Anne & Victor - Andreas Brandstätter - E-Book

Anne & Victor E-Book

Andreas Brandstätter

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Beschreibung

»Freundschaft durch dick und dünn.« Dieses Motto begleitet Anne und Victor von Beginn an. Victor, der nicht ganz der Norm entspricht und Anne, die in keine Schublade einzuordnen ist, sind zwei ganz besondere Menschen. Grundsätzlich kennt Anne Victor genau, doch hin und wieder gibt er ihr Rätsel auf. Auch Victor glaubt, dass Anne ihn kaum mehr überraschen kann, doch weit gefehlt. Beide sind füreinander da und erleben so manches Abenteuer. Doch ein außergewöhnlicher Tag am Flohmarkt verändert alles. Victor, der normalerweise sehr vorsichtig ist, ist von den dortigen Vorkommnissen begeistert. Anne, die zumeist keine Furcht kennt, ist schockiert. Welch unglaubliche Verantwortung wurde den beiden am Flohmarkt übertragen. Sind sie dieser Herausforderung gewachsen? Hält ihre Freundschaft diese Belastung aus? Und wie lange dauert eine unzertrennliche Freundschaft...für immer und ewig?

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VORWORT

Liebe Leserin! Lieber Leser!

Ich habe die Freundschaft zwischen Anne & Victor als »unzertrennlich« definiert. Es mag sein, dass »unzertrennlich« ein hochgestecktes Ziel dieser bzw. auch jeder anderen Freundschaft ist. Doch ist es nicht unser aller Wunsch, dass eine Freundschaft mit einer uns nahestehenden und liebgewonnenen Person ein Leben lang andauert und als untrennbar gilt? Eine Freundschaft, die im Kindesalter, wenn Sie so wollen, in der Sandkiste beginnt und uns bis ins hohe Alter begleitet. Wunschvorstellung? - Haben Sie eine Freundin oder einen Freund, welche/er Ihr Leben seit vielen Jahrzehnten bereichert? Ist sie/er für Sie da, wenn Sie Hilfe, ein Gespräch oder einen Rat brauchen?

Das waren jetzt doch ein paar interessante Fragen, nicht wahr?

Anne & Victor jedenfalls verbindet eine besondere Freundschaft. Doch auch die beiden müssen sich den Herausforderungen, welche eine Freundschaft mit sich bringt, stellen. Nein, sie sind auf keinen Fall immer einer Meinung. Sie sind grundverschieden und in manchen Phasen des Lebens steht diese Beziehung sogar auf der Kippe. Doch ist es diese besondere Freundschaft nicht wert, darum zu kämpfen und das eigene Ego beiseite zu stellen?

Vielleicht finden Sie sich in gewissen Passagen dieser Erzählung über Anne & Victor wieder und erkennen Parallelen zu Ihren Freundschaften.

Dies wünsche ich Ihnen von Herzen.

Ihr

Andreas Brandstätter

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Textbeginn

DANK

Dichter Nebel lag über der kleinen Ortschaft am Rande der Großstadt, die Dämmerung brach herein und die ersten Lichter in den Häusern wurden eingeschaltet. Erst waren es nur vier oder fünf Lichter, doch dann wurden es immer mehr. Jetzt kam wieder ein Licht auf der rechten Straßenseite hinzu, geradeaus wurden gleich mehrere Lichter angeknipst, ab diesem Zeitpunkt ging es Schlag auf Schlag. Man konnte die hellerleuchteten Räume und die Fenster, die den Lichtschein auf die Straße warfen, nicht mehr zählen. Es war wie eine Kettenreaktion, im Sekundentakt wurden die Häuser und Wohnungen mit dem wärmenden Licht zum Leben erweckt.

Nur in unserer Wohnung blieb es dunkel. Als ich die Wohnung betrat, betätigte ich mehrmals vergeblich den Lichtschalter im Vorzimmer. In diesem Moment kam Marie, meine Mutter, mit einer brennenden Kerze aus der Küche und stellte diese direkt auf dem Tisch im Wohnzimmer ab. Sie sah mich überrascht an, als ob sie ein Gespenst sehen würde. Dann umarmte sie mich. Sie drückte mich ganz fest, als wäre ich monatelang nicht zuhause gewesen. Mir blieb fast die Luft weg. »Es ist gut, Mama«, stöhnte ich noch heraus. Als sich die Umklammerung löste, freuten sich meine Lungenflügel über einen tiefen Atemzug.

»Anne, das Licht funktioniert nicht, es dürfte ein Defekt in der Stromleitung sein. Ich werde den Elektriker gleich morgen anrufen.«

Natürlich wusste ich, dass unsere Dunkelheit nichts mit einem Defekt zu tun hatte. Ich hatte vor einiger Zeit ein Gespräch meiner Eltern belauscht. Meine Mutter hatte meinem Vater erklärt, wenn nicht ein Wunder geschehe, könne die Stromrechnung nicht bezahlt werden, denn das Monatseinkommen langte nur für das Notwendigste, unser Essen. Da eben dieses besagte Wunder wieder einmal ausgeblieben war, es war nicht das erste Mal, saßen wir nun im Dunkeln bei romantischem Kerzenschein. Dieses Mal wirkte sich die Wunderlosigkeit auf den Strom aus, vor ein paar Monaten betraf es unsere Gasversorgung. Wegen dieser schwierigen finanziellen Lage meiner Eltern, konnte es immer wieder eine Überraschung geben. Obwohl meine Mutter die Geldmittel sehr sorgsam und sparsam verwaltete, war ein Engpass oftmals nicht zu verhindern. Nach einer langen Zeit der Arbeitslosigkeit hatte mein Vater vor ein paar Monaten eine schlecht bezahlte Anstellung als Hilfsarbeiter in der Metallfabrik gefunden. Meine Mutter ging stundenweise einer Beschäftigung als Reinigungskraft bei einer Aristokratenfamilie namens Hirschmann nach. Meistens arbeitete sie, während ich die Schule besuchte. Manchmal kam es auch vor, dass meine Mutter länger arbeiten musste, wenn die Hirschmanns Gäste zu einem kleinen Fest eingeladen hatten und meine Mutter das Küchenpersonal unterstützen durfte. Im Grunde genommen waren die Hirschmanns sehr nette Leute. Sie gaben meiner Mutter immer wieder Essen für meinen Vater und mich mit. Ab und zu erhielt ich auch Süßigkeiten, die ich natürlich sehr gerne entgegennahm. Jeden Bissen genoss ich mit all meinen Sinnen. Echt köstlich, daran könnte ich mich gewöhnen, dachte ich mir.

Mein Vater fand sich kaum mit seiner Tätigkeit in der Metallfabrik zurecht. Er erzählte immer wieder von einem Vorarbeiter namens Herrlich, der genau das Gegenteil von herrlich war. Er behandelte die Arbeiter sehr schlecht. Man konnte Herrlich nichts recht machen. Herrlich hatte laut meinem Vater die Radfahrerhaltung perfektioniert, nach oben buckeln und nach unten treten. Ja, so war Herr Herrlich. Kein Wunder, dass mein Vater des Öfteren Trost bei alkoholischen Getränken suchte. Seine Arbeitsschicht dauerte dann etwas länger und meine Mutter wartete ungeduldig, bis er endlich nach Hause kam. Die Auswirkung dieses Alkoholgenusses hatte drei Stufen:

Stufe 1: Herr Herrlich war selbst etwas angeheitert, der Arbeitstag war erträglich und mein Vater kam leicht angeheitert mit einem Lächeln nach Hause. Alles war gut.

Stufe 2: Herr Herrlich hatte einen Wutanfall, der nicht allzu lang andauerte, aber sich nachmittags wiederholte. In diesem Fall trank mein Vater etwas mehr und regte sich bei der Ankunft zuhause auf. Doch nach der Suppe, die meine Mutter liebevoll servierte, hatte er sich beruhigt. Jetzt war wieder alles gut.

Stufe 3: Herr Herrlich hatte seine Macht missbraucht, ungerechtfertigte Verwarnungen ausgesprochen, vielleicht sogar die eine oder andere Kündigung exekutiert und alle verbleibenden Arbeiter gewarnt, dass sie gefälligst ihre Arbeit ohne Wenn und Aber verrichten sollen.

Ja, dann war es genug. Es vergingen viele Stunden, bis mein Vater die Wohnung betrat. Dann hatte er das eine oder andere Bier zu viel getrunken. Nichts war gut.

Er war aggressiv und schrie wie ein Wilder. In diesem Fall hatte ich Angst und verkroch mich in meinem Zimmer. Sein Gebrüll hörte ich durch die dicken Steinwände bis in mein Zimmer. Hier half nicht einmal der Polster, den ich mit aller Kraft auf meine Ohren presste. Sogar das köstliche Essen meiner Mutter konnte den Tag meines Vaters nicht mehr retten. Es kam auch vor, dass er vor Wut gar nichts mehr essen konnte. Eines möchte ich an dieser Stelle festhalten, handgreiflich wurde mein Vater nie. Weder gegenüber meiner Mutter noch gegenüber mir erhob er die Hand. Es war die Verzweiflung, die ihm ins Gesicht geschrieben stand und die ihn ausrasten ließ. Unsere Wirtschaft erlebte damals eine Rezession, darum war mein Vater von dieser Arbeitsstelle abhängig. Er konnte auch keine Revolution lostreten, denn aufgrund dieser prekären wirtschaftlichen Situation traute sich niemand die Stimme zu erheben und das nützte dieser Herr Herrlich gnadenlos aus.

An solchen Tagen schwor ich mir, dass ich eines Tages alles verändern würde. Ich werde alles dafür tun, damit diese erbärmliche Lebenssituation unserer Familie ein Ende hat. So wird es sein, Anne, genau so, sagte ich mir! Dieses Vorhaben prägte sich tief und unlöschbar in mein Gehirn.

Ja, und an diesem Abend war es wieder soweit. Mein Vater, Daniel, kam von der Arbeit nach Hause und es galt Stufe 3. Jedes einzelne Wort konnte ich unter meiner Bettdecke verstehen. Ich hörte auch meine Mutter, die beruhigend auf meinen Vater einwirken wollte. Eine aussichtslose Situation, mein Vater wollte und konnte sich einfach nicht beruhigen. Mich wunderte, dass unsere Nachbarn noch keinen Polizeieinsatz ausgelöst hatten. Irgendwann, und ich kann nicht mehr sagen wie lange ich noch wach unter meiner Decke lag, wurde es still. So konnte ich doch noch ein paar Stunden bis zum Morgen schlafen. Etwas müde krabbelte ich aus meinem Bett, ging in das Badezimmer, hüpfte in meine Klamotten und begrüßte meine Eltern in der Küche mit einem sehr freundlichen

»Guten Morgen!«

»Hallo, Anne«, sagte meine Mutter. »Gestern war es sehr laut bei uns und dein Vater will dir etwas sagen.« Mein Vater räusperte sich und sagte:

»Anne, es tut mir leid, ich möchte mich bei dir entschuldigen.« Gleichzeitig nahm er mich in die Arme.

»Ist schon gut, Papa«, sagte ich, »irgendwann wird alles gut, du wirst sehen.«

Meine Eltern staunten über meine Aussage. Sie waren verwundert, dass ein 13-jähriges Mädchen nach dieser schlimmen Nacht solche Worte fand. Klar, sie wussten doch nichts von meinem Vorhaben, alles zu verändern. Genau diese Situationen bestärkten mich bei diesem Unterfangen. Im Grunde genommen war mein Vater ein liebenswerter Mensch, nur die Kombination Job-Herrlich-Alkohol trieb ihn zu diesem unfriedlichen Handeln. Ein klarer Auftrag, um mein Vorhaben in die Realität umzusetzen und ich begann damit, meinen Schulrucksack und die vorbereitete Jause zu nehmen und den 15 Minuten langen Schulweg zu gehen.

So wie jeden Tag traf ich drei Häuserblocks vor der Schule an der Kreuzung meinen Freund Victor Schmidt. Er war ein außergewöhnlicher Junge. Es gab das Gerücht, dass Victor eine leichte Form des Asperger-Syndroms hätte. Das Asperger-Syndrom ist eine Form von Autismus mit einer neuronalen und mentalen Entwicklungsstörung. Da ich niemals ein ärztliches Attest sah und Victor niemals über diese Krankheit sprach, schenkte ich diesem Gerücht keinen Glauben. Victor verhielt sich manchmal anders als andere Jungs in seinem Alter, aber das störte mich nicht. Nur weil er sich anders verhielt, bedeutete dies noch lange nicht, dass er tatsächlich diese Krankheit hatte. Ich gebe zu, etwas eigen konnte Victor schon sein. Doch sind wir das nicht alle hin und wieder? Jeder Mensch trägt doch seine Macken mit sich herum. Also ich ganz bestimmt und den einen oder anderen Tick werde ich auch sicher nie mehr los. Victor wirkte auf den ersten Blick schüchtern. Er tat sich schwer, sich auf etwas Neues einzulassen. Solange alles der Norm entsprach, also seinen gewohnten Lauf nahm, konnte Victor gut damit umgehen. Gab es aber die geringste Veränderung, wenn beispielsweise eine Unterrichtsstunde ausfiel oder noch schlimmer, der Stundenplan nicht exakt eingehalten wurde, kam es zu Problemen. Wie kann es sein, dass jetzt Mathematik unterrichtet wird, wenn doch Physik am Stundenplan steht? Ja, das waren wirklich große Probleme. Seine Mutter, Frau Schmidt, erzählte meiner Mutter, dass sich Victor in vielen Momenten sehr einsam fühle. Er hatte nie erwähnt, dass das Gefühl von Einsamkeit und auch Traurigkeit den Großteil seines Alltags bestimmte, doch man konnte es gut beobachten, wenn er in seine Welt eintauchte. Dann häuften sich kurze Dialoge, die er mit sich selbst führte, denn es war sonst niemand in der Nähe. Bis Anne, also ich, in sein Leben trat. Anne und Victor, ein unzertrennliches Team. Ein normales Mädchen gleichen Alters, das ihn von nun an begleitete und ihm etwas Halt in der Außenwelt geben sollte. Hier möchte ich anmerken, dass auch ich hin und wieder Selbstgespräche führte, also diese Eigenheit konnte ich mit Victor teilen.

Obwohl mich Frau Schmidt noch nie gesehen hatte, begrüßte sie meine Anwesenheit. Dies wiederum belastete mich, denn ich musste somit den Vorschusslorbeeren gerecht werden. Ich hatte von nun an eine gewisse Verantwortung zu tragen. Wie konnte Frau Schmidt wissen, dass ich normal wäre?

Was ist schon normal? Wer definiert den Begriff normal? Wer kann schon von sich behaupten, dass er normal ist? Wer will schon ganz normal sein? Was für mich normal ist, ist für jemand anderen total absurd. Manche Alltagssituationen fordern vielleicht sogar einen Funken von Abnormalität.

Also ein Mädchen mit 13 Jahren, unterwegs Richtung Abenteuer Pubertät, launenhaft, mit anfänglich unkontrollierten Emotionen und unberechenbaren Erscheinungsbildern, als normal zu bezeichnen, ist doch etwas gewagt. Ich hoffte, dass dieses Verhalten nie bis zu Frau Schmidt vordringen würde, denn diese Information hätte durchaus meine Freundschaft mit Victor gefährden können und ich hatte doch den Auftrag, Victor zu helfen. Bis dahin lief alles normal, um beim Thema zu bleiben.

Ich begrüßte ihn: »Hallo, Victor!«

»Zu spät!«, war Victors Begrüßung.

»Was?«

»Du bist zu spät!«, wies mich Victor zurecht.

»Zu spät wofür?«, lautete meine Gegenfrage.

»Im Vergleich zu gestern bist du 4 Minuten, 32 Sekunden zu spät. Gestern warst du um 7 Uhr 11 Minuten und 43 Sekunden genau an dieser Stelle.« Bei dieser Aussage blickte Victor kurz auf seine Armbanduhr, die wohlgemerkt ein analoges Ziffernblatt hatte.

»Danke für den Hinweis, Victor.« So war Victor, er konnte unglaubliche Dinge, aber im sozialen Umgang hatte er Defizite.

»Im Wochendurchschnitt liegt deine Verspätung bei 3 Minuten und 56 Sekunden, im Monatsdurchschnitt sind es dann…«

»Es ist gut, Victor«, unterbrach ich seine Rechenkünste, die er so aus dem linken Ärmel schüttelte.

»Wie geht es deinem Hamster?«, mit dieser Frage wollte ich Victor etwas ablenken, während wir in Richtung Schule unterwegs waren.

»Ich weiß es nicht!«, antwortete Victor. Das war seine Standardantwort, denn vor längerer Zeit hatte Victor mir erklärt, dass man mit Tieren nicht kommunizieren kann, da sie der menschlichen Sprache nicht mächtig sind. Eine erstaunliche Erkenntnis - ein wissenschaftlicher Quantensprung. Ich präzisierte meine Frage.

»Lebt dein Hamster noch?« Und diese Frage konnte Victor mit Sicherheit beantworten und das tat er dann auch mit einem kurzen »Ja.« Somit wusste ich, dass es dem Hamster gut ging.

Als wir die Schule betraten, sagte Victor wie aus dem Nichts: »….3 Minuten und 24 Sekunden….«

Ich lächelte Victor an, denn ich wusste, er meinte meine monatliche Durchschnittsverspätung. Victor konnte diese für ihn wichtige Information nicht für sich behalten. Trotz seiner speziellen Art mochte ich Victor. Über die Jahre hatte er Vertrauen zu mir aufgebaut, keine Selbstverständlichkeit in Victors Welt.

Victor war in der Klasse gut integriert und das fand ich toll. Er brauchte einen normalen sozialen Umgang und diesen erhielt er in unserer Schule. Dafür musste man unserer Professorin, Frau Julia, dankbar sein, denn sie hatte sich für Victor eingesetzt und seitdem gehörte er zur Klassengemeinschaft wie jeder andere Schüler, obwohl wir alle, und auch Victor, täglich mit Herausforderungen konfrontiert waren. Ich durfte Victor als Freund bezeichnen, aber für Victor war ich einfach Anne und das war gut so. Victor hatte keine Vorurteile. Seit ich ihn kenne hat er mich nie angelogen - eine großartige Basis für unsere Freundschaft.

Für Menschen, die Victor zum ersten Mal begegneten, wirkte er etwas sonderbar. Auch so mancher Klassenkamerad tat sich im Umgang mit Victor schwer. Viele der Mitschüler hielten Victor für einen Nerd. Aber für mich galt das nicht, er war Victor, ein guter Freund.

Wir kamen in die Klasse und setzten uns. Victor begann sein Schreibzeug und die Schulhefte auszuräumen, diese Handlung brauchte Zeit. Er hatte sich für jedes Utensil einen genauen Platz ausgedacht und exakt nach diesem Schema platzierte er sie auch. Sein Tisch sah jeden Tag von Montag bis Freitag gleich aus. Auch seine Stifte verteilte er nach Farbstufen von ganz dunkel bis hell. Niemals lag ein Teil schief auf dem Tisch, alles war kerzengerade, Buntstifte mit der Spitze nach oben ausgerichtet.

Vor einiger Zeit borgte ich mir von Victor einen Stift aus und nach Gebrauch legte ich ihn zurück. Nach der Pause, als Victor wieder zum Tisch kam, merkte er sofort, dass dieser Stift nicht richtig lag. Man konnte Victor also nichts vormachen. Wenn ich ihn fragte, warum er das alles so macht, kam eine kurze Antwort: »Das muss so sein!« Na gut, dachte ich mir, wenn es so sein muss, dann muss es auch so sein. Ich war der festen Überzeugung, dass diese Rituale Victor Halt im Leben gaben. Eine gute Idee, vielleicht sollte ich mir auch Rituale aneignen, denn Halt und Sicherheit im Leben kann nicht schaden.

Victor war kein schlechter Schüler. Seine Leistungen waren in manchen Fächern durchschnittlich, aber in anderen Fächern wie z.B. Mathematik galt er als Genie. Auch Physik und Chemie waren Unterrichtsfächer, wie für ihn gemacht. Wenn ich über so manche chemische Formel nachdachte, um auch nur ansatzweise zu verstehen, welchen Sinn oder Zusammenhang diese Formel hatte, schien dies für Victor vollkommen klar. Er konnte nicht verstehen, warum ich so manches Geheimnis einer chemischen Zusammensetzung nicht lüften konnte. Als Victor wieder einmal Klassenbester beim Chemietest war, fragte ich ihn: »Wie machst du das?« Und es kam die für ihn typische Antwort: »Ich lese die Fragen und schreibe die Lösungen darunter hin.«

HIMMEL VICTOR, schrie ich gedanklich in solchen Momenten. Ich lese auch die Fragen, aber bei so mancher Frage verstand ich nur Bahnhof. Wie sollte ich eine Lösung finden, wenn ich nicht einmal die Formulierung der Frage verstand?

Mit dem Unterrichtsfach Musik hatte Victor Schwierigkeiten. Schon beim Schreiben der Noten gingen die Probleme los. Er konnte keine Noten auf die Notenlinien schreiben, sondern nur in die Zwischenräume. In seiner Welt durfte es nicht sein, dass Schriftzeichen, in diesem Fall Noten, auf Linien geschrieben werden, denn dafür waren die Zwischenräume vorgesehen. Unser Musikprofessor, Herr Wolf, sah das etwas anders. Doch Victor blieb konsequent und seiner Einstellung treu. Am Jahresende erhielt er einen geschenkten Vierer, wie es Herr Wolf nannte, doch das war Victor egal. So mancher konnte sich mit dem Singen eine bessere Schulnote verschaffen, aber Victor war hier völlig talentfrei. Sein Singen klang wie eine alte Transformatorstation der Stromgesellschaft. Ein gleichmäßiges Brummen ohne Rücksicht auf Verluste. Oder er sang monoton in einer Tonhöhe, welche fast nur für Hunde hörbar war, aber meilenweit entfernt von der Vorgabe in den Notenblättern. Alle Mitschüler lachten sich schief, wenn Victor mit seiner Arie loslegte. Professor Wolf hatte wenig Freude mit dieser Art des Singens und bat Victor, während der Gesangsstunde zu lesen und keinen Ton von sich zu geben. Victor machte es nichts aus. Einmal, nachdem Herr Wolf Victor um eine kurze Gesangsprobe gebeten hatte, um sie dann gleich wieder zu beenden, zwinkerte Victor mir zu. Ich will Victor wirklich keine Absicht unterstellen, aber möglicherweise nützte er mit Freude diese Situation aus, um die ganze Klasse zu unterhalten. Aufgrund dieser Erlebnisse im Musikunterricht konnte man es nicht für möglich halten, aber Victor liebte klassische Musik, im Speziellen die Musik von Mozart. Dies wussten seine Eltern und ich. In der Schule hatte Victor niemals seine Interessen erwähnt. Er bezeichnete Mozart als seinen Freund. Es ist mir zwar ein Rätsel, wie man mit Mozart, der vor über 200 Jahren verstorben war, eine Freundschaft pflegen konnte, aber in Victors Welt schien es möglich zu sein.

Diese privaten Mozartkonzerte zelebrierte Victor, er wählte die für ihn richtige CD seiner großen Mozartsammlung aus, legte diese in den CD-Player und drückte den Startknopf. Diese Musiksammlung hatte er alphabetisch geordnet, sodass er jederzeit die gewünschte CD finden konnte. Mit einer sehr angenehmen Lautstärke erklang das Intro des Orchesters. Victor war sehr lärmempfindlich, daher wusste er ganz genau, wie er den Lautstärkenregler positionieren musste. Im Alltag konnte es passieren, dass er ohne Vorwarnung die Situation verließ und ein ruhiges Plätzchen suchte, wenn ihm der Lärmpegel zu hoch wurde. Da ich Victor gut kannte, wusste ich, wenn er das rechte Handgelenk hin und her drehte und diese Bewegung immer schneller wurde, dass er bald weg sein würde. Dieser Tick deutete darauf hin, dass die Situation für Victor unangenehm wurde. Da konnte es schon einmal sein, dass die feierliche Sonntagsmesse, wenn das Orchester und die Kirchenorgel gleichzeitig einsetzten, ohne Victor zu Ende ging. Dann wartete er geduldig sitzend auf der Holzbank vor der Kirche, bis seine Eltern nach der Messe zu ihm kamen. Am Sonntag trug Victor meistens seinen grauen Anzug mit Krawatte. Der oberste Knopf am Hemdkragen musste offen bleiben, andernfalls hatte er ein Würgegefühl, dies er auf keinen Fall aushielt. Er trug bequeme Sportschuhe, am liebsten in weißer Farbe und seine Haare waren perfekt zu einem Mittelscheitel gekämmt. »Ein sehr hübscher Junge«, wie meine Mutter zu sagen pflegte.

»Hey, Victor, was machst du hier vor der Kirche?«, ich wollte den Grund für sein plötzliches Verschwinden herausfinden.

»Ich sitze auf einer Bank.«

Typisch Victor. Ich musste meine Fragestellung ändern. »Ich meine, warum hast du den Gottesdienst verlassen?«

»Es war zu laut.« Und dann setzte er zu einer weiteren Erklärung an: »Der Start eines Flugzeugs hat einen Lärmpegel zwischen 110 - 140 dB, eine Kreissäge hat 110 dB, ein Quietschentchen am Ohr hat 90 dB, ein Staubsauger hat 70 dB….« Ich unterbrach Victor: »Ja, ist gut Victor und bei wie viel dB lag die Musik in der Kirche?«

»Ich weiß es nicht genau, aber ich würde sagen, sie lag irgendwo zwischen Staubsauger und Quietschentchen.« »Sehr gut, Victor, danke für die Information«, sagte ich und gleich darauf dachte ich mir, warum musste er sich auch direkt vor das Orchester hinsetzen. »Vielleicht versuchst du es einmal mit Gehörstöpsel?« Es wäre in meiner Welt doch einen Versuch wert. Doch Victor konterte:

»Das geht nicht!«

»Warum geht das nicht, Victor?«

»Dann kann ich nichts hören.«

Alles klar, dachte ich mir, dann lassen wir dieses Thema jetzt einmal so stehen. Ich wusste, es würde in eine unendliche Diskussion ausarten und dabei zog ich meist den Kürzeren.

Victor hatte nicht viele Freunde, um nicht zu sagen gar keine. Die Schulkameraden beschränkten den Umgang mit Victor auf den Schulbereich. In der Freizeit machten sie meistens einen Bogen um ihn, was ich persönlich sehr schade fand. Aber Victor beschwerte sich nie darüber. Victor und ich trafen uns auch außerhalb der Schule. Wir machten Spaziergänge durch den Wald, wir liefen über Wiesen und Felder, in unserer Nähe gab es wunderschöne Lavendelfelder. Diesen einzigartigen Lavendelduft werde ich nie vergessen. Einmal wollte ich mit Victor Verstecken spielen. Ich erklärte Victor die Regeln - Augen zu - Zählen - Suchen und so weiter. Es würde bestimmt Spaß machen. Doch Victor wollte partout nicht Verstecken spielen, er sagte: »Warum soll ich dich suchen, du bist doch hier neben mir?« Ich versuchte ihm den Sinn zu erklären, doch es war zwecklos. Er blieb bei seiner Meinung, er würde mich nur dann suchen, wenn ich verloren gehen oder mich bei einer Wanderung verirren würde. Bei vielen Spielen hatte Victor so seine Eigenheiten. In Vier gewinnt und Schach war er fast unschlagbar, das waren seine Spiele. Auch, wenn die Schachpartie mit seinem Vater viele Tage zurücklag, wusste er noch ganz genau, welche Schachzüge er gemacht hatte und nicht nur das, er wusste auch die Züge seines Vaters. Unglaublich! Ich war genau das Gegenteil, ich konnte mich kaum an meinen vorletzten Schachzug erinnern. Daher spielte Victor mit mir nur unter Protest, wenn wirklich niemand sonst zur Verfügung stand. Meistens dauerten diese Schachpartien auch nicht lange, denn im Nu stand es Schach und dann Matt. Victors Schlussworte nach dieser Demütigung lauteten dann immer:

»Du kannst nicht Schach spielen.« Ja, in diesem Fall hatte er natürlich recht.

In den Ferien verbrachten wir viel Zeit in der Natur. Obwohl Victor immer wieder etwas von Projekten erzählte, begleitete er mich zumeist bei meinen Abenteuererkundungstouren.

Für Victor hätte der Nachname Vorsicht