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Der junge Noah bewirbt sich erfolgreich in Bern bei einem bekannten Schweizer Unternehmen der Lebensmittelindustrie. Er gibt seine feste Anstellung in München auf und wagt einen Neuanfang in einem fremden Land. Er lernt die Schweizer Lebens- und Arbeitsweise kennen und begegnet einer ihm bisher fremden Mentalität. Während Noah eine Familie gründet und in Bern Wurzeln schlägt, plant Tim den Abschied von seiner leitenden Stelle als Manager des Hotels Best Stay in München. Er fürchtet sich davor, von einem Tag auf den anderen seine Lebensaufgabe zu verlieren und sucht eine neue Perspektive. Mia ist zurück und hat sich bestens darauf vorbereitet, Tims Stelle zu übernehmen. Ingenieur Franz hat nach einer erfolgreich abgeschlossenen Psychotherapie und seiner Zeit in einem Ashram in Indien eine neue Sicht auf sich selbst, seine Arbeit und sein Leben gefunden. Er findet zu Selbstachtung und Selbstwertschätzung und akzeptiert seine Grenzen. Nebenbei lässt er sich zum Yogalehrer ausbilden. Alkoholiker Lukas findet dank der regelmäßigen Teilnahme an den Meetings der Anonymen Alkoholiker und der Arbeit in den 12 Schritten zu einem Leben ohne Alkohol. Makler Michael verfällt nach der Aufgabe seiner Berufstätigkeit in eine Sinnkrise und kämpft gegen depressive Stimmungen an. Die alte Ausrichtung seines Lebens erfüllt ihn nicht mehr. Obwohl ihm als reicher Mann nichts fehlt, fühlt er sich unglücklich. Sein Leben erscheint ihm leer und sinnlos. Bis er Lena kennenlernt.
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Seitenzahl: 309
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MARKUS NÜSSELER wurde 1954 in Bern/Schweiz geboren. Sein Erstlingswerk Carola – es begann nach dem Oktoberfest erschien im März 2022 und wurde im Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt, veröffentlicht. Der Roman Wendepunkte der Liebe führt die Geschichte um die Hauptpersonen des Erstlingswerks zu Ende und erschien am 30.09.2022.
Im Mai 2022 erschien sein zweiter Liebesroman Lea – zwei Freundinnen und ein Ehemann. Mit diesem Roman beginnt die Trilogie um den Hotelier Tim, seine Frau Lea und deren Tochter Anna.
Der Roman Anna und Mia oder die ungleichen Töchter führt die Trilogie fort. Er erschien im März 2023 und begleitet Menschen auf der Suche nach dem, was ihr Herz zum Singen bringt, ihrem Leben einen tiefen Sinn verleiht und es lebens- und liebenswert macht.
Der fünfte Roman Tims Abschied und Mias Wiederkehr beendet die Geschichte um den Hotelier Tim, seine Familie und seine Freunde. Zentrales Thema des letzten Werks der Trilogie ist die Suche eines erfüllten Lebens während der Zeit der Berufstätigkeit und im Ruhestand.
Markus Nüsseler studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Hochschule für Philosophie SJ München. Der Autor ist verheiratet und hat einen Sohn. Er lebt seit 1976 in Deutschland.
Ecco il primo annuncio di Pasqua che vorrei consegnarvi:
è possibile ricominciare sempre
Papa Francesco (nato nel 1936)
Hier ist die erste Osterbotschaft, die ich euch überbringen möchte:
Es ist möglich, immer wieder neu zu beginnen.
Papst Franziskus (geb. 1936)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Noah war heute früher dran als sonst. Es war sein letzter Arbeitstag in der großen Agentur, für die er in den letzten acht Jahren in München gearbeitet hatte. Ein eigentümliches Gefühl hatte ihn schon beim Frühstück im elterlichen Reihenhaus in Neuperlach Süd erfasst. Eine merkwürdige Spannung zwischen Abschiednehmen und Vorfreude auf die neue Stelle in der Schweiz, die er zum 1. Mai antreten wollte, eine Mischung aus der Wehmut des Abschiednehmens und der Neugierde auf das Kommende, erfüllte Noah. Er verließ die vertraute Umgebung, verließ Mutter Julia, Vater Stefan und Schwester Lara. Gleichzeitig trennte er sich von seinen Arbeitskollegen und gab die vertraute Tätigkeit in seinem Unternehmen auf.
Als er in Neuperlach Süd in die U 5 eingestiegen war und Platz im leeren Zug genommen hatte, kam ihm diese alltägliche Situation mit einem Mal fremd vor. Er fuhr seinem vorerst letzten Arbeitstag in Deutschland entgegen.
Ganz intensiv ließ er die vertraute Atmosphäre des Büros auf sich wirken, als er seinen Arbeitsplatz erreicht hatte. Ähnliches kannte er vom letzten Urlaubstag, vom letzten genüsslich eingenommenen Frühstück auf der Hotelterrasse in Paphos auf der Insel Zypern. Doch hier fehlten die pochierten Eier und die Croissants mit Butter und Aprikosenmarmelade ebenso sehr wie der Ausblick auf die Poollandschaft mit den Palmen. Hinter der Glasfront rauschte nicht das in der Sonne schimmernde Meer, sondern der morgendliche Münchner Berufsverkehr. Und dennoch schenkte ihm sein Blick über die benachbarten Arbeitsplätze eine intensive, beinahe innige Wahrnehmung. Der letzte Arbeitstag brach an!
Da trat Milan an ihn heran. »Dein letzter Tag! Wie fühlt sich das an?« – »Ganz ungewöhnlich ist das. Wäre ich nicht so gespannt auf meine Stelle in der Schweiz, so wäre das bestimmt ein trauriger letzter Tag hier bei euch!« – »Du freust dich sehr?«, vergewisserte sich Milan. »Ich hatte ja jede Menge Absagen bei meinen vielen Bewerbungen, und jetzt kommt ausgerechnet aus der Schweiz eine Zusage! Damit hätte ich am allerwenigsten gerechnet.« – »Hast du denn eine Vorstellung, was dein Trumpf war, dass du die Stelle bekamst, dass du Schweizer Bewerber ausgestochen hast?« – »Na ja, mein künftiger Chef hat selbst in Deutschland seinen Bachelor gemacht, an der Freien Universität Berlin, im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft/Betriebswirtschaftslehre. Offenbar hat er die Zeit in Berlin in guter Erinnerung behalten!« Noah machte eine Pause. Es war, als suchte er selbst nach Gründen, warum die Wahl bei der Stellenbesetzung auf ihn, auf Noah, gefallen war. Noah fixierte Milans Gesicht. »Du denkst an unseren Umtrunk um halb zwölf?« – »Na klar, ich komme gerne.«
Noah machte sich auf den Weg in die Küche. Der Blick in den Kühlschrank ergab: vier Flaschen Sekt und zwei Flaschen Orangensaft für zwölf Mitarbeiter. Die Salzstangen und das weitere Knabbergebäck würde er kurz nach elf Uhr herrichten.
Eine heitere Runde hatte sich gegen Mittag im Besprechungszimmer eingefunden. Noahs Herz schlug höher. »Lieber Niklas, liebe Kollegen! Scheiden tut weh, sagt man so leichthin. Ja, meine letzten Worte an euch fallen mir nicht leicht. Ich war gerne in eurem Team, und ich gehe ungern, aber das Neue reizt mich und ich freue mich auf meine neue Stelle. Danke für eure Unterstützung, für eure Geduld, wenn etwas mal länger gedauert hat. Ich hoffe, ihr behaltet mich in guter Erinnerung!«
Jetzt war Noahs Chef an der Reihe. »Noah, wir werden dich nicht vergessen. Du weißt, ich lasse dich nur ungern ziehen. Falls du es bei den Eidgenossen nicht aushältst, kannst du jederzeit wieder bei uns einsteigen. Wir wünschen dir alles Gute und viel Freude an deiner neuen Stelle in Bern.«
Sichtlich gerührt hob Noah sein Glas. »Danke Niklas, für deine Worte, nun fällt mir der Weggang noch schwerer! Trotzdem: Prost!« Noah machte die Runde und stieß mit allen an.
»Wo wirst du denn wohnen?«, fragte Kollege Elias. »Marco, ein ehemaliger Kommilitone aus der Schweiz, hat mir ein Zimmer vermittelt. Eine eigene Wohnung suche ich mir dann vor Ort.« – »Was zahlst du denn für dein Zimmer?« Noah nannte einen Betrag. »Das ist aber nicht besonders teuer. Hier in München zahlst du für eine Studentenbude teilweise viel mehr.« – »In Bern gibt es nur eine kleine Uni. Und nicht zwei große wie hier in München. Aber sonst ist das Leben in der Schweiz erheblich teurer. Und vor allem Kita-Plätze kosten eine irre Stange Geld. Viele Familien können einen Zuschuss für die Kosten der Kindertagesstätte beantragen. Aber es bleibt auch mit staatlichem Zuschuss ein teures Vergnügen.« – »Na ja, bis du dafür aufkommen musst, ist ja noch eine Weile hin.« Mit dieser Anspielung deutete Noahs Freund an, dass Noah zurzeit Single war. »Ich hoffe, du findest bald eine hübsche Beatrice, eine Frau für dein Herz.«
Noah blieben einige wenige freie Tage aus dem Resturlaub des Vorjahrs. Da er von seinem Zimmer im elterlichen Haus in ein möbliertes Zimmer umzog, wollte er für den Anfang nur einen Koffer und eine große Tasche mit auf die Reise nehmen. Ein richtiger Umzug, eine »Züglete«, wie die Schweizer dazu sagen, war das nicht. In Bern jetzt seine Zelte aufzuschlagen und dort zu arbeiten, fühlte sich für Noah eher an wie der Beginn einiger Auslandssemester. Auch ging er davon aus, dass er am Anfang öfters die Fahrt in seine Heimatstadt München antreten würde, zum Beispiel im Zusammenhang mit einem verlängerten Wochenende über Pfingsten oder im Zusammenhang mit dem Schweizer Nationalfeiertag am 1. August. Diese Heimfahrten boten die Möglichkeit, weitere persönliche Gegenstände aus seinem Zimmer zu holen.
Zwei Tage vor seiner Abreise wollte er sich noch mit seinem Freund Achim treffen. Sie verabredeten sich für halb sechs Uhr abends in der Leopoldstraße in einem kleinen Italiener. Da Noah reichlich Zeit hatte, beschloss er, ab Ostbahnhof mit dem Bus in den Englischen Garten zu fahren und dort ab der Haltestelle Chinesischer Turm noch einen Spaziergang zum Kleinhesseloher See zu machen. Er brach am frühen Nachmittag auf, fuhr mit Bus 196 bis zum Bahnhof Neuperlach Süd, wo er in die U-Bahn einstieg. Am Ostbahnhof stieg er aus und suchte den Bus für die Weiterfahrt.
Vom Orleansplatz aus machte er sich mit Bus 54 auf in Richtung Schwabing. Als der Bus Fahrt aufnahm, wurde ihm bewusst, dass er für den Spaziergang im Englischen Garten reichlich Zeit zur Verfügung hatte. Er beschloss deshalb, schon an der Haltestelle Hirschauer Straße seinen Spaziergang durch den Englischen Garten zu beginnen und einen Schlenker am Monopteros vorbei zum Chinesischen Turm zu machen. Dort eingetroffen, stellte er fest, dass die Biergartensaison bereits eingeläutet war. Zahlreiche Ausflügler hatten sich bereits auf den Bänken im Biergarten niedergelassen.
Noah tat es ihnen gleich und kaufte sich eine Maß Bier. Genießerisch führte er den Maßkrug an seine Lippen und kostete das kühle Nass. »Gibt es in Bern auch Biergärten?«, überlegte er. »Mit einer so großzügigen parkähnlichen Anlage? Wohl kaum. Und wie wird das Bier in Bern schmecken?« Er kam ins Sinnieren. Verträumt blinzelte er in die Strahlen der Aprilsonne. Eine ungewohnte Leichtigkeit umfing Noah. Einen längeren Abschnitt seines beruflichen Weges hatte er zurückgelegt. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft hatte er den Einstieg in das Arbeitsleben bei einer großen Agentur geschafft, die für mehrere bekannte Großkonzerne das Marketing mitgestaltete. Und im Bereich Finance hatte er für Fondsgesellschaften und Finanzdienstleister die Präsentation neuer Produkte vorbereitet.
In Bern würde er bei seinem neuen Arbeitgeber Assistent im Bereich Marketing werden. Also wieder ein Mittler zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, dem Käufer, dem das hergestellte Produkt schmackhaft gemacht wurde mit dem Versprechen, ein wahrer Genuss, eine Gaumenfreude zu sein.
Nachdem er den Kleinhesseloher See umrundet hatte, steuerte er den Ausgang an, der ihn zur Leopoldstraße führte. Als er das Lokal betrat, stellte er fest, dass sein Freund Achim bereits Platz genommen hatte. Aber Achim war nicht allein gekommen! Rechts neben ihm saß eine großgewachsene, schlanke junge Frau mit langen blonden Haaren. Achim machte mit der rechten Hand ein Zeichen, während seine Banknachbarin den Kopf hob und Noah anlächelte. »Hallo Noah. Darf ich dir meine Schwester Lena vorstellen?« Während Noah seine Hand ausstreckte, versanken seine Augen in den hellblauen Augen Lenas. »Schön, dass wir uns kennenlernen, ich freue mich!«, versicherte Noah. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich meine Schwester mitgebracht habe. Sie arbeitet ganz in der Nähe bei einem großen Versicherungskonzern und wollte mich treffen. Und ich denke, sie wird unser Gespräch bereichern!« Um dies zu bestätigen, ergänzte Lena: »Ich bin gespannt auf deine Erfahrungen, die du in der Schweiz machen wirst. Eine ehemalige Kollegin von mir hat einen Schweizer geheiratet und lebt jetzt in Zürich. Wir tauschen uns gelegentlich aus.« – »Was erzählt sie denn über das Leben in der Schweiz?« Lena lächelte süffisant. »Ich hoffe, du hast dich nicht von den hohen Löhnen, die in der Schweiz gezahlt werden, blenden lassen.« Lena senkte den Blick kurz, dann fuhr sie fort: »Das Leben in der Schweiz ist sehr teuer. Das wirst du sehr bald feststellen. Hast du dir mal die Preise in den Lebensmittelgeschäften angesehen? Da kostet eine Tube Zahnpasta gut und gerne das Doppelte von dem, was wir hier bezahlen.« – »Dann kaufe ich mir am besten noch ein paar Tuben Zahnpasta zum Mitnehmen!«, bemerkte Noah lachend.
Der Kellner nahm die Bestellungen entgegen. »Ich bin auch gespannt auf die Arbeitswelt und die Art des Wirtschaftens«, ergänzte Noah. »Ich kenne ja kaum Schweizer und vom Land bis jetzt auch nur Bern. Dort habe ich vor meinem Vorstellungsgespräch einmal übernachtet. Am Vortag habe ich mir am Nachmittag noch die historische Altstadt angesehen. Alles andere hat für mich den Reiz des Neuen.« Noah trank einen Schluck Bier. »Und ich freue mich darauf, mal die Viertausender zu sehen. Richtige Bergriesen. Deren gibt es im Kanton Bern neun Stück. In der ganzen Schweiz gibt es deren 48!« – »Oh«, entfuhr es Lena. »Ich sehe, du hast dich gut auf die Schweiz vorbereitet!« Bei sich selbst dachte Lena: »Eine Umstellung wird das Leben in der Schweiz für dich schon werden, lieber Noah!« Doch was sie von ihrer Freundin, die in die Schweiz geheiratet hatte, noch alles über die Lebensumstände in der Schweiz wusste, behielt Lena für sich.
»Musst du weit fahren, um die Viertausender zu sehen?«, erkundigte sich Achim. »Nein, gar nicht. Bei schönem Wetter und klarer Sicht kann man Eiger, Mönch und Jungfrau von einigen Stellen in Bern aus sehen. Der Eiger ist zwar kein Viertausender, aber der Imposanteste in dieser Alpenkette. So etwas kenne ich bis jetzt nur aus dem Fernsehen. Zum Wandern sind meine Eltern mit uns nur in den Bayerischen Wald und nach Südtirol gefahren.«
Der Kellner brachte das Essen. »Wegen der italienischen Küche muss ich nicht nach Italien fahren. Italien scheint mir in der Schweiz präsenter zu sein als hier in Deutschland. Es scheint in der Schweiz viele Bewohner mit italienischen Wurzeln zu geben, auch Unternehmer. Ich habe viele Lieferwagen mit italienisch klingenden Firmennamen gesehen. Das ist mir auf Anhieb aufgefallen. Guten Appetit!« Für eine Weile konzentrierten sich alle auf das Essen. »Hast du, Lena, deine Kollegin schon mal in der Schweiz besucht?«, wollte Noah wissen. »Das hat sich bis jetzt noch nicht ergeben. Aber sie kommt mit ihrem Mann jedes Jahr zum Oktoberfest nach München. Wir treffen uns dann auch mal bei mir und bummeln in der Stadt. Und als Höhepunkt ihres Besuchsprogramms führe ich sie dann über die Wiesn.« Mit einem charmanten Lächeln blickte Lena Noah in die Augen. »Hättest du nicht Lust, im Herbst mit uns auf die Wiesn zu gehen?« Herausfordernd sah Lena Noah an. »Das ist eine gute Idee. Gerne. Das nehme ich mir fest vor«, schloss Noah.
Bei der Verabschiedung ermunterten Achim und Lena Noah, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. »Und ich würde mich über euren Besuch bei mir in Bern freuen!«, erklärte Noah.
Achim umarmte Noah und klopfte ihm nachher auf die Schulter. »Mach es gut, Noah! Ich wünsche dir viel Erfolg und nette Kollegen!« Als Noah Lena die Hand reichen wollte, wurde er von den offenen Armen Lenas überrascht. Auch sie zog Noah an sich, obwohl sie sich erst vor gut zwei Stunden kennengelernt hatten. »Gutes Eingewöhnen!«, flüsterte sie Noah ins Ohr. Als sie sich wieder ansahen, forderte Lena ihn auf: »Melde dich mal. Es wäre schön zu hören, wie es dir geht!« Noahs Augen blieben in den hellblauen Augen Lenas haften. »Ich habe gar nicht gewusst, dass mein Freund Achim eine so reizende Schwester hat. Ich hätte sie gewiss mal gerne persönlich eingeladen. Und hübsch ist sie außerdem.«
Fast tat es Noah leid, dass er morgen München in Richtung Schweiz verlassen musste.
Julia und Noah standen sich vor dem Eurocity nach Zürich gegenüber. »Und das ist dein Lunchpacket!«, sagte seine Mutter und hielt die kleine Papiertasche zu Noahs Gesicht empor. »Mensch Mama, so schwer. Was hast du denn alles eingepackt?« Sein Blick war auf die beiden Bananen gefallen. Noah kannte seine Mutter. Gewiss hatte sie eine leckere Brotzeit für ihren Sohn vorbereitet. Mit süßem Deckel! »Danke Mama, wäre doch nicht nötig gewesen. Ich hätte mir doch auch vorne in der Halle ein Schnitzelsandwich kaufen können!« – »Da ist auch noch ein Nudelsalat dabei. Den kannst du vielleicht heute Abend auf dem Zimmer genießen. Ein Päckchen Papierservietten habe ich auch reingesteckt. Und melde dich, wenn du dein Quartier bezogen hast!« Noah nickte. »Viel kann ich dir heute Abend wohl noch nicht berichten. Da heute Sonntag ist, sind auch die Geschäfte geschlossen.«
Nach einer letzten Umarmung hörte Noah noch die Worte: »Ich wünsche dir einen guten Anfang, nette Kollegen und viel Freude an deiner neuen Tätigkeit. Und berichte schön, was du in der Schweiz erlebst!« Noah lächelte vergnügt. »Jetzt, wo ich ins Ausland zum Arbeiten fahre, erwarten alle meinen regelmäßigen Rapport!«
Vom Fenster aus blickte Noah noch seiner winkenden Mutter nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Die vorbeiziehenden S-Bahnhöfe riefen Erinnerungen wach. »Hackerbrücke« – von hier konnte man nach einem Fußmarsch von sieben Minuten die Theresienwiese, die Festwiese des Oktoberfests erreichen, wenn man mit der S-Bahn anreiste. »Hirschgarten«, da gab es tatsächlich ein Gehege mit Hirschen. Doch seine Anziehungskraft verdankte die idyllische Anlage mit den Schatten spendenden Bäumen der Schenke und dem Speiselokal mit dem dazugehörigem Biergarten.
Nach gut viereinhalb Stunden Fahrt erreichte Noah den Hauptbahnhof Bern. Er hatte nur einmal, im unterirdischen Teil des Zürcher Bahnhofs umsteigen müssen. In Zürich HB konnte er auf dem gleichen Bahnsteig in den gegenüber bereitstehenden Intercity nach Genf umsteigen. Die letzte Etappe seiner Bahnfahrt hatte weniger als eine Stunde gedauert.
Mit Rücksicht auf sein Gepäck leistete sich Noah ein Taxi, mit dem er zu seiner neuen Wohnadresse fuhr. Kaum hatte er die Wohnungstüre aufgesperrt, öffnete sich die Küchentüre und Frau Zimmerli erschien. Sie hieß ihn freundlich lächelnd willkommen und fragte: »Syd diir müäd vo dr Reis?« Angesichts der optisch geringen Entfernung, die er zurückgelegt hatte, verneinte Noah. Tatsächlich war Bern von München nur 431 Straßenkilometer entfernt, genau so weit wie Leipzig von München entfernt war! Und trotzdem: Der Eurocity hatte in Vorarlberg Österreich durchquert, und seitdem der Zug in St. Margrethen gehalten hatte, drangen fremde Laute an sein Ohr, oft in einem nicht enden wollenden Singsang. »Wosch du no ä chly Schoggi?«, flötete die helle Stimme einer Ostschweizerin, mit der sie ihren Sohn fragte. Und je näher der Zug Zürich gekommen war, desto voller war er geworden. Und in Zürich beim Umsteigen hatte er festgestellt, dass die Lautsprecherdurchsagen nicht nur in Deutsch, sondern auch in Französisch und in Englisch erfolgten.
Als Noah den Koffer und seine Tasche ausgepackt hatte, setzte er sich an den kleinen Schreibtisch und bestätigte seiner Mutter per WhatsApp, dass er gesund und heil angekommen sei. Als er sich den Nudelsalat holte und die Bestecke auslegte, merkte er, dass er doch müde war.
Er stellte die Mineralwasserflasche auf den Schreibtisch, kramte den Becher und das Besteck aus seinem Rucksack und öffnete die Dose mit dem Nudelsalat. Ein herrlicher Duft stieg zu seiner Nase auf, und angesichts der farbenfrohen Darbietung mit gelben Paprikaschoten, grünen Oliven, roten Tomatenwürfeln, in Streifen geschnittener Fleischwurst und Sardellen lief Noah das Wasser im Mund zusammen. Ja, Julia hatte ihm mit Liebe eine leckere Brotzeit bereitet. Mit Wohlgefallen begann Noah zu essen. Doch bald stellte er fest, dass er satt war. »Ich lasse mir den Rest für morgen,« überlegte er und befestigte den Deckel wieder auf der Dose. »Jetzt fahre ich zum Einkaufen in den Markt im Bahnhof. Vor allem Mineralwasser brauche ich.« Noah zog die Jacke über, schulterte den Rucksack und griff nach der Dose mit dem Nudelsalat. Diese stellte er in den Kühlschrank in der Küche.
Der Weg zur Trambahnlinie 9 war nicht weit. Das Viertel mit den Ein- und Zweifamilienhäusern wirkte tot, wie ausgestorben. Auch oben an der Straße nach Kehrsatz und Belp, in Richtung Flughafen, durchbrachen nur wenige Fahrzeuge die sonntägliche Stille. Noah war froh, dass er nach der langen Bahnfahrt die Füße vertreten konnte.
Noah fuhr bis zur Haltestelle Bärenplatz. Er wandte sich nach rechts und sah linkerhand, in Richtung Bundesplatz, die Häuserzeile mit den verschiedensten Gaststätten. Eine neben der anderen. Die Tische im Freien waren alle besetzt. Er studierte die Speisekarten mit den Tagesgerichten in den Aushängekästen. Wieder staunte er über die hohen Preise. »Ich werde wohl hier nicht oft einkehren«, dachte Noah. »Ich bin gespannt, wie viel von meinem Gehalt übrig bleibt bei diesen hohen Preisen. Und Geld für das Steueramt muss ich auch auf dem Konto stehen lassen, denn die Steuer wird hier nicht vorab vom Lohn abgezogen, sondern erst aufgrund der persönlichen Steuererklärung ermittelt und mir dann in Rechnung gestellt. Danach muss ich meine Steuerschuld durch eine Überweisung bezahlen.« Mit diesem Gedanken erreichte Noah den Bundesplatz mit dem Bundeshaus, dem Sitz der Regierung und des Parlaments. Im Osten entdeckte er einen weiteren beeindruckenden Bau: die Schweizerische Nationalbank. Er überquerte den leeren Bundesplatz und erreichte nach ein paar Schritten die Bundesterrasse. In das Licht der untergehenden Sonne eingetaucht, leuchteten in der Ferne in zärtlichem Rosa Eiger, Mönch und Jungfrau. Sichtlich beeindruckt fixierte Noah die Alpenkette. Immer wieder blieb sein Blick auf der imposanten Eigernordwand haften.
Noah hatte beide Arme auf die Mauer, die die Bundesterrasse begrenzte, gelegt und verharrte in einem ungläubigen Staunen. Dort standen sie, in einem großartigen Panorama angelegt, die Drei- und Viertausender! Als sich sein Blick von dem berühmten Dreigestirn löste, erfasste er rechts den bewaldeten Hausberg der Berner, den Gurten. Obwohl nur 858 Meter hoch, thronte er über den Häusern seines Wohnviertels Wabern. Vergnügt lächelte Noah vor sich hin. »Für den Anfang nehme ich mir den Gurten vor. Vielleicht schon nächsten Samstag, wenn das Wetter so schön ist wie heute. Ich werde mit der Drahtseilbahn hinauffahren und die Stadt Bern von oben sehen. Dort wartet auch das Panorama der Alpenkette auf mich.«
Noah wurde um acht Uhr dreißig im Personalbüro seiner neuen Firma erwartet. Fast zwanzig Minuten zu früh erreichte er das Verwaltungsgebäude, in dem er künftig als Marketing Assistant arbeiten sollte. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen. Er hob den Kopf, sah nach oben und ließ seine Augen über die Fassade gleiten. Überall brannte schon Licht. Trotz Gleitzeit schienen die meisten früh mit ihrem Tagwerk zu beginnen. Er betrat das Gebäude, stieg in die zweite Etage empor und steuerte die Personalabteilung an. »Eh der Herr Müller! Grüeßäch!«, rief eine freundliche Frauenstimme. Eine jüngere Frau mit braunen Haaren und randloser Brille, hinter der zwei grüne Augen freundlich zu ihm aufsahen, streckte ihm ihre Hand entgegen. Ein warmer Händedruck empfing Noah. »Dyr wöit sycher zum Herr Rolli, chömyd mit!« Mit persönlicher Begleitung hatte Noah nicht gerechnet, doch er überließ sich gerne der Führung der schlanken jungen Frau. Schon bald blieben sie beide vor einer offenen Bürotüre stehen. »Dr Herr Müller wär jetzt daa!«, flötete die junge Frau in das geräumige Zimmer mit dem langen Schreibtisch, der nur aus einer Holzplatte auf zwei Rundfüßen bestand. Herr Rolli, der Personaler, war aufgestanden, hob die Augenbrauen und näherte sich Noah. »Willkommen bei Bescho! Und guten Anfang.« – »Grüß Gott, Herr Rolli!« Ein kräftiger Händedruck ging in eine schüttelnde Bewegung über, so, als wollte das Gegenüber seine Worte durch diese Geste unterstreichen. »Setz dich!« – »Ach so, das geht hier schnell mit dem vertraulichen Du!«, fuhr es durch Noahs Kopf. »Emil führt dich nachher noch herum und stellt dich deinen Kollegen und Kolleginnen vor. Doch zuerst müssen wir noch einige Papiere fertigmachen. Den Arbeitsvertrag hast du bereits unterschrieben. Hier ist deine Chipkarte für die Zeiterfassung und die Bürotüren. Den Empfang musst du hier bestätigen.« Herr Rolli schob das Formular in die Mitte des Tisches und zeigte mit dem Finger auf die entsprechende Stelle. Noah unterschrieb und schob das Formular zurück zu Herrn Rolli. »Dann müssen wir dich bei der AHV anmelden. Wir führen Beiträge für dich an die Schweizerische Ausgleichskasse ab. Nicht erschrecken, einige Lohnprozentpunkte müssen wir von deinem Lohn abziehen. Dazu kommen noch die Abzüge für die IV und die EO. Auf diesem Blatt musst du unter anderem dein Konto angeben, auf das wir den Lohn überweisen können. Hast du schon ein Konto?« – »Nein, aber ich werde das heute oder morgen noch erledigen.« – »Dann wären wir mit den Formularen durch, soweit sie deine Arbeit bei uns betreffen. Und denk daran, dass du dich binnen 14 Tagen beim Polizeiinspektorat, bei den Einwohnerdiensten in der Predigergasse anmelden musst. Die Behörde verlangt einen Nachweis deiner Krankenversicherung.« Sichtlich erleichtert lächelte Herr Rolli Noah an. Dieser nickte. Er hatte sich bereits in München mit dieser Frage beschäftigt und die entsprechenden Vordrucke ausgedruckt.
Herr Rolli erhob sich. »Dann nochmals viel Freude bei der Arbeit. Und gutes Eingewöhnen!« Er griff zum Telefon und rief Emil, seinen künftigen Vorgesetzten. Auch Emil schien sich auf die Verstärkung in seinem Team zu freuen. »Schön, dass du jetzt da bist. Es gibt ordentlich was zu tun.« Er reichte ihm die Hand und machte danach mit dem Kopf eine Bewegung. »Komm!«
Emil führte ihn zu den Mitarbeitern, mit denen er öfters zu tun haben würde. Am Schluss führte er Noah an seinen künftigen Arbeitsplatz und erklärte ihm das Login. Danach zeigte er ihm die zu bearbeitenden Projekte und meinte: »Du kannst natürlich in alle Projekte hineinschnuppern und dich einlesen. Das würde ich nicht tun. Du verlierst sonst den Überblick. Fang mal mit dem Projekt 1042 an. Lies dich in aller Ruhe ein und bilde dir deine Gedanken dazu. Um zwei Uhr nachmittags ist unser gemeinsames Update. Dort erfährst du auch etwas über die anderen Projekte. Wenn du Fragen hast, komm einfach bei mir vorbei. Fragen kostet nichts. Viel Erfolg!«
Noah atmete tief durch. Es konnte losgehen! Er öffnete den Ordner zu Projekt 1042. Zuerst machte er sich mit der Zielsetzung des Auftrags bekannt. Danach begann er mit dem Studium der bereits zurückgelegten Arbeitsschritte. Er unterbrach nur kurz und holte sich einen Kaffee in der Küche. Dort traf er die junge Frau mit den grünen Augen, die ihn neugierig fragte: »U de, geits füürschy?« Da Noah die Frage nicht verstand, musste er die Bedeutung der Worte erraten. »Viel Neues, ich bin dabei, mich einzulesen.« Jetzt lächelte ihn die junge Frau an. »Übrigens, ich bin die Monika!« Noah lächelte zurück. Angesichts seiner bisherigen Erfahrungen stimmte Noah in die Duzkultur ein. »Und ich bin Noah!« – »Sali Noah!« – »Wie machst du das mit dem Mittagessen? Eine Kantine gibt es hier bei Bescho ja nicht!« – »Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal nehme ich was von zu Hause mit, und das wärme ich mir dann in der Mikrowelle. Oder ich hole mir im Supermarkt einen Salat, ein Sandwich oder ein Stück Gebäck. Heute habe ich etwas für die Mikrowelle dabei.« Noah schob seine Kaffeetasse in den Kaffeeautomaten und drückte zwei Mal auf die Taste für den Kaffee Crema. »Dann werde ich mir mal das Angebot beim Supermarkt anschauen und was zum Mitnehmen kaufen. Und ein Baguette für heute Abend kaufen. Etwas Appenzeller Käse und eine Packung Bündner Fleisch habe ich gestern im Bahnhof gekauft.« Jetzt lachte Monika. »I gseh, diir siit e Fiinschmöcker!«
Das gemeinsame Update begann pünktlich. Gleich zu Beginn wurde Noah allen Anwesenden als neuer Mitarbeiter im Fachbereich Marketing vorgestellt und willkommen geheißen. Zu seiner Freude stellte er fest, dass auch Monika an dem Meeting teilnahm. Sie zählte zur Division »Export«, saß aber im Konferenzraum an der gegenüberliegenden Seite der hufeisenförmig angeordneten Tischformation. Noah winkte Monika mit einer verhaltenen Geste seiner Hand zu. Monika lächelte und beantwortete sein Zeichen mit einem Kopfnicken.
Die Updates zu den einzelnen Projekten informierten über den aktuellen Stand der Bearbeitung. Es gab kaum Rückfragen. Als die Rede auf den asiatischen Absatzmarkt kam, gab es zahlreiche kritische Anmerkungen. Des Öfteren wurde diese mit den Worten »Ja, aber …« eingeleitet. Zeichnete sich ein Kompromiss ab, blieb der mühsam hergestellte Konsens dennoch nicht vor weiteren Einwänden verschont. Solche Anmerkungen folgten der typischen Einleitung: »Gibt es nicht noch weitere Möglichkeiten, die wir durchdenken sollten, zum Beispiel …«
Immer wieder musste der jeweilige Projektleiter Rede und Antwort stehen und die Prüfung der Alternativen zusichern. »Wir schauen uns das Ganze noch einmal unter diesem Gesichtspunkt an und berichten in zwei Wochen darüber.« Ein verbindlicher Entschluss kam dadurch nicht zustande. Die weitere Vorgehensweise war wieder in der Vernehmlassung.
Als das Meeting zu Ende war, zeigte die Uhr 16 Uhr 10. Müde vom konzentrierten Studium des Werdeganges von Projekt 1042 am Vormittag und etwas abgespannt von dem langen Sitzen kehrte Noah gedankenverloren an seinen Arbeitsplatz zurück. Es war viel und lange diskutiert worden, aber es waren nur ein paar belanglose Einzelheiten entschieden worden. Unterwegs traf er Monika, und da entfuhr es Noah: »Dauern die Updates immer so lange? Wir haben viel geredet, aber es ist nicht viel herausgekommen! Gibt es keine Vorgaben von der Geschäftsleitung, die abgearbeitet werden müssen?« Erstaunt, fast leicht schockiert blickte ihn Monika an. »Doch doch, das muss so sein. Alle Argumente müssen gehört werden, und alle Aspekte müssen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.« – »Aha, das ist der typisch schweizerische Weg, die Konsensdemokratie«, bemerkte Noah ganz stolz über seine treffsichere Einschätzung. Monika stimmte Noah zu. »Ganz genau. In der Politik nennen wir das die Basisdemokratie. Der einzelne Bürger soll immer mitbestimmen. Auch wenn es nur darum geht, die Landebahn am Flughafen Belp zu verlängern. Darüber wird bei uns durch einen Volksentscheid abgestimmt. Nicht die Regierung entscheidet, ob die Landebahn verlängert wird, sondern das Stimmvolk. Der Souverän.«
Noah verabschiedete sich von Monika. »Schönen Abend noch.« – »Du willst schon gehen? Wir haben hier Präsenz bis halb sechs Uhr abends.«
Stimmt. Da waren sie, die längeren Arbeitszeiten und die kürzeren Ferien in der Schweiz. Resigniert kehrte Noah an seinen Arbeitsplatz zurück. Er öffnete nochmals den Ordner zu Projekt 1042 und kniete sich nochmals in dieses Vorhaben hinein. Das Lesen fiel ihm schwer und er war nicht mehr so recht bei der Sache.
Als er auf dem Display schließlich 17:30 in der unteren Ecke las, fuhr er erleichtert den Rechner hinunter und atmete tief durch. Der erste Arbeitstag in der Schweiz war geschafft. Und auch Noah war geschafft.
Nach dem zweiten Arbeitstag war Noah so weit mit Projekt 1042 vertraut, dass er Klarheit über die nächsten Arbeitsschritte hatte. Er durchdachte mehrere Strategien, die jeweils unterschiedliche Kundengruppen ansprachen und sich auf diese Weise gegenseitig ergänzten. Er fertigte zwei Entwürfe und leitete diese an Emil weiter. Sein Chef antwortete sehr knapp, aber immerhin mit einem anerkennenden »Gut! Emil«. Als er abends auf dem Weg zur Bushaltestelle Emil traf, erntete er ein Kopfnicken und hörte in bestem Berndeutsch: »Yhri Idee isch no guet gsy!« Das verwirrte Noah etwas. Da sein Chef jedoch nichts Negatives vortrug, wertete Noah dessen Verhalten als Zustimmung.
Am Freitag stieß er an der Ampel auf dem Weg zum Supermarkt auf Monika. »Holst du dir auch etwas zum Zmittag?« Monika nickte und nannte den Namen des Supermarkts, in dem sie einkaufen wollte. »Nimmst du dir wieder einen Salat mit?«, wollte Noah wissen. »Oder ein Brötli mit Lachs oder eines mit Schinken und Spargel?« – »Ich entscheide spontan an der Theke. Was wirst du für dich mitnehmen?« Mittlerweile war Monika zum Hochdeutsch übergegangen. »Entweder ein Laugenbaguette mit Rohschinken oder ich probiere mal einen Spinatkuchen. Den lass ich mir dann in der Mikrowelle warm machen.« – »Den Spinatkuchen kannst du auch bei uns in der Küche warm machen. Hast du gesehen, wir haben ein Mikrowellengerät?« – »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Kennst du dich damit aus?« – »Pass auf, wir kaufen jetzt ein und wir treffen uns nachher in unserer Küche und ich zeige dir alles. Wir können auch zusammen essen, was hältst du davon?«
Liebend gerne sagte Noah zu. »Monika, ich hole mir noch zwei oder drei Sachen im Laden. Dann stelle ich mich an der Theke an. Und nachher gehen wir zusammen essen. Ich freue mich auf deine Gesellschaft.« Monika war reizend. Sie hatte ihn am ersten Tag auf dem Flur begrüßt, ihn freundlich empfangen und zu Herrn Rolli gebracht. Und jetzt wollte die schlanke junge Frau mit den grünen Augen mit Noah Brotzeit machen! Vergnügt lächelnd schickte er sich an, die Regale des Supermarktes zu inspizieren.
Noah hatte versucht, sich Schritt für Schritt mit dem Angebot des Supermarkts vertraut zu machen. Er hatte sich dabei bei jedem Einkauf zwei weitere Abteilungen vorgenommen und diese bis in die Einzelheiten studiert. Heute nahm er sich die Abteilung Brot und Gebäck vor und war ganz überrascht, dass er dort Esstellergroße Linzertorten zu einem erstaunlich günstigen Preis vorfand. Erfreut legte er sich zwei Linzertorten in den Einkaufswagen. Zusammen mit einem Schuss Sahne aus der Sprühdose würde das die Basis für ein attraktives Frühstück am Wochenende abgeben! Er fragte eine Verkäuferin, die die Regale auffüllte, nach den Sprühdosen mit der Sahne. »Sahne?!« Sie verstand ihn nicht gleich. Schließlich konnte sie auf seinen Wunsch eingehen. »Ach so, Niidle. Niidle zum Druufsprütze!« und sie wies Noah mit ihrer Hand die Richtung.
Noah und Monika tauschten sich beim gemeinsamen Mittagessen über die Projekte aus, die sie gerade bearbeiteten. Gegen Ende des Gesprächs fragte Noah: »Und dir gefällt es in der Division Export?« Monika bejahte und fragte Noah, wie er mit seiner Arbeit zurechtkäme. »Ganz gut. Aber nach einer Woche möchte ich noch kein abschließendes Urteil fällen. Ich freue mich jetzt erst einmal auf das Wochenende.«
Als Noah kurz nach halb sechs Uhr abends seinen Arbeitsplatz verließ, dachte er: »Ich muss mal etwas ausgiebiger nach Hause berichten. Und wenn ich ein paar Fotos gemacht habe, werde ich auch Lena eine Mail mit ein paar Eindrücken aus Bern und Umgebung senden.«
Nach der abendlichen Brotzeit setzte sich Noah hinter sein Notebook. Er begann seinen Bericht an Vater Stefan, Mutter Julia und an seiner Schwester Lara.
»Meine Lieben in München!
Jetzt, am Ende der ersten Arbeitswoche möchte ich Euch kurz über meine Erfahrungen und Erlebnisse in der Schweiz berichten. Bedingt durch die langen Arbeitstage (acht Stunden und 20 Minuten täglich), die vielen neuen Eindrücke und die konzentrierte Einarbeitung in ein mir bisher unbekanntes Projekt bin ich abends immer geschafft. Aber jetzt nehme ich mir Zeit, Euch über meine Eindrücke und Erfahrungen zu berichten.
Ich bin am ersten Tag von einer schlanken jungen Frau empfangen worden, die mich gleich zum Personalchef, Herrn Rolli, begleitet hat. Sie heißt Monika und wir haben zwei Mal miteinander die Mittagszeit verbracht. Wir haben in der Kaffeeküche gegessen und sie hat mir auch ein paar Tipps gegeben, wo man sich in der Nachbarschaft unseres Unternehmens etwas Schmackhaftes besorgen kann.
Für heute Mittag habe ich mir einen Spinatkuchen gekauft und diesen dann in der Mikrowelle in der Küche warm gemacht. Er war lecker und ich denke, ich werde mir nächste Woche wieder einen mitnehmen. Heute Abend hatte ich als Brotzeit Bündner Rohschinken und französischen Weichkäse. Zusammen mit einem Tessiner Brot und scharfem Senf gab dies eine herzhafte Brotzeit ab. Zur Feier des Tages habe ich mir eine Flasche Rotwein geleistet. Ja, ich sage geleistet, denn Schweizer Wein ist teuer. Und der Südtiroler, für den ich mich nach ausgiebigem Studium des Weinregals entschieden habe, war auch nicht so preiswert wie in München.
Die Schweizer, soweit ich sie bis jetzt kennenlernen konnte, sind überaus höflich und freundlich. Das habe ich wiederholt feststellen können, als ich in einem Warenhaus eine neue Abteilung betreten habe. Fast immer hörte ich ein »Grüässäch«, was so viel bedeutet wie »Grüß Gott!« Auch an der Kasse im Supermarkt werde ich stets begrüßt, bevor die Kassiererin die Gegenstände meines Einkaufs scannt. Der Anteil der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Geschäften mit Migrationshintergrund ist deutlich höher als in Deutschland, und viele haben einen dunklen Teint oder gar eine dunkle Hautfarbe. Viele Tamilen und auch Afrikaner arbeiten in den Geschäften des Einzelhandels. Allerdings geht es an der Kasse und an jedem Schalter recht gemütlich, manchmal auch etwas umständlich zu. Der Service in den Gaststätten geht zum Glück zügiger vonstatten. Aber 60 Euro pro Person sind im Restaurant mit Leichtigkeit ausgegeben. Ohne Nachtisch!
Bei unseren Teamsitzungen, den sog. »Updates«, habe ich festgestellt, dass die Schweizer überaus diskussionsfreudig sind. Auf einen Vorschlag, der in die Runde geworfen wird, kontert bald der nächste Diskussionsteilnehmer gerne mit den Worten: »Ja, aber, gibt es nicht noch eine andere Möglichkeit?« Diese ständigen Versuche, etwas noch effizienter zu machen, stoßen natürlich an verschiedene Grenzen: mal sind es die Erwartungen der Kunden, mal der durchsetzbare Preis, mal die Produkte der Konkurrenz. Dieses ständige Ringen um Optimierung, Marktchancen und Rendite setzt einen Dialog in Gang, der oft ewig dauert. Zweieinhalb Stunden »Update« kann selbst für mich als Zuhörer ermüdend sein. Kehre ich gegen halb fünf Uhr an meinen Arbeitsplatz zurück, bin ich mit meinem Pensum noch nicht am Ende, denn wir haben Präsenzpflicht bis halb sechs Uhr.
Übrigens duzen sich hier alle, sogar die Mitarbeiter ihren Chef. Mir scheint, dass die Hierarchien flacher sind als in Deutschland. Alle Mitarbeiter wollen im Produktionsprozess mitreden, gehört werden und nach Möglichkeit mitbestimmen.
Nach der Arbeit fahre ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die alle sechs bis acht Minuten verkehren, ins Zentrum. Am Bahnhof, am Bärenplatz oder am Zytglogge steige ich gelegentlich um und mache eine Rundfahrt in einen Stadtteil oder einen Vorort, den ich noch nicht kenne. Das ist mit der Libero-Monatskarte kein Problem. Sofern ich einen Sitzplatz ergattere, ist das ganz entspannend. Da es hier keine U-Bahn gibt, sind die Busse und die Trambahnen oft gerammelt voll. Ich bin immer froh, wenn ich bald einen Fensterplatz ergattern kann.
Morgen Samstag fahre ich mit der Standseilbahn von Wabern aus auf den Hausberg der Stadt Bern, den Gurten. Der Wetterbericht ist gut, und ich habe die begründete Hoffnung, bei guter Sicht einige schneebedeckte Viertausender der Berner Alpenkette zu sehen. Auf das schöne