Anna und Mia oder die ungleichen Töchter - Markus Nüsseler - E-Book

Anna und Mia oder die ungleichen Töchter E-Book

Markus Nüsseler

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Beschreibung

Sechs Paare, viele unterschiedliche Lebensentwürfe. Ehen, Freundschaften und Liebesverhältnisse. Äußere Erfolge und innerliches Scheitern. Hotelier Tim bringt seine Frau Lea wieder mit ihrer ehemaligen Busenfreundin Mirela zusammen. Die Töchter der beiden Frauen, Anna und Mia, gehen sehr gegensätzliche Wege. Während Anna Psychologie studiert und erfolgreich die Ausbildung zur Psychotherapeutin abschließt, verlässt Mirelas Tochter Mia das bürgerliche Milieu ihres Elternhauses, bricht mit ihren Eltern und wird Prostituierte. Ingenieur Franz kommt mit den Anforderungen des Berufslebens nicht mehr klar und wird zum Aussteiger. Lukas verfällt dem Alkohol.

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Markus Nüsseler wurde 1954 in Bern/Schweiz geboren. Sein Erstlingswerk Carola – es begann nach dem Oktoberfest erschien im März 2022 und wurde im Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt, veröffentlicht. Im Mai 2022 erschien sein zweiter Liebesroman Lea – zwei Freundinnen und ein Ehemann. Der dritte Roman Wendepunkte der Liebe führt die Geschichte um die Hauptpersonen des Erstlingswerks zu Ende und erschien am 30.09.2022.

Der vierte Roman Anna und Mia oder die ungleichen Töchter führt die Geschichte des zweiten Liebesromans Lea – zwei Freundinnen und ein Ehemann fort. Er erschien im März 2023 und begleitet Menschen auf der Suche nach dem, was ihr Herz zum Singen bringt, ihrem Leben einen tiefen Sinn verleiht und es lebens- und liebenswert macht.

Zentrales Thema dieses Romans ist die Suche nach dem eigenen, ganz persönlichen Weg zu einem erfüllten, glücklichen Leben.

Markus Nüsseler studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Hochschule für Philosophie SJ München. Der Autor ist verheiratet und hat einen Sohn. Er lebt seit 1976 in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

1

Wann fährt Anna zum Flughafen, um Ben abzuholen?« Tim hatte das Messer auf den Brotzeitteller gelegt und sah Lea, seine Frau, fragend an. Die schlanke Frau mit den langen schwarzen Haaren blickte von ihrem Teller auf. Ihre blauen Augen ruhten auf Tims Gesicht, und mit einem Lächeln bemerkte sie: »Hat dir das Anna nicht schon gesagt? Sie ist doch seit Tagen schon ganz aus dem Häuschen. Alles dreht sich nur noch darum, dass Ben von seinem Jahr Work and Travel endlich zurückkehrt und sie ihn wieder in ihre Arme nehmen kann. Sein Flugzeug müsste Samstag um 11 Uhr 40 landen. Sie wird von hier gleich nach dem Frühstück aufbrechen.« Tim nickte und entnahm dem Brotkörbchen eine weitere Semmel. »Samstag wusste ich ja, es ging mir nur um die Uhrzeit. Dann werden wir von Anna am Wochenende nicht viel sehen.« Tim hielt die Kaisersemmel mit der linken Hand fest, stellte sie senkrecht auf den Teller und schnitt die Semmel durch eine sägende Bewegung von oben nach unten durch. »Möchtest du die andere Hälfte?«, fragte er Lea. »Nein, Danke. Ich bin schon fertig mit dem Essen.« Lea legte ihr Besteck parallel auf den Teller, schob diesen zur Seite, nahm ihre Serviette zur Hand und legte sie nachdenklich zusammen. »Ich bin gespannt, ob Ben sich jetzt für einen Studiengang entschieden hat. Während Anna die ersten beiden Semester ihres Bachelorstudienganges erfolgreich hinter sich gebracht hat, gondelt Ben über zehn Monate in der Weltgeschichte herum.« Lea seufzte. Wie konnte ihre ehrgeizige und strebsame Tochter ihr Herz an diesen Lebemann und Luftikus Ben verlieren! Wie oft hatte Lea gedacht: »Die beiden passen doch gar nicht zusammen!«

Lea war schon lange Jahre Leiterin der Kreditabteilung in der Zentrale ihrer Bank in München. Ihr Mann Tim war erfolgreicher Geschäftsführer des Hotels »Best Stay«, das unter seiner Leitung zu einem beliebten Kongresshotel aufgerückt war. Das Angebot von der Direktion seines Hotelkonzerns, das viel größere Schwesterhotel in Berlin zu übernehmen, hatte er aus Liebe zu seiner Frau abgelehnt. Er wusste zu gut, wie sehr Lea sich mit ihrer Arbeit identifizierte. Und wie viel Freude ihr die verantwortungsvolle Tätigkeit als Abteilungsleiterin bereitete.

Lange hatten Tim und Lea über das Angebot des Hotelkonzerns nachgedacht, Argumente dafür und dawider gegeneinander abgewogen. Dass Lea in Berlin nicht auf eine gleichwertige Stelle wechseln konnte, wog schwer. Das ließ Tim zögern. Aber auch die Freundschaft mit Lukas, die schöne gemeinsame Wohnung, das Zusammenleben mit Anna und der Austausch mit der lebensfrohen Carmen, der besten Freundin seiner Frau, die für ihn wie eine Schwester war, sprachen für Tim für einen Verbleib in München.

Im Hotel hatte Tim ein gut eingespieltes Team von Mitarbeitern. Ettore, der Kellner an der Bar, Antonio vom Serviceteam, Slavica und Chiara von der Rezeption. Nicht zu vergessen: Frau Müller, seine persönliche Sekretärin. Frau Müller war die dienstälteste Mitarbeiterin. Sie hatte bereits bei der Rentenversicherung Bund ihren Antrag auf Bezug der Altersrente gestellt. Am 30. November würde sie das Hotel »Best Stay« verlassen.

Tim war als Chef beliebt und schätzte die vielseitige und abwechslungseiche Tätigkeit als Hotelmanager. Man sah Tim oft unterwegs in seinem Hotel. Er liebte den Kontakt zu den Gästen und unterhielt sich auch gerne mit ihnen. Als Slavica letztes Jahr im Hinblick auf die Beerdigung ihres Onkels in Kroatien überraschend ein paar Tage Urlaub nehmen musste, hatte er sich während ihrer Abwesenheit am Vormittag wiederholt selbst an die Rezeption gesetzt und den Check-out der abreisenden Gäste übernommen.

Das Hotel »Best Stay« hatte in der ersten Etage mehrere große Räume für Vorträge und Veranstaltungen. Es war Tims Verdienst, dass das moderne Stadthotel an zentraler Lage nicht nur für Touristen attraktiv war, sondern auch für Veranstalter von Seminaren und Tagungen erste Wahl war. Fondsgesellschaften und Finanzdienstleister buchten in Tims Hotel gerne Räumlichkeiten für Seminare und Vortragsreihen. Die Hotelbar war mittlerweile in der Lage, auch das Catering zu liefern. Letztes Jahr hatte auch der Verband der süddeutschen Käseproduzenten seine Jahrestagung in Tims Hotel abgehalten. Viele Teilnehmer blieben über Nacht und brachten auch ihre Ehefrauen oder ihre Assistentinnen mit. Letzteres vermutete Tim regelmäßig beim Check-in, wenn die weibliche Begleitung sehr jung und überaus attraktiv war. Vor allem wenn ein Doppelzimmer für einen Herrn in den besten Jahren und seine junge Begleitung bestellt wurde, musste Tim beim Gang durch die Hotelhalle oft schmunzeln. »Die Zusammenarbeit der Geschäftsführer mit ihren feschen Mitarbeiterinnen funktioniert in jeder Hinsicht. Sogar nachts!«, dachte Tim.

Tim hatte die Hotelfachschule absolviert und war schon seit fünfundzwanzig Jahren Geschäftsführer seines Hotels. Wenn Finanzdienstleister Seminare über private Altersvorsorge und private Finanzplanung anboten, setzte er sich gelegentlich selbst in den Vortragsraum und verfolgte die Veranstaltung mit Interesse. Den einen oder anderen Impuls hatte er bei seiner privaten Geldanlage übernommen und durch Online-Banking umgesetzt. Zwar hatte Lea eine Banklehre absolviert, doch Tim wollte sich in Gelddingen ein eigenes Urteil bilden. Nur widerwillig übernahm er ungeprüft Vorschläge anderer. Tim war ein neugieriger Mensch und vielseitig interessiert. Wenn etwas sein Interesse weckte, beschäftigte er sich damit, überlegte sich Fragen dazu, verglich das Neue mit Bekanntem. Er wollte begreifen, Zusammenhänge herstellen, verstehen. Und nach fundiertem Nachdenken selbst die Entscheidung fällen.

2

Tims und Leas Tochter Anna hatte Ben am Samstagvormittag auf dem Flughafen München abgeholt. Beide waren überglücklich und konnten sich nur schwer aus der Umarmung nach dem ersten Kuss im Abholbereich des Flughafens lösen. Sie fuhren mit S-Bahn und Bus in das Haus von Bens Eltern in Trudering. »Wir haben das Haus ganz für uns, denn meine Eltern sind seit Freitag für zwei Wochen in Griechenland«, sagte Ben, als er den Koffer im Flur abgestellt hatte. »Ich würde nur gerne mal unter die Dusche gehen. Dann haben wir alle Zeit der Welt für uns!« Danach zog Anna Ben an sich und ihre Zunge suchte Bens Mund.

Als sich ihre Arme wieder voneinander lösten, sah Anna verliebt zu Ben auf und flehte: »Lass mich aber nicht lange warten!« Als Ben die Treppe hinaufging, zog Anna ihre Jeans und ihr Polohemd aus und legte sich auf das Sofa. Sie war bereit für das Liebesspiel, das so oft während der letzten Wochen ihre Phantasie erfüllt hatte.

Es war Sonntagabend, als Ben Anna zum S-Bahnhof Trudering begleitete. »Morgen gehe ich meine Immatrikulation an!«, waren seine letzten Worte, als Anna die Treppe zum Bahnsteig emporstieg.

Ihre Eltern waren noch auf und saßen im Wohnzimmer, als Anna gut gelaunt die gemeinsame Wohnung erreichte. Mit einem strahlenden Gesicht erschien Anna unter der Türe zum Wohnzimmer. »Endlich ist Ben wieder da. Ben lässt euch ganz lieb grüßen!«

Lea winkte ihre Tochter zu sich. »Komm, Anna, erzähl uns mal. Wie sieht Ben denn aus?« – »Man sieht ihm an, dass er viel draußen war. Er war ja zuletzt noch bei einem Cousin, der in Iowa eine Maisfarm betreibt. Er ist richtig braungebrannt.« – »Ich wusste ja gar nicht, dass Ben Verwandte in den USA hat«, bemerkte Tim. »Ja, eine richtig große Maisfarm haben die, ich weiß das auch erst seit gestern.« – »Na dann hat er in den Staaten noch ein zweites Standbein, wenn das mit dem Studium hier in Deutschland nichts wird!«, feixte Tim. »Sag doch so was nicht, Tim, bevor er überhaupt mit dem Studium begonnen hat!«, konterte Lea. »Weiß Ben denn jetzt, was er studieren will? Hat ihm das Programm Work and Travel geholfen, sich über die Wahl seines Studienfachs klar zu werden?« Lea hob die Augenbrauen und schaute ihre Tochter mit großen Augen an. »Ben sagt, nach allem, was er vorletztes Jahr in Indien, jetzt in Neuseeland und den USA gesehen hat, kommt nur ein Fach in Frage: Soziologie.« Tim rollte mit den Augen. Dann schüttelte er den Kopf. »Soziologie ist doch eine brotlose Kunst!«

Anna presste kurz ihre Lippen zusammen, schwieg jedoch. Seit sie Ben am Flughafen in ihre Arme genommen hatte, war sie beschwingt und kostete das Glück der wiedergewonnenen Zweisamkeit in vollen Zügen aus. Sie ließ die Bemerkungen ihres Vaters ohne Widerrede stehen und ging nicht darauf ein. Sie wollte sich ihre Freude über das Wiedersehen mit Ben nicht durch eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater zerstören lassen.

Anna kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er nicht bei dieser Meinung über das Studium der Soziologie bleiben würde. Sobald Ben ihm aus den Vorlesungen im Fachbereich Soziologie persönlich berichten würde, würde er ihm mit Neugier und Interesse zuhören. Gut möglich, dass er das Studium der Soziologie nach einem Gespräch mit Ben anders bewerten wird.

Lea fragte: »Willst du mit Ben noch etwas unternehmen, bevor das Wintersemester beginnt? Fahrt ihr zu zweit noch mal weg?« – »Wir haben noch keine Pläne. Mein Kopf ist noch ganz bei dem Examen in Allgemeiner Psychologie I, das ich in zwei Wochen bestehen muss. Und in den Semesterferien mache ich ja dann mein erstes Praktikum. Ich bin schon ganz gespannt darauf. Und Ben will sich im August an der LMU immatrikulieren.« Anna nickte, so, als wollte sie damit ihre Pläne bekräftigen. Jetzt stand sie auf. »Ich bin recht müde und ziehe mich jetzt zurück. Gute Nacht, Mama, gute Nacht, Papa.«

3

Anna hatte sich mit Leonie, ihrer Freundin vom Gymnasium, verabredet. Beide hatten demselben Abiturjahrgang angehört und hatten vor einem Jahr die Abiturprüfung bestanden. Während Anna sich für das Studium der Psychologie entschieden hatte, wollte Leonie nicht lange Jahre in Hörsälen und Seminarräumen verbringen und hatte sich deshalb für eine Ausbildung mit praktischem Bezug entschieden. Leonie hatte es geschafft, sich über eine Großbank einen Studienplatz an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart zu sichern. Es war Freitagabend, und Anna holte ihre Freundin vom Intercity aus Stuttgart ab.

Die gute Laune, die Ausgelassenheit, mit der Anna Leonie am Bahnsteig entgegenging, fiel Leonie auf. »Du bist ja wie ausgewechselt. Was ist denn los mit dir, Anna?« – »Ben ist zurück. Und stell dir vor: er hat sich auch schon für das Studium der Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität eingeschrieben. Ben ist immatrikuliert!« Anna strahlte Leonie an. »Weißt du, da ist mir schon ein Stein vom Herzen gefallen, jetzt endlich weiß er, was er will.« – »Da freue ich mich für dich, Anna. Der erste Schritt ist getan. Hoffentlich sagt ihm das Studium zu!« – »Und hoffentlich bleibt er dabei!«, sagte Anna mit nachdenklicher Mine. Und dir, Leonie, wie geht es dir mit deinem dualen Studium?« – »Ich bin immer noch mit Interesse dabei. Doch, ich würde mich wieder für diesen Ausbildungsgang entscheiden.«

Als die beiden Freundinnen in einem kleinen vietnamesischen Lokal ihre Essenswünsche der Kellnerin mit auf den Weg in die Küche gegeben hatten, war es Leonie, die sich über Annas Studium der Psychologie erkundigte. »Der erste Teil des Studiums ist natürlich sehr theoretisch. Es geht um die Grundlagen. Du lernst zunächst verschiedene Ansätze und psychologische Schulen in der Deutung menschlichen Verhaltens kennen. Als empirische Wissenschaft ist die Psychologie sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientiert: sie ist bestrebt, mit wissenschaftlichen Methoden allgemeine Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse und Strukturen und ihrer verhaltenssteuernden Funktionen zu ermitteln. In den kommenden beiden Studienjahren erwerben wir in spezialisierten Lehrveranstaltungen praktische Kompetenzen der psychologischen Gesprächsführung und Testung. Die Schwerpunkte in diesem Ausbildungsabschnitt sind klinische Psychologie, Wirtschafts- und Organisationspsychologie sowie Pädagogische Psychologie und Pädagogik.« Anna machte eine Pause. Leonie fixierte mit ihren Augen Anna, dann nickte sie anerkennend. »Da kommt ja allerhand auf dich zu.« – »Ja, und einiges an Mathe wird auch verlangt. Es gibt eigene Einheiten zum Thema Allgemeine Psychologie I. Einen Haken hat das Psychologiestudium schon: ein Großteil der Pflichtlektüre zu den Lehrveranstaltungen ist auf Englisch!« – »Wau!«, entfuhr es Leonie. Sie nickte ihrer Freundin anerkennend zu. »Klingt ambitioniert. Dann wünsche ich dir viel Erfolg.«

Die Kellnerin brachte die vietnamesischen Frühlingsrollen. Beide griffen zu Messer und Gabel. »Ich bin schon froh, dass ich bei meiner Ausbildung etwas näher am Finanzmarkt und den Erwartungen der Kunden dran bin. Und außerdem verdiene ich schon. Das ist zwar zu wenig, um mir eine eigene Wohnung zu mieten, aber es bleibt ein ordentlicher Teil für mich übrig. Darum bist du heute Abend mein Gast!« Annas Widerrede ließ Leonie nicht gelten.

Anna lebte nach wie vor bei ihren Eltern. Ein Zimmer in München zu nehmen war ein Luxus geworden, und Anna wollte ihre Eltern mit dem Wunsch, auszuziehen und in eine eigene Studentenbude zu ziehen, nicht belasten.

Nach dem Essen berichtete Anna noch von den Eindrücken, die Ben in Neuseeland und den USA gewonnen hatte. »Schon toll, so ein Jahr voll von einmaligen Erlebnissen und Erfahrungen. Warum bist du nicht mit Ben auf Weltreise gegangen?« – »Ich habe mich so auf das Psychologiestudium gefreut. Ich wollte nicht mehr länger warten. Und ich habe mehr als einmal abfällige Bemerkungen meiner Mutter über die Idee mit Work and Travel gehört. Die Sticheleien über Bens Plan haben mir gereicht. Ich wollte mich selbst dieser Kritik nicht auch noch aussetzen. Umso mehr genieße ich es, dass er jetzt wieder da ist. Zu schade, dass ich jetzt noch auf die letzten Prüfungen büffeln muss. Aber im August und im September haben wir wieder jede Menge freie Zeit füreinander.«

Leonie winkte der Kellnerin. Als sie bezahlt hatte, markierte Leonie den Aufbruch. Beide wollten in den Moonshine Club zum Tanzen gehen. Für Anna war der Gang in den Club mit einer Freundin nichts Ungewöhnliches. Vor dem Abitur hatte sich ihnen oft Sophia angeschlossen. Aber jetzt, nach Bens Rückkehr, kam Anna der Abend im Club ohne ihren Geliebten etwas ungewöhnlich vor. »Aber schließlich hat mich Ben fast ein Jahr allein gelassen. Heute habe ich mir jedoch für Leonie Zeit genommen.« Sie folgte ihrer Freundin auf das Parkett und überließ sich den heißen Rhythmen der Musik. Anna schüttelte ihre Bedenken von sich und fühlte sich frei.

Nach einer ganzen Weile erst kehrte sie zurück zum Tischchen. Anna folgte den Klängen der Musik und träumte vor sich hin. Doch wo war Leonie?

Als sie sich frisch machen ging, sah sie Leonie in angeregter Unterhaltung mit einem Mann mit dichtem schwarzem Haar an der Theke der Bar sitzen. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Beide schienen sich gut zu verstehen, denn gerade als Anna an ihnen vorbeiging, lachten beide. Als sie von der Toilette zurückkam, konnte Anna in sein Gesicht sehen. Ein seliges Lächeln umspielte den Mund des Fremden, und seine Augen ruhten auf Leonies Gesicht. Jetzt legte er seine Hand auf Leonies Arm. Beide waren sich in kurzer Zeit nähergekommen. Anna ging zurück auf die Tanzfläche.

Es dauerte nicht lange, und Leonie kam zurück. Sie setzte sich eng neben Anna, und Leonie brüllte ihr ins Ohr: »Nicht böse sein. Sven und ich ziehen jetzt weiter.« Wie zur Beruhigung legte nun Leonie ihre Hand auf Annas Arm. »Viel Spaß noch!« Schon war Leonie aufgestanden und zog in Richtung Bar davon. Anna blieb allein zurück.

Anna überlegte. Es war halb elf. Das frühe Ende einer Disco-Nacht? Oder sollte sie sich auf den Weg in die Stella Bar machen? Das waren keine zehn Minuten Fußweg. Da Freitagabend war, würde sie dort sicher Carmen treffen, die beste Freundin ihrer Mutter, die mittlerweile auch ihre Freundin und Mentorin war. Carmen war der einzige Mensch in Annas Leben, dem sie vorbehaltlos alle ihre Gedanken und Gefühle anvertrauen konnte. Wenn sie das Innerste ihres Herzens vor Carmen ausbreitete, wurde die quirlige und fröhliche Carmen ganz ruhig und ernst. Hörte interessiert zu, fasste Carmens innerste Regungen in eigene Worte und bestätigte damit: Anna, ich habe dich verstanden. Anders als ihre Freundinnen gab Carmen keine Ratschläge. Wenn sie zuhörte, war Carmen ganz bei Anna, und gelegentlich stellte sie eine Frage, die ihr half, ein Problem unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Anna war mit Carmen schon auf Städtereisen und im Urlaub gewesen, und die beiden Frauen waren wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Anna genoss Carmens Gesellschaft sehr. Carmen tat ihr richtig gut.

Oder sollte sie Ben anrufen? Sie wusste nicht, was er heute Abend für Pläne hatte. Ben käme sicher mit Freude in den Club. Und möglicherweise brächte er noch einen Freund mit. Da sie nicht wusste, wo Ben gerade steckte, würde sie eine ganze Weile auf sein Eintreffen warten müssen. Es würde eine lange Freitagnacht werden.

Anna griff nach ihrer Handtasche. »Vielleicht ist es ganz gut, wenn es heute nicht so spät wird. Dann bin ich morgen ausgeruht zum Lernen.« Sie dachte dabei an die bevorstehende Prüfung, erhob sich, zog ihre Lederjacke an und verließ den Club.

4

Obwohl noch Juli war und die Stelle der Assistentin für die Geschäftsleitung erst zum 1. Dezember neu zu besetzen war, vertiefte sich Tim in die Bewerbungsschreiben. An die hundert Bewerber:innen hatten auf die Stellenausschreibungen reagiert und eine persönliche Bewerbung online eingereicht. Als Tim das festgestellt hatte, wurde ihm bewusst, dass er in den nächsten Wochen viele Stunden mit der Prüfung der Bewerbungen verbringen würde. Er wollte der Reihe nach vorgehen. Für heute hatte er sich vorgenommen, fünfzehn Bewerbungsschreiben zu studieren und geeignete Kandidaten und Kandidatinnen in eine eigene Liste aufzunehmen. Neben dem Laptop lag ein Blatt Papier. Die Vorderseite hatte er mit einem »I« für »fachintern« markiert. Auf dieser Seite würde er Bewerber:innen mit dem Abschluss »Staatl. gepr. Hotelbetriebswirt:in« notieren. Auf der Rückseite stand »E« für Bewerber:innen mit anderen Qualifikationen, die aber trotzdem in die engere Auswahl kommen sollten.

Nach einer guten Stunde konzentrierter Lektüre hatte Tim fünfzehn Bewerbungsschreiben durchgelesen. Drei Bewerber:innen waren mangels Qualifikation oder persönlicher Eignung ausgeschieden. Einige Bewerber:innen hatten es auf die Liste unter »I« geschafft, weitere fanden sich unter »E«. Es gab auch einige »Ausreißer«, wie Tim sie gerne nannte. Eine junge Frau wies einen Master in Komparatistik nach und verwies stolz darauf, dass sie in den Semesterferien immer wieder als Kellnerin gearbeitet hatte. Und eine ausgebildete Köchin dachte über einen Wechsel in das Management nach. In beiden Fällen hatte Tim schmunzeln müssen.

Die hübsche junge Frau mit den langen braunen Haaren und dem Master in Komparatistik tat ihm fast leid. Sie konnte eine Reihe von Praktika vorweisen, eines davon sogar in Madrid. Zweifelsohne war sie gut ausgebildet und suchte jetzt, mit 26 Jahren, fieberhaft eine Arbeitsstelle, ihren Platz im Erwerbsleben, ihren Platz in der Welt. Tim wurde nachdenklich.

Noch einmal wollte er sich ihre Bewerbung näher ansehen. Er scrollte zurück. Da war sie wieder. Anna W., in München geboren, Studium an der LMU, 26 Jahre alt, wohnhaft in Neubiberg. Tims Augen suchten die Angaben zu ihren Praktika. Bei einer Angabe blieb er stecken: Praktikum im Management des Hilton Hotels in Frankfurt/M. Er hatte gefunden, was er beim ersten Mal übersehen hatte: die Hotelgruppe Hilton! Er griff nach dem Bogen und trug unter »E« nach: »Anna W., 26, Praktikum bei Hilton Hotels.«

Er klappte das Notebook zu, legte den Bogen mit den Notizen in die zweite Schublade seines Schreibtisches und schob seinen Bürostuhl vom Tisch weg. »Jetzt habe ich mir einen Kaffee verdient!«

Auf dem Weg zur Bar in der Hotellounge führte ihn sein Weg an der Rezeption vorbei. Am Vormittag hatte er sich mit Chiara unterhalten, jetzt war Slavica an der Reihe. »Hallo Slavica. Haben Sie schon Urlaubspläne?« –

»Ja, Herr, Gerling. Diesmal werden wir meiner Heimat Kroatien untreu. Wir fliegen am 15. August für zwei Wochen nach Kreta.« – »Oh! Wie schön.« Ein wohliges Gefühl machte sich in Tim breit. Er hatte eine besondere Erinnerung an Kreta. Auf Kreta hatte er den ersten gemeinsamen Urlaub mit Lea verbracht. Und im Park des Hotelgartens auf Kreta hatte er Lea seinen Heiratsantrag gemacht.

»Sie waren doch auch schon auf Kreta?« Slavica holte mit ihrer Frage Tim in die Gegenwart zurück. »Ja, und mir hat es dort sehr gut gefallen. Wir waren in Rethymno. Wo ist Ihr Hotel gelegen?« – »In Amoudara.« Tim kannte Amoudara nicht, und dennoch nickte er zustimmend »Mit Kreta haben Sie und Ihr Mann sicher eine gute Wahl getroffen«, meinte Tim lächelnd. Gut gelaunt setzte er seinen Weg zur Hotelbar fort.

Heute beendete Tim seine Dienstzeit im Hotel schon kurz vor fünf Uhr. Die schöne Erinnerung an den ersten gemeinsamen Urlaub mit Lea in Rethymno auf Kreta bewog ihn, am Marienplatz noch eine Schachtel Trüffel für Lea zu kaufen und ihr damit eine Freude zu machen. Er liebte Lea aus ganzem Herzen und er war froh und dankbar, dass sie seinen Heiratsantrag auf Kreta angenommen und mit einem Ja beantwortet hatte. Auf dem Weg zum nächsten U-Bahnhof kehrten seine Gedanken zu den Bewerbungsschreiben zurück, die er am Nachmittag studiert hatte. Wie gut, dass er bei der jungen Frau mit dem sprachwissenschaftlichen Studium noch ein zweites Mal in die Bewerbungsunterlagen geschaut hatte. Was hatte ihn dazu veranlasst? War es der Umstand, dass die Bewerberin den gleichen Vornamen wie seine Tochter hatte? Hatte sich ihr Foto in seinem Gedächtnis festgesetzt, das hübsche Gesicht, aus dem zwei nachdenkliche und gleichzeitig neugierig wirkende Augen auf den Betrachter gerichtet waren?

Auf jeden Fall würde er beim Bewerbungsgespräch Anna W. näher über ihr Praktikum bei Hilton Hotels befragen.

Tim hatte am Marienplatz eben einen Bogen um eine Touristengruppe gemacht, die sich um ihren Reiseleiter versammelt hatten und deren Gesichter dem neugotischen Bau des Münchner Rathauses mit seinem bekannten Glockenspiel zugewandt waren. Plötzlich hörte er hinter sich eine Stimme, die er längere Zeit nicht mehr gehört hatte. Und dennoch war die Stimme ihm sehr vertraut. Es war Mirela. »Tim! Hallo Tim! Wie schön, dass ich dich treffe!« Aus einem fröhlichen Gesicht mit einem breiten Lächeln sahen zwei braune Augen zu Tim auf. Tim streckte Mirela die Hand entgegen. »Mirela! Du!« Mehr brachte Tim nicht hervor. Die Frau, die jetzt leibhaftig vor ihm stand, kannte er zu gut. Sie waren sich vor drei Jahren sehr nahegekommen, und er stellte auf einen Schlag fest, dass Mirela noch immer hübsch, gefühlsbetont und warmherzig war. Die Überraschung war perfekt. Mirela war dicht an ihn herangetreten, und es war Tim, als hätte Mirela eine Umarmung erwartet. Er trat einen Schritt zurück. Zur Sicherheit, um Abstand zu schaffen. »Wie geht es Dir? Und was machen die Zwillinge?«, brachte er hervor. »Die sind jetzt in der Kinderkrippe. Im September kommen sie in den Kindergarten. Und ich arbeite wieder. – Doch jetzt zu dir. Bist du immer noch Geschäftsführer in deinem Hotel?«

Tim berichtete von sich und seiner Familie, wobei ihm auffiel, dass Mirela gezielt Fragen über Annas Studium und über ihren Freund Ben stellte, aber keine Reaktion zeigte, als er seine Frau Lea erwähnte. Dabei war Mirela eine ganze Weile die beste Freundin Leas gewesen. Eine echte Busenfreundin, und die beiden hatten sich mindestens zwei Mal jeden Monat verabredet. Bis Lea dahintergekommen war, dass Mirela und ihr Mann sie betrogen hatten. Wie oft hatten sie beide miteinander geschlafen, und wie perfekt hatten sie ihr Liebesnest im Hotel vor Lea verborgen! Bis Mirela bei einem Treffen mit Lea ein Taschentuch mit Tims Initialen aus der Handtasche zog, ein Taschentuch, das Lea ihrem Mann geschenkt hatte.

Mirela hatte damals nicht die Kraft gehabt, auf Leas Fragen zu lügen und hatte das intime Verhältnis mit Tim zugegeben. Die Freundschaft der beiden Frauen zerbrach, und Tims Ehe stand auf der Kippe. Er zog von zu Hause für drei Wochen aus und lebte während dieser Zeit in einem kleinen Zimmer für Dienstpersonal in seinem Hotel. Nach drei Wochen hatte Lea ihm die Hand zur Versöhnung gereicht. Lea hatte ihm verziehen und Tim hatte versprochen, sein Verhältnis zu Mirela zu beenden. Er hatte den Kontakt zu Mirela vollständig abgebrochen und sein Wort gehalten.

Tim wollte das Gespräch mit Mirela beenden. Doch Mirela gab noch nicht auf. »Hast du keine Zeit für mich? Für ein Glas Sekt?« – »Ich freue mich, dass ich dich getroffen habe, Mirela. Noch mehr freut es mich, dass es dir gut geht. Aber ich bin jetzt auf dem Weg zu Lea und Anna.« Tim hielt Mirela die Hand hin. Mirela nahm seine Hand und hielt sie in ihren warmen Händen fest. Ein inniger Blick der braunen Augen Mirelas fixierten Tim. »Falls du fachliche Hilfe oder Rat brauchst, ich bin für dich da!«

Einen kurzen Moment blieb Tim wie versteinert stehen. Beinahe hätte er mit dem Kopf genickt, wie er es zum Abschluss eines Gesprächs so gerne tat. Doch er unterließ diese Geste. in seinem Verhalten blieb er distanziert. »Alles Gute, Mirela!« Tim wandte sich zum Gehen.

5

Als er in der S-Bahn nach Pasing saß, war er in Gedanken bei der Begegnung mit Mirela auf dem Marienplatz. Kein Zweifel, Mirela hätte sich über ein Kaffeetrinken mit ihm gefreut. Beide hätten genug Stoff für ein persönliches Gespräch gehabt. Mirela hätte ihm konzentriert, mit persönlichem Interesse und Empathie zugehört. Und er konnte sich den Glanz in ihren braunen Augen vorstellen, wenn sie ihn ansah, ihr verführerisches Lächeln, wenn sie den Kopf zur Seite neigte. Hätte er bei der Verabschiedung ein Wiedersehen vorgeschlagen, hätte Mirela gestrahlt und ihn vor Freude umarmt. So war sie, Mirela. Ihr Angebot, ihn in beruflichen Angelegenheiten zu unterstützen, war ehrlich gemeint. Mirela hatte den Master in Betriebswirtschaft. Und sie hatte ein fantastisches Zahlengedächtnis. Wenn Mirela die Bilanz eines Unternehmens studierte oder einen Geschäftsbericht las, versank sie in den Zahlen. Analysierte sie, fand die Schwachstellen und formulierte die richtigen Fragen. Sie war ganz Frau vom Fach.

So hatte Tim Mirela erlebt, als er sie im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Erweiterung des Gastrobereichs in seinem Hotel um ihren Rat gebeten hatte. Sie hatte ihm kompetenten Rat erteilt.

Mit ihrem fachlichen Urteil war das Thema Gastrobereich damals erledigt. Doch nach der Auswertung der Zahlen kam Mirela zu ihrem eigentlichen Thema: Tim.

Auf ihrer eigenen Hochzeit hatte sie mit Tim getanzt und sich in den netten Hotelier verguckt. Sie hatte sich in Tim verliebt und wollte Tims Herz für sich gewinnen, ihn als Mann erobern. Ihr Ziel hatte sie schließlich erreicht. Ein intimes Verhältnis begann, das fast zwei Jahre fortbestand. Bis Tim und Mirela aufflogen und er aus Liebe zu seiner Frau das Verhältnis mit Mirela abrupt beendete und Lea versprach, ihr fortan treu zu bleiben.

Tim brach den Kontakt zu Mirela vollständig ab. Mirela war aus Tims Leben verbannt und schon bald dachte er nicht mehr an Mirela. Das Kapitel Mirela war abgeschlossen. In diesem Glauben hatte Tim die letzten Jahre gelebt.

»Nächster Halt: Pasing!« Tim erhob sich und ging in Richtung Ausgang. »Hoffentlich freut sich Lea über die Trüffel«, dachte er. »Aber von meiner Begegnung mit Mirela werde ich nichts erzählen. Ich möchte nicht, dass bei Lea alte Wunden aufbrechen. Für mich ist die Sache mit Mirela erledigt!«, glaubte Tim.

Lea hatte sich riesig über die 300-Grammschachtel mit den gemischten Trüffeln gefreut. »Wie lieb von dir! Wasch dir schnell die Hände, ich bin in der Küche schon fertig.« Als Tim aus dem Bad kam, trug Lea den Gemüsestrudel ins Wohnzimmer. »Sind wir nur zu zweit?« – »Ja. Anna ist mit Ben unterwegs.«

Beim Essen berichtete Tim von seinem Arbeitstag im Hotel. Er erklärte seiner Frau, wie er beim laufenden Bewerbungsverfahren für die Stelle seiner Assistentin vorgehen wollte. »Hast du schon jemanden in die engere Wahl aufgenommen?« – »Es gibt mehrere Kandidatinnen und Kandidaten auf meinen Listen. Auch eine mögliche Quereinsteigerin.« Tim dachte an Anna W. Doch die hübsche junge Frau mit den langen braunen Haaren und dem Master in Komparatistik erwähnte er seiner Frau gegenüber nicht. »Morgen werde ich die nächsten fünfzehn Bewerbungsschreiben studieren«, sagte er seiner Frau. Nachdenklich bestrich er eine Scheibe Brot mit Teewurst.

Schweigend aßen beide weiter. Lea durchschnitt die Stille. »Was beschäftigt dich denn, Tim? Ist es die Suche nach einer Nachfolgerin für Frau Müller?«

Tim war in Gedanken wieder bei der Begegnung mit Mirela auf dem Marienplatz gelandet. Doch darüber wollte er nicht mit Lea reden. Aus Verlegenheit griff er nach seiner Serviette, wischte sich damit über den Mund und fragte mit einem Lächeln: »Wann triffst du dich wieder einmal mit Carmen?« Für diese Frage erntete Tim bei seiner Frau ein dankbares Lächeln. »Carmen. Das ist eine gute Idee. Wollen wir sie fragen, ob sie mit uns mal in einen Biergarten geht? Ich könnte mich vorher noch mit Anna besprechen. Vielleicht geht sogar Ben mit.« Jetzt konnte Tim wieder mit dem Kopf nicken. »Das ist eine großartige Idee. Mach das ruhig, Lea. Ich hätte Spaß daran, mit euch allen in einen Biergarten zu gehen.«

6

Nach dem ersten Rundgang durch das Hotel setzte Tim sich an seinen Schreibtisch und klappte das Notebook auf. Er war neugierig auf die nächsten fünfzehn Bewerbungsschreiben, die er sich heute durchsehen wollte. Er war ganz überrascht, dass die ersten drei Bewerberinnen alle die Hotelfachschule absolviert hatten und damit auf der ersten Seite seines Bogens unter »I« landeten. Und alle drei arbeiteten in verschiedenen größeren Hotels. Die erste Bewerberin in Hamburg, die zweite in Düsseldorf, und die dritte in einem Urlaubshotel in Wernigerode im Harz. Tim kannte Wernigerode von einer Dokumentarsendung des Fernsehens, und er musste an alte Fachwerkhäuser denken, aber dass Wernigerode so nahe am Brocken, dem höchsten Berg des Harzes, lag, wusste er nicht. »Und jetzt will die Bewerberin das Flair der Großstadt kennenlernen?«, überlegte er und musste schmunzeln. »Oder hat ihr Partner eine Stelle in München?« Er sah sich die bisherigen Stellen an. Hotelfachschule Leipzig, danach vier Jahre im The Westin Hotel in Leipzig, der ersten Adresse am Platz, dann Wernigerode? Was mochte die junge Frau bewogen haben, The Westin Hotel mit seinem internationalen Publikum nach vier Jahren zu verlassen und in die Provinz, in den Harz, zu ziehen? Tim vermutete persönliche Gründe. Vielleicht stammte die junge Frau aus dem Harz, und der neue Mann ihrer Träume aus München?

»An sich ist The Westin in Leipzig eine hervorragende Adresse. Je nach der konkreten Tätigkeit würde das die Bewerberin bestens qualifizieren und damit in die engere Wahl bringen. Ich werde die Bewerberin auf jeden Fall um ein Arbeitszeugnis über ihre Tätigkeit im Westin Leipzig bitten«, überlegte Tim und machte einen entsprechenden Vermerk auf seinem Bogen.

Die restlichen zwölf Bewerbungen las Tim zügiger als am Vortag. Heute achtete er stärker auf die bisher ausgeübten Tätigkeiten. Einige Namen trug er auf seinem Bogen unter »I« ein.

Er stand auf, verließ sein Büro und ging zu seiner Assistentin, Frau Müller. Gut gelaunt fragte er: »Na, Frau Müller, freuen Sie sich schon auf Ihren Ruhestand?« Frau Müller lachte, als sie diese Frage hörte. »Herr Gerling, wie oft habe ich diese Frage in den letzten Wochen gehört. Und jedes Mal scheint es mir, als würde der Fragesteller von mir wissen wollen, ob ich froh darüber bin, nach dem 30. November nicht mehr in die Arbeit gehen zu müssen. So, als ob mit dem 1. Dezember ein unbefristeter Urlaub beginnt.« Frau Müller senkte ihren Blick und machte eine Pause. Nachdenklich beantwortete sie Tims Frage: »Wenn ich ehrlich bin: ich sehe dem 1. Dezember mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich freue mich über die Zeit, die der Ruhestand mir schenkt. Die Möglichkeit, spontan bei schönem Wetter einen Ausflug mit der S-Bahn zu machen, oder einfach nur einen ausgedehnten Spaziergang der Isar entlang oder durch den Schlosspark Nymphenburg. Oder mich mit einer Freundin zu verabreden. Ja, es ist auch schön, wenn ich abends keinen Wecker stellen muss und mit Muße in den Tag gehen kann. Aber die Arbeit hier im Hotel wird mir trotzdem fehlen, die Telefonate und die Kontakte zu den Mitarbeitern hier im Hotel. Wie Sie ja wissen, bin ich verwitwet. Ich lebe allein in meiner Wohnung. Darum werden mir die Kontakte, die ich hier in der Arbeit habe, doppelt fehlen.«

Tim nickte. »Ja, das kann ich verstehen. Und wenn Sie auf die Jahre, die Sie in unserem Hotel gearbeitet haben, zurückschauen, wie fällt da ihre Bilanz aus?« Tim hatte die Augenbrauen gehoben und wartete gespannt auf die Antwort. »Sehr positiv, Herr Gerling. Es war die schönste Zeit meines Arbeitslebens. Danke auch, dass Sie immer Verständnis für uns haben. Ich habe gerne für Sie gearbeitet!« – »Danke, liebe Frau Müller. Das höre ich gerne.« Tim reichte Frau Müller die Hand. »Und dieses Jahr im August wieder nach Cesenatico?« – »Diesmal nicht. Ich fliege mit meiner Freundin für zehn Tage nach Mallorca. Wir sind in Alcudia.«

»Einen schönen Tag noch, Frau Müller!« – »Stopp! Ich habe noch die Post für Sie.« – »Danke!« Tim machte sich auf den Weg in die Lounge. Es blieb noch Zeit für einen Plausch mit den Damen von der Rezeption. Da Slavica gerade telefonierte, unterhielt er sich mit Chiara und fragte sie nach Reisegruppen. »Momentan gerade nicht, aber wir haben jede Menge Buchungen für die zweite Septemberhälfte. Ich denke, das Hotel wird zu 90 % ausgebucht sein.« – »Hervorragend!« Tim rieb sich die Hände. Jetzt fiel ihm auch der Grund für die gute Auslastung des Hotels nach dem 16. September ein: das Münchner Oktoberfest!

Tim kehrte in sein Büro zurück. Bevor er nach dem Brieföffner griff, fiel ihm ein, dass heute Lea zu ihm in die Lounge zum Mittagessen kommen wollte. Es war Mittwoch, jener Wochentag, an dem sie nach einer alten Gewohnheit, die auf die Zeit ihrer jungen Liebe zurückging, gemeinsam an der Bar in der Lounge einen kleinen Imbiss zu sich nahmen. Tim freute sich auf die knappe Stunde mit Lea in der Mittagspause.

Beim gemeinsamen Mittagessen berichtete Tim Lea von seinem Gespräch mit Frau Müller. »Frau Müller geht mit einem lachenden und einem weinenden Auge in Pension. Sie sagt, die Arbeit bei uns im Hotel wird ihr fehlen.« – »Aber das ist doch normal, zumindest wenn das Betriebsklima am Arbeitsplatz stimmt. So wie es mir heute in der Arbeit geht, gehe ich auch davon aus, dass mir der Abschied als Leiterin der Kreditabteilung schwerfallen wird. All die Gespräche mit den Kollegen und den Kreditnehmern, das Studium der Unterlagen zu ihren persönlichen oder unternehmerischen Verhältnissen, werde ich mit Sicherheit vermissen. Aber sei ehrlich Tim, ohne dein Hotel bist du doch auch nur ein halber Mensch:« Tim lachte. Was Lea über sein Verhältnis zu seiner Arbeit gesagt hatte, empfand er wie ein Lob, eine Anerkennung seines Engagements. Tim nickte. »Da könntest du rechthaben. Nach jedem Urlaub bin ich wieder hoch motiviert zurück an die Arbeit gegangen. Ich war neugierig, was in meiner Abwesenheit passiert war.«

Tim sah seine Frau liebevoll an. »Ich freue mich, dass du meine Arbeit so positiv siehst. Ja, ich mache meinen Job hier gerne. Ich freue mich trotzdem, dass ich in der Rente Zeit für die eine oder andere Reise haben werde. Vor allem, dass ich auch mal länger als zwei Wochen weg sein kann.« – »Sofern du dann mit 67 noch gesund und mobil bist.« – »Ja, natürlich. Worauf würdest du dich in der Rente denn besonders freuen?« Lea trank einen Schluck. Nachdem sie das Glas wieder abgestellt hatte, antwortete sie. »Zunächst mal auf ein gemütliches Frühstück. Und die Zeit, die ich mit dir verbringen kann.«

Lea deutete an, dass sie wieder zurück in die Bank müsse. »Ich begleite dich noch ein Stück.«

Abends, in der S-Bahn, sann Tim noch über Leas Blick auf seinen Beruf nach. »Ohne dein Hotel bist du doch nur ein halber Mensch.« Ja, er ging in seiner Arbeit auf, hatte Freude an vielen Tätigkeiten. Mit Neugierde und Interesse vertiefte er sich in die Bewerbungsschreiben. Er versuchte sich auch in den Menschen hinter dem Bewerbungstext hineinzuversetzen. Was hatte den Ausschlag gegeben, sich für diese Stelle in seinem Hotel zu bewerben? Wo lagen die Stärken und die Interessen des Bewerbers, der Bewerberin? Oder war es nur eine von vielen Bewerbungen, die die Arbeit suchende Person losgeschickt hatte in der Hoffnung, Erfolg zu haben?

Das Hotel »Best Stay« war ja nicht nur sein Arbeitsplatz. Das Hotel hatte in der obersten Etage Mirela und Tim Raum für ihre intimen Stunden geboten. Auf dem Bett in dem kleinen Zimmer hatten sie sich hemmungslos ihrer Leidenschaft hingegeben und waren im Rausch der Sinne dem Höhepunkt entgegengetrieben.

Mirela! Erinnerungen erwachten zu neuem Leben. Ein warmes Gefühl ergriff Tim. Es war Tim, als hätte Mirela ihn eben in seine Arme genommen, an sich gezogen.

7

Als Tim seine Wohnung betrat, kam ihm Lea entgegen. Sie küssten sich im Flur stehend. »Ich habe mit Carmen telefoniert. Sie war begeistert von unserer Idee, am Samstag in den Hirschgarten zu gehen. Sie kommt sehr gerne. Auch Anna und Ben kommen. Sie will auch Leonie fragen. In diesem Fall wären wir zu sechst!«, berichtete Lea. »Fein, das wird eine nette Runde. Danke, dass du dich darum gekümmert hast. Was willst du mitbringen?« – »Ich habe daran gedacht, einen Frischkäseaufstrich zu machen. Einen Radi könnte ich auch noch kaufen. Und unsere Tochter will einen Nudelsalat machen.« »Oh, das freut mich besonders.« Tim schmeckte jede Form von Nudelgericht.

»Ach ja, Anna kommt heute gegen sieben zum Abendessen.« – »Dann decke ich schon mal den Tisch.«

Kurz nach Bens Rückkehr war Anna vorübergehend bei Ben eingezogen. Sie nutzten die Gelegenheit, die das leere Elternhaus Bens in Trudering während deren Urlaub in Griechenland dazu bot. In der Mitte der zweiten Woche war Anna wieder in ihr Zimmer in der elterlichen Wohnung zurückgekehrt. Die Rückkehr von Bens Eltern stand vor der Tür, und auch Annas Examen stand Ende der folgenden Woche heran. Anna war froh, wieder Zeit für sich allein zu haben und sich wieder ganz auf die Examensvorbereitung konzentrieren zu können. Sie hatte zwar ihren Laptop und die Mitschriften aus den Vorlesungen mit in Bens Elternhaus genommen. Und sie hatte sich zu Beginn tatsächlich nach dem gemeinsamen Frühstück zum Lernen zurückgezogen. Aber Ben hatte sie oft unterbrochen und gemeinsame Unternehmungen vorgeschlagen. Anna tat es dann immer leid um den verlorenen Nachmittag, den sie so gerne zum Wiederholen des Lernstoffs genutzt hätte. Es war Anna schwergefallen, zu Bens Projekten Nein zu sagen. Sie wollte ihren Geliebten nicht enttäuschen. Aber immerhin war sie einmal nach der Rückkehr aus dem Kino den ganzen Abend über ihren Unterlagen und hinter dem Laptop gesessen.

Ben hatte ein unerschöpfliches Reservoir von Ideen, und oft hatte er ganz spontane Einfälle. Er machte Pläne, die er dann kurzfristig, oft unterwegs zum Ziel, wieder verwarf oder abänderte. Ben war sehr unternehmungslustig. In seiner Organisation fehlte ein durchdachter Plan, vieles wurde im Zufall geboren und wirkte chaotisch, zusammenhanglos. Außerdem liebte er die Abwechslung und war begierig darauf, Neues kennenzulernen.

Am Samstag waren Tim, Lea und Anna die Ersten im Hirschgarten und suchten einen Tisch im Schatten. Kaum hatten sie sich gesetzt, da trat Carmen an den Tisch. Sie legte eine große Tüte vom Bäcker auf den Tisch. Alle umarmten sich, und danach zog Lea Carmen zu sich auf die Bank. »Gut siehst du aus!«, lobte Lea ihre Freundin. Carmen war in Jeans und Polohemd gekleidet und trug ihre schulterlangen blonden Haare heute offen. Während der Arbeitswoche steckte sie ihre Haare meist auf. Das machte sie weiblicher und in Verbindung mit ihrer eleganten Kleidung wirkte sie auf ihre Mitarbeiter und ihre Kunden selbstbewusst, ja emanzipiert. Wenn Carmen in der Freizeit ihre Haare offen trug, wirkte ihr schmales Gesicht mit den tief liegenden Augen gelegentlich mädchenhaft. Niemand hätte in der fröhlichen Frau mit den strahlend blauen Augen eine Anlageberaterin für sehr vermögende Privatkunden und Family Offices vermutet. Außerdem leitete Carmen ein Team von Mitarbeiter:innen.

»Ich habe mich über deinen Vorschlag sehr gefreut, Lea. Und gestern Abend habe ich euch in der Stella Bar vermisst. Habt ihr nicht Lust, wieder einmal tanzen zu gehen?« – »Ja, gerne.«

Da erschien auch schon Ben, gut gelaunt, in ausgewaschenen Jeans und Sandalen. Tim war aufgestanden und trat an Ben heran. »Schön, dass du da bist. Komm, wir gehen zur Theke und holen die Getränke.« Tim fragte in der Runde nach den Wünschen. »Also los, Ben!

Auf dem Weg zur Schänke fragte Tim nach Bens Immatrikulationsverfahren. Ben gab bereitwillig Auskunft. »Vor der Immatrikulation ist die Teilnahme am Studienorientierungsverfahren für den Bachelorstudiengang Soziologie vorgeschrieben. Das habe ich letzte Woche schon hinter mich gebracht. Ich konnte das online von zu Hause aus machen. Die eigentliche Immatrikulation ist erst im August möglich.« – »Und wann beginnen die Vorlesungen?« – »Vorlesungsbeginn ist nach dem 15. Oktober. Anna und ich wollen nach dem Ende von Annas Praktikum noch etwas verreisen.« Tim wollte noch nach dem Ziel der Reise fragen, doch der Schankkellner kam ihm zuvor. »Drei Maßkrüge sind aber schwer!«, bemerkte Tim, als er nach dem Bezahlen die Krüge anhob. Einen mit der linken Hand, zwei mit der rechten Hand. »Dir fehlt die Übung«, meinte Ben lakonisch. Tim kam auf die geplante Reise seiner Tochter mit Ben zu sprechen. »Wo geht’s denn hin?« – »Wir haben uns für Marokko entschieden. Meer, Wüste, Berge, historische Städte und orientalisches Flair. Alles zu einem günstigen Preis.« – »Habt ihr schon gebucht?« – »Der Flug nach Marrakesch und die ersten Übernachtungen in Marrakesch sind schon in trockenen Tüchern. Die Reise durch das Land planen wir spontan, sobald wir unser Quartier in Marrakesch bezogen haben. Oktober ist ein idealer Reisemonat.«

Als sie zurück am Tisch waren, verteilten sie die Maßkrüge. Anna hatte eine weißblaue Tischdecke mit Rauten ausgebreitet und zusammen mit Carmen Teller, Bestecke und Servietten ausgelegt. Als er den Nudelsalat, den Frischkäse und die frischen Brezn wahrnahm, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. »Schön habt ihr das gemacht. Alles sieht so einladend aus!« Er lächelte Carmen und Anna anerkennend zu. »Danke für eure Mühe, und für die mitgebrachten Leckerbissen!« Er zwinkerte seiner Frau zu, hob den Bierkrug und sagte in die Runde: »Prost!«

Tim saß am unteren Ende des Tisches neben seiner Tochter. Ihm gegenüber hatten Lea und Carmen Platz genommen. Ben und Leonie saßen am oberen Ende des Tisches.

Tim drehte seinen Kopf zu seiner Tochter Anna. »Ben hat mir über eure Marokkopläne berichtet. Das klingt interessant.« – »Ja, ich bin sehr gespannt und freue mich auf unsere gemeinsame Reise.«

Am oberen Ende des Tisches ließ sich Ben von Leonie den Aufbau ihres dualen Studiums und ihre spätere Tätigkeit bei einer großen Bank erklären. Gut gelaunt witzelte er: »Dann hast du im Vergleich zu Anna und mir das große Los gezogen. Du studierst und bekommst schon Geld. Gut für mich, das zu wissen. Wenn die Soziologie nichts für mich ist, dann bewerbe ich mich auch für das duale Studium in Stuttgart!« Anna warf Ben einen ernsten Blick zu. »Ist das dein Ernst? Willst du schon wieder weg von mir? Das fände ich jammerschade!« Annas Kopf fiel nach unten. Ben legte seine Arme um Anna und zog sie näher an sich. Er küsste sie. »Aber Liebling! Das war doch nur ein Witz! Ich fang doch jetzt mit Soziologie an.« – »Und hoffentlich bleibst du bis zum Examen dabei!«, dachte Anna.

Anna war eine ehrgeizige und zielstrebige junge Frau geworden. Was sie sich vorgenommen hatte, verfolgte sie konsequent und mit Beharrlichkeit. Stets hielt sie sich ihre Ziele vor Augen und arbeitete darauf hin. An dieser persönlichen Entwicklung hatte Carmen, die beste Freundin ihrer Mutter, einen maßgeblichen Anteil. Carmen hatte in vielen persönlichen Gesprächen mit Anna sie ermuntert, das Beste aus ihren Fähigkeiten zu machen. Carmen war nicht nur die beste Freundin ihrer Mutter. Auch Carmen und Anna standen sich sehr nahe, und beide trafen sich auch regelmäßig zum persönlichen Austausch. Ja, die beiden Frauen waren auch schon zu zweit in Urlaub gefahren. »Du hast so viele großartige Gaben und Begabungen in dir, die du nur entdecken musst. Du bist etwas ganz Besonderes, Anna, etwas Einmaliges«, hatte Carmen zu Anna gesagt. »Es liegt an dir, alle Talente, die du in dir trägst, zu heben und zur Entfaltung zu bringen. Nutze dein Potenzial, das dir die Natur geschenkt hat!« Carmen war Annas Mentorin geworden.