Geschichte zu zeichnen.

Die Bettlerin und der König.

Dicke Tränen rollten mir die Wangen hinunter und tropften auf das Papier. Nichts sollte vergessen werden. Ich zeichnete, wie Melissa von ihrer Mutter zum Nachbar geschickt wird. Wie sie bettelt, nicht gehen zu müssen. Ihre Mutter sitzt seelenruhig auf der Couch und schaut sich die Serie »Criminal Minds« an, während ihr Kind vom Nachbarn vergewaltigt wird. Sein Gesicht verzerrt, sein Körper verschwitzt. Melissa, eine Porzellanpuppe, zerbrochen, tot. Als die Skizzen fertig waren, war ich bereits völlig erschöpft und hätte eine Pause einlegen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich war so in Rage, dass ich die Figuren hatte ausmalen müssen und zu guter Letzt wollte ich, dass Melissa befreit wird. Ich wollte ein Happy End. Alle meine Mangas hatten ein Happy End.

Blue Angel, without face, without emotion

Small, fine, apparently in motion

Power that destroys without a fight

A blue flame, hot and beautiful, is lightening the night

Let it burn, burn, Melissa’s bad world

Disappear, disappear, Melissa’s bad world

The flame, blue and beautiful, is lightening the night

Destroys her bad world without a fight

Melissa, beggar woman: »Angel, please, I wanna be with you.«

Blue angel: »Yes, I bring you to the place that is only for you.«

Zweites Kapitel – Jennifer

Das Mittagessen und das Abendessen ließ ich aus. Selbst als das Finale von »Entertain Us« begann und der Lärm aus dem vollbesetzten Fernsehraum bis zu meinem Zimmer drang, war ich nicht in der Lage, mich unter Menschen zu begeben. Ich wollte meine Ruhe haben, lag auf dem Bett und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Gerne hätte ich, wie die anderen Kids, meine Sorgen für ein paar Stunden vergessen. Aber das funktionierte nicht.

›Es müsste bald eine Nachfolgerin für Sam kommen. Wer auch immer das sein mochte‹, dachte ich.

Manchmal war mir dieser ständige Wechsel willkommen, manchmal aber auch zu viel. Zum einen hatte man sich kaum aneinander gewöhnt und wurde schon wieder getrennt. Zum anderen waren die neuen, fremden Mitbewohner mein einziges Publikum, bei dem ich stark sein konnte, mich verstellen konnte. Bei anderen Leuten, mit denen ich schon länger zu tun hatte, funktionierte das nicht mehr. Sie lernten mich und unter Umständen auch meine Geheimnisse zwangsläufig kennen. So, wie die beiden Blöden, Jennifer und Anna, mit denen ich leider das Zimmer teilen musste.

Gegen zwei Uhr nachts war der Hokuspokus endlich vorbei, das Gebrüll und der Jubel aus dem Fernsehraum waren verstummt und meine Tränen getrocknet. Ich hörte vom Flur her, dass Bens Freund Charly gewonnen hatte und musste an ihn denken. Er würde sich bestimmt sehr darüber freuen. Ich war zufrieden und schlief ein.

Am nächsten Tag, es war früher Nachmittag, weckte mich ein lautes Klopfen an der Zimmertür. Ich schaute zum anderen Doppelstockbett. Es war verwaist.

Nach dem zweiten Klopfen rief ich leise und verschlafen: »Ja, kommen Sie einfach rein.«

Savannah Hanson trat ein. Sie hatte, wie ich annahm, Sams Nachfolgerein dabei. Ich sagte: »Ich wusste, dass Sie bald kommen würden. Aber so schnell? Sams Bett ist gar nicht richtig kalt geworden.«

Miss Hanson guckte mich erschrocken an. Mit so einem kühlen Ton hatte sie nicht gerechnet. Aber ich hatte gehofft, wenigstens ein paar Tage Zeit zu haben, um Sams Abschied zu verarbeiten.

»Jane, was ist los mit dir? Es ist bereits Nachmittag und du liegst immer noch im Bett? Ach ja, stimmt. Gestern war ja das Finale. Das hatte ich ganz vergessen.« Sie lachte kurz auf und fuhr fort: »Wahrscheinlich hast du die Nacht zum Tage gemacht. Wie vielleicht die meisten Menschen in Memphis und Umgebung. Ich natürlich auch. Der Fernsehraum war bestimmt zum Brechen voll. Nicht wahr?«

Miss Hanson war eine ziemlich gute Sozialpädagogin. Die beste, die das Jugendamt hier hatte. Aber in diesem Moment hätte ich ihr in den Hintern treten können.

›Wahrscheinlich, vielleicht, möglicherweise. Egal in welcher Reihenfolge diese Worte gesagt wurden, ich konnte sie nicht mehr hören.‹

»Ist alles in Ordnung, Jane?«, fragte sie besorgt, nachdem sie mich eingehend betrachtet hatte.

Miss Hanson war nicht naiv und bevor sie genauer nachfragen würde, spielte ich lieber meine Rolle des starken Manga-Girls.

»Ja, Miss Hanson. Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur bis eben geschlafen. Das ist alles«, log ich, wie immer ungemein gekonnt.

»Schön. Ich habe Dir hier nämlich jemanden mitgebracht. Das ist Kimberly und …«

»Kim«, verbesserte Kimberly Miss Hanson.

›Gut‹, dachte ich, ›Selbstbewusstsein braucht die Kleine hier, zumal sie ziemlich dick ist.‹

»Genau. Kim. Jane, ich würde dich bitten, Kim alles hier im Heim zu zeigen. So gut, wie du es immer machst. Okay?«

Als Miss Hanson das mit ihrem leicht übertriebenen Lächeln gesagt hatte, musste ich sofort an Melissa, die Bettlerin, denken.

»Jane? Okay?«, fragte Miss Hanson noch einmal verunsichert nach.

»Ja, Miss Hanson. Kein Problem. Geben Sie mir noch eine Sekunde, um aus dem Bett rauszukommen, dann kann es gleich losgehen.«

Miss Hanson drehte sich zum Kleiderschrank und wollte Kim ihr Fach zeigen. Ich stieg aus dem Bett, wobei meine kurze Pyjamahose nach oben rutschte und meine Narben zum Vorschein kamen. Erschrocken zog ich meine Hose wieder nach unten und blickte auf. Kim war einen Schritt zurückgetreten und sah mir in die Augen. Ich sagte nichts und wich ihrem Blick aus. Ich war mir sicher, dass, wenn auch Miss Hanson nichts bemerkt hatte, Kim sie in jeden Fall gesehen hatte.

Ich zog mich schnell um und tat so, als ob ich mich auf die Führung mit Kim freuen würde. Miss Hanson schien mir zu glauben, verabschiedete sich und ließ uns allein.

Kim und ich standen uns im Zimmer gegenüber und beäugten uns misstrauisch. Es herrschte eindeutig dicke Luft. Das konnte man richtig spüren. Es gab eben Menschen, die sich auf Anhieb nicht leiden konnten. Auch wenn sie noch so jung waren wie Kim und ich.

»Kim, jetzt sag es schon! Sag es oder ich werde dir das Leben hier zur Hölle machen!«

»Zur Hölle? Ich platze gleich vor Lachen. Ich komme gerade aus der Hölle. Viel schlimmer als bei meinen Eltern kann es nirgendwo sein. Es sei denn du ritzt dich, weil es hier so scheiße ist.«

»Das geht dich gar nichts an! Genauso wenig, wie es mich etwas angeht, warum du dich wahrscheinlich den ganzen Tag mit Essen vollstopfst. Guck dich doch mal an! In deinem Alter solltest du die Hälfte wiegen.«

Kim sah mich erbost an. Hätte ich zu Sam etwas so Demütigendes gesagt, vorausgesetzt Sam wäre stark übergewichtig und so frech wie Kim, hätte sie mit Sicherheit angefangen, zu weinen. Kim war dagegen ein anderes Kaliber. Sie holte aus und gab mir eine Ohrfeige. Ich konnte es nicht fassen.

»Damit hast du wohl nicht gerechnet, nicht wahr? Aber guck nicht so traurig. Ich lass dich jetzt allein. Dann kannst du dich weiter ritzen und dir dabei die Augen aus dem Kopf heulen.«

Kim drehte sich erhobenen Hauptes um, ging zur Tür und brüllte, als ob sie noch ein Ausrufezeichen setzen wollte: »Ritzer!«

Als sie die Tür zuknallte, fegte mir ein Schwall Luft entgegen. Ich berührte meine Wange, spürte, wie meine Knie zitterten und ärgerte mich, dass ich mich von einem Gör wie Kim so aus der Fassung hatte kriegen lassen.

Im nächsten Moment ging die Tür wieder auf, und ich starrte in das Gesicht von Mike.

›Der hat mir jetzt gerade noch gefehlt‹, dachte ich.

»Jane, Schätzchen. So stürmisch wie die Kleine die Tür zugemacht hat, hast du wohl eine neue Freundin gefunden, nicht wahr?«

Mit seinem dicken Bäuchlein und seinen verzottelten Haaren, die wie Antennen von seinem Kopf abstanden, grinste er dabei wie ein Honigkuchenpferd, und ich musste lachen. Doch zwei, drei Sekunden später fing ich auf einmal zu weinen an. Meine Beine schlotterten, ich konnte mich nicht mehr aufrecht halten und hockte mich zu Boden.

Mike kam sofort zu mir, berührte meine Schulter und flüsterte: »Jane, du weißt doch, dass alles, was ich sage, nur im Scherz gemeint ist« und nach einer Pause, »zumindest dann, wenn ich mir Mühe gebe. Also meistens.«

Das brachte mich wieder zum Lachen, aber ich weinte noch, und erst als Mike drohte, einen der Möchtegernpädagogen zu holen, konnte ich mich beruhigen.

»Jane, was ist denn los? Mir kannst du es doch sagen. Ich kann Geheimnisse für mich behalten. Außer Tom und den anderen Jungs erzähle ich es niemandem. Versprochen.«

Er versuchte, mich aufzumuntern, so wie er es in den letzten vier Jahren immer getan hatte. Aber es funktionierte nicht mehr. Ich wusste, dass er mich mochte und mir immer helfen würde, aber diese Hilfe brachte nichts mehr.

»Mike, ich schaffe es nicht.«

»Doch, Jane. Das schaffst du schon.«

»Nein, Mike«, sagte ich kopfschüttelnd. »Ich kann nicht mehr das starke Manga-Girl spielen, und ich will es auch nicht mehr. Ich bin so müde, Mike.«

Seine Augen begannen, zu glitzern. Er verstand, wovon ich sprach.

»Hör mal, Jane. Die Jungs und ich haben etwas gefunden, was unser Leben wieder lebenswert macht. Wir sind jetzt eine richtige Band, mit Manager und so. Das kannst du mit deinen Mangas auch schaffen, Jane. Du musst sie bloß endlich mal jemandem zeigen.«

»Nein, Mike. Meine Mangas sollte ich niemanden zeigen. Lieber nicht.«

Er nahm mich in seine Arme und flüsterte: »Ich weiß, wo du einmal im Monat hingehst, Jane. Und ich kann mir vorstellen, warum es dir danach immer so schlecht geht. Selbst wenn ich keine Ahnung habe, was du dort erfährst. Ich kenne und verstehe dich, Jane.«

»Ich weiß, Mike. Ich weiß.«

»Ich will nicht, dass du weiterhin dorthin gehst. Du musst doch allmählich selbst merken, dass es dir nicht gut tut. Versuche bitte, weiter durchzuhalten. Jane?«

Er nahm mein Gesicht in seine Hände.

»Ja, Mike. Ich weiß.«

»Jane, du weißt, dass das Leben neben einer schlechten auch eine gute Seite hat. Zeichne etwas, was du dir wünschst. Einen Traum, etwas Positives und wenn es noch so kitschig ist. Das sind Mangas immer.«

Mein Blick wurde klarer, ich konnte wieder lächeln und sagte: »Mike, du hast keine Ahnung.«

»Von Mangas habe ich wirklich keine Ahnung. Aber ich merke, wenn ich jemanden verliere und dich will ich nicht verlieren. Du bist nicht allein, Jane. Es gibt mich, die Jungs und alle anderen Kids, denen es genauso geht wie uns.«

»Mike?«

»Ja?«

»Kannst du bitte aufhören, mein Gesicht zu zerquetschen?«

Er lachte, umarmte mich noch mal und half mir dann, aufzustehen.

»Jane, wenn du möchtest, können wir nächsten Monat auch zusammen etwas unternehmen. Also, wenn du mal Ablenkung brauchst und nicht an die Selbsthilfegruppe denken willst.«

»Mike, ich gehe dorthin, weil ich … na ja, wegen Miranda.«

»Miranda? Was versprichst du dir davon?«

Mike war mein Freund. Vielleicht mein einzig wahrer Freund. Ich konnte und wollte es ihm erklären.

»Die Frauen, die dort ihre Geschichte erzählen, haben das Gleiche oder etwas Ähnliches erlebt wie Miranda. Ich versuche, dadurch zu verstehen, warum Miranda … na ja, mich verlassen hat.«

Mike ging einen Schritt zurück, hob die Hände, als ob ihn jemand mit einer Waffe bedrohen würde und sagte: »Hör mal, Jane. Ich habe deine Schwester nie kennengelernt, und ich weiß, dass du gleich ausflippen wirst, aber ich kann jetzt nicht anders, als es dir direkt zu sagen. Selbstmord ist das Größte an Egoismus und Feigheit, das es gibt. Man flieht vor seinen Problemen und denkt nicht an die, die man hinterlässt. Sieh dich doch an, Jane! Ich kann mit deiner Schwester kein Mitleid haben, wenn ich sehe, was sie mit ihrer Feigheit angerichtet hat. Jane, sie hat sich nicht umgebracht, wegen dem, was ihr angetan wurde. Sondern sie hat sich umgebracht, weil sie mit dem, was ihr angetan wurde, nicht leben konnte. Das ist nicht dasselbe, verstehst du? Und wenn du dir den Scheiß dieser Frauen anhörst und damit nicht umgehen kannst – und das kannst du offenbar nicht – dann wirst du irgendwann genauso feige sein wie deine Schwester.«

Er wandte sich zur Tür, als ob er gehen wolle, drehte sich dann aber wieder zu mir.

»Du lässt dich von den Geschichten dieser Frauen unterkriegen, Jane. Lach mich aus, wenn ich dir sage: Don`t let it get to you! Lach mich ruhig aus. Aber es hilft, weil es die Wahrheit ist. Und Jane, ich wünsche mir, dass du das nicht erst verstehst, wenn du die Klinge an der richtigen Stelle zu tief gesetzt hast. Deine Miranda …«

»Es reicht!«, brüllte ich. »Verschwinde aus meinem Zimmer!«

Mike nickte. Aber nicht, weil er mit mir einer Meinung war, sondern, weil er, wie er zuvor gesagt hatte, meiner Reaktion sicher sei. Er wischte sich die Augen und ließ mich allein.

Anders als Kim knallte er die Tür nicht zu. Er schloss sie ganz leise, weil er mich immer noch mochte.

›Er wird mich selbst noch nach meinem Tod gerne haben‹, dachte ich.

Der Tod. Der Tod wäre eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die Miranda gewählt hatte. Man hat die Wahl. Die Wahl hat man immer.

Mike und ich hatten uns nicht im Guten getrennt, dennoch fühlte ich mich nach Kims Backpfeife etwas besser, ging zu meinem Schreibtisch und schaute aus dem Fenster.

Ich dachte an Sylvie, was ich beinahe immer tat, wenn ich aus dem Fenster schaute. Damals hatte Sylvie auf ein Zeichen von mir gewartet, dass ich im Heim aufgenommen worden war. Mir kam es vor, als sei das tausend Jahre her. Es war ein Moment vollkommenen Glücks gewesen. Und heute war die Sehnsucht nach solch einem Moment wieder riesengroß.

›Diese Sehnsucht ist das Einzige, was mich noch am Leben hält‹, dachte ich. ›Mike hat recht. Ich bin feige und der Tod wäre nur eine Flucht. Aber die Entscheidung fällt mir schwer.‹

Ich schaute zu meinem Schreibtisch und sah, dass Melissas Geschichte für alle offen da lag.

›Hoffentlich haben sich Jennifer und Anna meine Zeichnungen nicht genauer angeschaut‹, dachte ich.

Aber dass meine Mangas keine Friede-Freude-Eierkuchen-Blätter waren, konnte sich auch so jeder denken.

Im nächsten Moment fiel mir Kim wieder ein. Es war bereits nachmittags. Viele Kids waren bei der Skaterbahn, guckten Fernsehen oder spielten Basketball. Ich war mir sicher, sie würde von meinen Narben erzählen.

Mike wusste es. Natürlich nicht von Kim. Er hatte es sicher schon viel früher gesehen. Vielleicht als ich die Treppe zum Zimmer hochgegangen und mir dabei der Rock zu hoch gerutscht war. Oder er hatte eins und eins zusammengezählt. Mike hatte mich im Gefühl. Schon von Anfang an hatte er mich im Gefühl gehabt. Ich lächelte.

›Sein Bäuchlein ist auch zu niedlich. Trotzdem könnte er mal wieder ein paar Sit-Ups machen.‹

Auf einmal fiel mir mein Geheimversteck im Schrank ein, das ich auch sofort aufsuchte und die letzten Reste meines Schokoladenvorrats vertilgte. Irgendetwas musste ich schließlich essen.

›Vielleicht sollte ich mal ein Manga über Süßigkeiten zeichnen. Das wäre tatsächlich mal etwas Positives. Aber wahrscheinlich würde ich dann über Völlerei zeichnen, eine der sieben Todsünden. Möglicherweise werde ich niemals in der Lage sein, etwas Positives zu zeichnen‹.

»Jetzt sagst du schon selbst ›vielleicht, wahrscheinlich und möglicherweise‹. Wie doof kann man sein?«, sprach ich zu mir selbst.

Dann knallte ich die Schranktür zu, nahm meine Handtasche und verließ das Zimmer. Auf der Treppe traf ich Brittany und musste sofort an Melissa denken.

Seltsam, dass wenn man manchmal jemanden sieht, sofort an einen ganz anderen Menschen denken muss.

Jedenfalls fiel mir ein, dass ich Melissas Geschichte immer noch nicht weggepackt hatte und lief zurück ins Zimmer. Ich räumte den Schreibtisch auf, verstaute meine Stifte und Blätter in die Schublade und verließ dann wieder das Zimmer und das Heim.

Wie so oft, ging ich zu Fuß durch die Straßen von Memphis. Als ich nur noch wenige Minuten von der Klinik entfernt war, in der Mrs Williams arbeitete, war es bereits später Nachmittag. Die untergehende Sonne wärmte meinen Rücken und es kam mir so vor, als ob mir diese Wärme noch zusätzlich Kraft gab, mich Mrs Williams anzuvertrauen. Denn die Jane, die Mrs Williams kannte oder glaubte zu kennen, gab es nicht mehr und hatte es auch nie gegeben.

In Gedanken bereitete ich mich auf das Gespräch mit ihr vor. Ich war sehr konzentriert, ging meine Worte immer wieder durch und war deshalb völlig erschrocken, als ich Ben an mir vorbeifahren sah.

Abrupt blieb ich stehen und schaute ihm verdutzt hinterher. Ich fragte mich, warum er so gut gelaunt die Straße hinunterfuhr, warum er überhaupt die Straße hinunterfuhr. Denn sie führte von nichts anderem weg, als von der Klinik.

›Ob seine Mom wieder eingeliefert worden war?‹, fragte ich mich.

Doch dafür war er viel zu gut gelaunt gewesen. Er hatte sogar gelächelt, als er an mir vorbeigefahren war. Gesehen hatte er mich nicht, weil ihn die Sonne zu sehr geblendet hatte. Außerdem schien er völlig in Gedanken gewesen zu sein.

›Was verschaffte ihm nur die gute Laune?‹, wunderte ich mich.

Ich schlussfolgerte, dass er bei Mrs Williams gewesen sein musste. Die ersten Treffen mit ihr hatten mir auch immer gutgetan. Plötzlich wurde ich unsicher.

›Wie würde Mrs Williams reagieren, wenn ich ihr erzählte, dass man mich aus dem Heim rausschmeißen würde, wenn man erführe, dass ich mich ritze? Ich kann mich noch gut erinnern, als sie mich vor vier Jahren fragte, ob ich mich ritzen oder etwas anderes machen würde‹.

Ich drehte mich wieder um, doch Ben war schon verschwunden. Stattdessen leuchtete mir der rot-orange Feuerball entgegen, der alle Menschen dieser Erde, ob nun hier in Memphis oder woanders, wärmte und faszinierte.

»Entscheide dich richtig, Jane«, ermahnte ich mich und ging zur Klinik.

Mrs Williams wirkte nicht gerade erfreut, mich zu sehen. Kein »Schön, dass du hier bist, Jane« oder »Jane, ich freue mich, dich zu sehen«. Eine Umarmung gab es auch nicht. Stattdessen sagte sie eher trocken: »Endlich, Jane. Ich dachte schon, du hättest dich aufgegeben.«

»Warum sagen Sie das? Soll ich mich etwa darüber freuen, mich nicht aufgegeben zu haben? Sie haben keine Ahnung.«

»Ja, da hast du recht. Aber du wirst hierhergekommen sein, damit ich gleich Ahnung habe und hierherzukommen, wird dich bereits viel Kraft gekostet haben.«

»Wirklich Mrs Williams, dass Sie ständig recht haben und alles besser wissen, kotzt mich manchmal richtig an.«

Mrs Williams lächelte, berührte meinen rechten Arm und sagte: »Jetzt lass uns hier nicht alles auf dem Flur bereden, sondern in mein Büro gehen. Okay?«

Ich nickte und folgte ihr.

Das Büro sah aus wie immer. Ein kleines Zimmer, in das nur wenig Sonnenlicht fiel, mit vielen Orchideen auf dem Fensterbrett. In der Mitte des Raums stand Mrs Williams‘ Schreibtisch, an seiner rechten Seite ein Stuhl, zwei große Schränke dahinter. Der Schreibtisch war penibel sauber und ordentlich aufgeräumt, ganz anders als meiner. Auf der linken Seite lag eine große Schachtel Taschentücher.

›Immer griffbereit. Für alle Fälle‹, dachte ich.

Mir fiel ein, dass, wenn Ben bei ihr gewesen sein sollte, er vielleicht geweint hatte. Woran ich außerdem denken musste, als ich die Schachtel sah, waren meine Binden und Pflaster, die ich auch immer griffbereit hatte und die in meiner Tasche auf ihren nächsten Einsatz lauerten. Ich setzte mich auf den Stuhl Mrs Williams schräg gegenüber.

»Woran denkst du gerade, Jane?«, fragte sie.