Anselm Grüns Buch der Antworten - Anselm Grün - E-Book

Anselm Grüns Buch der Antworten E-Book

Anselm Grün

4,6

Beschreibung

Wie wollen wir künftig leben, angesichts der Erfahrung von Corona? Und wer wollen wir eigentlich sein, angesichts der Zukunftsversprechungen von KI und Internet? Und im Blick auf ökologische und politische Katastrophenszenarien: Was kann ich als Einzelner tun, damit sich die Welt zum Guten entwickelt? Wofür bin ich verantwortlich? Woran darf ich guten Gewissens noch glauben, worauf kann ich am Ende hoffen? Wissenschaft hilft nicht weiter bei solchen »letzten« Fragen. Aber keiner kommt an ihnen vorbei. Anselm Grün bietet Antworten, gewachsen auf einer reichen Erfahrung in der Begegnung mit Menschen. »Und plötzlich findet sich so etwas Schweres wie der Sinn des Lebens ganz nahe neben einer leichten Heiterkeit und einer schlichten Weisheit. Einfach so und wirklich ganz einfach.« (Reinhold Beckmann)

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Ein einfach-leben-Buch

Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany

Erweiterte Neuausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2021

www.herder.de

Satz: Dtp-Satzservice Peter Huber, Freiburg

Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book (epub): 978-3-451-82320-6

Print ISBN: 978-3-451-00858-0

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

„Wer wir waren, was wir geworden sind, wo wir waren,

wohin wir geworfen wurden, wohin wir eilen,

wovon wir erlöst werden,

was Geburt und was Wiedergeburt ist.“

(KLEMENS VON ALEXANDRIEN, EXCERPTA EX THEODOTO)

„Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?

Was erwarten wir? Was erwartet uns?

Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt,

sie wissen nicht warum und von was.

Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter,

so ist er Furcht.“

(ERNST BLOCH, PRINZIP HOFFNUNG)

„Denn solange wir in der Welt sind, gilt:

Gott wohnt mehr in der Frage als in der Antwort.

Es ist die Entdeckung zu machen,

dass vom Gott der Antworten immer wieder

unbändig der Gott der Fragen geboren wird.“

(GOTTFRIED BACHL, GOTTESFRAGEBOGEN)

INHALT

Vorwort

Veränderungen in der Gesellschaft fordern uns heraus

Wie soll ich handeln? Wofür bin ich verantwortlich?

Kirche und Glauben heute

Die Christen und die Religionen

Wonach sehne ich mich? Wie finde ich das Glück?

Was bin ich wert? Bin ich frei?

Worauf kann ich mich verlassen? Macht Glauben Sinn?

Wo ist Gott? Kann ich ihn erfahren?

Woran reife ich? Was tröstet mich?

Worauf kann ich hoffen? Wird alles gut?

VORWORT

zur erweiterten Neuausgabe

Nicht nur Theologen kennen den Vorwurf, sie würden Antworten geben, ohne zu wissen, was die wirklichen Probleme des Menschen sind. Aber sie trifft der Verdacht besonders hart, sie würden auf etwas antworten, was die Menschen gar nicht mehr interessiert. Zugespitzt kommt das in der Reaktion auf den Slogan evangelikaler Christen zum Ausdruck, dass Jesus die Antwort auf alle Fragen ist: „Jesus is the answer. But what was the question?“

Wer immer nur Antworten bekommt auf Fragen, die er gar nicht gestellt hat, wird bald weghören. Und nur wer die richtigen Fragen stellt, kann Antworten finden, die ihm selber weiter helfen. In einer Diskussion erleben wir es immer wieder, wie der, der die besten Fragen stellt, das Gespräch voranbringt und auch am meisten zur Lösung eines Problems beiträgt. Umgekehrt wirft man nicht nur Politikern vor, dass sie Antworten geben, ohne gehört zu haben, was die Menschen wirklich bewegt.

Die Antwort hängt immer von der Frage ab, und am Anfang allen Denkens steht das Wissen wollen, die Neugier, stehen die Fragen. Die Philosophen sehen darin die Hebammenkunst der Wahrheitsfindung. Sokrates zum Beispiel praktiziert seine Philosophie, indem er immer wieder nur nachfragt, was die Menschen wirklich wollen und denken und wie sie ihr Leben verstehen. Und Martin Heidegger hat in unserer Zeit das ganze menschliche Dasein sogar von diesem Impuls her definiert: Menschliches Dasein kann – und es muss – fragen. Zentral für den Philosophen ist die Frage nach dem Sinn des Seins schlechthin. Der Mensch muss sich diese Frage nach dem Sinn des Seins stellen. Erst dann kann er nach dem Sinn einzelner Dinge fragen, nach dem Sinn des Seienden, wie Heidegger es formuliert. Der Theologe Karl Rahner hat die Sicht seines philosophischen Lehrers Heidegger übernommen. Er formuliert es so: „Der Mensch fragt notwendig.“ Die philosophische Anthropologie sieht also die Sonderstellung des Menschen gerade darin, dass er ein fragendes Wesen ist und dass ihm alles, was ihm begegnet, zunächst einmal als fraglich erscheint.

Nicht nur die großen Denker von der Antike bis zur Gegenwart stellen sich Fragen nach dem Sinn des Ganzen. Jeder nachdenkliche Mensch stellt sie immer wieder, bis heute: „Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“ Alle diese Fragen stellen uns in eine Beziehung – zu uns selber, zu anderen, zu Gott. Und nur wenn wir auf sie eine Antwort suchen, werden sich uns diese Beziehungen und der Sinn, der sich darin auftun kann, immer neu erschließen.

Es sind keine fiktiven Fragen, auf die ich in diesem Buch eingehe. Wenn ich einen Vortrag halte, gebe ich immer auch Gelegenheit zum Gespräch. Manchmal kommen wenige, manchmal aber viele und sehr zentrale Fragen. Da spüre ich, was die Menschen bewegt. Bestimmte Fragen werden mir immer wieder gestellt. Oft ganz direkt, manchmal verstecken sie sich aber auch hinter scheinbar ganz anderen Problemen. Es sind Fragen ganz normaler Menschen, und doch sind es die „Königsfragen“ – zu allen großen Themen des Lebens. Es sind Fragen, auf die keine noch so spezialisierte Wissenschaft eine fachlich gesicherte Antwort weiß. Trotzdem bewegen sie uns, lassen uns nicht los. Diese Fragen kommen von jungen Menschen, von Menschen in allen Lebenssituationen. So hoffe ich, dass ich mit meinen Antworten in diesem Buch auch die Fragen möglichst vieler Leser und Leserinnen treffe.

Weil es nicht um Wissensfragen und auch nicht um objektiv überprüfbare Antworten geht, ist meine eigene Antwort immer subjektiv, ausgehend von eigener Lebenserfahrung. Und ich gebe sie natürlich auf dem Hintergrund der Theologie, wie ich sie selbst studiert habe. Aber ich versuche immer auch, mir selbst eine befriedigende Antwort zu geben, eine Antwort, die ich selbst verstehe und die ich vor mir, vor meinem Verstand und vor meinem Glauben verantworten kann.

Die Fragen, mit denen ich konfrontiert werde, regen mich selber zum Denken an. Ich kenne die Antwort nicht im voraus. Aber indem ich versuche, darauf einzugehen und zu antworten, wird mein eigenes Nachdenken herausgefordert. Und manchmal darf ich dankbar erfahren, dass in mir Antworten entstehen, die ich selbst vorher nicht gewusst habe, die also von den Fragenden hervorgelockt wurden.

Für die hier vorgelegte erweiterte Neuauflage habe ich neue Fragen aufgenommen, die mir in letzter Zeit immer wieder gestellt worden sind. Die aufgegriffenen Themen spiegeln immer wieder die Situation wider, in der sich die Menschen gerade befinden und mit der sie sich auseinandersetzen. Da gab es vor allem drei Situationen, in denen sich die Menschen befanden.

Das eine war die in der Gesellschaft vielfach kontrovers geführte Diskussion über oft rasant verlaufende Veränderungen, über neue technische Möglichkeiten, neue Medien oder die künstliche Intelligenz, und damit zusammenhängende Problem und Herausforderungen, die unseren Alltag berühren und viele verunsichern.

Dann wurde die Kirche für viele Menschen selbst fragwürdig, zum einen durch die Missbrauchsdebatte, zum andern durch die zunehmenden Kirchenaustritte. Was hat die Kirche heute den Menschen zu sagen, worauf muss sie sich neu besinnen und was ist ihre bleibende Bedeutung – in einer Situation, die viele Traditionen in Frage stellt und auch die Rolle der Religionen insgesamt neu herausfordert? Und schließlich hat mit großer Wucht die Corona-Krise zu vielen Fragen geführt, die die Menschen bedrängen: Wie sollen wir diese Krise verstehen? Wie können wir Vertrauen in die Zukunft lernen, da alles so unsicher ist? Wie kommen wir gut aus der Krise heraus? Geht dann alles wie gewohnt seinen Gang oder dürfen wir auf eine Verwandlung unseres Miteinanders hoffen?

Die Antworten, die ich auf die Fragen dieses Buches gebe, mögen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, anregen, selbst nachzudenken und selbst nach Antworten zu suchen, die Sie sich selbst geben würden auf Ihre tiefsten Fragen. Vielleicht rufen die Fragen oder die Antworten in diesem Buch in Ihnen auch neue Fragen hervor. Gerade das sind dann möglicherweise Fragen, die für Sie selber zentral sind und von deren Beantwortung das Gelingen Ihres Lebens abhängt. Trauen Sie solchen Fragen, die in Ihnen aufsteigen. Versuchen Sie, auf dem Hintergrund der im Buch vorgelegten Fragen, sich selber zu antworten, im Vertrauen, dass der Heilige Geist in Ihnen wirkt und Ihnen eingibt, was Ihre eigenen Fragen und Zweifel zur Ruhe bringen kann.

VERÄNDERUNGEN IN DER GESELLSCHAFTFORDERN HERAUS

Künstliche Intelligenz und Gentechnik versprechen einen „neuen Menschen“, eine menschengemachte zweite Schöpfung – und stellen uns verschärft und neu vor die Frage: „Wer wollen wir eigentlich sein?“

Wissenschaft und Technik sind immer menschliche Hervorbringungen, die dem Menschen dienen und dazu helfen sollen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie sind – wie andere Werkzeuge auch – freilich immer auch missbrauchbar und können auch schädliche Folgen haben. Deshalb sollten alle, und insbesondere die Christen, bei der Bewertung von Entwicklungen kritisch darauf achten, dass sie weder zum Schaden der Menschen angewandt noch ideologisch überhöht oder mit zu hohen Erwartungen befrachtet werden, und sollten sie aus einem Geist der Verantwortung heraus begleiten. Die sogenannte künstliche Intelligenz, die die Möglichkeiten der Informatik nutzt, widerspricht nicht dem christlichen Menschenbild. Denn eigentlich ist sie nur eine Sammlung von bisher gewonnenen Erkenntnissen, die dann eben genutzt werden, etwa um Vorhersagen über die Zukunft zu machen. Sie ist letztlich nur eine Steigerung oder Verbesserung unseres Wissens, aber kein neues Wissen.

Die Gentechnik kann zum Segen werden, aber eben auch zum Fluch. Auch hier kommt es darauf an, wie wir mit unseren technischen Möglichkeiten umgehen. Es braucht die Verantwortung für das Leben und ein Gespür für die Werte, die uns bei unserem Handeln leiten sollen. Es geht dabei nicht nur um rein christliche Werte, sondern um die Werte, die die Philosophie vom Wesen des Menschen her ableitet. Ohne Werte kann man die Wissenschaft nicht gut nutzen. Werte und die Übereinkunft über ihre Geltung setzen den Möglichkeiten, die vorhanden sind, auch Grenzen. Entscheidend ist, dass wir den Menschen nicht neu schaffen dürfen, sondern ihm helfen, gesund zu leben, und ihn in seinem Leben stärken.

Die christliche Antwort auf die hinter alldem stehende Frage: „Wer wollen wir eigentlich sein?“ würde ich so formulieren: Wichtig ist es, zu realisieren, dass wir ein Geschöpf Gottes sind, dass wir uns ihm verdanken und nicht unsere eigene Schöpfung sind. Es geht in unserem Leben darum, das einmalige Bild Gottes in uns zu verwirklichen – und nicht das Bild, das wir uns selbst von uns zurechtlegen. Psychologisch ausgedrückt: Es geht darum, unser wahres Selbst zu sein und uns nicht ein Selbst zurechtzulegen, das unserem Wesen nicht entspricht. Denn zum Wesen des Menschen gehört es, das anzunehmen, was ihm vorgegeben ist, und daraus das Beste zu machen – für sich und für seine Mitwelt.

Atomkriegsgefahr, Klimakatastrophe, globale Fluchtströme: Katastrophenszenarien werden immer beängstigender. Klar ist auch, dass der Einzelne die Welt nicht retten kann: Was kann da Hoffnung geben?

Die drei Gefahren sind real – und sie sind nicht die einzigen, aber gewichtige Herausforderungen für die Gesellschaft und die Einzelnen, für unser politisches Handeln und unser persönliches Tun. Bei der Gefahr des Atomkrieges können wir als Individuen persönlich nicht viel tun. Aber natürlich können wir unsere Stimme erheben und bei Wahlen unsere Absicht zum Ausdruck bringen und politische Kräfte stärken, die in Richtung Sicherheit, Frieden und Abrüstung aktiv sind. Als Christ füge ich hinzu: Und wir können beten. Solange wir beten, haben wir Hoffnung, dass die Vernunft doch über die Unvernunft siegt.

Im Blick auf eine drohende Klimakatastrophe können wir auf der einen Seite aktiv unser Verbraucherverhalten ändern und so einen ganz konkreten Beitrag leisten. Wir dürfen das nicht unterschätzen. Wenn viele ihr Verbraucherverhalten ändern, gibt es doch eine Wirkung auf die gesamte Welt. Auch wenn es dauert, bis sich alle anstecken lassen: Es braucht die Hoffnung, dass unser Verhalten wie ein Sauerteig wirkt, der auch andere in ihrem Denken durchdringt und verwandelt. Zum anderen sollten wir aber auch darauf vertrauen, dass Gott die Natur mit so viel Kreativität ausgestattet hat, dass sie sich auf Klimaveränderungen immer wieder neu einstellen kann. Die Natur hat mehr Kraft und Regenerationsfähigkeit, als wir ihr oft zutrauen.

Das Problem der Flüchtlingsströme ist eine Herausforderung, an den Wurzeln der Probleme bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen, also z. B. für Afrika bessere Entwicklungschancen zu schaffen und in den politischen Krisengebieten dieser Welt für einen dauerhaften Frieden zu kämpfen. Und es geht darum, hierzulande gute Bedingungen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu schaffen. Es braucht in diesem Zusammenhang eine verwandelte Einstellung zu fremden Menschen. Im Zeitalter der Globalisierung müssen wir uns damit aussöhnen, dass unsere Gesellschaft immer multikultureller wird.

Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt überrascht. Wie stehen die Chancen, dass diese Erfahrung eine Bewusstseinswende zur Folge hat und Konsequenzen für einen besseren Umgang zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur zeitigt?

Die Corona-Krise hat auf der einen Seite unsere Verbundenheit miteinander und zugleich unsere Abhängigkeit voneinander gezeigt. Jeder kann jeden mit dem Virus infizieren. Aber auch im positiven Sinn sind wir immer aufeinander bezogen: Wir können einander auch mit unseren guten Emotionen anstecken. Wenn ich mit innerem Frieden zu den Menschen gehe, wirkt das auch ansteckend. So sind wir verantwortlich füreinander, nicht nur in Krisensituationen. Alles, was wir tun und denken, hat Auswirkungen auf andere Menschen, ja letztlich auf die ganze Welt. Keiner ist eine Insel. Wir alle sitzen im gleichen Boot.

Es gibt natürlich Menschen, die nach der Krise weitermachen wollen wie vorher. Doch ich habe die Hoffnung, dass viele nachdenklicher geworden sind, dass sie über ihren Lebensstil neu nachdenken, dass sie sich fragen, ob unser Lebensstil, unser Konsumverhalten, unsere Mobilität, unser Wirtschaften und unsere Politik sich wandeln sollte. Unser Verstand zeigt uns, dass unser Konsumverhalten sich auswirkt auf die ganze Welt. Daher ist die Corona-Krise eine Einladung, neu über unser Leben und über unser Miteinander in dieser Welt nachzudenken.

Manche meinen, die Menschheit habe die Corona-Krise gebraucht, um aufzuwachen. Doch mit solchen Aussagen sollte man vorsichtig sein. Es sieht dann so aus, als ob wir Katastrophen notwendig hätten, um bewusster zu leben. Die Katastrophen sind keine Notwendigkeit. Wir sollten auch ohne solche Krisen achtsamer und bewusster leben. Wir bräuchten nur unserer Vernunft und unserem inneren Gespür zu folgen. Dann würden wir achtsamer mit der Natur und mit den Menschen umgehen.

Ich werde auch immer wieder gefragt, ob ich glaube, dass die Krise zu einem neuen Umgang miteinander und mit der Natur führen wird. Ich kann darauf nur antworten: „Natürlich sehe ich Tendenzen in der Gesellschaft, dass man nach der Krise weiter so leben will wie vor der Krise. Ich weiß auch nicht, ob die Krise zu einer guten Zukunft führt. Aber ich hoffe darauf. Ich hoffe, dass die Menschen aufgrund der Erfahrungen, die sie jetzt gemacht haben, bewusster leben und über unser Zusammenleben auf diesem Planeten neu nachdenken und dass sie auch in ihrer Lebenspraxis neue Wege beschreiten. Diese Hoffnung lasse ich mir nicht nehmen. Sie ist für mich Ausdruck meines Glaubens und meiner Spiritualität.“

Wie kann wirkliches Vertrauen und persönliche Verantwortung wachsen in einer Situation, in der einerseits von so vielen Seiten Kontrolle über unser Leben ausgeübt wird und andererseits alle dazu motiviert scheinen, selber alles unter Kontrolle zu halten und ihr Leben immer mehr zu optimieren?

Natürlich ist es in manchen Zusammenhängen sinnvoll und wichtig, dass wir die Wirklichkeit auch überprüfen: gleich ob es um Herrschaftsausübung in der Politik oder um wirtschaftliche Entwicklungen, ob es um die Qualitätskontrolle bei Lebensmitteln oder um persönliche Lernfortschritte etwa in der Schule geht. Das kann helfen, besser mit der Wirklichkeit umzugehen. Kontrollen können dazu beitragen, dass wir uns nicht hilflos gegenüber Entwicklungen fühlen müssen. Aber es gibt da auch Auswüchse und zwanghafte Tendenzen. Und natürlich können wir im Leben nie alles unter Kontrolle haben.

Der auf grundsätzlichem Vertrauen beruhende Glaube schafft in meinem Leben einen Freiraum, in dem ich frei atmen kann. Er befreit mich auch von der Macht staatlicher oder gesellschaftlicher Kontrolle. Ich nehme die unangemessenen Kontrollversuche wahr, aber ich gebe ihnen keine Macht über mich. Ich fühle mich trotz allem innerlich frei. Der Staat kann nur äußere Dinge wie Finanzen und Verhalten kontrollieren, aber nicht meinen Geist und nicht meine Beziehung zu Gott. Diese Beziehung ist es gerade, die mich innerlich befreit vom kontrollierenden Zugriff des Staates.

Die andere Tendenz, sein Leben selbst zu kontrollieren, ist letztlich Ausdruck von Angst. Leben lässt sich nicht kontrollieren. Leben will fließen. Es gibt den Spruch: „Wer alles kontrollieren will, dem gerät alles außer Kontrolle.“ Die Tendenz, sein Leben zu kontrollieren, entspringt der Angst, dass in mir gleichsam ein Vulkan sitzt, der irgendwann einmal hochgehen könnte. Die Kontrolle entspringt einer negativen Selbsteinschätzung. Ich traue mir selbst nicht, daher muss ich alles kontrollieren. Wenn ich aber alles in mir annehme und darauf vertraue, dass alles in mir von Gott angenommen und von seinem Geist durchdrungen wird, dann verliert sich die Angst. Dann fließt das Leben. Und das Fließen des Lebens ist die Bedingung für gelingendes Leben. Kontrolle ermöglicht kein gelingendes Leben. Psychologen sagen, dass das Streben nach Selbstoptimierung zu einem erschöpften Selbst führt. Die Menschen überfordern sich mit dem Versuch, alles zu kontrollieren und zu optimieren.

Das Vertrauen mir selbst gegenüber basiert letztlich auf dem Glauben, dass ich bedingungslos von Gott angenommen bin. Die Erfahrung der bedingungslosen Annahme durch Gott befreit mich von dem Zwang, mich kontrollieren zu müssen. Alles darf sein. Alles kann verwandelt werden. Alles ist von Gottes Geist durchdrungen. In alle Tiefen meiner Seele reicht die Liebe Gottes hinein. Sie ist der tiefste Grund von Vertrauen und Freiheit.

Gesellschaftliche Polarisierung und emotionale Erhitzung der Öffentlichkeit bestimmen die Gegenwart, u.a. in den sozialen Medien. Was können wir dem entgegensetzen?

Ich habe den Eindruck: Viele Menschen haben verlernt, mit ihren Emotionen gut umzugehen, sie wahrzunehmen und sie zu verwandeln, wenn sie schädlich zu werden drohen. Die emotionale Erhitzung im Internet auszudrücken ist für viele ein Ventil. Aber Emotionen müssen verwandelt werden. Wenn sie ungefiltert nur herausgelassen werden, stiften sie emotionale Umweltverschmutzung. Für viele ist es offensichtlich leichter, ihre Emotionen im Internet hemmungslos nach außen zu bringen, ohne Verantwortung zu übernehmen. Aber wenn ich meine verdrängten Emotionen nach außen bringe, dann ist das ein Ablenken von mir selbst. Ich projiziere all das Verdrängte auf andere Menschen. Das bewahrt mich davor, mich selbst ehrlich anzuschauen und mich mit mir und meinen Schattenseiten auseinanderzusetzen. Da die Digitaltechnik so stark in unseren Alltag eingebaut ist, hat eine solche Verhaltensweise der Verdrängung große Wirkung. Es ist also umso wichtiger, dass wir uns der aufgezeigten Zusammenhänge und der gesellschaftlichen Reichweite auch als Einzelne bewusst werden und verantwortlich mit unseren Emotionen umgehen.

Die gesellschaftliche Polarisierung zeigt, dass wir verlernt haben, aufeinander zu hören. Wir wollen nur unsere Position durchsetzen. Wir fühlen uns im Recht und weigern uns, zu hören, was die anderen wirklich denken und wollen. Auch das ist Ausdruck der Unfähigkeit, sich selbst infrage zu stellen. Weil man in sich verunsichert ist, stellt man sich nicht der eigenen Wahrheit, sondern verschanzt sich hinter absoluten Meinungen. Die vermitteln einem scheinbare Sicherheit. Aber es ist eine brüchige Sicherheit.

Wenn ich jemanden beschimpfe, fühle ich mich ihm überlegen. Aber das ist keine wirkliche Überlegenheit, sondern eher Ausdruck von Minderwertigkeitskomplexen. Wir Christen haben die Aufgabe, in der Gesellschaft eine versöhnende Sprache zu sprechen und keine spaltende. Und wir haben die Aufgabe, positive Emotionen in die Welt strömen zu lassen. Unsere spirituelle Herausforderung besteht darin, dass wir uns vom Geist Jesu durchdringen lassen und dann Gedanken des Friedens und der Versöhnung in die Welt bringen. Das gelingt uns aber nur, wenn wir alles, was in uns ist, Gott hinhalten und von Gottes Liebe durchdringen lassen. Das bewahrt uns davor, all das, was wir bei uns nicht wahrhaben wollen, auf andere zu projizieren und uns damit über sie zu stellen.

Durch die Möglichkeiten des Internets, an dem wir alle partizipieren, werden nicht nur Wissen und Reichtum und Macht in wenigen Händen angehäuft. Es wird auch kritisches Denken und das bewusste Ausüben von Freiheit eingeschränkt. Was sind ethische Maßstäbe in dieser irreversiblen Situation?

Die Zeit der sozialen Einschränkung durch eine globale Pandemie hat gezeigt, dass das Internet durchaus wertvolle kreative Möglichkeiten auch für das menschliche Miteinander gebracht hat. Trotzdem gilt: Immer wenn neue technische Möglichkeiten auftauchen, ist es notwendig, diese Möglichkeiten nicht nur zu nutzen, sondern auch ethische Maßstäbe für die Nutzung zu entwickeln. Und es gilt, eine eigene Form der Askese zu entwickeln, also eine Lebensweise einzuüben, die zu einem nicht schädlichen Gebrauch führt. Heute haben das viele verstanden. Sie lassen sich nicht mehr vom Handy oder vom iPad tyrannisieren. Sie legen es bewusst zu bestimmten Zeiten weg. Sie wollen nicht ständig erreichbar sein. Die Zeiten, in denen wir ganz für uns sind, unerreichbar für andere, sind gleichsam ein Luxus, den wir uns leisten. Askese ist ja nicht in erster Linie Verzicht, sondern Training, Einübung in die innere Freiheit. Die Askese führt letztlich durch ein bewusstes Begrenzen und Verzichten zu einem höheren Genuss.

In einem solchen Training der Askese können wir dann das Maß entdecken, das uns guttut. Wir sollen die neuen Medien also nutzen. Aber es geht immer um das rechte Maß. Das wusste schon der hl. Benedikt, der die weise Mäßigung die Mutter aller Tugenden nennt. „Alles Übermaß ist von den Dämonen“, sagen die frühen Mönche. Das gilt auch für das Internet. Und je besser Menschen gebildet sind, desto weniger werden sie anfällig für die oft seichten Angebote des Internet. Wahre Bildung besteht darin, uns gute Bilder einzubilden, sagt schon Platon. Wer gute Bilder in sich hat, der lässt sich von der Bilderflut des Internet nicht so leicht verlocken. Und es braucht eine gute Erziehung, wie wir mit den neuen Medien bewusst und zu unserem Nutzen umgehen können, ohne uns davon beherrschen zu lassen.

Aufmerksamkeit ist in unserer Gesellschaft ein knappes Gut. In einer Welt der unzähligen Unterhaltungs- und Ablenkungsangebote ist immer weniger Platz für Fragen, die in die Tiefe menschlicher Existenz gehen. Wie kann die Aufmerksamkeit dafür wachsen, dass die christliche Botschaft Bedeutung für das eigene Leben hat?

Bei aller Oberflächlichkeit und allen Ablenkungsmöglichkeiten gibt es doch in den Menschen die Sehnsucht, sich mit den zentralen Fragen des Menschseins zu beschäftigen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was erwartet mich? Und viele suchen nach einem Sinn in unserem Leben. Die christliche Botschaft gibt den Menschen bei ihrer Sinnsuche Antworten, die ihnen weiterhelfen. Eine Erfahrungstatsache ist auch: Die Menschen werden konfrontiert mit den Erfahrungen von Angst, von Verlassenwerden, von Krankheit, von Depression, von Sterben und Tod. Es wäre die Aufgabe der Kirche, die christliche Botschaft so zu verkünden, dass die Menschen sie als Hilfe erfahren, mit diesen existenziellen Fragen des Lebens umzugehen und eine hilfreiche Antwort zu finden.

Natürlich ist es nicht leicht, in den heute oft marktschreierischen Angeboten einer Sinngebung die christliche Botschaft in einer bescheidenen, aber dennoch ansprechenden Weise zu verkünden. Doch die Menschen sind die vielen Enttäuschungen leid, die ihnen die oft plakativen Sinnangebote auf dem Esoterik- oder Psychomarkt bereitet haben. Sie suchen nach tragenden Antworten und nach Angeboten, die keine falschen Versprechungen machen.

Viele Menschen fühlen sich heute durch die Anforderungen in der Arbeit überfordert. Sie haben Angst, in ein Burn-out zu geraten. Da wäre die christliche Spiritualität ein guter Weg, mit den inneren Quellen in Berührung zu kommen. In uns ist die Quelle des Heiligen Geistes. Wenn wir aus dieser Quelle schöpfen, werden wir nicht so leicht erschöpft. Denn diese Quelle ist göttlich. Das ist auch eine Sehnsucht der Menschen, dass sie diese Quelle in sich entdecken. Wenn sie aus dieser Quelle leben, verliert das Leben seine Härte und bekommt den Geschmack der Leichtigkeit. Denn wir müssen nicht alles selbst schaffen, wir schöpfen aus einer unerschöpflichen Quelle in der Tiefe unserer Seele.

Materieller Wohlstand und Unterhaltungskonsum, wissenschaftliche Ausrichtung und technologischer Fortschritt dominieren die zeitgenössische Mentalität weithin. Ist die vielerorts feststellbare Gottesgleichgültigkeit, die sich damit verbindet, ein unabwendbares Schicksal?

Die Gottesgleichgültigkeit ist sicher in weiten Kreisen unserer Gesellschaft wahrnehmbar. Viele Menschen fragen gar nicht nach Gott. Sie sind genügend damit beschäftigt, ihr Leben irgendwie zu meistern. Gerade im Osten Deutschlands, sagt man, seien viele Menschen „religiös unmusikalisch“, sie würden Gott gar nicht vermissen. Doch ich bin überzeugt, dass in jedem Menschen die Sehnsucht ist nach mehr: letztlich die Sehnsucht nach Gott. Aber es kommt darauf an, wie wir von Gott sprechen. Wenn wir die Gottesgleichgültigkeit bedenken, dann erkennen wir, dass die Menschen mit einem bestimmten Bild von Gott nichts anfangen können. Der Gott, der oben im Himmel sitzt und unser Geschick kontrolliert, interessiert die Menschen nicht. Das ist für sie ein altes Märchen. Aber die Offenheit für irgendetwas Spirituelles ist doch da. Viele suchen in der Esoterik nach besonderen Wegen. Natürlich ist das auch nur eine bestimmte Gruppe. Eine andere Gruppe ist gleichgültig. Sie sind mit dem Konsum zufrieden und fragen nur danach, wo sie möglichst billig ihre Bedürfnisse erfüllen können.

Aber ich glaube daran, dass auch in diesen Menschen eine Sehnsucht nach mehr ist, die Sehnsucht nach dem Geheimnis, das uns übersteigt. Wenn es uns gelingt, diese Sehnsucht anzusprechen, dann wird die Gleichgültigkeit einer neuen Offenheit weichen. Es gibt eine Sehnsucht im Menschen, sich in den wichtigsten Fragen des Lebens nicht nur an andere Menschen wenden zu können, sondern an den Grund unseres Seins, an den Schöpfer, an den, der die Verantwortung trägt dafür, dass etwas ist und nicht nichts, dass wir sind und nicht nicht sind. Es gibt auch außerhalb der Kirche die Suche nach Sinn, es gibt Menschen, die hungern und dürsten nach etwas, was in der Konsumwelt nicht gestillt wird. Und es gibt eine Sehnsucht nach etwas, das uns Halt gibt, wenn aller äußere Halt wegfällt, das uns Sinn gibt mitten in einer Zeit der Sinnlosigkeit.

Daher ist die Gottesgleichgültigkeit für mich kein unabwendbares Schicksal. Ich glaube an die Sehnsucht nach Glauben in den Menschen. Und in der Sehnsucht nach Glauben ist schon Glauben. Da ist schon eine Ahnung von etwas, das uns trägt, das unserem Leben Sinn und dauerhaften Glanz verleiht.

WIE SOLL ICH HANDELN?WOFÜR BIN ICH VERANTWORTLICH?

Bin ich nicht einmal zuerst für mich verantwortlich, bevor ich für andere verantwortlich bin?

Die Philosophen verstehen unter Verantwortung die Zuständigkeit des Menschen für sein Tun und Lassen, für die Formung seiner eigenen Persönlichkeit und für die von ihm übernommenen Aufgaben in der Gesellschaft. Max Weber hat das Wort von der „Verantwortungsethik“ geprägt. Und der moderne Philosoph Hans Jonas hat seine praktische Philosophie für die moderne Gesellschaft programmatisch zusammengefasst in dem Buch „Das Prinzip Verantwortung“. Verantwortung ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Der Mensch ist für sich und für sein Leben verantwortlich, verantwortlich vor Gott – so sagen die Theologen, und verantwortlich vor sich selbst und vor den Menschen – so sagen die Philosophen. Die Bibel versteht den Menschen als einen, der auf den Ruf Gottes hin antwortet. Doch was heißt das konkret? Wie und wann muss ich Verantwortung übernehmen?

Zuerst muss ich natürlich Verantwortung für mein Leben übernehmen. Ich kenne viele Menschen, die ständig andere dafür verantwortlich machen, dass ihr Leben nicht gelingt: „Die Eltern, die Lehrer und Erzieher sind schuld, dass ich verletzt worden bin und daher mein Leben nicht bewältige.“ Das kann eine bequeme Strategie sein. Ich benutze meine Verletzungen als Vorwand, nicht selber leben zu müssen. Doch irgendwann muss ich in meinem Leben die Verantwortung für mich selbst übernehmen. Das ist meine Geschichte, das sind meine Stärken, das sind meine Schwächen, meine Verletzungen und meine Erfahrungen von Geborgenheit oder Verlassenheit. Verantwortung heißt: Ich nehme diese meine Geschichte an und gestalte sie. Ich bin verantwortlich dafür, was ich aus dem, was mir vor gegeben ist, mache.

Es gehört aber auch zu unserem Leben, dass wir für andere Verantwortung übernehmen. Wenn zwei Menschen heiraten, übernehmen sie füreinander Verantwortung. Und wenn sie Kinder bekommen, sind sie für sie verantwortlich. Jeder, der eine Firma leitet, trägt Verantwortung für seine Mitarbeiter. Aber nicht nur die Führungskraft, auch jeder Mitarbeiter übernimmt Verantwortung für das Gelingen des Ganzen. Und es gilt für alle Lebensbereiche: Ohne diese Bereitschaft, verantwortlich zu sein, gelingt das Leben nicht.

Pascal Bruckner, ein französischer Philosoph, hat in unserer Gesellschaft einen Mangel an Verantwortung erkannt. Seine Diagnose: Viele fühlen sich als alternde Riesenbabys, die immer nur Forderungen an die anderen haben, aber nicht bereit sind, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Sie erwarten etwas von andern, von der Gesellschaft, vom Staat, von der Kirche. Aber sie sind nicht bereit, etwas zu geben, sich selbst hinzugeben an eine Sache, für einen andern, für eine Gemeinschaft. Wer die Verantwortung für sein eigenes Leben verweigert, ist meistens auch nicht bereit, für andere Verantwortung zu übernehmen. Insofern hängt die Verantwortung für mich und für andere zusammen.

Ich lebe Rollen, Funktionen: Bin ich wirklich frei in dem, was ich tue – oder bin ich das Produkt meiner Erziehung, meiner Gene, meiner Umwelt?

Meine Aufgabe besteht nicht in einer großen Leistung, sondern zuerst einmal darin, dass ich mein einmaliges Leben lebe, das Gott mir zugedacht hat. Zu diesem Leben gehören auch meine Fähigkeiten. Daher ist es sinnvoll, zu schauen, wo ich meine Fähigkeiten gut einsetzen kann. Natürlich habe ich auch Rollen und Funktionen auszufüllen. Ich darf aber nicht nur in Rollen und Funktionen aufgehen, sonst lebe ich nicht, sondern werde gelebt. Ich kann aber meine Rolle zur Aufgabe wandeln, wenn ich mich selbst darin einbringe.

Natürlich ist mir vieles im Leben vorgegeben: meine Gene, meine Erziehung, meine Umwelt. Aber ich bin nicht einfach das Produkt der Vererbung, nicht nur das Ergebnis des Erziehungsstils meiner Eltern und auch nicht bloßes Resultat der so zialen Verhältnisse, in die ich hineingeboren wurde. Es ist meine Verantwortung, auf diese Bedingungen, auf diese „Mitgift“meines Lebens zu reagieren und aus dem, was mir vorgegeben ist, etwas zu gestalten. Allerdings darf ich nicht gegen mein Wesen arbeiten, sondern mit ihm. Ich muss also wahrnehmen, wie meine Erziehung mich geformt hat. Dann kann ich sehen, wie ich darauf reagiere. Ich kann mich dann darauf einstellen und sehen, wie ich mit meinen Verletzungen umgehen, ja sie vielleicht so formen kann, dass daraus Kraft erwächst. Ähnlich ist es mit dem sozialen Milieu, in dem ich mich bewege oder aus dem ich komme. Ich kann zusehen, dass ich meinen Platz auf der Welt und eine Aufgabe finde, die mir wirklich angemessen ist. Diese Aufgabe ist keineswegs immer vom Beruf abhängig. Unabhängig vom Beruf habe ich eine Aufgabe, diese Welt menschlicher zu gestalten, etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes in dieser Welt aufstrahlen zu lassen.

Ich erfahre immer wieder, dass ich schuldig werde gegenüber andern, dass ich hinter dem zurückbleibe, was ich eigentlich will.

Die Erfahrung der Schuld macht jeder Mensch. Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, alles richtig zu machen, machen wir Fehler. Auch wenn ich Verantwortung für mein Leben übernehme und meine Ideale verwirklichen möchte, erlebe ich, dass ich hinter diesem Idealbild zurückbleibe. Wir bleiben anderen immer etwas „schuldig“, auch wenn wir uns anstrengen, es ihnen recht zu machen. Ich kann daran verzweifeln. Oder aber ich kann mich so, wie ich bin, Gott hinhalten und erfahre dann, dass ich mit meinem Zurückbleiben von Gott angenommen bin. Diese Erfahrung befreit mich von den ständigen Selbstvorwürfen, dass ich alles verkehrt mache, dass ich schuldig sei, weil ich Fehler gemacht habe. Auch in unserem Miteinander verletzen wir andere. Wir werden ihnen nicht gerecht, weil wir zu sehr um uns kreisen und keinen Blick für sie und ihre Not haben. Ich kenne Menschen, die sich zum Beispiel ständig vorwerfen, dass sie ihre verstorbene Mutter verletzt haben, weil sie bei der Pflege zu aggressiv waren. Sie fühlen sich schuldig und können sich nicht verzeihen, dass sie ihr eigenes Ideal nicht erfüllt haben.

In solchen Situationen ist es wichtig, an die Vergebung Gottes zu glauben, um frei zu werden von den Selbstvorwürfen und von der Selbstzerfleischung durch Schuld gefühle. Die Erfahrung von Gottes Vergebung muss allerdings dann auch dazu führen, dass ich mir selbst vergebe. Sich selbst vergeben heißt zuerst, Abschied nehmen von dem hohen Idealbild, das ich mir von mir gemacht habe. Ich bin auch dieser Mensch, der schuldig geworden ist. Das zu akzeptieren verlangt die Haltung der Demut. Demut ist ja heute kein moderner Begriff. Demut – humilitas – meint eigentlich den Mut, hinabzusteigen vom Thron meiner Selbst gerechtigkeit und Mensch unter Menschen zu werden, mich in meiner Menschlichkeit, meiner Erdhaftigkeit an zunehmen. Humilitas kommt von humus, Erde. Wer demütig ist, steht mit beiden Füßen auf der Erde, hat Bodenkontakt und erhebt sich nicht über andere. Und der De mütige ist barmherzig mit andern Menschen. So kann gerade die Erfahrung der eigenen Schuldigkeit zu einem guten Umgang mit mir selbst und mit andern führen.

Es ist sinnvoll, dass wir unterscheiden zwischen Schuld und Schuldgefühlen. Viele haben Schuldgefühle, ohne dass sie wirkliche Schuld auf sich geladen haben. Sie reagieren mit Schuldgefühlen, wenn sie ihre eigenen Vorstellungen vom Leben nicht verwirklichen. Es ist wichtig, die Schuldgefüh - le anzuschauen und im Gespräch mit ihnen zu erkennen, wo meine inneren Maßstäbe übertrieben sind. Manchmal werde ich auch erkennen, dass die Schuldgefühle auf eine ganz anderswo liegende Schuld hinweisen, der ich mich aber lieber nicht stellen möchte.

Die Theologie unterscheidet auch zwischen Sünde und Schuld. Schuld ist Verweigerung des Lebens. Ich bleibe mir, dem Nächsten und Gott etwas schuldig. Unter Sünde verstehen wir in der Regel das Übertreten von Geboten. Doch dieses Verständnis ist allzu äußerlich. Das griechische Wort für Sünde (hamartia) meint ein Verfehlen des Lebens. In der Sünde verfehle ich mein wahres Wesen. Ich lebe an meiner Wahrheit vorbei. Das deutsche Wort „Sünde“ kommt von „sondern, absondern“. In der Sünde sondere ich mich vom Leben ab, schließe ich mich aus vom Strom des Lebens. Da kommt etwas in mir zum Stocken, weil ich mich von meinem eigenen Wesen entfremdet habe.

Auch der Begriff der Erbsünde ist für viele heute missverständlich. Doch Erbsünde beschreibt einfach die Tatsache, dass wir in eine Welt hinein geboren werden, die von der Sünde infiziert ist. In unserem Denken und Fühlen werden wir geprägt von unserer Umgebung. Und die ist keine heile Welt. Die Antwort der Theologie: Dort, wo Christus in uns ist, sind wir von der Erbsünde befreit. Und das heißt: Dort, wo er in uns wohnt, ist ein Kern, der lauter und rein ist, der von der Sünde nicht infiziert ist, der ursprünglich, unverfälscht und gut ist.

Gibt es ein eingeborenes Gewissen – oder ist es von den Eltern bzw. der Gesellschaft eingepflanzt?

Die Philosophen der griechischen und römischen Zeit waren überzeugt, dass es ein Gewissen gibt, das Gott dem Menschen eingestiftet hat. Für die Römer Cicero und Seneca ist das Gewissen die innere Instanz, die beurteilen kann, ob die Lebensführung mit dem eingepflanzten Gesetz der Natur übereinstimmt. Augustinus sieht es ähnlich. Für ihn ist das Gewissen das verborgene Innere der Person. Hier kommt die Person zu ihrem wahren Kern. Im Gewissen hat sie ein Gespür für das, was der Wille Gottes ist oder was das natürliche Gesetz der Natur ist, dem der Mensch entsprechen soll.

Natürlich wissen wir, dass unser Gewissen auch durch die Umwelt geprägt wird. Sigmund Freuds Begriff des Über-Ichs meint genau das: dass sich die gesellschaftlichen Normen und die Stimmen der Eltern im Menschen verinnerlicht haben. Diese Stimmen des Über-Ichs lassen sich tatsächlich nicht immer so leicht von der Stimme des Gewissens unterscheiden. Doch schon die frühen Mönche haben genaue Kriterien angegeben, um den Willen Gottes im Gewissen zu unterscheiden von den inneren und äußeren Verboten und Geboten der Eltern. Diese Mönchspsychologen wissen: Die Stimme Gottes unterscheidet sich von den Stimmen der Eltern durch die Wirkung auf die Psyche des Menschen. Die Stimme Gottes bewirkt immer Lebendigkeit, Frieden, Freiheit und Liebe. Die Stimmen der Eltern erzeugen in uns oft Enge und Angst, Überforderung und Härte. Sie sind oft Antreiber, die uns zu immer mehr Leistung und zu immer genauerem Befolgen von Geboten anpeitschen. Gott ist kein Antreiber, sondern ein Wecker des Lebens.

Es ist beständige Aufgabe, das Gewissen zu bilden. Dabei sollen wir uns mit den Normen auseinandersetzen, wie sie uns in der Natur vorgegeben sind und wie sie die Philosophie und Theologie uns vor Augen führen. Und wir sollen überlegen, wo unser Gewissen allzu sehr von der Umgebung beeinflusst ist, wo wir etwas nur tun, weil es alle tun. Das Gewissen ist die innerste Instanz des Menschen. Der Mensch soll immer nach seinem Gewissen handeln. Dabei weiß die christliche Tradition, dass wir uns im Gewissen auch irren können, weil wir von falschen Voraussetzungen ausgehen. Dort, wo unser Gewissen eine Norm für die konkrete Situation als nicht richtungsweisend erfährt, dürfen wir diese Norm auch überschreiten. Aber wir sollten verantwortungsvoll mit unserem Gewissen umgehen.

Die kirchliche Lehre betont immer, dass das Gewissen die oberste Norm sei. Allem Gehorsam gegenüber Autorität und von außen gesetzten Normen gehe diese Gewissensnorm voraus. Von dem englischen Kardinal John Henry Newman wird berichtet, dass er von Bischöfen eingeladen wurde, einen Toast auf den Papst und seine Autorität anzubringen. Er antwortete in typisch englisch vornehmer Weise, dass er das gewiss sehr gern tue. Aber bevor er auf den Papst trinke, wolle er erst auf das Gewissen anstoßen ... Das Gewissen stehe über allen äußeren Autoritäten und Normen.

Richtiges und falsches Handeln: Kann man das wirklich so klar unterscheiden?

Früher, so scheint es, hat man leichter zwischen richtig und falsch unterscheiden können. Heute wissen wir, dass es nicht immer so einfach ist. Denn unsere Motive sind oft vermischt. Und was für den einen gut ist, scheint für den andern falsch zu sein. Wir können die Wirkungen unseres Handelns nicht immer voraussehen. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut in seiner Auswirkung. Trotzdem gibt es Maßstäbe.