Carola - es begann nach dem Oktoberfest - Markus Nüsseler - E-Book

Carola - es begann nach dem Oktoberfest E-Book

Markus Nüsseler

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Beschreibung

Kurzbeschreibung Martin Maier ist Jurist einer großen Versicherung. Er ist mit Lydia verheiratet, doch die Ehe bleibt kinderlos. Die ehrgeizige Anwältin geht ganz in ihrer Arbeit auf. Obwohl Martin Karriere macht, bleibt er innerlich unausgefüllt. Er beginnt eine heimliche Affäre mit Carola. Da überrascht ihn Antonia mit den Folgen einer Liebesnacht. Der Roman begleitet drei Paare auf dem Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

1

„Das wars dann nun für längere Zeit“, sagte Martin zu Florian. Er senkte seinen Blick, sah zu Boden. Etwas wehmütig blickte er danach in Florians Gesicht. Dieser hob seinen blonden Lockenkopf, und meinte lächelnd: „Du bist jederzeit bei mir in Florida willkommen! Und wir bleiben ja in Kontakt.“ – „Ja sicher. Ich beneide dich. Neue Wohnung – neuer Job – das hört sich doch vielversprechend an.“

Die beiden Freunde umarmten sich, Florian nahm sein Bordcase in die Hand und drehte sich in Richtung Personenkontrolle. Nach einem „Halt die Ohren steif“ und einem Winken mit seinem Reisepass nahm ihn die Schlange vor der Sicherheitskontrolle auf.

Langsam schlenderte Martin zurück in Richtung S-Bahnhof. Da Samstag war, hatte er Muße. Als er an einer Bar vorbeikam, ließ er sich einen doppelten Espresso geben, betrat den Gästebereich und setzte sich mit Blick in Richtung Halle.

Er beobachtete die Reisenden, die hinter dem Gästebereich vorbeizogen. Nach der Gangart der Reisenden konnte man nicht darauf schließen, dass die Paare und Kleingruppen, meistens Familien mit Kindern, die schönsten Tage des Jahres vor sich hatten. Zielstrebige Schritte trieben sie zu Ihren Gates. Die Gangart der Reisenden kam dem morgendlichen Hetzen in Richtung Arbeitsplatz, das Martin aus dem Untergeschoss am Marienplatz kannte, recht nahe.

Auch der Blick in die Runde, auf die umliegenden Sitzgruppen bot ein ähnliches Bild. Selbst bei den Paaren waren zumeist mindestens die Augen eines Partners auf das iPhone gerichtet. Geschäftigkeit auf dem Weg in die schönsten Tage des Jahres … einzig das Fehlen der Trolley ziehenden Herren in Anzügen war ein Anzeichen dafür, dass kein Arbeitstag bevorstand.

Martin überlegte, wann er das letzte Mal vor einem Abflug in einen größeren Urlaub hier gesessen hatte. Das war noch vor der Corona-Pandemie gewesen, die das Flughafenareal gespenstisch leergefegt hatte, so unwirklich, wie eine Station auf einem anderen Planeten. Vor zwei Jahren, schon an der Schwelle zum Herbst, war er nach Griechenland geflogen.

Martin trank seinen Espresso aus und erhob sich. Jetzt ging er gegen den Strom der Urlauber zur S-Bahn.

In der Stadt angekommen, wechselte er von der S-Bahn in die U-Bahn. Als er das PEP erreichte, kaufte er sich Baguette, Rotwein und die üblichen Begleiter einer Brotzeit, die teils, französisch, teils italienisch inspiriert waren.

Zu Hause setzte er sich auf den Balkon. Das satte Grün der Bäume war wohltuend, und das Gezwitscher der Vögel machte ihn träumen. Sollte er mit dem Rad in den Perlacher Forst fahren? Oder gar ins Freibad gehen? Einen Sprung ins kühle Nass wagen? Unschlüssig scannte sein Blick den Horizont, den sein Balkon in Südlage freigab.

Das Telefon riss ihn aus seinen Träumen. Es war Jakob, der Ihn fragte, ob er zum Sommerfest kommen würde. Gerne sagte er zu. 17.30 Uhr bei „Smoky“? Ja, das passte gut.

Als Martin abends die Straße zum „Smoky“ entlang ging, stach ihm das rote Cabrio in die Augen. War Gernot auch da? Wie ein Blitz fiel ihm ein, dass er Gernot noch einen Finanzierungsplan zum Kauf einer Eigentumswohnung schuldig geblieben war. Martin war gerne bereit, mit anderen Menschen in Gedanken Möglichkeiten durchzuspielen, die sich im Beruf oder mit Geldfragen ergaben. Da kam er oft in Fahrt. Doch allzu oft wurde er das Opfer seiner eigenen Phantasie und verlor den Überblick. Wenn er keine schriftlichen Notizen machte, verschwanden hinter den konkreten Plänen die harten Fakten. Und Zahlenreihen konnte er sich schlecht merken. Er würde sich also doch noch einmal für länger an seinen Laptop setzen müssen.

Wenn er Glück hatte, würde er Gernot damit eine Entscheidungshilfe an die Hand geben können und ihn damit zufriedenstellen. Hoffentlich wollte Gernot nicht noch seinen Rat hinsichtlich der Wahl des konkreten Kaufobjektes hören. Martin selbst war ein entscheidungsfauler Mensch. Das konnte dazu führen, dass er Entscheidungen vor sich herschob oder zu gar keinem Entschluss kam. So verlief alles weiterhin in den gewohnten Bahnen, es gab keine unvorhergesehenen Wendungen und Entwicklungen.

Und jetzt sollte er am Ende noch raten, in welcher Form Gernot für sein Auskommen im Alter vorsorgen sollte. Da wollte er persönlich nicht der Wegweiser, der Berater, sein. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn.

Jetzt sah er den Rauch hinter dem „Smoky“ aufsteigen. Er umrundete die Außenfront des Gebäudes und betrat den Kiesweg zum Garten. Die ersten Gäste der Grillparty standen lachend um den Holzkohlengrill. Da kam auch schon Jakob gut gelaunt auf ihn zu. Jakob war nicht allein. „Das ist Silke“, meine Freundin. Silke war recht groß, trug schulterlanges braunes Haar und fixierte ihn bei der Begrüßung intensiv. „Ihr seid also im gleichen Team?“ Es war keine Frage, sondern hörte sich wie eine Feststellung an. „Ja, wir verbringen unter der Woche viel Zeit gemeinsam über unserem Projekt.“

Der Rauch, der an ihm vorbeizog, vermittelte eine Vorahnung gegrillten Fleisches, die ihm das Wasser im Mund zusammentrieb. Er griff nach Teller, Besteck und Papierserviette mit blau-weißen Rautenmustern und ließ sich eine Thüringer Bratwurst auflegen. Ergänzt mit Grilltomate und Nudelsalat versprach dies ein Schmaus zu werden.

Martin suchte sich einen freien Platz und setzte sich mit einem „Hallo! Guten Appetit!“ Erst jetzt bemerkte er Gernot am anderen Ende des Tisches. Er nickte Martin zu und vertiefte sich alsbald wieder in das Gespräch. Martin saß zu weit entfernt, um dem Inhalt des Gesprächs folgen zu können. Als er sich eine Halbe Bier holte, bekam er mit, dass es sich bei dem Gespräch offenbar um Urlaubspläne handelte. Martin schloss dies daraus, dass die Namen zweier Hersteller von Wohnmobilen fielen. Die Namen waren ihm seit seinem letzten Besuch auf der Tourismus- und Reisemesse in Erinnerung geblieben.

„Was hast du für Urlaubspläne?“, fragte ihn Hans, sein Tischnachbar. „Konkrete Pläne gibt es noch nicht. Ich halte erst einmal die Stellung im Team, wenn die anderen mit Beginn der Schulferien das Weite suchen. Aber zu meinen Favoriten kann ich ohne weiteres noch im September aufbrechen.“ – „Fährst du wieder nach Griechenland?“ – „Ja, oder nach Marakkesch.“ – „Klingt beides vielversprechend“, meinte Hans. „Soweit kommen wir mit dem Wohnmobil allerdings nicht.“

Martin stand mit dem halbvollen Bierglas auf. „Ich mach dann mal die Runde. Falls wir uns nicht wiedersehen: schönen Urlaub und Gruß an die Frau!“

Mittlerweile war das Grillfest auf dem Höhepunkt. Vor dem Bierfass hatte sich eine Schlange gebildet. Ein Bier noch, dachte Martin, dann pack ich‘s wieder.

Als er langsamen Schrittes zur Bushaltestelle ging, bemerkte er eine angenehme Müdigkeit, die ihn befallen hatte. Er war früh aufgestanden, um mit Florian zum Flughafen zu fahren und ihm Lebewohl zu sagen. Das Grillfest war ein netter Abschluss des Tages gewesen.

2

Gernot wurde durch das Zuschlagen der Haustüre geweckt. Verstört blinzelte er in Richtung Fenster. Ein leichtes Blau verriet: es war schon Tag. Die Vögel konzertierten in munterer Schar. Mein Kopf! Ein Druck auf der Stirne und ein tauber Gaumen erinnerten Gernot an gestern: das Grillfest im „Smoky“! Das auch noch! „Ich wollte früher zurück sein“, dachte er. „Wo wir doch heute zur Kugler Alm radeln wollen.“ Das hatte er seiner Frau versprochen. Missmutig richtete er sich auf und schob seine Beine über die Bettkante auf den Boden. Seine Frau schlief noch. Erst 6 Uhr 10! Dann habe ich noch etwas Luft.

Gernot versuchte, unbemerkt vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer zu gelangen. Er griff sich seine Schachtel Zigaretten und das Feuerzeug und ging auf den Balkon, setzte sich auf den Balkonstuhl und zündete sich eine Zigarette an. Die anhaltende Hitzewelle brachte auch nachts nur wenig Abkühlung. Es waren noch immer 24 Grad. Kein Wölkchen am Himmel! Es würde erneut ein heißer Tag werden. Gernot blies den Rauch über die Brüstung und ließ seinen Blick durch den Innenhof der Wohnsiedlung schweifen. Es war vor fünf Jahren gewesen, als sie diese Dreizimmer-Wohnung bezogen hatten. Dieser Zeitraum kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Er liebte diesen Blick auf den Innenhof mit seinen Bäumen. Wie oft hatten sie auf dem Balkon abends Brotzeit gemacht, und wie oft hatte er danach noch eine Literflasche Haberschlachter Heuchelberg aufgemacht. Ja, sie hatten es sich bei Kerzenschein und Rotwein gemütlich gemacht und mancher Plan nahm hier auf dem Balkon das erste Mal, oft noch in Umrissen, Gestalt an. Er liebte diese Wohnung, sie war ein Ruhepol für ihn geworden. Und wie schnell war er mit der S-Bahn an seinem Arbeitsplatz. Doch dieses Idyll hatte einige Kratzer abbekommen, seit die Schwester seiner Frau, Edith, und ihr Mann sich eine Eigentumswohnung in Olching gekauft hatten, mit Gartenanteil und in Reichweite des Olchinger Sees. Er erinnerte sich auch ganz gut an das Beisammensein auf der Terrasse vor dem noch recht kahlen Gartenanteil. Gewiss, das war Anfang März gewesen, aber er erinnerte sich noch, dass Edith angedeutet hatte, dass sie sich mit der Bepflanzung des Gartens noch etwas Zeit lassen wollten. Dann hatte Franz etwas von einer recht happigen Rechnung vom Finanzamt, von der Grunderwerbssteuer, gesagt. Tut sich mit dem Kauf einer Immobilie nicht ein Fass ohne Boden auf? Muss ich mir diesen Luxus antun? Da fiel ihm eine Redewendung seiner Mutter ein: „Steck keinen Ballast in deinen Rucksack – das Leben ist so schon schwer genug!“

Und jetzt, nach Corona, wollten Monika und er nicht all die Urlaubsreisen nachholen, deren Ziele sie unfreiwillig verschoben hatten?

„Ach hier bist du! Willst du auf dem Balkon frühstücken?“ Monika schaute ihn fragend an. „Nein nein, ich komm schon rein.“ Gernot drückte die Zigarette aus.

„Hat es dir gestern gefallen?“ wollte Gernot von Monika erfahren. „Oh ja, sehr. Am Abend so draußen mit Freunden zu plauschen – einfach toll. Vielleicht können wir nächstes Wochenende Edith und Franz in ihrem Garten besuchen?“ - „Falls das Wetter so bleibt“. Gernot verzog innerlich das Gesicht. „Hast du gestern mit Martin gesprochen, ich meine wegen unserem Projekt?“ – „Ich habe momentan nur ein Vorhaben, unseren Urlaub in Thailand in zwei Wochen“, brummte Gernot. „Und der Städtetrip London – Edinburg will auch vorbereitet sein. Das macht sich nicht von alleine!“ - „Ja gewiss. Aber denk doch mal an unsere Zukunft. Du weißt schon, wir sollten das Thema Eigenheim mal zu Ende diskutieren. Die Zeit läuft uns davon, und billiger wird es nicht durchs Warten. Was meint denn Martin dazu?“ – „Darüber haben wir gestern nicht geredet. Ich kann ja mal nach der Arbeit mit ihm auf ein Bier gehen.“ – „Das ist eine gute Idee, wenn ihr das Thema ernstlich angeht.“ – „Dann komm halt einfach mit. Was hältst du davon?“ – „Gut, gerne.“

3

Vergnügt radelte Martin vom Chinesischen Turm in Richtung Großhesseloher See. Es war noch früh, noch streichelte ihn eine frische Brise während der Fahrt. Auf der Höhe des Sees hielt er inne, stieg vom Rad ab und setzte sich auf die Bank. Herrlich, sich so treiben zu lassen. Er ließ seine Augen über die wohltuend grüne Kulisse des Englischen Gartens schweifen und sah zum Monopteros hinüber. Die Beine von sich streckend, faltete er die Hände über seinem Bauch. Ja, das letzte halbe Jahr war für ihn erfolgreich gewesen, er hatte Grund, sich zu freuen und dankbar zu sein. Mit seiner Bewerbung um den Posten im Stab des Generaldirektors hatte er Erfolg gehabt. Ab 15. Oktober war er Mitglied in diesem begehrten Kreis! Gewiss hatte ihm die Projektarbeit im Team C auch Spaß gemacht – das hatte immer wieder über die zahlreichen Überstunden hinweggeholfen. Ja, und das eine oder andere Feierabendbier hatte er auch mit Kollegen aus seinem Arbeitsumfeld trinken können. Im Grunde war das eine ganz nette Gruppe gewesen. Vor Jahresende und auch gegen Quartalsende kulminierte der Arbeitsdruck durch die Terminvorgaben ganz gewaltig. Was ja nie bedeutete, dass mit der Einhaltung des Termins das Projekt abgeschlossen, das Ziel erreicht war. Weder war die Sache druckreif noch fertig zur Produkteinführung. Das bedeutete ja nur, dass jetzt das nächste Projekt heranstand. Neue Produktvorgaben mussten konkretisiert, neue Zielgruppen angesprochen werden. Und während das Team sich in die neue Materie einarbeitete, kam nach 4 bis 6 Wochen das abgelieferte Projekt mit Kritikpunkten und Änderungswünschen wieder zurück. Planen und entwickeln ist das eine – fertig stellen und zum Vertrieb freigeben das andere. Immer wieder der gleiche Durchlauf, ein Hamsterrad im Großen.

Das war ein Beweggrund für Martins Bewerbung auf die neue Stelle gewesen. Er hoffte, damit aus der Projektarbeit rauszukommen, sich in Zukunft auch um betriebswirtschaftliche Fragen kümmern zu können, das große Ganze dabei in den Blick zu nehmen. Martin freute sich auf das Mehr an Verantwortung und Entscheidungsmöglichkeiten.

Er brachte seine Beine wieder in rechtwinklige Position. Doch, auch finanziell wird sich das für ihn rechnen: ein Plus von 540 € monatlich! Martin lächelte selig vor sich hin. Er würde jetzt auch mehr in seine private Altersvorsorge investieren können.

Da fiel ihm ein Beitrag des Hessischen Rundfunks ein, den er am Donnerstag spätabends gesehen hatte „Keine Zinsen - miese Rente“. Ein so informativer und gleichzeitig auch sehr anschaulicher Bericht mit konkreten Einzelschicksalen hätte es eigentlich verdient, zu einer besseren Sendezeit ausgestrahlt zu werden, nicht erst um 23.00 Uhr. Wer macht spätabends noch gerne Kassensturz unter einem so negativen Vorzeichen?

Martin war klar geworden, dass seine Eltern es noch einfacher gehabt hatten mit der Frage der Altersvorsorge. Ja, die Zeiten, in denen man mit Lebensversicherungen und Sparplänen vorsorgen sowie mit Bundesschatzbriefen und Obligationen Vermögen aufbauen konnte, waren vorbei. Bei den aktuellen Zinssätzen für Spareinlagen war das eingezahlte Geld in 20 Jahren nur noch halb so viel wert wie heute!

Martin wollte aus seinem Geld etwas machen. Und eines wollte er auf jeden Fall vermeiden, ein Leben als Rentner bei knapper Kasse.

Mittlerweile spürte Martin, wie die Sonne ihm auf den Kopf brannte. Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Da fiel sein Blick auf die Zeitschrift, die er auf den Gepäckträger seines Rades gepackt hatte. „Unentdeckte Perlen am Aktienmarkt“, stand dort. „0h je“ seufzte Martin. „Wenn es denn die richtigen sind“, dachte er. Seit April 2020, der erste Shutdown war im März in Kraft getreten, kannte der DAX, der Deutsche Aktienindex, nur eine Richtung: nach oben. Staunend konnte man den Kursverlauf an der großen Anzeigetafel in „Börse vor 8“ im Ersten Programm verfolgen. Das Minus nach Beginn der Pandemie hatten die Aktienkurse in weniger als einem Jahr wettgemacht. Die alten Kursstände waren nicht nur wieder erreicht, nein, sie wurden teilweise deutlich überboten. Die Aktie von Volkswagen hatte um 43 % zugelegt! Mit einem Mal schien in diese grundsolide, konservative Industriemarke Zukunftsmusik zu kommen. Elektromobilität, autonomes Fahren – Visionen!?

Martin war klar, dass dazu zunächst Geld nötig war. Geld für neue Produktionssparten, neue Produktionsstätten, also Fabriken. Investitionen. Und über Rentabilität zu reden, war erst nachher sinnvoll. Verkaufserfolg und Gewinn lassen sich nicht planen. Das wusste Martin. Das hatte er auch am Rande seines Jobs immer wieder sehen können. Nach der Finanzkrise hatte sein Unternehmen einen Einstellungsstopp vornehmen müssen.

Umso mehr lohnte es sich, nicht über Kursraketen nachzudenken, sondern Unternehmen herauszufinden, deren Produkte auch morgen und übermorgen Kunden finden würde. Und diese gab es. Bei diesen würde er Miteigentümer werden und am Erfolg des Unternehmens teilhaben. Er wusste auch, dass es Unternehmen gab, die seit mindestens 25 Jahren jedes Jahr die Gewinnbeteiligung für ihre Eigentümer, die Aktionäre, erhöht hatten. Man nannte Sie „Dividend Aristocrats“, Dividendenaristokraten.

4

Edith hatte für das Frühstück auf der Terrasse gedeckt. „So könnte es immer bleiben“, meinte sie und blickte von ihrem iPad auf. „Wenn das Wetter trocken und warm bleibt, könnten wir auch unter der Woche unser Frühstück draußen einnehmen“, sagte sie und schaute Franz an. „Meinst du?“ Franz senke den Kopf und schaute sie über die Brille an. „So ein Aufwand für die Viertelstunde? Vergiss nicht den Aufwand: Decke auflegen, Stühle herrichten, auf- und abtragen und danach zurückstellen?“ – „Na ja, aber der Sommer ist ja nicht ewig. Im September ist es dann zu kühl in der Früh.“

„So richtig lohnt es sich nur am Wochenende, wenn wir auch draußen Brotzeit machen können.“ Franz blieb bei seiner Überzeugung.

Edith ließ versonnen ihren Blick über ihr Gartenanteil gleiten. „Im September steht die Herbstbepflanzung heran. Dann ruft wieder das Gartencenter!“ Franz blieb die Antwort schuldig. Schweigend drückte er jedoch Ober- und Unterlippe zusammen.

„Was hältst du davon, nachmittags ins Dachauer Moos zu radeln? Die Gaststätte „Am Moos“ bietet am Wochenende jetzt auch Steckerlfisch an?“ – „Prima, tolle Idee. So gegen vier Uhr?“ Franz‘ Gesicht hatte sich aufgehellt. Er radelte immer gerne durch das Dachauer Moor. Das ebene Land, die weit in die Ferne ziehenden Felder und die Bäume, die die Nebenstraßen säumten, hatten es ihm immer schon angetan.

5

„Mensch ist hier voll“, meinte Franz, als sie die Räder am Rande des Biergartens abstellten. „Das ist ja wie beim Oktoberfest!“ Sie schoben an den gut besetzten Bänken vorbei in Richtung Vorgarten. „Hei Franz, mogst hergehen?“ Eine bekannte Stimme unterbrach Franz und ließ ihn in die Runde blicken. Es war Fritz, sein Arbeitskollege. Er rückte schon zur Seite und begrüßte die beiden freudig. „Was wollt ihr denn trinken?“ schon war die Kellnerin zur Stelle. „Zwei Radler“, gab Franz zur Antwort. „Seid ihr öfters in der Gaststätte „Am Moos?“ wollte Fritz wissen. „Ich glaube, dieses Jahr sind wir zu Stammkunden geworden, bei dem guten Wetter reizt ein schöner Biergarten immer wieder gerne.- „Wie geht’s dir denn?“ – „Sieht man davon ab, dass dies mein letzter Urlaubstag ist, eigentlich gut!“ – „Wo warst du denn in Urlaub?“ griff Edith den Gesprächsfaden auf.

Auf dieses Stichwort kam Fritz in Fahrt. Ausgiebig berichtete er von seiner Rundreise durch die USA, Miami, Las Vegas, Chicago und Washington. Sogar den Trump Tower in Chicago hatte er gesehen. Fritz hatte die Neigung, alles, was er berichtete, in seine einzelnen Schritte zu gliedern. Er erzählte chronologisch, und so war es nicht anders zu erwarten, dass er seinen Urlaubsbericht beim Check-in am Münchener Flughafen begann. Er erwähnte auch die Überlegungen zu der Wahl der Reiseroute und ließ alternative Strecken nicht unerwähnt. Sein Rapport beinhaltete auch die Namen der Hotels und die Beschreibung der Ausstattung der Badezimmer im jeweiligen Nachtquartier.

Als er sich kurz in Richtung Klo verabschiedete, seufzte Edith. Franz hatte mehr träumerisch mitgehört. Ja, das war sicher ein tolles Erlebnis gewesen. Momentan waren Reisen in andere Kontinente für Franz kein Thema. Seine Bank buchte regelmäßig am zweitletzten Arbeitstag des Monats die Zinsen und die Tilgung für den Hypothekarkredit ab. Und nicht zu knapp, fast dreimal so viel, wie er vorher für den Mietzins und die Nebenkosten bezahlt hatte. Franz und Edith hatten ein komplett neues Monatsbudget erstellen müssen, mit deutlichen Abstrichen bei einigen Posten. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich Franz, der sonst gerne auch mal spontan zum Essen ins Restaurant gegangen war, an die neue Sparsamkeit gewöhnt hatte.

Dieser Traumsommer hatte ihnen viele schöne Stunden auf der Terrasse am Rande des Gartens geschenkt. Am Anfang hatte ihn oft ein Gefühl der Dankbarkeit, ja der Zufriedenheit erfüllt, wenn er draußen in der Sonne saß. „Das ist jetzt meins“, hatte er in einem Anflug von Stolz gedacht. Er war auch froh, dass der Einzug ohne Glasbruch und Pannen über die Bühne gegangen war. Er hatte innerlich wieder Ruhe gefunden und konnte die Stunden der Muße entspannt genießen. Er hatte auch seinen Humor nicht verloren. „Soll ich Fritz noch fragen, welche Farbe die Bettwäsche in den einzelnen Hotels hatte?“ feixte er zu Edith. – „Bloss nicht, sonst sind wir in einer Stunde noch nicht fertig mit dem Reisebericht.

Beschwingt kehrte Fritz aus der Gaststube zurück. „Habt ihr auch Reisepläne?“ wollte Fritz wissen. „Vielleicht ein paar Tage Wandern in Südtirol“, meinte Edith. „Wir haben noch nichts gebucht.“

„Ach ja, was machen eure netten Gartennachbarn?“ wollte Fritz wissen. „Du meinst Tom und Nina? Ja stell Dir vor: du weißt doch, Nina ist Architektin. Jetzt hat man ihr gekündigt. Und sie hat auch noch keine neue Stelle in Aussicht. Im Architekturbüro gehen die Aufträge zurück. Einfamilienhäuser werden viel weniger gebaut, und die Konkurrenz unter den Architekturbüros ist beachtlich.“ Fritz wiegte den Kopf hin und her. „Das ist sicher ein harter Schlag. Nur ein Verdiener bei den hohen Schulden.“

Franz nickte. „Das Arbeitslosengeld ist eine Stütze zum Leben, aber reicht es, auch die Schulden bei der Bank abzutragen?“

6

Am Montagmorgen war Martin der erste in seiner Abteilung, der zur Arbeit erschienen war. Er mochte diese Ruhe, in der er sich in die noch offenen Fragen seines Projekts vertiefen konnte. Bei offenem Fenster waren um Viertel nach sieben nur die Vögel in den Bäumen des Innenhofs zu hören. Das Telefon schwieg, und – oh Wunder – keine neue E- Mail vom Projektleiter. Dieser hatte am Freitag immer seinen Home-office-day. Wobei Martin sich nicht klar darüber war, ob dies nicht eine verkappte Form von Vier-Tage-Woche war. Darauf deuteten auch diverse E-Mails von Donnerstagabend hin, die der Projektleiter noch nach 19 Uhr versandte. Zumindest bei diesem Jahrhundertsommer sprach ja nichts dagegen, mittags eine Abkühlung zu suchen und dafür in den Abendstunden sich nochmals in die Produktlinien zu vertiefen.

Martin studierte die letzten E-Mails der Kollegen aus dem Projekt und notierte auf einem Block die Details, die er noch im Gespräch klären wollte.

Eben vernahm er, wie die Türe seines Nachbarzimmers geöffnet wurde. Der Chef war also auch schon da.

Martin ging in die Kaffeeküche und holte sich einen doppelten Schwarzen. Daraufhin öffnete er die Plattform des Projekts und verglich die Textpassagen mit seinen Fragen. Vermutlich würden einige Ergänzungen im Werbetext das gewünschte Ergebnis bringen. Er ging auf den Reiter „Änderung markieren.“

„Vielleicht doch lieber gleich einen verbesserten Entwurf kommunizieren“, dachte er. Den könnte jeder sehen und gegebenenfalls verbessern. Besser als telefonieren. Martin war ein zielstrebiger „Racker“, er wollte möglichst ohne Umwege und Abschweifungen zu einem Ergebnis kommen. Ihm lagen die kurzen Wegweisungen, die klar in die eine Richtung wiesen, sehr am Herzen. „Man muss es sofort verstehen können. Ohne nachzufragen.“ Dies war seine Devise.

Seine Korrekturvorschläge sahen eine Straffung der Einleitung und eine stärkere Konkretisierung der einzelnen Positionen im Text vor. Diese sollten viel deutlicher als einzelne Bausteine eines größeren Ganzen verstanden werden. Teilweise standen auch verschiedene Alternativen bereit. Martin war mit seinem Vorschlag zufrieden.

Kurz vor dem Gang in die Kantine: ein Blick noch in das E-Mail-Postfach. Martin hatte die Sofortanzeige deaktiviert, denn er empfand mit Rot unterlegte Hinweise auf neue Mails als Gängelung, ja wenn er ganz in einen Vorgang versunken war, als Störung. „Nichts Neues, ist das möglich?“ sagte er halblaut. „Herrlich!“

Martin stand auf, griff nach dem Glas auf dem Tisch und ging in die Küche, um Wasser zu holen. Der Blick auf den Speisezettel zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht: Wollwürste mit Zwiebelsauce!

Beim Verlassen der Küche kam ihm sein Chef entgegen. „Herr Maier, wir müssen eine kurze Teamsitzung ansetzen. Sind Sie morgen Vormittag da?“ – „Ja.“ – Sie haben es vielleicht mitbekommen, Frau Müller geht Ende September in Mutterschutz.“

Martin war etwas konsterniert, sagte aber nichts. Hatte sein Chef vergessen, dass er im Oktober auf die neue Stelle wechselte? Er hatte ihn ja über das Ergebnis seiner Bewerbung informiert. Aber vielleicht würde sich die Besprechung nicht nur auf das Thema Teammitglieder beschränken. Seinen Einwurf behielt er deshalb für sich selbst. War es nicht schön, sich anzuhören, wie andere sich ihre Arbeit aufteilten, wenn man selbst ohne neuen Auftrag aus der Teamsitzung gehen konnte?

Gut gelaunt ging Martin zurück in sein Büro. Ein letzter Schluck Wasser noch, dann ging er aus dem Büro in die Mittagspause. „Mahlzeit“.

7

Der ICE nach Düsseldorf stand schon zum Einsteigen bereit, aber Gernot ließ sich Zeit. Er wollte noch einen Blick auf die Zeitschriften im Bücherladen werfen. Auf dem Weg dahin hatte er den Einfall, doch noch runter zum Super-Reiseshop zu gehen. Monika hatte Gernot zwei Brote mit Teewurst und Gurken bereitet, von dem weichen Toastbrot amerikanischer Art, wie er es besonders gerne mochte. Aber dazu brauchte er noch, damit das Brot auch rutscht, einen passenden Begleiter. Er griff nach einer Flasche Rotwein und holte aus dem Kühlregal noch zwei Flaschen Bier. Na ja, heute hatte er keine weiteren Programmpunkte beruflicher Art vor sich. Eigentlich die optimale Dienstreise, die Teilnahme an einem Einführungsseminar, dachte er. Vor- und Nachbereitung entfallen, denn wie bei Impara Facile üblich, gab es am Ende des Kurses die Möglichkeit, die einzelnen Vorträge in schriftlicher Form auf den USB-Stick runterzuladen. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge auf dem Weg in den Urlaub. So machte Arbeit Spaß!

Hinter der Kassiererin wurde sein Blick von den kleinen Fläschchen angezogen, die da in Reih und Glied bereitstanden. „Noch zwei Weinbrand“, ergänzte Gernot.

Das mit der Radtour zur Kugler-Alm hatte am Sonntag dann doch eine kleine Wendung genommen. Aus der Radtour war ein Bummel zum Schützengarten geworden, einem schattigen Biergarten gleich um die Ecke. Welch ein Glück: Monika war mit ihrer Präsentation am Sonntagvormittag nicht fertig geworden, und so hatte sie vorgeschlagen, erst nach getaner Arbeit loszuziehen. Gemütlich war es im Biergarten gewesen, sie hatten sich mit ihren Banknachbarn bestens unterhalten, denn diese wussten allerhand Tipps für den Urlaub in Thailand zum Besten zu geben.

Drei Mal war Gernot bis gegen neun Uhr abends zum Schankwirt aufgebrochen, und das machte sich noch jetzt in seinem Kopf bemerkbar. Gernot hatte da seine eigene Medizin: ein Weinbrand oder ein großer Jägermeister half zuverlässig über die Verspannung im Oberkopf hinweg.

Gernot bezog seinen Platz, stellte die Reisetasche auf den Platz neben sich und googelte die E-Mails durch.

Jetzt ging es los. Der Zug verließ den Hauptbahnhof. Gernot verfolgte die vorbeigleitenden Bürokomplexe zu seiner Rechten: PWC, Cancom und viele andere bekannte Namenszüge streiften sein Auge. Größere Komplexe von Eigentumswohnungen säumten diese Seite bis zum S-Bahnhof Laim. Die weißen Fassaden mit den vielen Balkonen hoben sich vom blauen Himmel ab. Von da oben könnte er stundenlang ankommende und auslaufende Züge beobachten. Ob man die Züge auch nachts und frühmorgens im Schlafzimmer hören würde? Falls ja: würde man sich an diese Geräusche gewöhnen?

Kurz hinter Pasing griff sich Gernot seinen Weinbrand und machte sich auf den Weg zum Klo.

Der Branntwein verbreitete ein wohliges Gefühl der Wärme in seinem Magen. „Jetzt sieht die Welt gleich anders aus“, dachte er und streckte bequem die Beine von sich.

Zu Hause war seit Kurzem Hochprozentiges tabu, seit er sich zweimal im Büro wegen Kater am Montag hatte krankmelden müssen. Monika war ganz anders geworden: „Willst du denn deinen Job verlieren?!“ Seither war ihm die Krankmeldung am Montag ein Gräuel geworden. Er machte gute Mine zum bösen Spiel. Um nicht aufzufallen, stand er in diesen Fällen eine halbe Stunde früher auf. Nicht, weil er besonders gut frühstücken wollte, nein, an solchen Tagen war er schon froh, wenn er den schwarzen Kaffee heil herunterbekam. Aber er musste Zeit für sein zweites Frühstück einkalkulieren, für die beiden großen Jägermeister, die ihm der Inhaber des Kiosks bei solchen Gelegenheiten ungefragt über die Theke reichte.

Nach zwei Jägermeistern war er dann so weit wieder auf Vordermann gebracht, dass er die Fahrt ins Büro dann gestärkt mit einem wohligen Gefühl im Bauch wieder aufnehmen konnte. An Tagen wie diesen war Gernot froh, dass er ein eigenes Büro hatte. Die Fahne versuchte er mit Pfefferminzbonbons zu unterdrücken, aber er war sich nicht sicher, wie effizient die Einnahme war. Zum Glück hatte sein Chef die Tendenz, auch zu seinen Mitarbeitern im gleichen Flur per E-Mail zu kommunizieren. Bis jetzt war dieser Therapieansatz am Montag noch nicht aufgefallen. Gewiss, Gernot ärgerte sich über seine eigene Maßlosigkeit an jenen Wochenenden, die er mit Freunden oder auch nur mit Monika im Biergarten verbracht hatte. Aber er hatte ja nie allein getrunken. Die Freunde hatten ihn doch hochleben lassen und mit ihm zusammen angestoßen! „So jung kommen wir nicht mehr zusammen!“ Diesen Trinkspruch hatte er selbst öfters in die Runde geworfen.

Entspannt blickte Gernot aus dem Fenster. Sanfte Hügelzüge streiften seinen Blick.

Hinter Nürnberg packte er seine Leberwurstbrote aus. Mit einem Zweigelt war dies eine ansprechende Brotzeit. Die Lebensgeister kehrten zurück.

In Düsseldorf nahm er ein Taxi und ließ sich in sein Hotel fahren. Erstaunt stellte er fest, dass die Kö ganz in der Nähe war. Er nahm sich noch einen kleinen Bummel vor, würde dann aber bald zu Bett gehen, denn er hatte den Wunsch, unbeschwert und ausgeruht den Kurs zu verfolgen.

Es war kurz nach zehn Uhr abends, als Gernot sich ins Bett legte. Ein traumloser Schlaf hatte ihn überfallen. Wie ein Toter lag er, mit angezogenen Beinen, unter dem schweren Bettzeug. Ein Geräusch vom Flur hatte ihn zurückgeholt. Er streckte den Arm in Richtung Nachttisch, tastete nach seiner Uhr, die er jedoch nicht fand. Es half nichts, er musste aufstehen. Die Uhr lag auf dem Tischchen vor dem Spiegel. Zehn vor eins? Noch Zeit genug! Er ging ins Bad. Erst jetzt bemerkte er, dass er in seiner Leibwäsche geschlafen hatte. Brummend kramte er den Pyjama aus dem Bordcase und tauschte diesen gegen Leibchen und Unterhose.

Er legte sich wieder hin, knipste das Licht aus und wollte schlafen. Er fand keine Ruhe, wälzte sich hin und her. Das Herz pochte in der linken Brust. Er zählte seine Atemzüge … und blieb wach. Er beschloss, seinen Roman zur Hand zu nehmen und setzte sich in den Sessel neben dem Fenster. Etwa eine halbe Stunde las er, doch das Lesen fiel ihm schwer. Es war anstrengend, er zwang sich, weiterzulesen, die Müdigkeit würde ihm das Einschlafen erleichtern.

Nach vierzig Minuten schleppte er sich wieder ins Bett. Er döste, wurde aber bald wieder hellwach. Es half nichts, er fand keinen Schlaf. Sein Herz hämmerte.

Er kramte in seinem Rucksack. Seine Hände griffen nach etwas, was sich schwer und kalt anfühlte. Eine Flasche Bier! Die hatte er ganz vergessen. Ganz selig stellte er dieses Geschenk auf das Tischchen vor dem Sessel. Er schaltete den Fernseher ein, zappte durch bis „Medical Detectives“. Er trank langsam, staunte, dass er das Trinken genießen konnte, obwohl das Bier eher warm war.

Es war erst 02 Uhr und 5 Minuten, und der nächste Kriminalfall wurde vorgestellt. Eine junge Studentin aus Kalifornien, tot in ihrer Studentenbude aufgefunden. – Das Bier war leer. Er hätte gerne noch eines getrunken. Aber die Flasche war leer.

Er grübelte. Das Hotelzimmer hatte keinen Kühlschrank. Gernot erinnerte sich, dass er unten in der Lobby einen Getränkeautomaten gesehen hatte. Er zog die Hose an, streifte sich die Anzugsjacke über und griff nach Portemonnaie und Zimmerkarte. Zum Glück führte er ausreichend Kleingeld mit sich.

Um 3 Uhr 40 waren die beiden Bierdosen leer, und Gernot fühlte eine bleierne Müdigkeit, mit der er sich ins Bett fallen ließ. Und bald schlief er in einen neuen, erneuten Tag hinüber.

8

Martin checkte die E-Mails durch. Da war es: „Dienstbesprechung Dienstag 14.00 Uhr, Konferenzraum 5. Stand Projekt 06/03, Betriebsausflug, Personelles. MfG Konstantin Kunze.

Nach dem Mittagessen, das war optimal. Martin hoffte, dass er gegen 15.30 Uhr wieder an seinem Arbeitsplatz zurück sein würde.

Kunze war ein zielstrebig arbeitender Mensch mit kurzen Gedankengängen. Mit seinem stets fröhlich wirkenden Gesicht, seinem Humor und seiner charmanten Zuvorkommenheit erreichte er die Herzen der Menschen, gewann deren Sympathie. Martin konnte gut mit Kunze, auch wenn sie immer noch beim Sie waren.

Martin schätzte Kunze auch noch aus einem anderen Grund. Kunze war ein scharfer Analytiker. Und er dachte jede einzelne Möglichkeit in Einzelschritten bis zum Ende durch. Das beanspruchte auf Teamsitzungen unter seiner Leitung viel Zeit, da er manchmal in seinen Ausführungen eine Vielzahl von Lösungsansätzen zu Ende dachte. Diese Liebe zum Detail verlangte Geduld und Aufmerksamkeit der Sitzungsteilnehmer.

Andererseits lieferten seine Ausführungen auch immer die Möglichkeit, sich eines oder mehrere seiner Argumente, die Martin gefielen, zu eigen zu machen und dann in der Gesprächsrunde aufzugreifen. Ob das Projekt dann gleich einen Schritt weiterkam, hing nun allerdings vom Konsens im Team ab. Und von der Zustimmung des Chefs.

„Na ja“, dachte Martin, nachdem die Schulferien vor der Tür sehen und der Abgabetermin ja feststand, „bringen wir Projekt 06/03 zu einem baldigen Abschluss.“ Es wäre sein zweitletztes Projekt, in das er eingebunden war.

Die Türen zum Innenhof standen offen, als Martin mit anderen den Konferenzraum 5 betraten. Martin setzte sich so, dass sein Blick auf das Grün im Innenraum fiel. Da war auch schon Konstantin Kunze.

Wie erwartet, ging es zügig in die Materie. Diesmal gab es nur drei Alternativen, die zu verfolgen waren, wovon die letzte aus Kostengründen erhebliche Nachteile hatte.

Erstaunt stellten alle fest, dass sie schon zwanzig Minuten später zu einer Einigung gekommen waren. Toni Huber, geborene Antonia Torrelli, wurde gebeten, ein Kurzprotokoll zu erstellen.

Bei der Frage nach dem Betriebsausflug hatte sich die Rundfahrt mit dem Schiff auf dem Ammersee durchgesetzt.

Zuletzt ergriff wieder Martins Chef das Wort. „Herr Maier wird uns Ende Oktober verlassen. Er rückt zum Stab der Geschäftsleitung auf.“ Jetzt war es draußen. Erstaunte Gesichter. Die Mitteilung hatte wie eine Bombe eingeschlagen. „Wow!“, zischte sein Nachbar.

Martin war dies peinlich. Er hätte seinen Schritt lieber im persönlichen Gespräch mitgeteilt. Nun wussten es alle. Das hatte den Vorteil, dass seine Entscheidung nicht über den Flurfunk weitergemeldet wurde.

Als die Runde sich auflöste, bewegte sich Toni auf ihn zu. „Ich gratuliere dir, Martin. Un esito strepitoso!“ – „Mi fa molto piacere“, antwortete Martin, der als Autodidakt sich etwas Italienisch angeeignet hatte. „Schade, dass du gehst“, meinte Toni, und sah ihm direkt in die Augen. „Wir werden uns gewiss wiedersehen. Ich bin ja nach wie vor hier im Haus, ich bin nicht aus der Welt“, tröstete Martin. –„Ja, doch auf der obersten Etage!“ spitzte Antonia und schüttelte Ihren Kopf mit den langen, kastanienfarbigen Haaren.

„Ich hol dich morgen zum Mittagessen ab, was hältst du davon. Du bist mein Gast.“ – „Oh ja, gerne.“ Toni strahlte.

9

Der weiterführende Kurs, den Gernot in Düsseldorf absolviert hatte, war wider Erwarten interessant. Die Darbietungen waren vollgestopft mit Schaubildern, Kurven und Statistiken. Das Begleitheft enthielt eine Menge Hinweise auf wissenschaftliche Untersuchungen, die zumeist Professoren der Verhaltensökonmik durchgeführt hatten. Gernot stellte mit Überraschung fest, dass ein Teil der Probanden dieser wissenschaftlichen Experimente deren eigene Studenten waren. Besonders verblüffend waren die Ergebnisse der Langzeitstudien. Diese hatten vor allem im Spannungsfeld von Motivation und beruflichem und finanziellem Erfolg Erstaunliches zutage gefördert. Vor allem, als die Probanden Jahre später gebeten wurden, die Frage nach der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben zu bewerten.

In den Pausen gab es Kaffee und Gebäck. Schade, dass die Pausen nicht länger waren, denn der Austausch an den Stehtischen kam immer dann, wenn es interessant wurde, durch den Pausengong zu einem Ende.

Abends zerfiel die Runde nach dem gemeinsamen Abendessen in mehrere kleine Zirkel. Einige schienen sich schon von anderen Veranstaltungen zu kennen. Dies folgerte Gernot aus den meist privaten Gesprächsthemen. Insofern ergab sich aus der Gemeinschaft am Tisch nicht ohne weiteres ein Anschluss für ein Programm außer Haus, sprich Feierabendschoppen.

Am zweiten Abend hatte Gernot Glück. Ein pensionierter Rechtsanwalt aus Limburg fragte im Aufzug ganz spontan: „Wo kann man denn hier noch auf ein Glas Wein gehen?“ Spontan schlug Gernot ein: „Finden wir das doch zu zweit heraus.“ Daraus war dann ein vergnüglicher Abend geworden, mit vielen Einblicken in den Alltag einer Rechtsanwaltskanzlei. „Da ist ja wirklich jeder Fall anders,“ musste Gernot zugeben, keiner ist dem anderen Fall auch nur ein bisschen ähnlich!“

In seiner alltäglichen Arbeit hatte Gernot zwar lauter individuelle Situationen, die aber doch immer ähnlich gelagert waren. Das Thema blieb oft gleich, nur die Beteiligten unterschieden sich. Die Vergleichbarkeit erleichterte die Arbeit, da oft immer wieder die gleichen Gesetze und Gesetzmäßigkeiten zur Anwendung kamen. Aber diese Vergleichbarkeit machte das Bearbeiten der Fälle oft monoton.

10

Edith saß an ihrem Schreibtisch. Links hinten reihten sich in wechselnder Größe und Dicke kartonierte Bücher mit grünem Einband. G5, G6, G8 und G9 war zu lesen. Edith war Gymnasiallehrerin für Englisch und Latein mit Schwerpunkt Englisch, obwohl ihr Herz als Absolventin des humanistischen Gymnasiums für Latein schlug. In der Oberstufe des Gymnasiums waren Latein und Griechisch ihre beiden Lieblingsfächer gewesen.

Linkerhand fand sich ein etwa sieben cm hoher Stapel mit Schulaufgaben im Fach Englisch der 6. Klasse. Der Stapel rechts war etwa ein Drittel so hoch wie der Stapel links. Die Korrekturarbeiten waren noch in den Anfängen.

Edith stand auf und holte sich einen Espresso vom Kaffeeautomaten in der Küche. „Weder das Present Perfect noch die Steigerung sitzen!“ murmelte Edith. „Was ist das hier: I did it morely“! Unglaublich, dass man auch Fehler steigern konnte! „Potenzierte Unfähigkeit“, rutschte es Edith heraus. Entsprechend rot sah die zur Hälfte korrigierte Schulaufgabe bereits aus. Dann der Blick an den oberen Rand des Schulaufgabenbogens: Max Zelter. Ein Problemfall. Mutter zweier Söhne, alleinerziehend. Wohnte in dem Hochhaus neben dem Supermarkt. Dort saß die Mutter an der Kasse. Edith vermied Einkäufe in diesem Supermarkt, weil ihr die Frage, wie sich Max in der Englischstunde aufführte, unangenehm war. Max war ein netter Schüler, in sich gekehrt, im Unterricht leider oft nur physisch anwesend. War Max ein Träumer – oder beschäftigte den Buben etwas, von dem die Lehrerin nichts wusste? Edith hatte keine genaue Vorstellung. Sie fürchtete nur, dass Max das Klassenziel nicht erreichen würde. Im Notenportal hatte sie unschwer feststellen können, dass Max noch in anderen Fächern Baustellen hatte. Lücken in Fremdsprachen waren ohne Nachhilfe nur schwer zu schließen.

Edith überlegte, ob sie nicht doch einmal Frau Zelter ein Gespräch über die Leistungen ihres Sohnes anbieten sollte. Der klassische Weg dazu war der Elternsprechtag. Aber Edith wusste nicht, ob 5 Minuten dafür ausreichen würden - so lange war für die Einzelsprechstunde am Elternsprechtag vorgesehen. In diesem Fall würde sie sich lieber über das Schulportal mit Frau Zelter in Verbindung setzen und ihr eine individuelle Sprechstunde anbieten.

Frau Zelter war nicht die einzige Mutter in ihrer Englischklasse 6 b, auf die dieser Rat passen würde.

Wenn sie sich die Situation ihrer 6 b in Englisch vor Augen hielt, so war etwa jeder fünfte Schüler ein potenzieller Anwärter auf eine 5 im Zwischenzeugnis. Sie kannte die meisten Schüler schon aus der 5 b, und konnte sich dadurch ein gutes Bild über Lernfähigkeit und Lernwillen ihrer Schüler machen. Edith seufzte. Sie bezweifelte, ob die Schüler, die von der Volksschule die Empfehlung zum Übertritt auf das Gymnasium bekamen, wirklich für das Gymnasium geeignet waren. Dadurch waren Volksschullehrerinnen vor die Entscheidung gestellt, ob ein zehnjähriger Bub oder ein zehnjähriges Mädchen fähig sei, zwei oder gar drei Fremdsprachen zu lernen, Verständnis für Mathematik und Physik entwickelt und bereit ist, nach sechs Stunden Unterricht am Vormittag nachmittags noch mindestens zwei Stunden schriftliche Hausaufgaben zu machen und den Lernstoff, zum Beispiel Grammatikregeln und Vokabeln, sich anzueignen. Manchmal taten ihr die eigenen Schüler leid. Was da an Inhalten vermittelt wurde und im weiteren Unterrichtsgang – gerade bei Fremdsprachen – immer wieder vorausgesetzt wurde, war beachtlich.

Es gab nur wenige junge Menschen, die aus eigenem Antrieb, mit Motivation, lernten. Ja, die gab es tatsächlich. Das waren die wenigen, die wussten, was sie werden wollten: Ärztin oder Rechtsanwalt. Und einige wollten einfach nur gute Noten erreichen. Ja, Ehrgeiz war eine starke Triebfeder. Und führte tatsächlich zu lebenslangem Erfolg. Auf entsprechende Untersuchungen, die genau diesen so starken Zusammenhang belegten, hatte Daniel Kahnemann in seinem Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“, hingewiesen. Erfolg war also programmierbar, machbar. Und: erfolgreiche Menschen waren im Rückblick auf ihr Leben zufriedener als weniger erfolgreiche.

Da fiel Edith ihr Mann Franz ein. Er hatte mehrmals erwähnt, dass er sich nach dem Abendessen als Gymnasiast in sein Zimmer im ersten Stockwerk des elterlichen Einfamilienhauses zurückgezogen hatte. Türe zu, Buch auf. Franz war stolz darauf, Arzt geworden zu sein. Seine Mühe war nicht umsonst gewesen. Jetzt konnte er anderen Menschen helfen. Sein Können war gefragt, sehr sogar. Wann würde er heute von seiner Schicht im Krankenhaus zu ihr nach Hause kommen? Würde sie ihre Brotzeit wieder allein vor dem Fernseher einnehmen?

Sie staunte. Franz beklagte sich nie, wenn es in seiner Arbeit spät wurde. Darauf angesprochen, antwortete er mit einem Lächeln im Gesicht: „Siehst du, ich werde gebraucht!“

Edith arbeitete sich durch die 28 Schulaufgaben durch. Geschafft, endlich! „Juhu!“

Fünf vor sieben. Ja, ihre Schule brauchte sie auch. Immer wieder erhielt sie Klassen mit lernschwachen Schülern, die sie mit zusätzlichen Übungsaufgaben, die sie selbst zusammenstellte, auf Vordermann bringen sollte. So war wohl das Kalkül der Schulleitung. Sie war bekannt für Ihre Geduld und ihre persönliche Betreuung gerade jener Schüler, die am Lernort Gymnasium keine Selbstläufer waren. Auch die Eltern konnten sich jederzeit über E-Mail oder Telefon bei ihr melden.

Sie schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und setzte sich auf die Couch. „Ich will das Thema Coaching und Gruppennachhilfe bei der nächsten Lehrerkonferenz ansprechen“. Sie würde jedoch zuvor beim Vize vorsondieren, welche Projekte am ehesten realisierbar seien. Beim Oberstudiendirektor – beim Schulleiter – zielten die Prioritäten eher auf die Außenwirkung, auf die Wahrnehmung der Schule im Lokalteil der Zeitung und im Wochenblatt. Konzerte, Theateraufführungen, Projekte wie Umweltgarten und Bienenzucht waren seine Steckenpferde. Darüber war im Lokalteil der großen Zeitung und der Fürstenfeldbrucker Rundschau zu lesen. Er verdankte diese Außenwirkung vor allem den Lehrern, die Wahlfächer anboten. Er hatte einen stattlichen Stundentopf, aus dem er für diese Projekte Lehrer freistellen konnte.

Edith dachte nach. Wie könnte man die zusätzliche Nachhilfe für schwache Schüler in Englisch bei den Eltern, im Kollegium und bei der Schulleitung populär machen? Es muss doch möglich sein, dafür Wahlfachstunden aus dem zusätzlichen Stundentopf, den jedes einzelne Gymnasium nach Maßgabe der Schülerzahl hatte, zu beanspruchen? Ihr fiel auch schon ein Name für dieses Projekt ein: „Learning to he Top!“ Wenn man es als ein Projekt darstellt, wird es vielleicht auch für den Schulleiter attraktiver.

Der andere Weg, die Nachhilfe zu finanzieren, wäre ein stundenweises Engagement durch ehemalige Englischlehrer. In diesem Fall könnte man vielleicht Mittel beim Förderverein beantragen, um diese Form der Nachhilfe zu finanzieren.

Wenn das Projekt „Learning to the Top“ zustande käme, könnte Edith Schülern mit Lernlücken in Englisch in der 6. Klasse diese Form von Unterstützung anbieten. Sie selbst konnte im Klassenzimmer vor 28 Schülern nicht immer und immer wieder den Unterschied von Present Perfect und Past oder die verschiedenen Formen des Komparativs erklären, immer wieder durchkauen. Wenn Max ihr nicht zuhört, dann vielleicht ihrem freundlichen und humorvollen Kollegen Steigenberger? Wie gut die Mutter von Max, die Kassiererin Zelter, Englisch beherrschte, wusste sie nicht. Sie wusste meist gar nichts über die Familienverhältnisse, aus denen die Schüler kamen, das Zuhause, in dem sie Hausaufgaben machen sollten, Grammatikregeln und Englischvokabeln lernen sollten.

Edith hörte, wie die Wohnungstüre geöffnet wurde. Franz kam vom Krankenhaus nach Hause. „Hallo Schatz!“, rief er. „Ich sehe, du hast es auch schon geschafft. Schön!“ Franz freute sich immer, wenn sie die Abende gemeinsam beginnen konnten. Nur selten brannte im Arbeitszimmer seiner Frau noch Licht, wenn er vom Krankenhaus nach Hause kam. Dann wusste er: Edith saß noch über Korrekturen oder erstellte Arbeitsblätter. Ende Januar und im Juli war dies im Vorfeld der Notenkonferenzen allerdings eher die Regel als die Ausnahme. Nach der Zeugnisverteilung im Februar und nach dem Sommerfest am Gymnasium im Juli entspannte sich die Lage: Edith hatte wieder mehr Zeit und Muße. Darüber freute sich Franz fast mehr als seine Frau.

„Ich habe uns einen Wurstsalat gemacht. Ich hole noch schnell die Brezen aus der Küche.“ Franz strahlte und rieb sich die Hände. Er war ein Liebhaber herzhafter und gewürzter Gerichte. Scharfes und Saures, das traf seinen Geschmack, und Edith wusste sich das bei der Gestaltung des Speiseplans zunutze zu machen.

Franz wusch sich die Hände und tauschte das weiße Hemd gegen ein grünes Polohemd. Vergnügt setzte er sich an den Esstisch im Wohnzimmer.

„Wie war dein Tag?“ fragte Edith. „Wir hatten ja auf 3 b drei Neuzugänge, mit all den Voruntersuchungen und den Ergebnissen, die ich mit den Kollegen besprochen habe, hatten wir gut zu tun. Und zwei Erstkontakte wegen kommender OPs waren auch noch. Wenigstens ist das Ärzteteam aktuell wieder komplett. Keine Krankmeldung, keine Urlaubsabsenzen mehr. Weißt du, das will die Personalstelle der Klinikleitung im Akutfall nie sehen. Eine Kollegin oder ein Kollege in Elternzeit und ein dreiwöchiger Urlaub eines anderen Kollegen gleichzeitig – dann sind wir am Limit.“ Franz fuhr mit der Serviette über den Mund. „Aber dieses Kapitel mit den Vertretungen im Kollegium kennst du ja auch.“ Edith nickte. „Bei unserem jungen Kollegium, das fast nur aus Frauen besteht, ist eigentlich immer eine Kollegin schwanger. Oder ein Kollege macht Elternzeit. Unser Kollegium ist nie vollzählig.“ – „Sagtest du nicht, dass zwei in der Fachschaft im Sabbatjahr sind?“ – „Ja, die Ortler ist jetzt auf Weltreise. Erinnerst du dich noch? Das war die Brünette mit dem Pferdeschwanz, die beim Sommerfest bei uns am Tisch saß“. Ja, Franz erinnerte sich. Er hatte sie noch beraten wegen ihrer Schwiegermutter, die einen Schlaganfall erlitten hatte. „Wie geht es ihrer Mutter?“, wollte Franz wissen. „Sie braucht den ambulanten Pflegedienst. – „Und da geht sie auf Weltreise?“ Franz schüttelte den Kopf. „Ich könnte nicht auf Weltreise gehen, wenn von meinen Eltern einer einen Schlaganfall hatte.“ – „Das würde ich auch nicht machen. Aber sie sagt, ihre Schwester ist jetzt bei ihr eingezogen. Sie ist nicht verheiratet und das Haus ist mit acht Zimmern groß genug.“ – „Erst Palast – dann Last!“ feixte Franz. „Was die Leute nur mit Betongold haben!“ – „Haben wir doch auch“, konterte Edith. „Gewiss, in kleinerem Rahmen. Und ich habe auch Freude daran. Von der Terrasse haben wir dieses Jahr doch reichlich profitiert.“ – „Ich möchte sie auch nicht missen. Wir haben echt Glück gehabt, dass wir bei der Ausschreibung frühzeitig zum Zug kamen.“

11

Martin saß am Schreibtisch hinter dem Notebook und googelte im Sparplanrechner. Eine Einmalanlage von 30.000 € würde bei einem monatlichen Sparbetrag über 500 € bei einer angenommenen Rendite von 4 % nach zehn Jahren zu einem Sparziel von 117.755,29 € führen. Ein weiteres Finanztool wies ein Ergebnis von 118.350 € aus. Wenn die Immobilienpreise in den 10 Jahren der Ansparphase jedes Jahr um 5 % steigen würden, bräuchte man für eine gleichwertige Eigenleistung beim Immobilienkauf jedoch nicht 117.755 €, sondern 194.924 €! Wegen des jährlichen Anstiegs der Immobilienpreise – er rechnete mit einem Preisanstieg von 5 % pro Jahr – müsste die monatliche Sparrate auf 1.000 € steigen. „Sportlich!“ rief Martin. Er verfiel in ein dumpfes Grübeln. „Am besten, gleich alles in den Kaufpreis zu stecken. Aber halt: 50.000 € Maklergebühr, Grunderwerbssteuer, Kosten für Notar und Grundbucheintrag, 5.000 € eiserne Reserve auf dem Konto – da wären schon mal 55.000 € von seinem Ersparten weg. Diese Nebenkosten und die eiserne Reserve konnten beim Kaufpreis nicht berücksichtigt werden. Blieben noch gut 100.000 €.“ Martin war ernüchtert.

Und wenn er die 100.000 € vom Tagesgeldkonto in einen ETF auf den S&P 500 umschichten würde, diesen mit 1.000 € pro Monat besparen würde, was käme dann mit einer angenommenen Rendite von 4,07% pro Jahr nach 10 Jahren heraus? Da stand es, fett gedruckt: 296.732,72 €. Klingt schon besser. Wenn er den Sparplan mit 3 % - der aktuellen Teuerungsrate – dynamisieren würde, käme er auf eine geschätzte Endsumme von rund 350.000 €. Noch besser.

Martin holte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich auf das Sofa. Starr schaute er nach vorn in Richtung Bücherwand. Er senkte seinen Blick in Richtung Kaffeetasse und seufzte. Wenn er sich den Kauf einer Eigentumswohnung vornehmen würde, wäre das Plus aus dem Aufstieg in die Geschäftsleitung fest verplant. Und auch aus dem bisherigen Gehalt müsste er einen beachtlichen Teil abzweigen. Monat für Monat, 10 Jahre lang. Und die nächsten 25 Jahre würde er die 600.000 aus dem Hypothekarkredit in monatlichen Zins- und Tilgungsraten abstottern. „Mein Plan für die nächsten 35 Jahre!“

Martin machte „Pff!“ und blies seinen Atem von sich. Sollte so seine Zukunftsplanung aussehen? Wollte er sich dies wirklich antun? Gewiss, es gab die jährliche Tariflohnerhöhung. Sie war ziemlich sicher, doch der Umfang der Erhöhung war Gegenstand der Verhandlungen der Tarifparteien. Der Umfang der jährlichen Erhöhung der Löhne und Gehälter stand nicht fest. Bei einer Zinsbindung von 20 Jahren bleibt allerdings die monatliche Rate an die Bank unverändert. „Schmerz lass nach…“ sagte Martin leise vor sich hin.

Na ja, ich muss ja keine Wohnung kaufen. Er hatte die Aufstellung im Hinblick auf das Gespräch mit Monika und Gernot, die er über seinen Kollegen Jakob kennengelernt hatte, ausgedruckt. Er hatte ihnen versprochen, ihnen bei der Entscheidungsfindung behilflich zu sein.

Er beschloss, die Kalkulation Gernot per Mail zu senden. Was würde Gernot für ein Gesicht beim Lesen dieser Zahlen machen? Gewiss, er kannte die finanzielle Basis von Monika und Gernot nicht. Er hatte den Eindruck, dass hinter dem Projekt „Unser Eigenheim“ bei den beiden die treibende Kraft Monika war. Beneidete sie ihre Schwester Edith um ihre Terrassenwohnung in einem Reiheneckhaus in der Nähe des Olchinger Sees? Gut möglich. Ziele, die man sich setzte, waren eine starke Motivation, zu sparen. Und je plastischer, je leuchtender die Vorstellungskraft eines solchen Zieles war, desto stärker war die Bereitschaft, zu ihrer Erreichung auch Opfer zu bringen.

So ein Ziel konnte sich Martin für sich selbst momentan nicht vorstellen.

12

Schon gut drei Wochen war Martin im Stab der Geschäftsleitung. Jetzt kannte er alle, die in diesem Leitungsgremium tätig waren. Und an der Sitzung des LK, des Leitungskomitees, hatte er auch schon teilgenommen. Hier wurde der Reihe nach jedes Sitzungsmitglied um ein kurzes Statement zum Fortschritt der Projekte gebeten, für die das jeweilige Mitglied der Geschäftsleitung federführend war. Der Chef des Leitungskomitees, Dr. Andreas Müller, saß in der Mitte des Präsidiums. Er leitete die Sitzung persönlich. Im äußeren Erscheinungsbild eher konventionell, sehr korrekt gekleidet, entweder im schwarzen, im blauen oder im Sommer auch im lichtgrauen Anzug, stets im weißen Hemd mit gestreifter Krawatte, liebte Dr. Müller dennoch Abwechslungen bei der Moderation der Leitungskonferenzen. Mal ließ er rechtsherum berichten, mal rief er die Mitglieder persönlich auf, und beim nächsten Mal hieß er seinen Nachbarn zur Linken mit dem Statement beginnen. Neben der persönlichen Aufforderung zum Rapport, gab es also die Rundgespräche. Gelegentlich folgte auf die Begrüßung der Anwesenden auch die Frage des Chefs: „Wer möchte beginnen?“

Die Sitzungen des Leitungskomitees (LK), das hatte Martin schnell bemerkt, waren anstrengender als die Teamsitzungen bei Konstantin Kunze, seinem ehemaligen Chef. Hier konnte er nicht einfach dem Gesprächsfluss und den vorgebrachten Argumentationen seines ehemaligen Chefs horchen, was manchmal auch zum Entspannen, ja zum Träumen eingeladen hatte. Nein, hier musste der Aufgerufene liefern. Am besten die Mitteilung eines Vertragsabschlusses oder zumindest der Hinweis auf neue Partnerschaften, die dem Unternehmen neue Absatzmärkte erschlossen.

Und die Sitzungen des LKs dauerten gut und gerne 3 Stunden. Beim letzten Mal war ja Martin zum Referenten, ja zum Promotor einer neuen Partnerschaft in einem Projekt geworden, das ihm von einem älteren Kollegen, der oft auf Geschäftsreisen war, zugefallen war. Stundenlang hatte sich Martin in den Vertragstext im Entwurf einlesen müssen. Ja, einen Teil davon hatte er sich auf den USB-Stick kopiert und dann am Samstag nach dem Frühstück durchgelesen.

Dieses Mal wandte sich Dr. Müller nach der Begrüßung nach rechts. „Herr Sagmeister, wie stehen die Verhandlungen mit den Holländern?“ Sagmeister berichtete und zeichnete ein Bild des aktuellen Austausches, musste allerdings zugeben, dass ABZ in Utrecht den Vorentwurf noch prüfe.

Martin saß diesmal auf der linken Seite der Runde. Möglicherweise bliebe ihm nicht viel Zeit, als letzter in der Konferenz zu berichten. Er tippte in den Notizblock auf seinem Laptop einige Schlagworte ein, zu denen er kurz etwas sagen wollte. Die recht umfangreiche Dokumentation mit den Grafiken wollte er in der Hinterhand für eine spätere Präsentation behalten.

Da er zuletzt sehr viel Zeit in dieses Konzept gesteckt hatte, würde er sich, sobald er wieder allein in seinem Büro saß, der Überprüfung der anderen, fast unterschriftsreifen Projekte widmen.

Auf dem Rückweg von der Kantine traf er Toni. Sie freute sich, Martin wieder zu treffen. „Wie fühlt sich das Arbeiten auf der Chefetage an? Wie ist das?“ – „Na ja, ich hab wahnsinnig viel durchzulesen. Juristisches. Du kannst dir ja vorstellen, Paragraphen, lange Definitionen von Sachverhalten, Vertragsklauseln zu Konventionalstrafen… ein Fass ohne Boden. Und jede Menge Überstunden. Und weißt du, was mir am meisten fehlt: die wöchentliche Kaffeerunde am Montag. Plausch und Austausch eben.“ Toni machte eine wiegende Bewegung mit ihrem Lockenkopf. „Na ja, das klingt ernüchternd. Wo ist der Reiz des Neuen?“ – „Ich kann ja als Jurist an der Ausgestaltung wirtschaftlicher Beziehungen mitwirken. Das stimmt. Aber ich muss auf jeder Seite jeden Satz sorgfältig lesen, jede Formulierung auf ihre Tragweite hin abwägen. Eine trockene, anstrengende, Tätigkeit. Bei euch war ich früher mehr so eine Art Berater. Ich weiß nicht, vielleicht lag mir diese mehr beratende Tätigkeit bei euch mehr.“

„Ja dann schau doch wieder mal bei unserer Kaffeerunde am Montag vorbei! Wir freuen uns, von dir zu hören.“ – „Das ist nach einer Beförderung immer so eine Sache. Aber mit dir, Toni, gerne immer wieder.“

13

Gernot wollte Monika eine Freude machen. Nachdem er geduscht hatte, zog er sich schnell an. Ein kurzer Blick in das Schlafzimmer. Monika schlief noch tief und fest. Sachte machte Gernot die Schlafzimmertüre zu. Die Wohnungstüre war am anderen Ende des Flures. Ganz langsam drehte er die Schlüssel, zog seinen eigenen Wohnungsschlüssel ab. Halt! Er brauchte ja noch seinen Rucksack. Zum Glück stand dieser unter der Garderobe. Ein Griff, und Gernot schlüpfte aus der Wohnung.

Bei Super bestückte er die Papiertüte mit zwei Kaisersemmeln und zwei Mohnsemmeln, die Monika so gerne mochte. Noch eine Kalbsleberwurst aus dem Kühlregal, danach in die Abteilung Wein und Spirituosen. Doch, ein Veltliner würde zur Brotzeitplatte gut passen. „Grüß Gott, Herr Winkelmann! So früh am Samstag schon unterwegs?“ Gernot wurde auf der Zielgeraden unterbrochen. Es war Frau Ring aus seinem Wohnblock. Gernot machte fröhliche Mine. „Ich grüße Sie, Frau Ring. Wie geht’s?“ „Danke der Nachfrage, gut. Kauft Ihre Frau das Gemüse auch bei Super? Ich finde, Obst und Gemüse sind hier frischer als bei Ringkauf. Was haben Sie denn Schönes gekauft?“ Frau Ring beugte den Kopf zur Seite und inspizierte den Inhalt seines Einkaufswagens. Welch ein Glück, dass da nur Semmeln und Leberwurst zu sehen waren. „Für unser Frühstück. Darum bin ich so früh schon unterwegs.“

Gernot nickte Frau Ring zu und sagte ziemlich teilnahmslos: „Auf Wiedersehen!“

„Lieber nicht“, dachte er, als er den Wagen zurück zum Salzgebäck schob. Gott sei Dank! Er sah Frau Ring auf dem Weg zur Kassenschlange.

Er drehte noch eine Runde durch die Süßwarenabteilung. „Jetzt müsste es ohne neugierige Blicke klappen.“ Zurück zur Wein- und Spirituosenabteilung. Wo stand jetzt der Veltliner? Gernot merkte, dass er nicht sehr konzentriert war. Na ja, Edelvernatsch ist auch nicht schlecht. Südtirol! Bilder von der Fahrt letztes Jahr, zum Törggelen, zogen an seinem geistigen Auge vorbei. Südtirol würde er Monika wieder mal vorschlagen.

Dann noch die Bestände der Hausbar vervollständigen. Einen Wodka und einen Weinbrand als Kontrapunkt, gerade im Angebot zu 6,49 €. Passt!

Zügig zur Kasse. Bei seinem Wohnhaus angekommen, erst mal die Treppe runter. Er öffnete die Kellertüre, schob sich nach rechts, der Mauer aus Stein entlang, bloß weg von den Gitterstäben aus Holz. Es muss niemand sehen, dass ich was zur Weckung meiner Lebensgeister brauche. Er stellte den Rucksack ab, entnahm den Wodka, hob ihn empor, warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Etikett, drehte am Verschluss, knack, jetzt war die Flasche offen. Nach dem ersten großen Schluck spürte er, wie sich eine wohlige Wärme in seiner Magengegend bemerkbar machte. „Ah. Tut gut“. Noch einmal hob er die Flasche in die Höhe, setzte den Flaschenhals an den Mund und trank gierig. Ein letzter großer Schluck, und noch einen.

Die Flasche verschwand im Rucksack.

Mit dem Lift fuhr Gernot nach oben. Monika schlief noch. Gelegenheit, die Flaschen in die Hausbar zu stellen.

Jetzt war Gernot ganz beschwingt und deckte für das Frühstück auf. Monika würde sich freuen! Da erschien sie auch schon. „Guten Morgen, Schatz! Ei, du hast Frühstück gemacht, danke!“ Sie steuerte auf Gernot zu und küsste ihn.

„Wann bist du denn gestern zurück gewesen? Ich habe dich gar nicht gehört!“ Gernot atmete innerlich auf. Seine Erleichterung behielt er jedoch für sich. Ja, es war gestern auf dem Heimweg von der Übung der freiwilligen Feuerwehr in Pibokofen etwas später geworden. Gernot war nach wie vor Mitglied der freiwilligen Feuerwehr von Pibokofen, dem ehemaligen Nachbarort aus seiner Kinder- und Jugendzeit. In Pibokofen war er auch eingeschult worden. Das elterliche Haus stand im Nachbarort, in Gersthausen. Da Pibokofen einen S-Bahnhof hatte, ließ sich die Teilnahme an den diversen Übungen und auch an den Feierlichkeiten der freiwilligen Feuerwehr Pibokofen mit Gernots ehelichem Wohnsitz im Münchener Osten gut vereinbaren. So blieb er denn Mitglied. Obwohl ihm eine (zahlende) Ehrenmitgliedschaft angetragen worden war, wollte Gernot festes Mitglied der freiwilligen Feuerwehr bleiben, die letztes Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum gefeiert hatte. Lieber fuhr er einmal im Monat entweder Freitagnachmittag oder Samstagvormittag zu seinen alten Spezis, als bloß noch zahlendes Mitglied zu werden.

Nach einer arbeitsintensiven Woche, der Feuerwehrübung am Freitagabend und dem Umtrunk im „Ochsen“, wo er wiederholt noch nach dem Ausruf Sepps, „Kathi, no oans für alle“ den Absprung nicht geschaffte hatte, war er in der S-Bahn nach München eingeschlafen. Als er wieder aufwachte und in die Nacht blinzelte, sah er auf dem S-Bahnhof das Schild „Geltendorf“. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in aller Eile beim Entwerter abzustempeln, wieder zum Zug zu hetzen und dann zurück zum Ostbahnhof zu fahren. Die U-Bahn fuhr nachts am Wochenende länger, aber als er seine Wohnung erreicht hatte, war halb zwei Uhr früh schon vorbei.

Und als er nach sieben Uhr früh aufgewacht war, hatte er eine Kehle trocken wie Schmirgelpapier. Und da kam ihm die Idee mit dem Semmelholen bei Super.

„Was gibt es Neues in Pibokofen?“ Wollte Monika wissen. „Wir müssen neue Schläuche kaufen,“ sagte Gernot und biss in seine Kaisersemmel, die er dick mit Leberwurst bestrichen hatte. Dann ließ Gernot die Hand mit der Semmel sinken. Auch sein Kopf fiel nach unten. Er wurde ernst. „Ach ja, stell dir vor! Erinnerst du dich an den schweren Verkehrsunfall auf der B 12 in Richtung Mühldorf vor zwei Wochen? Weißt du, wer in einem der beiden Unfallwagen saß? Sabine, die Frau von Christoph. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus Ebersberg verstorben. Sie war auf dem Rückweg von ihren Eltern.“ – „Ist das wahr?“ Monika wollte die Nachricht nicht glauben. Sie schluckte. Sie kannte Sabine, war auf der 75-Jahrfeier auf der Bierbank ihr gegenübergesessen. „Doch, genau das ist passiert. Und Christoph sitzt jetzt finanziell ordentlich in der Klemme. Du erinnerst dich doch: die haben gebaut und sind letztes Jahr in ihr neues Haus eingezogen.“ Christoph war Realschullehrer und Sabine arbeitete in der Gemeindeverwaltung Ebersberg. Da beide Vollzeit arbeiteten und die Grundstückspreise vor zwei Jahren noch erschwinglich waren, hatten beide ihren Traum vom eigenen Haus mit Garten in die Tat umgesetzt. „Zu zweit schaffen wir das!“, hatte Sabine noch ganz stolz zu Monika gesagt. „Weißt du, das fühlt sich einfach ganz anders an, wenn ich nach der Arbeit durch den Garten zu meinem Haus gehe. Und ein Frühstück im Sommer im Garten – traumhaft, wenn du beim Kaffeetrinken in der aufgehenden Sonne sitzt und das Gezwitscher der Vögel hörst.“ Das waren Sabines Worte gewesen.