Anthropozän - Erle C. Ellis - E-Book

Anthropozän E-Book

Erle C. Ellis

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Beschreibung

Willkommen im Anthropozän In der Diskussion um die globalen Krisen ist ein Begriff allgegenwärtig: der des »Anthropozän«. Klimawandel, radioaktiver Fallout, Mikroplastik – die Liste menschlicher Eingriffe in das System Erde ist so lang, dass Wissenschaftler vorschlagen, ein ganzes Erdzeitalter nach uns zu benennen. Erle C. Ellis erläutert, was es mit dem Begriff auf sich hat, welche Umweltveränderungen maßgeblich sind und warum heftig um das Narrativ Anthropozän gestritten wird – eine gleichermaßen kompakte wie umfassende Einführung.

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Seitenzahl: 207

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Erle C. Ellis
ANTHROPOZÄN
Das Zeitalter des Menschen –eine Einführung
Aus dem Englischenvon Gabriele Gockel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Originalausgabe: »Anthropocene. A Very Short Introduction« was originally published in English in 2018. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. oekom verlag is solely responsible for this translation from the original work and Oxford University Press shall have no liability for any errors, omissions or inaccuracies or ambiguities in such translation or for any losses caused by reliance thereon.
Copyright der Originalausgabe: © Erle C. Ellis, 2018
© 2020 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Layout: Reihs Satzstudio, LohmarLektorat: Christoph Hirsch, oekom verlagKorrektorat: Maike Specht, BerlinCoverabbildung: © Liyao Xie, Getty ImagesCovergestaltung: Jorge Schmidt, München
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-660-3

Inhalt

Vorwort
1  Ursprünge
2  Das Erdsystem
3  Die geologische Zeitskala
4  Die Große Beschleunigung
5  Anthropos
6  Oikos
7  Politikos
8  Prometheus
Dank
Chronologie
Verzeichnis der Abbildungen
Verwendete Literatur
Weiterführende Literatur

Vorwort

Die Geschichte neu zu schreiben ist ein ehrgeiziges Vorhaben. Umso mehr, wenn es um den ganzen Planeten geht und ein völlig neuer Hauptdarsteller auftritt. Aber genau darum geht es in diesem Buch.
Die neu geschriebene Geschichte Ihres Planeten und Ihrer Rolle darin enthält ein zusätzliches Kapitel, ein Kapitel, in dem Sie eine führende Rolle spielen. Wir Menschen, der Anthropos, haben die Mechanismen der Erde so weitgehend verändert, dass Wissenschaftler inzwischen fordern, diese Tatsache mit der Einführung einer neuen geologischen Ära anzuerkennen: des Anthropozän. Das Ansinnen, eine Intervallzeit zu definieren, in der der Mensch zu einer »großen Naturkraft« geworden ist, hat in der gesamten Wissenschaftswelt und darüber hinaus großes Aufsehen erregt.
Was aus dem Anthropozän als Begriff und geologischem Zeitalter wird, ist unsicher. Die wissenschaftliche Debatte kreist immer noch um die verschiedenen Vorschläge, ein »Zeitalter der Menschen« zu definieren, wobei auch durchaus möglich ist, dass die Einführung eines Anthropozän gänzlich verworfen wird.
Als Arbeit in einem längeren Prozess kann ein Buch nicht das letzte Wort darüber sprechen, was das Anthropozän ist oder wird. Ich verfolge ein schlichteres Ziel und möchte meinen Lesern lediglich den Hintergrund liefern, um das Anthropozän als wissenschaftliche Hypothese zu verstehen, und erklären, warum diese Hypothese eine so weitreichende Wirkung entfaltet hat. Ich hoffe, dass Sie dabei im selben Maße angeregt werden wie ich, Dinge bewusster wahrzunehmen und aktiver für eine bessere Zukunft für das »Menschenzeitalter« einzutreten.
KAPITEL 1
Ursprünge
»Wir befinden uns im Anthropozän!«, rief der Nobelpreisträger und Meteorologe Paul Crutzen, dessen Forschungsschwerpunkt die Atmosphärenchemie war, bei einer Konferenz im Jahr 2000 frustriert aus. Warum bezeichneten seine Kollegen unsere Zeit immer noch als Holozän? Die Menschheit hatte seit dem Ende der letzten Eiszeit und dem Beginn des Holozäns die Erde doch so deutlich sichtbar umgestaltet. Von diesem Augenblick an gewann der Vorschlag, die gegenwärtige geologische Zwischenzeit nach uns, dem Anthropos, umzubenennen – und die Kritik daran –, enorm an Schwung, sowohl in akademischen Kreisen als auch außerhalb davon.
Warum erfuhr ein solch esoterischer geologischer Begriff so rasch allgemeine Aufmerksamkeit, wurde zum Zankapfel wissenschaftlicher Debatten und zugleich weltweit so populär? Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, den Blick jenseits der Wissenschaft auf die Ursprungsgeschichten zu richten, die von Beginn der Zeiten an in allen menschlichen Gesellschaften erzählt wurden.
Von prähistorischer Zeit bis heute wurde die Rolle des Menschen in der Natur – als Erhalter, Partner, Verwalter, Gärtner oder Zerstörer – immer wieder durch Narrative definiert, die sein Auftauchen auf der Erde erklärten. In den abrahamitischen Religionen wiesen die Ursprungsgeschichten dem Menschen einen privilegierten Platz in der Mitte der göttlichen Schöpfung zu. Kopernikus und Darwin schufen neue Narrative auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse; bei ihnen wurde der Mensch zu einem Tier unter anderen auf einem Planeten unter anderen, der um einen gewöhnlichen Stern unter anderen kreiste.
Das Anthropozän als neues Zeitalter verlangt eine noch umfassendere Veränderung unserer Perspektive. Da Geologen und andere über die verschiedenen Vorschläge streiten, das Anthropozän zu definieren, dürfte es nicht überraschen, dass sich auch uralte Auffassungen und zeitgenössische Debatten über die Rolle des Menschen in der Natur daruntermischen, ja sogar darüber, was es überhaupt bedeutet, Mensch zu sein.

Eine große Naturkraft

Crutzens Ausbruch wurzelte in seinen Erfahrungen bei der Erforschung menschengemachter Veränderungen in der Erdatmosphäre und ihrer tief greifenden weltweiten Folgen: des Lochs in der schützenden Ozonschicht und des globalen Klimawandels. Zu hören, wie seine Kollegen über den gegenwärtigen Zustand der Erde sprachen, ohne diese enormen anthropogenen Eingriffe mit einzubeziehen, war für ihn unerträglich. Es war an der Zeit zu akzeptieren, dass mit dem relativ stabilen Zustand des Holozäns Schluss war.
Crutzen stand mit dieser Ansicht nicht alleine. Der Ökologe Eugene Stoermer hatte den Begriff »Anthropozän« seit den 1980er-Jahren bereits informell gegenüber Studenten und Kollegen verwendet. 2000 veröffentlichten die beiden eine kurze Meldung in einem wissenschaftlichen Mitteilungsblatt, in dem der Begriff erstmals formell und schwarz auf weiß genannt wurde – auch wenn Andy Revkin, Autor der New York Times, schon 1992 in seinem Buch über den Klimawandel vom »Anthrozän« gesprochen hatte. In jener ersten Meldung stellten Crutzen und Stoermer einen Zusammenhang zwischen dem Anthropozän und Kohlendioxidemissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger her, die mit Beginn der industriellen Revolution in zunehmendem Maße in die Atmosphäre gelangten. Damit knüpften sie an eine lange Reihe früherer Arbeiten an, in denen anthropogene Umweltveränderungen beschrieben worden waren. Mit Crutzens Vorschlag liefen diese vielen Fäden schließlich in der These zusammen, das Auftauchen des Menschen sei eine »große Naturkraft« in der dokumentierten Geschichte der Erde.

Eine neue Geschichtsschreibung

Inzwischen liegt eine überwältigende Zahl von Beweisen dafür vor, dass der Mensch die Erde in nie da gewesener Weise verändert hat: der globale Klimawandel, versauernde Meere, Veränderungen in den Kohlenstoff- und Stickstoff- sowie anderen Kreisläufen, die Zerstörung von Wäldern und anderen natürlichen Habitaten zugunsten von Farmen und Städten, eine weitverbreitete Luftverschmutzung, radioaktiver Fallout, die Ansammlung von Plastik, veränderte Flussläufe, ein massives Artensterben, der Transport und die Einführung von Arten in fremde Länder. Dies sind nur einige der vielen verschiedenen globalen Umweltveränderungen, die der Mensch verursacht hat und die höchstwahrscheinlich bleibende Spuren im Gestein hinterlassen werden: die Grundlage für die Markierung neuer Intervalle in der geologischen Zeit.
Bei einer derart überwältigenden Beweislage scheint der Vorschlag, das Anthropozän als ein neues Intervall geologischer Zeit, als anthropozäne Epoche, anzuerkennen, außer Frage zu stehen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Begriff »Anthropozän« ist selbst unter Erdwissenschaftlern nach wie vor höchst umstritten. Es kommt zu einem hitzigen Streit darüber, ob es genügend wissenschaftliche Belege gebe, eine solch vergleichsweise kurze und junge Epoche zu definieren, während andere darüber streiten, wie es zeitlich zu verorten ist oder wie man es am besten nachweisen kann. Vorschläge, wann das Anthropozän beginnt, reichen von der erstmaligen Beherrschung des Feuers über das Aufkommen der Landwirtschaft vor über 10.000 Jahren bis hin zum Jahr des höchsten atomaren Fallouts 1964. Unterstützt werden diese Hypothesen etwa von Gasblasen in Eiskernen und der weitverbreiteten Ablagerung von Ruß und Radionukliden sowie Pollen von domestiziertem Mais in Sedimentkernen auf der ganzen Welt. Und damit habe ich die vielen Auseinandersetzungen, die durch die Anthropozän-Hypothese ausgelöst wurden, nur oberflächlich gestreift.
Der Vorschlag, unsere Epoche als »das Zeitalter des Menschen« zu bezeichnen, ist jenseits der Erdwissenschaften womöglich noch durchschlagender und führt zu intensiven Debatten, anhaltenden Diskussionen und transformativen neuen Forschungsvorhaben in einem breiten Spektrum von Disziplinen, von der Philosophie und Archäologie über die Anthropologie, Geographie, Geschichte, die Ingenieurs- und Umweltwissenschaften, die Gestaltungslehre, die Rechtswissenschaft, die Künste bis hin zur Politikwissenschaft. Die Anthropozän-Debatte ist sogar in die Medien und den gesamten öffentlichen Bereich übergeschwappt, sei es in der Klatschpresse oder in der Unterhaltungsmusik. Bedeutet das Zeitalter des Menschen das Ende der Natur? Wer ist für das Anthropozän verantwortlich? Der Homo sapiens? Die ersten Bauern? Reiche Konsumenten des Industriezeitalters? Und ist das Anthropozän notwendigerweise eine Katastrophe – eine Umweltkatastrophe, das Ende der Menschheit –, oder könnte es ein gutes Anthropozän geben, in dem Mensch und Natur gemeinsam in die Tiefe der Zukunft hineinwachsen?
Die vielen hitzigen Debatten um das Anthropozän machen deutlich, dass weitaus mehr auf dem Spiel steht als nur die Einführung eines neuen geologischen Intervalls. Die Bedeutung des Anthropozän liegt in seiner Funktion als einer Art neuen Brille, durch die uralte Narrative und philosophische Fragen gesehen werden, sodass sie umgeschrieben werden müssen. Es ist sowohl ein neues Narrativ über das Verhältnis von Mensch und Natur als auch ein kühnes neues Wissenschaftsparadigma – eine »Zweite Kopernikanische Revolution« –, das möglicherweise unsere Auffassung vom Menschsein verändert.

Ursprungsgeschichten

Menschliche Gesellschaften haben stets ihre Ursprünge, ihre Beziehungen zur Welt und zu ihren vielen Akteuren – von Tieren und Pflanzen bis hin zu eher mystischen Wesen und Kräften – mithilfe von Narrativen zu erklären versucht. Für die alten Griechen tauchte die Erde in Gestalt der Göttin Gaia aus der Leere auf und gebar alles Leben und die Vorfahren ihrer vielen Götter und Göttinnen von Athene bis Zeus. Die sterblichen Vorfahren der Griechen betreten erst die Bühne, nachdem mehrere frühere Menschengeschlechter geschaffen, von den Göttern als mangelhaft betrachtet und vernichtet worden sind. Nach einer anderen Ursprungsgeschichte erschafft Prometheus Menschen aus Lehm und ermöglicht ihnen eine Weiterentwicklung, indem er ihnen das von den Göttern gestohlene Feuer schenkt. Die Botschaft ist klar. Die Erde erschafft und ernährt als Gaia die gesamte Natur, zu der auch die stets miteinander ringenden Kräfte der Götter gehören. Menschen besetzen nur einen Nebenschauplatz in der Mythologie des alten Griechenland, glücklich, überhaupt zu existieren, und nur dank Prometheus’ Geschenk in der Lage zu leben. Wie wir noch sehen werden, spielen Gaia und Prometheus eine Schlüsselrolle in den Ursprungsgeschichten des Anthropozän.
In der ersten Erzählung der jüdischen Genesis erschafft ein einziger allmächtiger Gott den Kosmos, die Erde und die Menschen in einer systematischen Reihenfolge. In der zweiten wird zuerst der Mann erschaffen, dann die Natur – der Garten Eden – und danach die Frau. Ihr Leben ist sorg- und mühelos, bis sie durch den »Baum der Erkenntnis« verführt werden. Ein zorniger Gott vertreibt sie daraufhin aus dem Paradies und zwingt sie und ihre Nachkommen somit, bis in alle Ewigkeit die Erde zu bestellen, damit sie überleben können. Mit diesem Narrativ erfahren wir, warum sich die Menschen trotz ihrer privilegierten, zentralen Rolle in Gottes Schöpfung mit der Kultivierung der Erde abplagen müssen.
Durch die Handlungslinien, die Kosmos, Erde und Menschen mit allen anderen Akteuren und Kräften, mit denen sie interagieren müssen, verbinden, erzählen uns Ursprungsgeschichten, wer wir sind, woher wir kommen, welche Rolle wir auf der Erde spielen und in welcher Beziehung wir zur übrigen Natur stehen. Ähnlich stellt auch das Anthropozän eine Erzählung über einen Planeten dar, der von Menschen umgestaltet wurde. Doch wie und warum wurden die Menschen zu Gestaltern des Planeten? Das Anthropozän verlangt nach einer Erklärung.

23. Oktober 4004 v. Chr.

Am 23. Oktober 2004 um 18 Uhr stießen Wissenschaftler in der Geological Society of London auf Erzbischof James Ussher von Armagh an. Dem Geistlichen zufolge war der 23. Oktober des Jahres 4004 v. Chr. das exakte Datum der Erschaffung der Welt. Man schrieb das Jahr 1650, als er dieses Datum festlegte, das Universum war also zu diesem Zeitpunkt genau 6.008 Jahre alt. Obwohl die Kenner geologischer Zeiten zweifellos nur juxten, ist es doch vielsagend, dass sie eine derart offensichtlich obsolete Chronologie des Universums feierten. Usshers präzise Angabe wird heute vielleicht belächelt, aber die Absicht ist klar: Er wollte seiner Ursprungsgeschichte mehr Glaubwürdigkeit verleihen.
Schon vor dem Aufkommen der westlichen wissenschaftlichen Methoden wurden genaue Daten wichtiger Ereignisse in der Erd- und Menschheitsgeschichte durch sorgfältige, mit tragfähigen Beweisen unterlegte Analysen ermittelt. Bischof Ussher bediente sich der Bibel für sein chronologisches Narrativ. Familiengeschichten (Jakob zeugte zum Beispiel Joseph) und mit Daten versehene Ereignisse (beispielsweise die Zerstörung des Tempels in Jerusalem) wurden aufwendig kompiliert und kreativ ausgestaltet, um eine genaue Chronologie zu erstellen, die Kosmos, Erde, menschliche Ursprünge und die Geschichte der westlichen Gesellschaft miteinander verwoben. Viele andere Gesellschaften wie die der Maya und der Hindu schufen ebenfalls detaillierte Chronologien, die die Entstehung des Kosmos mit der Menschheitsgeschichte verbanden und teilweise auf akribisch genauen astronomischen Beobachtungen beruhten. Dass so viel Spezialkenntnisse in die Aufstellung detaillierter Chronologien eingingen, bestätigt ihren gesellschaftlichen Nutzen lange vor dem Aufkommen der westlichen Wissenschaft als eine Möglichkeit, den Institutionen und Experten Autorität zu verleihen, die sie geschaffen und gepflegt hatten.
Die zeitgenössische Wissenschaft hat die detaillierteste, genaueste, systematischste und belegbarste Ursprungsgeschichte aller Zeiten hervorgebracht, die Kosmos, Erde, Leben und Menschheitsgeschichte zu einer einzigen, immer detaillierteren und sich ständig verbessernden Chronologie verbindet. Doch bis heute haben viele traditionelle, religiöse wie säkulare Gemeinschaften weiterhin eigene, konkurrierende Ursprungsgeschichten, die in krassem Widerspruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen und oft beträchtlichem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind. So gibt es beispielsweise auch solche, die an der Chronologie der »jungen Erde« von Bischof Ussher festhalten.
Der Hauptgrund für diese Haltung dürfte klar sein. Durch die Neudefinition der Rollen und Beziehungen zwischen Menschen, Erde und Kosmos stellt die Ursprungsgeschichte der zeitgenössischen Wissenschaft einige der stärksten traditionellen gesellschaftlichen Überzeugungen infrage. Es gibt keinen Platz für einen allmächtigen Gott oder eine andere mystische Kraft. Menschen spielen keine Rolle im Universum. Und das Anthropozän – als Erzählung – geht sogar noch weiter, indem es nicht nur gegen jene traditionellen Glaubensüberzeugungen antritt, sondern auch die klassische Ursprungsgeschichte der zeitgenössischen Wissenschaft revidiert. Im Anthropozän erhalten die Menschen wieder eine zentrale Rolle auf der Erde als Gestalter des Planeten.

Die erste kopernikanische Wende

Am 4. Juni 1539 diskutierte Martin Luther mit seinen Schülern über »einen gewissen neuen Astrologen, der beweisen wollte, dass sich die Erde bewegt und nicht der Himmel, die Sonne und der Mond«. Der Astrologe war Nikolaus Kopernikus, und seine heliozentrische Theorie sollte am Ende die Erde aus dem Zentrum des Universums verbannen.
Über Jahrtausende hinweg stand in der einzigen akzeptablen Ursprungsgeschichte der westlichen Welt die Erde im Mittelpunkt und begann mit der Erschaffung durch einen christlichen Gott. Die buchstäbliche Wahrheit der biblischen Schöpfungsgeschichte beruhte auf dieser geozentrischen Sicht. Da überrascht es nicht, dass Versuche, die Erde und die Menschheit aus dem Zentrum des Kosmos zu vertreiben, auf Widerstand stießen. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert und bedurfte der Arbeit von Tycho Brahe, Johannes Kepler, Galileo Galilei und schließlich Isaac Newton, bis die kopernikanische Wende ihren Sieg feiern konnte. Aber sie tat es. Ende des 17. Jahrhunderts war die Erde zumindest in der westlichen wissenschaftlichen Intelligenz nicht mehr das Zentrum des Universums, und es kristallisierte sich die Notwendigkeit einer neuen Ursprungsgeschichte für die Erde und den Kosmos heraus.

Zeitschichten

Ein ganzes Jahrhundert nachdem Ussher seine Chronologie veröffentlicht hatte, glaubten Wissenschaftler wie Isaac Newton immer noch, dass die Erde nicht mehr als 6.000 Jahre alt sei. Der Erste, der dies infrage stellte, war der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788), der Ende des 18. Jahrhunderts behauptete, die Erde sei 74.000 Jahre alt. Doch bald schon wurde seine Schätzung verspottet und unter Druck zurückgezogen. Tatsächlich glaubte er selbst, die Erde sei noch älter, möglicherweise sogar Millionen Jahre.
Die wissenschaftliche Grundlage für die Datierung von Intervallen geologischer Zeit entstand mit der Entdeckung, dass man unterschiedliche in Steinen gefundene Streifenmuster von Materialien und Fossilien in ein System horizontaler, aufeinanderliegender Schichten – »Strata« – bringen konnte. Anfang des 19. Jahrhunderts war die Wissenschaft der Stratigraphie etabliert. 1838 veröffentlichte Charles Lyell seine Elements of Geology (dt. Elemente der Geologie, 2011), in denen er die von anderen identifizierten großen stratigraphischen Schichten aufeinanderfolgenden Zeitintervallen zuordnete; zudem verknüpfte er sie mit Prinzipien ständiger allmählicher Veränderungen, aufgrund derer man die Dauer dieser Intervalle schätzen konnte. So machte er 1867 eine der ersten wissenschaftsbasierten Schätzungen des Erdalters – sie belief sich auf 240 Millionen Jahre. Seine Zeitgenossen wie Lord Kelvin kamen zu ähnlichen Ergebnissen, welche die Vorstellung einer viel jüngeren Erde beendeten und den Weg für eine völlig neue Ursprungsgeschichte für Kosmos, Erde und Menschheit bereiteten.

Der nackte Affe

So wie Geologen die Position der Erde in der kosmischen Ordnung der Zeit einer Revision unterzogen, so überdachten auch Biologen den Ursprung des Lebens und der Menschheit. Ihr zentrales Problem dabei war Zeit – sie benötigten einfach eine Menge davon.
Charles Darwin verfolgte die Entwicklungen in der Geologie genau, vor allem die Arbeit von Lyell, und Lyell betreute Darwin nach dessen Reise auf der Beagle. Darwin wurde eingeladen, seine Arbeit der Geological Society of London vorzustellen, und bald in den Vorstand gewählt. Doch sein Interesse bestand vor allem darin zu verstehen, warum »eine Spezies in eine andere übergeht«. 1837 skizzierte er diesen Prozess in Gestalt eines Familienbaums mit Verästelungen. Doch erst 1859 – 20 Jahre später also, die er in der Angst lebte, Alfred Russel Wallace könne ihm zuvorkommen – veröffentlichte er seine Theorie der Evolution durch natürliche Auswahl.
Es mag merkwürdig erscheinen, so lange mit der Veröffentlichung einer der wichtigsten Entdeckungen aller Zeiten zu warten. Aber Darwin hatte gute Gründe dafür. Als religiöser Mensch war er sich durchaus bewusst, dass seine Theorie eine Kontroverse auslösen würde. Die Behauptung, der Ursprung der Arten liege in der Evolution über die Zeit – sie habe also keinen göttlichen Akt verlangt –, ließ sich nicht ohne Weiteres mit der Ursprungsgeschichte der Genesis vereinbaren. Deshalb arbeitete er jahrelang daran, sie zu festigen.
Um seine Evolutionstheorie zu bestätigen, benötigte Darwin drei Dinge: den Beweis, dass Spezies nichts Ewiges waren, sondern immer neue entstanden, was durch die Fossilüberlieferung bestätigt wurde. Dazu bedurfte es eines Anpassungsdrucks und anderer Prozesse, welche den Spezies neue Form gaben. Den geforderten Druck lieferte Malthus’ Theorie der begrenzten Ressourcen für das Bevölkerungswachstum – nicht alle Individuen können die Konkurrenz um die begrenzten Mittel überleben. Darwins Studien zur Vermehrung von Tieren und Pflanzen – durch künstliche Selektion – zeigten, dass sich durch selektiven Druck aus Populationen einer einzigen Art verschiedene Rassen, Unterarten und Varietäten herausbilden konnten. Was Darwin aber vor allem brauchte, war Zeit.
Ohne riesige geologische Zeitspannen von Hunderten Millionen Jahren gab es keine Möglichkeit zu erklären, wie sich die unzähligen Spezies der Erde allein durch Selektion entwickelt haben könnten. Glücklicherweise schätzten Geologen bald das Erdalter auf Hunderte Millionen und schließlich einige Milliarden Jahre. Mit der Zeit wurde Darwins Theorie indes immer stärker rezipiert. 1871 ging er noch einen Schritt weiter und konzentrierte sich darauf, die Evolutionstheorie auf die Geschichte vom Ursprung des Menschen anzuwenden. Es erschien sein Buch Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Die menschlichen Ursprünge unterschieden sich in keiner Weise von denen der Tiere. Unsere Geschichte war die eines »Nackten Affen«, der über eine sehr lange Zeitspanne hinweg aus anderen Affen hervorgegangen war. Mit Darwins Evolutionstheorie durch natürliche Zuchtwahl war eine neue Ursprungsgeschichte geboren, die alles Leben, auch das der Menschen, durch die Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren in einem universellen »Lebensbaum« verband.
In Wissenschaftskreisen trat die geologische Zeit bald an die Stelle der biblischen Zeit, und die Evolution durch natürliche Selektion stürzte die Ursprungsgeschichte der Genesis vom Thron. Eine neue säkulare Geschichte verband nun Erde, Leben und Menschen. So bemerkte Thomas H. Huxley, Präsident der Geological Society of London, 1869: »Die Biologie holt sich ihre Zeit von der Geologie.« Und im Gegensatz zur Genesis-Geschichte spielten die Menschen jetzt keine Sonderrolle mehr – sie waren einfach nur eine Spezies unter vielen, die sich ohne bestimmte Richtung auf einem sich wandelnden Planeten entwickelten.

Eine geringe Rolle

Nach Darwin und infolge rascher Entwicklungen in der Astronomie wurde die Position des Menschen in der Geschichte des Universums umgeschrieben. Der Kosmos entstand vor 13,8 Milliarden Jahren in einer riesigen Explosion – dem »Big Bang«. Die Erde bildete sich Milliarden Jahre später aus Staub und Gas und verfestigte sich vor 4,5 Milliarden Jahren zu einem Planeten. Die Erde, einer von acht Planeten, die in einer unregelmäßigen Umlaufbahn um einen typischen gelben Zwergstern kreisen, wurde im Spiralarm einer Galaxie aus über 100 Milliarden Sternen in einer von über 100 Milliarden Galaxien mit insgesamt etwa 10 Trilliarden Sternen in einem sich ständig ausdehnenden Universum lokalisiert.
Zeit im Jahr
ka
Ereignis
1. Januar
13.800.000
Urknall
2. Mai
8.500.000
Milchstraße
2. September
4.600.000
Sonnensystem
6. September
4.400.000
Ältestes Gestein
21. September
3.800.000
Leben (Einzeller ohne Zellkern)
9. Oktober
3.400.000
Photosynthese (Cyanobakterien)
29. Oktober
2.400.000
Oxygenesierung der Atmosphäre
15. November
2.000.000
Eukaryoten (erste Zellen mit einem Kern)
5. Dezember
800.000
Erste mehrzellige Organismen
20. Dezember
450.000
Landpflanzen
23. Dezember
300.000
Reptilien
25. Dezember
230.000
Dinosaurier
26. Dezember
200.000
Säugetiere
27. Dezember
150.000
Vögel
28. Dezember
130.000
Blumen
30. Dezember
65.000
Kreide-Paläogen-Grenze, Aussterben nicht vogelartiger Dinosaurier, erste Primaten
31. Dezember
14:24
12.300
Hominiden
22:24
2.500
Genus Homo, Steinwerkzeuge
23:44
400
Beherrschung des Feuers
23:48
300
Homo sapiens (anatomisch moderner Mensch)
23:55
100–60
»Modernes« menschliches Verhalten, etwa symbolische Zeichen, Fernhandel, komplexeres Werkzeug und Siedlungen
23:59:32
12
Landwirtschaft, Holozän
23:59:48
5
Bronze, Frühdynastische Periode Ägyptens
23:59:49
4,5
Alphabet, Rad
23:59:52
3
Eisen
23:59:53
2
Römisches Reich, christliche Geschichte, Erfindung der Null
23:59:59
0,5
Zusammenstoß zwischen Alter und Neuer Welt
Abbildung 1 | Der von Carl Sagan verbreitete kosmische Kalender zeigt die Geschichte des Kosmos, der Erde, des Lebens und der Menschen, projiziert auf ein einziges Jahr. Die Hominiden tauchen beispielsweise erst am letzten Tag des Jahres um 14:24 Uhr auf (ka = 1.000 Jahre).
Das erste Leben entstand vermutlich vor über 3,8 Milliarden Jahren in Gestalt von Bakterien, die sich vor etwa 2 Milliarden Jahren zu komplexeren einzelligen Organismen mit einem Zellkern, den Eukaryoten, entwickelten. Die ersten mehrzelligen Organismen tauchten vor über einer Milliarde Jahren auf und die ersten einfachen Tiere vor etwa 800 Millionen Jahren. Das Leben besiedelte vor ungefähr 480 Millionen Jahren das Festland und entwickelte sich dort zu unzähligen Formen – von denen die meisten wie die nicht vogelartigen Dinosaurier in einer von fünf Massenauslöschungen vor Zigmillionen Jahren für immer verschwanden. Die ersten Säugetiere entwickelten sich vor 200 Millionen Jahren, danach (vor 65 Millionen Jahren) die ersten Primaten und vor etwa 2,8 Millionen Jahren die erste Spezies unserer direkten Abstammungslinie, die Gattung Homo. Diese frühen menschlichen Spezies, die Hominini, waren die Ersten, die Steinwerkzeuge herstellten, Macht über Feuer hatten und von Afrika aus durch Eurasien wanderten. Das waren aber nicht wir.
Homo sapiens tauchte erst vor etwa 300.000 Jahren unter anderen homininen Spezies auf, die ebenfalls Werkzeuge fertigen und das Feuer kontrollieren konnten. Von da an wiesen die Menschen, abgesehen von einer weniger robusten Anatomie und einem etwas kleineren und anders geformten Kopf, stets dieselben Merkmale auf. Es sollte aber eine Zeit kommen, in der Homo sapiens eine andere Lebensweise ausbildete, sich über den ganzen Planeten verbreitete – und ihn sogar verlassen konnte. Dies geschah jedoch erst in den letzten Sekunden des kosmischen Kalenders (Abbildung 1). Für den Großteil der menschlichen Zeit auf der Erde war unsere Spezies eine von mehreren Homo-Gattungen unter Millionen weiteren Arten auf einem normalen Planeten, der einen typischen Stern in einer typischen Galaxie in einem weiten Universum umkreiste.

Die Veränderung der Erde

Für die meisten Naturwissenschaftler waren Menschen lange Zeit nur eine Nebensache auf einem Nebenschauplatz; die Hauptbühne war besetzt von der Natur und ihren physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen. Verglichen mit diesen »großen Kräften der Natur« und ihren Milliarden Jahren ungebrochener Geschichte, sind wir Menschen nur ein weiteres Tier – und noch dazu ein Nachzügler. Doch schon bei den Wissenschaftlern in der Zeit Darwins änderte sich diese Sicht. Menschen galten nicht mehr nur als weitere Primaten, sondern als eine zutiefst disruptive Kraft wie keine andere auf der Erde.
Zu den prominentesten Vertretern dieser Sichtweise gehörte George Perkins Marsh, dessen Buch Man and Nature (1864; 1874 neu bearbeitete Fassung unter dem Titel The Earth as Modified by Human Action) eine andere Geschichte über die Beziehung zwischen Mensch und Natur erzählte. Frühere menschliche Gesellschaften im Mittelmeerraum rodeten Wälder und bestellten Land für die Bewirtschaftung, womit die Vegetation, die Böden und sogar das Klima weiträumig verändert wurden. Damit brachten sie »das Antlitz der Erde in eine beinahe so vollständige Verwüstung wie das des Mondes«. Die Menschen waren eine zerstörerische Kraft, in der Lage, die Erde auf Dauer zum Schlechteren zu verändern. 1873 ging der wenig bekannte Geologe Antonio Stoppani noch weiter, indem er aufgrund dieser Veränderung ein neues Zeitintervall definierte: die »anthropozoische Ära«.
Als sich das industrielle Zeitalter entfaltete, stieg der Bedarf an Ressourcen der Erde noch weiter. Angetrieben von der Verbrennung fossiler Energieträger und verbunden durch weltweite Handelsnetze, nahmen Maßstab, Intensität und Ausmaß der menschlichen Aktivitäten drastisch zu. Waldrodungen, die Bearbeitung des Bodens, Bergbau, Städtebau und industrielle Produktion führten zunehmend zur Verschmutzung von Wasser, Luft und Land, und die Ausdehnung betriebsamer von Menschen bewohnter Landschaften ließen den nicht menschlichen Bewohnern des Landes immer weniger Raum. Der schlagendste Beweis dafür, dass der Mensch zu einer Kraft geworden war, der die Fähigkeit besaß, die Erde zu verändern, kam aus der Luft.

Das Ende der Natur

Im Jahr 1895 demonstrierte Svante Arrhenius, aufbauend auf dem Werk von John Tyndall, dass Kohlendioxid und Wasserdampf in der Erdatmosphäre Wärmeenergie speicherten. Dieser Treibhauseffekt erwärmte die Erdoberfläche so weit, dass die Existenz von flüssigem Wasser möglich wurde – eine Voraussetzung für Leben, wie wir es kennen. Darüber hinaus vertrat Arrhenius die These, dass Veränderungen im Gehalt an Kohlendioxid und anderer Treibhausgase in der Atmosphäre Eiszeiten und andere langfristige Veränderungen der Erdtemperatur erklären könnten. Die Verbrennung von Kohle würde diese »Treibhauserwärmung« des Planeten noch weiter forcieren – was er positiv einstufte, zumindest für kalte Regionen wie sein Geburtsland Schweden.