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Es ist Zeit, dass sich die katholische Kirche, vor allem die Laien und ihre Organisationen wieder den Menschen zuwenden und das Zusammenleben aus christlichem Geist mitgestalten. Schluss mit Selbstbeschäftigung und Nabelschau! Zweifellos hat der dramatische Vertrauensverlust viele Kräfte gebunden, aber auch neue Entwicklungen ermöglicht. Alois Glück ermutigt Christen und Katholiken, sich gesellschaftlich und kirchlich zu engagieren. Ein Buch, das Mut macht, aufzubrechen statt auszusteigen.
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Seitenzahl: 218
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Alois Glück • Joachim Frank
Anpacken statt Aussteigen
Der Auftrag der Christenin unserer Welt
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80172-3
ISBN (Buch) 978-3-451-33388-0
Inhalt
Vorwort
Wohin führt der Weg der Kirche?
Der schmerzhafte Abschied von der Volkskirche
Einen neuen Aufbruch wagen – aber wohin?
Den Wandel gestalten oder den Wandel erleiden?
»Konservativ« – was bedeutet das?
Kirchenkrise versus Glaubenskrise
Die richtige Verbindung von Einheit und Vielfalt
Dialogprozess: Wandel braucht Zeit
Den »Suchenden« entgegengehen
Was meint die Forderung nach »Entweltlichung« der Kirche?
Intransparenz – kirchlicher Hemmschuh auf dem Weg zu neuen Strukturen
Prüfstein Praxis – wie könnten neue Strukturen konkret aussehen?
Der Ort der Kirche in der Welt
Politisches Engagement – eine wichtige, aber oft schwierige Aufgabe für Christen
Die Kunst der Unterscheidung – Entscheidungen treffen als Christ und als Bürger
Der Fall Donum Vitae
Gesucht: eine »Ethik des Kompromisses«
Wie viel Religion brauchen – oder vertragen – Gesellschaft und Staat?
Die Trennung von Staat und Religion – was bedeutet das für Gläubige?
Fundamentalismus: die große Gefahr unserer Zeit
Das Verhältnis von Staat und Kirche in rechtlicher Hinsicht
»In Verantwortung vor Gott und den Menschen«
Laien und Kleriker in der katholischen Kirche – große Verdienste und schwierige Perspektiven
Einmalig: die Selbstorganisation der Laien in Deutschland
Katholische Verbände heute: der schwierige Weg in die Zukunft
»Sozialkatholizismus« – Gerechtigkeit ist mehr als Fürsorge
Die Soziale Frage heute: Was es heißt, »an die Ränder der Existenz« zu gehen
Der Beitrag des Einzelnen: Was ist das spezifisch Christliche?
Was meint »Gerechtigkeit«?
Der Sozialstaat – Gefahren und Bedrohungen
Worin besteht der spezifisch christliche Beitrag?
Leiten und entscheiden – kleines Manual für Führungskräfte
Was zeichnet erfolgreiche Führungskräfte aus?
Welche Fähigkeiten, welche Einstellungen braucht es, um Führung übernehmen zu können?
Was ist das Spezifische an Führungsaufgaben in der Kirche?
Engagement und Eigeninitiative – Anpacken statt Anklagen!
Kreative Minderheiten – Motor der Innovationskraft in einer Gesellschaft
Was bedeutet das Potenzial einer »kreativen Minderheit« übertragen auf die Kirche?
Veränderte soziale Strukturen – und die Antwort bürgerschaftlichen Engagements
Werte – Verlust oder Wandel?
Geld regiert die Welt?
Respekt und Einfühlungsvermögen – Schlüsselwerte in einer hitzig geführten Diskussion
Ideologieanfällig und leicht zu missbrauchen: Werte im Wandel
Spezifisch christliche Werte?
»Die Würde des Menschen ist unantastbar«
Was meint »die Würde des Menschen«?
Suizid – ein Ausdruck menschlicher Freiheit und Würde bis zuletzt?
»Genetische Optimierung« – möglich, aber mit der Menschenwürde vereinbar?
Freiheit und Verantwortung
Freiheit und katholische Kirche – eine schwierige Begegnung
Vertrauen und Verantwortung – zwei Grundpfeiler der Freiheit
Nachhaltigkeit – Auftrag im Jetzt und Verantwortung für kommende Generationen
Nur ein Modebegriff oder Wegweiser für die Zukunft?
»Prinzip Nachhaltigkeit« – gemeinsamer Maßstab weltweiten Handelns?
Herzlichen Dank!
Dieses Buch möchte zum Engagement ermutigen. Es gründet sich auf Erfahrungen, die ich als katholischer Christ und als Staatsbürger in kirchlichen wie auch gesellschaftlichen Bezügen gemacht habe. Und so wende ich mich an alle, die unsere Kirche und unseren Staat nicht sich selbst oder »den anderen« überlassen möchten, sich aber vielleicht fragen, ob sich der eigene Einsatz lohnt.
Ich erlebe in der deutschen Öffentlichkeit derzeit eine seltsame Mischung aus Resignation und Aggression. Die »Pegida«-Demonstrationen um den Jahreswechsel 2014/2015 waren nur dem Namen und dem äußeren Anschein nach eine »Bewegung«: Es sind Menschen auf die Straße gegangen, weil sie »dagegen« sind – gegen die zugegebenermaßen anstrengenden Regularien der Demokratie, gegen eine Offenheit für Fremdes und Neues, gegen Meinungsstreit in den Medien. Aber die Denunziation der »Altparteien«, der »abgehobenen Politik« und der »Lügenpresse« hilft nicht weiter. Wir werden die großen Herausforderungen, vor denen unser Land steht, nur meistern können, wenn es Menschen in ausreichender Zahl gibt, die der Meinung sind, dass es sich lohnt, »dafür« zu sein.
In unserer katholischen Kirche ist seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus eine verhaltene Aufbruchsstimmung aufgekommen – verhalten deshalb, weil noch unklar ist, ob der Papst genügend Unterstützung für seinen Kurs bekommt. Ansonsten reflektieren und fokussieren kirchliche Stimmungslagen die Befindlichkeit der Gesellschaft. Die Kirche ist eben ein Teil derselben, erfährt aber zudem ihre eigenen, spezifischen Wandlungsprozesse. Es gibt vielfache Erfahrungen des Mangels und des Abbruchs: in Bezug auf die Priesterzahlen, auf das Reservoir der engagierten Laien, die Vitalität der katholischen Verbände, den Einfluss der Kirche auf politische Entscheidungen. All das könnte Anlass sein, die Hände und den Mut sinken zu lassen. Meine Sache war das nie. Ich bin überzeugt, dass Engagement sich immer noch lohnt und etwas bewirken kann.
Als ich 2013 das Buch des Journalisten Joachim Frank »Wie kurieren wir die Kirche? Katholisch sein im 21. Jahrhundert« in die Hand nahm, begegneten mir darin viele Gleichgesinnte: Menschen, die glauben, bei aller Kritik und trotz aller Widerstände etwas bewegen zu können. Das hat mir imponiert, mich bestätigt und mich ermutigt, auch selbst »anzupacken statt anzuklagen«. Auf diesem Weg möchte dieses Buch, das im Dialog mit Joachim Frank entstanden ist, viele Menschen motivieren.
Zum »Anpacken« gehört das Wissen um die passenden Handgriffe. Darum hoffe ich, mit diesem Buch Sachbeiträge zu Fragen und Problemstellungen zu leisten, an denen sich meiner Meinung nach die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidet.
In meine Überlegungen geht ein, wie ich das persönliche Engagement auf meinem Lebensweg in der Gesellschaft und in der Politik erlebt habe. Meine wesentliche Prägung dafür erfuhr ich in der Katholischen Jugend. Heute verbinden meine Aufgaben als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) in besonderer Weise das kirchliche mit dem politisch-gesellschaftlichen Spektrum.
Grundvoraussetzung für jedes Engagement, speziell aber für Führungsaufgaben, ist die Verbindung von Wertorientierung, Sachkompetenz und langem Atem. Diese Trias sollte das besondere Markenzeichen christlichen Engagements sein. Die gute Gesinnung allein bewirkt nichts, wirkt oft selbstgerecht und ausgrenzend. Bloße Kompetenz bleibt richtungslos. Aber auch die Verbindung von Wertorientierung und Sachverstand wird erst dann zur verändernden Kraft, wenn sie von Dauer ist.
Eine weitere Erfahrung ist mir gerade in dieser Zeit wichtig, in der die Christen auf dem Weg von der starken, dominanten Volkskirche zu einer Minderheit in der offenen, säkularen, von der Globalisierung geprägten Gesellschaft sind: Wir haben als Christen überhaupt keinen Grund, diese Veränderung ausschließlich als Bedrohung wahrzunehmen und darauf ängstlich, abwehrend oder verbiestert zu reagieren. Als »qualifizierte Minderheit« wachsen uns im Gegenteil neue Chancen zu. Alle Veränderungen, alles Neue, alles Zukunftsträchtige liegt zuerst und vor allem in der Hand von Visionären, Pionieren, engagierten Minderheiten. Das gilt von den kleinsten Gemeinschaften bis hin zu den Großorganisationen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Die Stimme der Christen findet heute nicht mehr allein deshalb Gehör, weil die Großinstitution Kirche als Lautsprecher fungiert. Aber Christen bleiben gefragt – und haben etwas zu sagen. Davon bin ich überzeugt. Unsere Wirksamkeit als Christen in Gesellschaft und Staat wird deshalb entscheidend davon abhängen, dass wir zwei Voraussetzungen erfüllen:
Unsere Debattenbeiträge, unser Engagement müssen durch Qualität überzeugen – in der Sache und in der Argumentation.
Wir brauchen einen Schulterschluss von Christinnen und Christen, die an den Werten des Evangeliums orientiert, in der Sache kompetent und im Einsatz für die Menschen beharrlich sind.
Appelle vom moralischen Hochsitz herunter an »die da draußen in der Welt« werden demgegenüber wirkungslos verhallen. Nicht das Anklagen ist unsere Sache als Christen, sondern das Anpacken.
Von dieser gemeinsamen Überzeugung waren die langen Gespräche und mein intensiver Austausch mit Joachim Frank getragen. Als Theologe und als praktizierender Katholik kennt und versteht er die Welt des Glaubens, den Raum der Kirche. Als Chefkorrespondent der DuMont-Mediengruppe mit »Kölner Stadt-Anzeiger«, »Berliner Zeitung« und »Mitteldeutscher Zeitung« sowie als Autor der »Frankfurter Rundschau« ist er ständiger Beobachter, Analytiker und Kommentator des Zeitgeschehens. So hat er meine Überlegungen immer wieder mit der »Außenansicht« konfrontiert. Seine Anfragen, Einwände und Hinweise haben mich herausgefordert, nicht in der Binnenperspektive zu verharren. Dafür danke ich ihm sehr.
Alois Glück
Hörzing, Ende Februar 2015
Die katholische Kirche in Deutschland ist unbestreitbar in einer schweren Krise. Der Abschied von der Volkskirche und ihren Milieus fällt schwer. Bei vielen Seelsorgern und Bischöfen ist Resignation spürbar. Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Situation in zehn oder zwanzig Jahren darstellen?
Ganz offensichtlich wird die Gestalt der Kirche eine grundlegend andere sein. Die Zahl der Kirchgänger ist zwar kein hinreichendes Kriterium für Kirchenbindung. Trotzdem kann es nicht folgenlos bleiben, dass bereits heute kaum noch Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene und Familien im Gottesdienst vertreten sind. Da die Kirche nicht Menschenwerk ist und Zukunftswege generell nicht immer linear verlaufen, wird man keine präzisen Voraussagen mit Erfüllungsgarantie treffen können. Aber die Wahrscheinlichkeit eines weiteren massiven demografischen Abbruchs ist sehr hoch. In der wechselvollen Geschichte unserer Kirche ist das nichts völlig Ungewöhnliches, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen.
Welche Lehren hält die Kirchengeschichte aus Ihrer Sicht für die Gegenwart bereit?
Dafür möchte ich auf die Einschätzung von Kardinal Walter Kasper verweisen, der in der Katholischen Akademie in Bayern die augenblicklichen Veränderungen im November 2011 so beschrieben hat: »Was wir gegenwärtig erleben, ist das ZuEnde-Gehen einer Epoche der Kirchengeschichte. Man kann diese Situation bis zu einem gewissen Grade vergleichen mit dem Ende der alten Reichskirche in den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress (1814/15). Damals kam es zur Säkularisierung des Kirchengutes und damit zum Ende der feudalen Reichskirche. Das wurde als Unrecht empfunden und war es auch; es war der Zusammenbruch des gesamten damaligen Kirchensystems, der Verlust politischer und wirtschaftlicher Macht, was in manchen Gebieten zu einer materiellen wie kulturellen Verarmung führte.
Es war ein schmerzlicher Umbruch, der aber zu einem neuen Anfang und zu einem neuen Aufbruch, zu einer neuen Gestalt der Kirche wurde, nämlich zu der Volkskirche, wie die Älteren von uns sie bis 1933 und dann in einer kurzen Phase nach dem Zweiten Weltkrieg kannten. Die Kirche hatte ihre politische und wirtschaftliche Macht verloren, sie hatte dafür aber moralische Autorität gewonnen. Das war dadurch möglich, dass sie sich auf ein konsistentes katholisches Milieu und auf bedeutende Laienverbände stützen konnte; aus der feudalen Reichskirche war eine milieugestützte Volkskirche geworden.«
Das ist in weiten Teilen eine Paraphrase eines Motivs, das Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch in der »Freiburger Rede« vorgetragen hat. Greifen wir Kaspers Beobachtung heraus, dass sich die Kirche im Umbruch einst auf ein »konsistentes katholisches Milieu und auf bedeutende Laienverbände stützen« konnte. Gerade dieses Milieu ist im Schwinden begriffen, und die Laienverbände werden mindestens in dem Maß schwächer, in dem die Kirche insgesamt an Kraft verliert. In dieser Situation ist die Kirche offensichtlich sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Sie hält anscheinend immer weniger Ressourcen vor, sich in Gesellschaft und Staat zu engagieren. Nun gibt es aber auch sehr unterschiedliche Meinungen, ob dies überhaupt auf Dauer noch sinnvoll wäre. Wie sehen Sie das?
Als katholische Kirche in Deutschland stehen wir vor einem »Kreisverkehr« mit Abzweigungen in drei Richtungen:
Resignation
Zurück zur kleinen Herde
Einen neuen Aufbruch wagen
Laufen wir nun unentschlossen im Kreis? Entscheiden wir uns für eine Richtung? Und wenn ja, für welche? Nicht wenige sind bereits auf den Weg zur Resignation eingebogen, darunter viele, die sich über Jahre hinweg in der Kirche und für die Kirche engagiert haben und nun frustriert aufgeben. Sie glauben nicht mehr an die Reformfähigkeit der Kirche. Einige zögern dabei und schauen hoffnungsvoll nach Rom, im Schwanken zwischen Hoffen und Zweifel.
Dann gibt es jedoch auch eine starke Strömung, die für den Weg zur kleinen Herde plädiert. Sie versprechen sich davon eine größere Anziehungskraft, eine authentischere, christlichere Kirche. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. wird damit immer wieder in Verbindung gebracht.
In der Tat plädiert eine durchaus starke Strömung für eine Konzentration der Kräfte auf die Menschen mit starker Kirchenbindung. Sie argumentiert: Unsere Ressourcen schrumpfen. Die Zahl der Gläubigen geht zurück, erst recht die Zahl der Priester, und mittelfristig müssen wir uns auch auf schwindende Finanzerträge einstellen. Konzentrieren wir uns deshalb auf unser »Kerngeschäft«, als da wäre: Gebet, Gottesdienst, die Pflege der geistlichen Gemeinschaft. Insgesamt lässt sich in dieser Gruppe eine starke Binnenorientierung feststellen. »Die Welt da draußen« ist für sie ohnehin Feindesland, jedenfalls eine Gefahr.
Liturgie, Gottesdienst, Gebet gehören aber doch unzweifelhaft zu den grundlegenden Selbstvollzügen der Kirche. Ist deren Betonung dann nicht mindestens so legitim wie Ihr Pochen auf dem sozial-karitativen wie dem politischen Engagement?
Natürlich gehören das Gebet, die Besinnung, die Pflege des Kontakts und der Beziehung zu Gott zum Glauben, ja, sind Voraussetzung dafür. Für die anhaltende Gottesbeziehung gilt, was auch für jede menschliche Beziehung, was für die Partnerschaft gilt: Es braucht Aufmerksamkeit, es braucht die bewusste Pflege der Beziehung und auch die Ausdauer, um »Trockenzeiten« durchzustehen. Ohne diesen Willen zur Pflege der Gottesbeziehung, zum Hören und zum Beten, wird es auf Dauer keinen Glauben geben.
Ich plädiere ganz eindringlich für das Ja zur Vielfalt der Glaubenswege und der Frömmigkeitsformen. Was ich ablehne, ist die Ansicht, dass nur bestimmte Formen katholisch seien. Ich halte es für fatal, wenn bestimmte Prägungen der Frömmigkeit und des Gemeinschaftslebens die Deutungshoheit darüber beanspruchen, was richtig und was falsch, was katholisch und was nicht mehr katholisch ist.
Die Vielfalt der Glaubenswege und der Frömmigkeitsformen ist für das Christentum konstitutiv. Das zeigt schon die Bandbreite spiritueller Traditionen in der Geschichte des Mönchtums und der Ordensgemeinschaften. Kontemplativ ausgerichtete Orden, die sich in strenger Klausur vor allem dem Gebet widmen, sind nach meinem Verständnis genauso wichtig und wertvoll wie sozial ausgerichtete. Es ist grundfalsch, die verschiedenen Wege christlichen Lebens gegeneinander auszuspielen.
Das kann man aber gegenwärtig in vielen Diskussionen beobachten.
Bei manchen Bischöfen und Klerikern spielt wohl dabei auch mit, dass die sogenannten »Frommen« nicht gar so kirchenkritisch und damit unbequem sind. Sie orientieren sich in der Regel nach den Aussagen und Vorgaben der Hierarchie.
Wie haben sich die Kräfteverhältnisse nach Ihrer Wahrnehmung verschoben?
Nach meinen Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten hatte der Weltauftrag der Christen in der kirchlichen Verkündigung früher einen viel höheren Stellenwert. Papst Franziskus setzt neuerdings wieder diesen Akzent. Für ihn folgt aus dem Glauben unmittelbar die Hinwendung zu den Menschen, sodass nicht mehr das »Rette deine Seele!« im Mittelpunkt steht, was letztlich auch die Gefahr eines egozentrischen Glaubensverständnisses birgt. Jede Frömmigkeit hat ihre schmerzhafte Gefährdung. Im »Christentum der Tat« liegt diese in einem blinden Aktionismus.
Warum ist Ihnen das gesellschaftliche und politische Engagement der Katholiken so wichtig? Weil es dafür in Deutschland eine lange und große Tradition gibt? Oder sehen Sie für uns als Christen eine Verpflichtung, unseren Beitrag für die Menschen unserer Zeit zu leisten?
Hier entscheidet es sich, ob und in welchem Umfang wir als Katholikinnen und Katholiken zur Gestaltung des Zusammenlebens im eigenen Land und international beitragen, das heißt, ob wir durch Handeln gestalten oder aus der scheinbar sicheren Bastion unserer eigenen Gesinnungsgemeinschaft moralische Appelle an »die da draußen« in der Welt senden, uns über das Unzulängliche empören, entsprechend urteilen, verurteilen und dann selbstgenügsam, ja überheblich in unserer Binnenwelt bleiben. Immer wieder ist es dann die Schrittfolge: protestieren, anklagen, sich seiner überlegenen Moral rühmen – und dann zurücklehnen.
Der dritte Weg im »Kreisverkehr Zukunft« heißt: »einen neuen Aufbruch wagen«. Das war das Motto des Katholikentags in Mannheim 2012. Eine recht vage Formulierung, die vieles offen lässt – insbesondere die Frage: Aufbruch wohin?
Zuallererst ist es ein Aufbruch aus der Selbstgenügsamkeit, aus dem Selbstmitleid. Es bedeutet den Abschied vom tiefen Kulturpessimismus, nach dem alles schlechter wird, es nur abwärts geht und die Gesellschaft sich in einer Abwärtsspirale befindet – was im Übrigen auch nicht stimmt. Wir können in den letzten Jahrzehnten nicht nur einen Zuwachs an Wohlstand verzeichnen, sondern trotz vieler Fehlentwicklungen insgesamt auch einen erheblichen Zuwachs an Gerechtigkeit und Humanität. Die Behindertenhilfe und die Hospizbewegung sind nur zwei Beispiele dafür. Der Schutz der Schöpfung ist ein anderes. Wenn auch nicht immer direkt christlich motiviert, haben hier dennoch die starken, über Jahrhunderte kulturprägenden Kräfte des Christentums eine Rolle gespielt.
Eine Rolle, die das Christentum heute so nicht mehr hat. Es ist nicht mehr die Orientierung einer Mehrheit.
Das stimmt. Das heißt aber nicht, dass wir diese Aufgabe nicht mehr sehen, den Auftrag nicht mehr verspüren oder von vornherein darauf verzichten, weil wir nicht mehr die Bedingungen der Mehrheit in der Gesellschaft und des Einflusses und der Macht der Kirche auf die Menschen und die gesellschaftlichen Entwicklungen haben.
Welche Konsequenz ergibt sich daraus für Sie?
Die erste ist, dass wir nicht der vom Milieu getragenen und das Milieu prägenden Volkskirche nachtrauern und diese historisch bedingte und begrenzte Sozialgestalt von Kirche auch noch verklären. Das war eine geschlossene Welt, bedeutet die kulturelle Einheit von kirchlichem Leben und Alltag. Die Glaubenshaltung dieser volkskirchlichen Zeit war vor allem der Gehorsam als Folge einer ausgeprägten religiösen Angstpädagogik. Die von der Kirche geprägten Normen bestimmten die gesellschaftlichen Regeln. Schwerpunkte bildeten dabei die Sexualität und die Wahrung äußerlicher Autoritäten und Hierarchien. Sie war aber auch gerade in dieser Hinsicht von einer Doppelmoral geprägt.
Der Einsatz für Gerechtigkeit hingegen war in dieser Zeit – ich habe aus meiner Jugend noch lebhafte Erinnerungen daran – keine besondere Stärke unserer Kirche. Sie arrangierte sich gerne mit den Herrschenden, beginnend in der Dorfgemeinschaft. Die Frauen hatten, gestützt auf die kirchliche Verkündigung, den Männern untertan zu sein. Hätte ich nur die traditionelle Glaubensverkündigung meiner Heimat erlebt, dann hätte ich heute wie die große Mehrheit meiner damaligen Klassenkameraden kaum mehr eine aktive Beziehung zu Glauben und Kirche. Die Wirklichkeit der großen volkskirchlichen Zeiten müssen wir also differenzierter und ehrlicher sehen. In dem Maß, wie sich die allgemeinen Milieubindungen und Orientierungen an Autoritäten auflösten, lösten sich auch das kirchliche Milieu und die Kirchenbindung auf. Ich komme also immer mehr zu der Überzeugung, dass gerade die beschriebene Art der Verkündigung, diese spezifische Erfahrung von Glaube und Kirche, eine ganz wesentliche Ursache für die heutige Glaubens- und Kirchenkrise ist.
Diese Entwicklung gibt es nicht nur in Deutschland.
Die katholische Kirche ist nicht nur in Europa, aber hier ganz gewiss in einem tief greifenden Veränderungsprozess begriffen. Das gilt sowohl für ihr inneres Gefüge, für die Zahl der Gläubigen, als auch für ihre Stellung in der säkularen pluralen Gesellschaft. Viele in unserer Kirche, nicht nur die Amtsträger, empfinden den Verlust kirchlichen Einflusses auf die Lebensgestaltung des Einzelnen, auf die Entwicklungen in der Gesellschaft und auf politische Entscheidungen als eine einzigartige, dramatische Verlustgeschichte. Das ist nur schwer zu verkraften.
Aber wir werden in der Veränderung nur bestehen können, wenn wir ihr ohne Groll begegnen. Dafür hängt es entscheidend davon ab, dass wir den Wandel annehmen und aktiv gestalten, statt ihn mit Leichenbittermiene und Katastrophenparolen zu erleiden und unser Selbstmitleid zu pflegen. Mir kommen in diesem Zusammenhang oft die Katholiken und die katholische Kirche in der früheren DDR in den Sinn. Sie hatten aus der Zeit der kommunistischen Diktatur nicht nur die Erfahrung von Isolation, Marginalisierung und bisweilen von Verfolgung zu verkraften, sondern müssen heute als Minderheit auch mit der totalen Entfremdung einer überwältigenden Mehrheit von der christlichen Religion und den Kirchen fertig werden. Trotz dieser doppelten Zumutung plädiert der frühere Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, unentwegt und unverdrossen dafür, unsere Gegenwart positiv und konstruktiv aufzunehmen. Wir sollten nach vorn schauen, nicht hinter uns. Wanke beschreibt eine falsche rückwärtsgewandte Haltung gern als Gegenwartsverweigerung. Im »Kölner Stadt-Anzeiger« vom 17.10.2014 schrieb er: »Ich bin nun 34 Jahre Bischof. Wenn ich nach der größten Zäsur in meiner Biografie frage, dann ist es sicher nicht der Wechsel in den Ruhestand, sondern die Wende vor 25 Jahren. Anfangs glaubte ich noch: ›Na ja, für uns als Kirche wird sich nicht so viel ändern. Weihnachten, Ostern, das Kirchenjahr – das bleibt doch im Wesentlichen alles dasselbe.‹ Aber dann war doch alles viel einschneidender als gedacht. Wir wurden mit unserer übersichtlichen, familiären, aber auch zur Selbstghettoisierung neigenden Diaspora-Kirche in eine offene, liberale Gesellschaft freigesetzt. Und wir hatten verlernt, wie man sich in ihr bewegt. Heute habe ich das Gefühl, mit einem Fuß in der alten Zeit zu stehen, mit dem anderen in der neuen. Aber ich sage klar: Die Freiheit ist das Bessere! Wir leben ehrlicher – nicht mehr abgeschottet, sondern in der frischen Luft der Wirklichkeit, auch wenn sie manchmal zugig ist und wir uns behaupten müssen. Wir hatten uns in der DDR doch auch ein bisschen heimelig eingerichtet in unserer Nische und dem Selbstbild der ›kleinen bedrängten Herde‹, die ideologisch nicht gewollt und aus Sicht des Systems ein Überbleibsel war. … Der Raum der Freiheit, in den wir als Kirche heute gestellt sind, der ist unaufgebbar. Da kommen wir nicht mehr heraus. Ich sehe das positiv, und ich wünschte mir, möglichst viele in meiner Kirche könnten diese Sicht teilen. Denn ich glaube, unsere Freiheit hat mit dem Willen Gottes zu tun. Es ist eine Lernerfahrung, die er Gläubigen wie Nichtgläubigen zumutet, dass wir Verantwortung übernehmen müssen. … Deswegen verrät das dauernde Lamento über die angeblich schlimme Individualisierung und den Egoismus in der Gesellschaft doch einen sehr verengten Blickwinkel.«
Den Wandel gestalten – davon ist in der Kirche Deutschlands wenig zu spüren. Vorherrschende Reaktionen auf die merklichen Veränderungen sind Abwehr, Resignation oder Angst. Der Wandel wird erlitten. Das ist freilich keine katholische Spezialität, sondern eine wiederkehrende Erfahrung in fast allen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem in verfassten Gremien und ihren Repräsentanten. In der katholischen Kirche unseres Landes haben Sie selbst eine bedeutende Funktion inne. Woher nehmen Sie den Impuls zu einem positiven Umgang mit Veränderungen?
In meiner Jugend habe ich den tief greifenden, für die Betroffenen oft schmerzlichen Strukturwandel in der Landwirtschaft miterlebt. Wir haben in der Katholischen Landjugend für eine aktive Gestaltung dieses Wandels mithilfe der Entwicklung einer neuen Agrarpolitik und einer entsprechenden Strategie für die Entwicklung der ländlichen Räume gekämpft. Mit jugendlicher Unbekümmertheit habe ich damals die Haltung des Bauernverbands so beschrieben: »Hinhaltender Widerstand, um ehrenvoll zu kapitulieren.« Diesem hinhaltenden Widerstand lagen drei verschiedene Einstellungen zugrunde: Die einen haben tatsächlich geglaubt, es werde schon so weitergehen – »nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird«. Andere gingen zwar davon aus, dass der Wandel aufzuhalten sei, aber sie meinten, es sei ja schon ein Erfolg, wenn er möglichst langsam verläuft – »nach uns die Sintflut«. Und auch eine dritte Gruppe hielt den Wandel für unaufhaltsam, argumentierte aber mit verbandlichen Eigeninteressen – »kämpfen, damit uns die Mitglieder nicht von der Fahne gehen«. An all das erinnere ich mich jetzt wieder mit Blick auf unsere Kirche.
Die Tragik des bloßen Erduldens liegt immer darin, dass es die Kräfte schwinden lässt, die notwendig wären, um den Wandel zu gestalten. Das Erleiden ist der Weg der Selbstlähmung und des Selbstmitleids.
Warum gibt es gerade in der katholischen Kirche so viele, die dieser Spur folgen – oft in Verbindung mit einem ausgeprägten Konservatismus?
Ich fürchte, dass es eine Verquickung von Theologie und einem verdeckten oder offenen Machtanspruch Einzelner wie auch der Kirche als Institution gibt. Dazu kommt ganz schlicht die Angst vor Veränderungen, die nun einmal anstrengend und mitunter bedrohlich sind. Dafür gibt es in der Kirchengeschichte unendlich viele Beispiele, die aus heutiger Sicht nicht zu begreifen sind: die Verurteilung der »Modernismen«, die Ablehnung der Demokratie, der Gewissensfreiheit und der Menschenrechte und vieles andere mehr. Als wäre – fern jedes geschichtlichen Denkens und des bisherigen Weges der Kirche durch die Zeit – der Ist-Zustand jeweils das unüberbietbare Ideal. Auch in unserer Gegenwart ist das Beharren, das in erster Linie das Bestehende bewahren will, sehr stark und einflussreich. Veränderung bedeutet für diese Haltung immer nur Abschied, Verschlechterung, gar Verrat am »christlichen Erbe«.
Das Vermächtnis des Evangeliums ist ein anderes: »Prüfet alles, das Gute behaltet!«, schreibt Paulus – und meint nur das Gute.
Die Gleichsetzung von christlich und konservativ ist ein schwerwiegender Irrtum und eine schwerwiegende Fehlentwicklung. Jesus war bestimmt kein konservativer Bewahrer, er war sehr viel mehr ein Revolutionär – ein Revolutionär des Geistes, der Parteinahme für die Schwachen, ein Gegner der starren und formalen Strukturen der »Amtsreligion« seiner Zeit und ihrer starren gesellschaftlichen Strukturen. Er war ein Kämpfer gegen die Unwahrhaftigkeiten in der Religion und der Gesellschaft, ein Hüter und Verfechter der Werte, aber ein Gegner von Strukturen, die letztlich diese Werte gefährden.
Ich finde sehr eindrucksvoll, was Hans Küng in seinem Buch »Was ich glaube« zum christlichen Lebensmodell des Jesus von Nazaret schreibt. Er meint, Jesus sei das Fundament echter christlicher Spiritualität. Folglich sei Christ, wer sich auf seinem Lebensweg bemüht, sich an ihm zu orientieren. »Er lässt sich weder bei den Herrschenden noch bei den Rebellierenden einordnen, weder bei den Moralisierenden noch bei den Stillen im Lande«, sagt Küng. »Er erweist sich als provozierend – aber nach rechts und links. Revolutionärer als die Revolutionäre.«
Aber liegt der Bestand der katholischen Kirche durch die Wirren von Jahrtausenden nicht auch gerade darin begründet, dass sie wesentlich konservativ ist?
Konservativ ist kein Wert an sich, modern und progressiv aber ebenso wenig. Sowohl in kirchenpolitischen wie in gesellschaftlichen Fragen könnte uns zur Orientierung und Bewertung die Unterscheidung zwischen »strukturkonservativ« und »wertkonservativ« weiterhelfen.
Also: Worum geht es bei dem, woran wir festhalten wollen? Um Strukturen und Traditionen, die sich unter spezifischen historischen Bedingungen und jeweils wandelbaren Formen entwickelt haben? Oder geht es um den Erhalt der zugrunde liegenden Werte, die dann in konkrete Lebensäußerungen und Strukturen gegossen wurden? Im Zentrum innerkirchlicher Diskussionen steht gegenwärtig die Frage, ob die Lehre weiterentwickelt werden muss, weil das menschliche Denken und Erfassungsvermögen immer begrenzt sind und uns die volle Wahrheit zu keinem Zeitpunkt abschließend zugänglich ist, oder ob die geltende Lehre tatsächlich das letzte Wort für alle Zeit und Ewigkeit ist. Diese notwendige Auseinandersetzung ist der eigentliche Streitpunkt auf der Bischofssynode zur Situation der Familien, zur Sexualethik und einer ganze Reihe anderer Fragen.
Die Repräsentanten der Kirche sind häufig nicht nur in kirchenpolitischen, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Fragen sehr konservativ. Gerade im politischen Raum scheinen die Attribute »katholisch« und »konservativ« fast synonym verwendet zu werden, verbunden mit einer Wahrnehmung unablässiger Bedenkenträgerei gegenüber neuen sozialen Entwicklungen.