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Der erste Fall für Kriminalkommissarin Lind: Der geniale Platz-1-Bestseller aus Schweden!
Ein unglaubliches Verbrechen erschüttert die nordschwedische Stadt Boden: Eine Lehrerin, die keine Feinde zu haben scheint, wird ermordet aufgefunden. Noch dazu hat der Täter ihren Leichnam brutal inszeniert: Zwei dicke Nägel wurden durch die Hände der Toten getrieben; sie selbst hängt an einem Deckenhaken, als ihr Ehemann sie entdeckt. Kriminalkommissarin Idun Lind muss herausfinden, warum es zu der schrecklichen Tat kam. Zusammen mit ihrem eigenbrötlerischem Partner Calle Brandt taucht Idun tief in eine schockierende Familiengeschichte ein – und bringt sich damit selbst in höchste Lebensgefahr ...
»Wahnsinnig gut!«
Go'kväll SVT
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Alle Fälle von Kriminalkommissarin Idun Lind:
Apfelmädchen
Gewittermann
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Seitenzahl: 530
Ein unglaubliches Verbrechen erschüttert die nordschwedische Stadt Boden: Eine Lehrerin, die keine Feinde zu haben scheint, wird ermordet aufgefunden. Noch dazu hat der Täter ihren Leichnam brutal inszeniert: Zwei dicke Nägel wurden durch die Hände der Toten getrieben; sie selbst hängt an einem Deckenhaken, als ihr Ehemann sie entdeckt. Kriminalkommissarin Idun Lind muss herausfinden, warum es zu der schrecklichen Tat kam. Zusammen mit ihrem eigenbrötlerischem Partner Calle Brandt taucht Idun tief in eine schockierende Familiengeschichte ein – und bringt sich damit selbst in höchste Lebensgefahr …
Tina N. Martin wurde 1980 geboren und lebt in der Stadt Boden an der schwedischen Grenze zu Finnland. Dort spielt auch ihre Thrillerreihe über die Kriminalkommissarin Idun Lind, die in »Apfelmädchen« erstmals ermittelt. Tina N. Martins Debütroman schlug in ihrem Heimatland ein wie eine Bombe: Leser*innen wie Kritiker*innen begeisterten sich so sehr für »Apfelmädchen«, dass der Thriller Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste erreichte. Wenn Tina N. Martin nicht schreibt, arbeitet die studierte Literaturwissenschaftlerin als Lehrerin an einer Schule in Boden.
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Tina N. Martin
THRILLER
Deutsch von Leena Flegler
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Befriaren« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.
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Copyright der Originalausgabe © 2021 by Tina N. Martin and Bokförlaget Polaris 2021 in agreement with Politiken Literary Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Ingola Lammers
Covermotiv: plainpicture/Dave Wall und DEEPOL by plainpicture/Peter Lyden.
Covergestaltung: buerosued.de
BL · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-29107-5V003
www.blanvalet.de
Die Dunkelheit, sie ist allumfassend. Hüllt sie wie Nebel ein und raubt ihr die Sicht.
Sie blinzelt, aber nichts tut sich. Dieser Raum ist nicht dafür vorgesehen, dass Licht hereinfällt.
Es riecht nach Sägespänen und frisch gehobeltem Holz. Ihr schwirrt der Kopf, aus Panik wird Hysterie, die beinahe erstickend ist. Sie hat solche Todesangst, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.
Sie kommt hier nie wieder weg. Niemand wird sie retten. Denn wer würde je daraufkommen, dass sie hier ist?
Es geht zu Ende mit ihr. Hier in diesem dunklen Raum stirbt sie. Hier, wo es so stark nach Holz riecht.
Allmächtiger.
Hilf mir.
Vidar Vendel ist siebenundfünfzig, Geschäftsführer eines Energieunternehmens und nicht erst seit gestern gut betucht. Außerdem ist er glücklich mit Eva verheiratet.
Mit dem Sakko seines hellgrauen Leinenanzugs in der Hand ist er an diesem ungewöhnlich heißen Augustabend auf dem Weg nach Hause. Als er in die Straße einbiegt, in der Eva und er wohnen, atmet er den lauen Duft welken Laubs ein. Ihr gelbes Einfamilienhaus steht in Sävast südöstlich von Boden und nur wenige Kilometer von der norrbottnischen Küste entfernt im Neubaugebiet. Die Nachbarn sind nett, die Häuser teuer, die Birken noch jung, der Rasen wird ordentlich gemäht.
Kurz bevor Vidar hoch zu ihrem Haus abbiegt, wirft er einen Blick über die Schulter. Ihre Zufahrt ist die längste in der ganzen Siedlung: pechschwarzer, blitzblanker Asphalt, flankiert von Pflastersteinen und niedrigen Büschen. Eva liebt ihren Buchs und schneidet ihn zu akkuraten kleinen Kugeln. Vidar hat den Reiz von zu unnatürlichen Formen gestutzten Gewächsen nie verstehen können. Die Buchskugeln sehen einfach nur albern aus, liegen wie Fußbälle in einer Reihe.
Er hat kaum den Schlüssel ins Schloss geschoben, als er feststellt, dass die Tür offen ist. Eva muss vor ihm nach Hause gekommen sein. Er ist überrascht und froh, in dieser Reihenfolge. Tags zuvor hieß es noch, sie müsse eventuell Überstunden machen. Anscheinend hat es sich doch anders ergeben.
Vergnügt betritt Vidar den Flur. Vom gleißenden Sonnenlicht tanzen jetzt Schatten durch sein Sichtfeld. Er versucht, sie wegzublinzeln, während er sein Sakko an den Garderobenhaken hängt. Als er sich ein wenig zu schnell die Schuhe von den Füßen tritt, stolpert er über einen Schuhlöffel, der auf dem Läufer liegt. Gerade noch rechtzeitig kann er sich am Türrahmen festhalten, sodass er nicht hinfällt, doch die ruckartige Bewegung fährt ihm in die Schulter, und er macht seinem Unmut und Schmerz lautstark Luft.
Er bleibt noch kurz im Flur stehen, massiert sich die schmerzende Schulter, drückt dann den Rücken durch und blinzelt erneut. Langsam verziehen sich die Flecken vor seinen Augen, und die Dunkelheit zerstreut sich. Vidar lässt den Blick durch den Flur schweifen und hat kaum festgestellt, dass er fast wieder normal sehen kann, als ihm etwas am Eingangsbereich komisch vorkommt. Knapp über Augenhöhe, direkt unter der Stelle, an der sonst die Flurlampe hängt, hängen stattdessen zwei Damenschuhe. Rote, teure Sandalen mit geflochtenen Riemchen über zwei zierlichen Fußrücken.
Erst begreift Vidar nicht, was er vor sich hat. Die Füße bewegen sich nicht. Mit angehaltenem Atem versucht er, was er sieht, zu verdauen. Sein Blick ist wie erstarrt, als hätten die Augen längst eingesehen, was das Gehirn noch nicht verarbeiten will.
Langsam sieht er nach oben. Sein Blick streift die roten Schuhe, die Knöchel, die dünnen Schienbeine und blassen Schenkel, dann denn Rocksaum. In seinem Ohr beginnt es zu schrillen. Der Pfeifton wird im selben Maß lauter, in dem Vidars Blick weiter emporwandert.
Auf dem blauen Stoff sind bräunliche Flecken. Wie wenn ein Auto durch eine Pfütze pflügt und Wasser aufspritzt. Zwischen dem Schmutzwasser entdeckt er zudem rote Flecken.
Die Hände sind über dem Unterbauch verschränkt. Wie zum Gebet gefaltet. Über dem Rock folgt eine dünne weiße Bluse. Um den Hals liegt ein lose geknotetes blaues Tuch – und darüber befindet sich ein lebloses Gesicht. Eine dunkle Strähne hat sich aus dem Zopf im Nacken gelöst und fällt über die bleiche Wange, die am Morgen noch herrlich sommergebräunt war.
Dieses Gefühl wird ihm bleiben.
Diese Verblüffung – wie schnell eine sonnengeküsste Wange bleich werden kann.
Die Frau, die dort von der Decke hängt, ist tot. Auf dem Flur ist es mucksmäuschenstill, doch in seinem Ohr schrillt es weiter. Ein ums andere Mal klappt Vidar verstört den Mund auf und wieder zu, und er muss sich am Türrahmen festhalten, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Er weiß nicht, ob er noch atmet, glaubt es aber nicht. Er weiß nur noch, dass die Frau an der Decke nie mehr zurückkommt.
Dann überrollt ihn die Panik wie eine Flutwelle. Es rauscht in seinem Kopf vor wortlosen Gedanken, er kann nichts mehr sortieren, und die Zeit rast und steht zugleich still. Er hebt die Hand, die unkontrolliert zittert, als er ihre Finger berührt und die Kälte der bleichen Haut spürt. Entsetzt zieht er die Hand zurück. Er hyperventiliert. Kurz darauf fangen seine Lippen und Finger an zu kribbeln.
Ungebremst fällt Vidar zu Boden. Es tut nicht mal weh, als er mit dem Kopf gegen den Türrahmen schlägt, im Großen und Ganzen spürt er gar nichts mehr.
Über ihm hängt seine geliebte Eva.
Es ist kurz nach Mitternacht, als Kommissarin Idun Lind den Kopf leicht seitlich neigt und die Tote unter der Decke betrachtet.
Es ist ein befremdlicher Anblick.
Die Frau ist apart in Rock und Bluse gekleidet. Das Tuch, das lose um ihren Hals geknotet ist, sieht teuer aus. Dieser Mode hat Idun nie etwas abgewinnen können. Diese Seidendinger am Hals jucken doch dermaßen.
Oberhalb des Tuchs setzt die Schlinge an, ein grobes Seil, das der Frau verheerend eng um den Hals liegt. Obwohl sie zierlich ist, schneidet das Seil so tief in die Haut, dass sich darüber eine Hautwulst gebildet hat. Die Haut selbst ist lilafleckig mit schwarzblauen Stellen. Es sieht wahnsinnig schmerzhaft aus.
Die Bluse ist bis auf einen Blutspritzer auf der rechten Schulter makellos weiß. Die Frau hat kleine Brüste, Idun kann durch den Blusenstoff einen Spitzen-BH erahnen. Über dem Unterbauch sind die Hände gefaltet.
Idun beugt sich vor und kneift die Augen zusammen. Auf dem Handrücken befinden sich zwei schwarze Stellen. Sie sehen metallisch aus, sind aber unter dem verschmierten Blut nicht gut zu erkennen. Auch auf dem knielangen Rock der Frau ist Blut. Es ist inzwischen annähernd schwarz und sieht aus, als wäre es unerwartet stark von den Händen hinabgelaufen.
Im Flur sind lichtstarke Strahler aufgestellt worden. Die Kollegen aus der Spurentechnik arbeiten konzentriert. In ihren weißen Overalls aus papierähnlichem Material suchen sie nach Fuß- und Fingerabdrücken und DNA-Spuren: nach Blutspritzern, Hautschüppchen, einzelnen Haaren. In sämtlichen Zimmern wird ausgiebig fotografiert. Die Blitze werfen lange Schatten auf die Wände.
Der Leiter der forensischen Abteilung, Mikael Malm, genannt Malmen, sieht Idun zu und rührt sich zunächst nicht. Er weiß, dass sie bei der ersten Inaugenscheinnahme nicht gestört werden will, dass sie in diesen ersten Minuten einer neuen Ermittlung lieber erst eigene Eindrücke sammelt.
Es vergeht einige Zeit, bis sie das Wort ergreift.
»Eva Vendel, oder?«
Malmen antwortet, auch wenn er weiß, dass sie die Antwort schon kennt.
»Das ist korrekt.«
»Sind die Kollegen mit dem Boden fertig? Darf ich näher rangehen?«
»Bitte. Sämtliche potenziellen Spuren unter ihr sind gesichert. Aber wenn ich ehrlich sein soll, gehe ich davon aus, dass der Boden nichts hergibt.«
»Und warum nicht?«
»Geh näher heran, dann siehst du es.«
Malmen nickt auf eine Stelle am Boden hinab. Idun geht davor in die Hocke und sucht den Bereich unterhalb von Eva Vendel systematisch ab. Geseifte breite Holzdielen. Nirgends auch nur ein Fleck.
»Das Blut«, sagt sie, bleibt aber weiter in der Hocke. »Das Blut ist bis auf den Rock gelaufen, aber nicht bis hier runter.«
Sie streicht mit den Fingerspitzen über den Boden, beäugt dann den Latexhandschuh, aber der ist blitzsauber.
»Unwahrscheinlich, dass sie hier ermordet wurde. Die Tat selbst ist anderswo verübt worden, und anschließend wurde die Leiche hierher verbracht.«
Malmen zögert seine Antwort ein bisschen hinaus.
»Könnte so gewesen sein …«
Man kann ihm anhören, dass er bereits über weitere Informationen verfügt.
»Oder …«, murmelt Idun, »… oder aber sie ist hier ermordet worden, und der Täter hat ordentlich sauber gemacht?«
Sie formuliert es wie eine Frage.
»Das wäre derzeit auch meine Vermutung.«
Malmen geht ein Stück auf Idun zu. Sie richtet sich auf, und kurz stehen sie Schulter an Schulter nebeneinander.
»Führ das mal aus.«
Endlich die Aufforderung zum freieren Austausch.
»Es gibt keinerlei Hinweise auf einen Kampf, aber auch keine, die darauf hindeuten würden, dass Eva Vendel ins Haus gebracht worden wäre. Das Haus hat nämlich keinen Nebeneingang, sofern sie also nicht durch ein Fenster hier reingebracht wurde, muss der Täter die Eingangstür benutzt haben. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann glaube ich, dass das an einem Freitagnachmittag im August bei diesem Wetter eher schwierig gewesen wäre. Die klassischen Werksferien sind zwar vorbei, aber viele haben immer noch Urlaub. In so einer Gegend wie hier wohnen außerdem Leute, die eher zu Hause arbeiten oder überhaupt nicht mehr arbeiten müssen – und selbst wenn, dann ganz sicher nicht in der Produktion.«
Eine gewisse Verachtung für die Oberschicht ist nicht zu überhören.
»Das Risiko, entdeckt zu werden, während man eine Leiche durch die Vordertür nach drinnen schafft, wäre insofern relativ hoch.«
Idun hört ihm aufmerksam zu. Sie wartet nur darauf, dass sich in den Ausführungen des Kollegen eine Schwachstelle auftut, um seine Hypothesen zum Tathergang ins Wanken zu bringen. Doch bislang gibt es keine Schwachstelle. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter die blutende Eva Vendel am helllichten Tag hierhergeschleppt hat, ist wirklich äußerst gering. Vermutlich hat er sie vor Ort, in ihren eigenen vier Wänden, umgebracht.
Idun sieht zu der Leiche empor.
»Was sind das für schwarze Stellen da auf dem Handrücken? Die sehen aus wie Metall.«
Malmen lächelt verhalten. Idun ahnt, dass er nur auf die Frage gewartet hat.
»Das sind Nägel. Ziemlich dicke Nägel, zwei Stück, und sie sitzen bombenfest.«
Idun blinzelt.
»Nägel? Sind die der Grund für die starke Blutung?«
»Ich gehe davon aus. Aber das soll die Moritz für uns abklären.«
Idun sieht sich eine Zeit lang die blutigen Hände an. Sie weiß, dass das Blut eines Menschen nach Eintritt des Todes noch eine Weile weiterfließen kann, aber normalerweise gerinnt es in kleineren Wunden recht schnell. Sie beugt sich abermals vor, sodass ihr Gesicht nur Zentimeter von den Händen der Toten entfernt ist. Es riecht süßlich nach Eisen.
»Das heißt ja wohl, dass die Hände zusammengenagelt wurden, als sie noch am Leben war. Nur so kann noch relativ lange Blut geflossen sein.«
Idun hat es als Frage gemeint, erhält aber keine Reaktion.
Sie reißt den Blick von den verletzten Händen los und sieht zu Malmen.
Der nickt zur Antwort bloß düster.
Es ist kurz nach vier Uhr in der Nacht, als Olle zu Hause vorfährt. Lovis liegt hellwach im Bett im ersten Stock. Sie ist außer sich vor Wut und Sorge, weiß jetzt aber zumindest, dass er nüchtern ist. Man kann Olle viel vorwerfen, aber er setzt sich nicht betrunken ans Steuer. Wenn er getrunken hätte, wäre er gelaufen oder hätte sich ein Taxi genommen. Dass er im eigenen Auto nach Hause kommt, bedeutet für Lovis, dass er keinen Tropfen angerührt hat. Eine Party kann es folglich nicht gewesen sein, weil er ebenso wenig, wie er betrunken fährt, bei Feiern nüchtern bleibt. Bliebe also die Frage, warum er jetzt erst nach Hause kommt.
Sie hört – wie so oft –, wie er auf der Veranda mit schnellen Tritten die Schuhe an der Fußmatte abstreift. Dann schiebt er den Schlüssel ins Schloss, macht die Haustür auf, betritt den Flur und macht die Tür leise wieder zu. Ein paar Sekunden verstreichen lautlos, bis im Bad Wasser rauscht. Kurz darauf hört sie die wohlvertrauten Schritte auf der Treppe.
Lovis zieht sich die Decke bis unters Kinn und kneift die Augen zu. Sie spürt mehr, als dass sie hört, wie er das Schlafzimmer betritt. Er bleibt noch kurz stehen. Lovis stellt sich vor, wie er sie ansieht und überlegt, ob sie schläft oder nicht. Sie rührt sich nicht und atmet so langsam, wie sie nur kann.
Wenig später hört sie, wie er sich auszieht und schließlich neben ihr unter die Decke kriecht. Sie ist zu wütend und zu erschöpft, um jetzt noch zu streiten. Olle darf auf keinen Fall merken, dass sie noch wach ist.
Doch wie es aussieht, hätte sie sich gar nicht anstrengen müssen, weil er zwei Minuten später tief und fest schläft. Sie selbst bleibt noch eine Weile wach liegen, bevor sie sich vorsichtig hochstemmt und die Beine über die Bettkante schiebt. Lautlos verlässt sie das Schlafzimmer. Das lange Nachthemd weht um ihre Beine. Auf leisen Sohlen schleicht sie über den oberen Flur und dann nach unten.
Im Erdgeschoss bleibt sie zunächst in der Diele stehen, ohne recht zu wissen, was sie dort will. Dann geht sie ins Bad, macht Licht und sieht sich um. Nichts in dem gefliesten Raum wirkt verändert. Die Badetücher hängen ordentlich über dem elektrischen Handtuchwärmer, der Badezimmerteppich liegt glatt auf den Fliesen, und Olles Zahnbürste steht neben ihrer eigenen im Zahnputzbecher. Alles sieht aus wie immer.
Sie knipst das Licht wieder aus und tritt hinaus in die Diele. Olles schwarze Halbschuhe stehen ordentlich aufgereiht neben ihren braunen Absatzschuhen. Am Garderobenhaken hängt die dünne Jacke, die ohne Futter, die mit der Reißverschluss-Innentasche. Lovis beugt sich vor und schiebt das Gesicht in den Stoff, inhaliert den Duft des Mannes, den sie so sehr geliebt hat. Sowie sie ihn riecht, zieht es im Unterleib. Vielleicht sind doch noch Gefühle übrig?
Sie geht zurück ins Bad. Macht das Licht wieder an, greift zu seiner Zahnbürste und hält sie sich an die Lippen. Sie ist trocken. Er hat sich die Zähne nicht geputzt.
Sie stellt die Zahnbürste zurück, schaltet das Licht aus und zieht die Badezimmertür hinter sich zu. Eilig, aber noch immer lautlos, nimmt sie zwei Stufen auf einmal und steht leicht außer Atem wieder im ersten Stock.
Sie schleicht zurück ins Schlafzimmer. Vor dem Bett bleibt sie stehen, sieht Olle an, der mit dem Gesicht zu ihr auf der Seite liegt. Er atmet tief. Die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich bereits den Weg durch die Vorhänge und werfen Lichtstreifen auf Olles Stirn und Wange.
Mit pochendem Herzen geht Lovis in die Hocke, bis sie ihrem schlafenden Ehemann von Angesicht zu Angesicht gegenüberkauert. Er sieht aus wie ein Kind, hat den Mund leicht geöffnet, seine Unterlippe glänzt. Die Wangenmuskulatur ist entspannt, nur die Lider zucken hektisch. Er träumt.
Sie beugt sich so weit vor, dass ihr Mund fast sein Kinn berührt, und schnuppert an seinem Atem. Er ist warm und neutral. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürt sie eine unerklärliche Enttäuschung, ehe sie beschließt, es noch mal zu versuchen.
Diesmal wartet sie, bis er tief ausatmet, und atmet selbst tief durch die Nase ein. Das Ergebnis ist derart unerwartet, dass sie das Gleichgewicht verliert und hintüberkippt. Instinktiv reißt sie die Hände nach hinten, und es ist ein dumpfer Aufprall zu hören. Schockstarr bleibt sie auf dem kühlen Boden sitzen und sieht beunruhigt zu Olle. Doch der schläft weiter.
Langsam streckt sie die Beine aus. Mit den Fußspitzen zur Bettkante schiebt sie sich vorsichtig rückwärts, bis sie an der Schlafzimmerwand angelangt ist. Dort winkelt sie die Knie an, stützt die Ellenbogen auf und lässt den Kopf schwer gegen ihre Hände sinken.
Sie will eigentlich heulen, aber es kommen keine Tränen. Sie weiß nicht, ob es am Schock liegt oder an der Angst, dass sie ihn wecken könnte. In ihr herrscht ein Chaos, das vollkommen unerwartet für sie kommt. Ihre Beziehung läuft schon seit einiger Zeit nicht mehr rund und neigt sich zweifelsohne dem Ende entgegen – umso seltsamer, dass es sich derart niederschmetternd anfühlt. Wie eine Faust ballt sich die Trauer in ihrer Brust, und ein lähmendes Heulen bahnt sich erbarmungslos den Weg durch ihre Kehle. Sie will nur noch laut schreien, doch ihr Körper gehorcht ihr nicht. Vielleicht ist es ja gar keine Trauer? Sondern Erniedrigung?
Noch während Lovis mit dem Kopf in Händen auf dem Schlafzimmerboden sitzt, stellt sie erschrocken fest, dass es ihr allen Ernstes lieber gewesen wäre, wenn er besoffen gefahren wäre. Da hätten sie sich wenigstens gemeinsam Hilfe holen können. Sie hätten Olle bei den Anonymen Alkoholikern anmelden oder Wunder was tun können. Aber gegen diesen Verrat gibt es keine Hilfe.
Olles Atem riecht nicht nach Alkohol. Er riecht nach nichts, was es in Flaschen zu kaufen gäbe.
Er riecht nach Möse.
Es ist Viertel nach sieben am Samstagmorgen, als Idun Lind die Tür zum Besprechungsraum öffnet.
Wie üblich ist sie die Erste.
Sie zieht einen Stuhl unter dem großen Besprechungstisch hervor. Beim Hinsetzen machen sich ihre Beinmuskeln bemerkbar – nach dem Intervalltraining vom Vortag setzt jetzt der Muskelkater ein.
Abgesehen von vier schwarzen Heftern ist der Tisch leer. Die Hefter hat Siv bereitgelegt. Die Frau weiß eindeutig, wie man allen anderen stets ein Stück voraus ist.
Noch sind die Hefter dünn. Die Beweisaufnahme ist noch nicht weit gediehen, was aber nicht überraschend ist. Eva Vendel ist vor noch nicht einmal zwölf Stunden tot aufgefunden worden. Mit der Zeit dürften die schwarzen Hefter wesentlich dicker werden.
Idun beugt sich vor, zieht einen Hefter zu sich heran und hat sich kaum auf ihrem Stuhl zurückgelehnt, als Calle Brandt den Raum betritt. Eigentlich heißt der breitschultrige Kollege Carl, aber außer seiner Mutter nennen ihn alle Calle.
Grußlos setzt er sich neben Idun. Sein Bart hat exakt denselben Rotton wie seine Haare, und sein Gesicht ist voller Sommersprossen.
»Ich hab dich gestern Abend vermisst. Wäre gut gewesen, wenn wir zu zweit dort aufgetaucht wären.«
Es klingt eher nach nüchterner Feststellung als nach Vorwurf.
Calle atmet hörbar durch die Nase ein.
»Ich werde immer vermisst, wenn ich mal nicht da bin. Kann ich nicht ändern.«
Er feixt sie breit an.
»Und apropos ›dort‹ – eine tote Lady, die von der Decke hängt. Welches verdammte Schwein tut einer Frau so was an?«
Idun weiß, dass die Frage rhetorisch gemeint ist, aber nicht einmal sie könnte zu diesem frühen Zeitpunkt eine Antwort darauf geben.
»War sie verheiratet? Hat der Mann ein Alibi?«
Idun seufzt lautlos, ehe sie sagt, was auch Calle längst weiß.
»Eva war verheiratet, ja. Aber im Augenblick deutet nichts darauf hin, dass der Ehemann der Mörder wäre. Auch wenn die Statistik dafürspricht, können wir derzeit wirklich nicht sagen, ob es im vorliegenden Fall genauso ist. Er steht unter Schock, deshalb können wir ihn noch nicht befragen.«
Man merkt Calle an, dass er sich im Recht sieht, indem er den Ehemann verdächtigt, doch als Ermittlerin ist Idun der Ansicht, dass man – Statistik hin oder her – nichts als gegeben voraussetzen darf.
»Ist sie jemandem in die Quere gekommen? Oder hat ein Verbrechen verübt, das irgendwer für sie vertuschen musste?«
Wie üblich scheut Calle sich nicht, die klischeehaftesten Schlüsse zu ziehen.
»Was immer Eva Vendel getan hat – sie hat es nicht verdient, dafür ermordet zu werden.«
Calle schnaubt, aber immerhin hat sich ein Hauch Zweifel eingestellt.
»Natürlich nicht, verdammt. Das weiß sogar Calle.«
»Also. Wo hast du gestern gesteckt? Ich hab versucht, dich zu erreichen, aber dein Handy war ausgeschaltet.«
Er massiert sich den Nacken, wie immer, wenn er eine Frage nicht beantworten will. Trotzdem kann Idun ein Schmunzeln unter dem roten Vollbart erahnen.
»Ich muss etwas Falsches gegessen haben und habe den ganzen Abend und die Nacht auf dem Klo verbracht. Tja, leider … Ich wäre zu gern dabei gewesen und hätte gesehen, wie die Arme an der Decke hing.«
Idun bringt es nicht fertig, die durchsichtige Lüge zu kommentieren.
»Wir kümmern uns beide um den Fall, das ist dir hoffentlich klar?«
Calle nickt demonstrativ.
»Na sicher. Wir sind schließlich die Besten in ganz Nordschweden, wenn es darum geht, die richtig schweren Fälle aufzuklären.«
Auch darauf reagiert Idun nicht, dafür ist sie viel zu bescheiden, auch wenn sie insgeheim weiß, dass es stimmt.
Wie üblich macht Kommissar Anders Eriksson aus seinem Auftritt eine Riesensache. Obwohl er seit drei Jahren Iduns Vorgesetzter ist, hat sie sich nie daran gewöhnen können. Sie mag ihn in vielerlei Hinsicht, aber diese Auftritte sind schwer verdaulich.
Sie hört ihn von draußen laut husten, noch ehe die Tür aufgeht. Oder … aufgeht und aufgeht. Der Chef schiebt die Tür mittels Kehrseite auf: Von dem Zweimetermann taucht erst das Hinterteil auf, dann folgt eine halbe Drehung, damit er in Fahrtrichtung den Raum betreten kann. In der Hand hält er einen Becher mit Kaffee. Er schafft genau zwei Schritte, ehe die Tür hinter ihm so laut ins Schloss fällt, dass er vor Schreck zusammenzuckt. Sein Kaffee schwappt über und kleckert auf den Boden. Anders scheint es nicht einmal zu bemerken, zumindest macht er keinerlei Anstalten, die Spur, die er zieht, wieder aufzuwischen.
Beim Anblick von Idun und Calle hellt sich sein Gesicht auf.
»Was sehe ich denn da – meine zwei Lieblingskollegen! Wie gut, dass ihr da seid – von wegen Samstag und so!«
Aufrichtig erfreut zieht er die Augenbrauen hoch.
Calle ergreift sofort das Wort.
»Wir haben gerade schon über diesen Mist hier gesprochen. Den Dreckskerl schnappen wir uns.«
Anders schmatzt zufrieden. Weiter kommt er nicht, weil die Tür erneut aufgeht. Siv Liv ist da. Sie nickt knapp in die Runde und setzt sich auf den freien Platz gegenüber Idun.
Siv ist die einzige Zivilangestellte in der Abteilung. Sie ist das Bindeglied zwischen Polizeibehörde und Öffentlichkeit und hat von ihrem Arbeitsplatz am Eingang einen guten Überblick. Sie empfängt Besucher, bringt sie ins Büro des jeweiligen Ermittlers und bei Bedarf wieder zur Tür. Sie ist scharfsichtig wie ein Falke und wacht über – und überwacht auch mal – den Rest des Teams. Außerdem ist sie Iduns Lieblingskollegin. Für ihren Job brennt sie ebenso sehr wie für Recht und Gesetz und Gesetzeshüter, hält sich dabei jedoch nicht immer sklavisch an die Vorschriften in der leicht schwerfälligen Behörde. Und obwohl Siv keine polizeiliche Ausbildung hat, ist sie eindeutig diejenige, die von ihnen allen am besten Bescheid weiß.
Konzentriert sitzt sie Idun gegenüber, schlägt einen der schwarzen Hefter auf und ergreift wie selbstverständlich das Wort. Niemand, nicht einmal der Chef, scheint es im Geringsten komisch zu finden, dass die einzige Zivilistin, die an der Besprechung teilnimmt, die Führung übernimmt.
Siv räuspert sich und setzt die Brille auf, die sie sich in die Stirn geschoben hatte. Ihre kurzen Haare stehen in Richtung Zimmerdecke ab.
»Ich habe euch das bisschen kopiert, was wir bislang über den Fall wissen. Liegt alles in diesen Heftern – bitte, einer für jeden von euch. Wir haben einen knappen und ziemlich groben Zeitablauf, die Personendaten von Eva Vendel und Ehemann Vidar – identischer Familienname. Es liegt auch ein erster Überblick über die Spurenlage bei. Malmen hat alles, was er hatte, zusammengestellt. Bislang keine Auffälligkeiten, nur eine Menge Fingerabdrücke im ganzen Haus. Leider haben wir in unserer Datenbank keinen Treffer erzielt. Es fehlen Blutspuren, und Malmen zufolge lässt sich dieser Umstand nur dadurch erklären, dass der Täter gründlich hinter sich hergeputzt hat. Und weil das Opfer überdies am helllichten Tag im Haus erhängt wurde, heißt das für uns: Wir gehen derzeit davon aus, dass das Wohnhaus der Tatort ist. Allerdings ist das nicht in Stein gemeißelt. Die Lampe, die an der Decke hing, ist verschwunden, und unverhoffte DNA-Spuren gibt es zurzeit ebenso wenig, aber die Techniker suchen weiter. Außerdem warten wir noch auf den Obduktionsbericht. Auch wenn die Moritz ganz gern ein ordentliches Tempo vorlegt, dauert es sicherlich einige Tage. Immerhin ist heute Samstag.«
Siv beugt sich vor und sieht über den Rand ihrer Brille zu Anders. Ihr Schweigen ist das wortlose Signal an ihn, dass er übernehmen soll.
Der Leiter der Mordkommission räuspert sich lautstark.
»Tja, dann … Wir wissen also bislang, dass es sich bei der Toten um Eva Vendel handelt, wohnhaft in demselben Einfamilienhaus, in dem sie tot aufgefunden wurde. Verheiratet mit Vidar Vendel, Stiefmutter von Nadja, Vidars leiblicher Tochter, die … inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt ist.«
Für Letzteres muss er erst durch sein Exemplar von Sivs schwarzen Heftern blättern. Er fährt sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und nickt Siv zu, was sie sofort richtig versteht.
»So ist es. Eva Vendel selbst – geborene Stenberg – wurde achtundvierzig Jahre alt. Sie war, wie gesagt, mit Vidar verheiratet. Keine eigenen Kinder. Seit zwölf Jahren Patchworkmama von Nadja, der leiblichen Tochter ihres Ehemanns, die heute fünfundzwanzig geworden ist. Nadja studiert Jura an der Uni in Luleå. Die Mutter starb an Krebs, als Nadja zehn Jahre alt war. Eva wiederum hat sich vor zehn Jahren von ihrem Ex scheiden lassen, der in Piteå wohnt – ein gewisser Jan-Olov Bergdahl, vierundfünfzig. Der hat ebenfalls wieder geheiratet, keine Kinder. Er dürfte natürlich von Interesse sein, auch wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte haben, dass er mit dem Mord zu tun haben könnte. Er ist ein paarmal geblitzt worden, ansonsten nicht vorbestraft.«
Als Siv kurz Luft holt, entsteht eine Pause. Idun nutzt die Gelegenheit, um eine Zwischenfrage zu stellen.
»Dann hat sich Eva vor zehn Jahren scheiden lassen, war aber zwölf Jahre lang Nadjas Stiefmutter? Das heißt, sie war noch mit diesem Jan-Olov verheiratet, als sie schon mit Vidar zusammen war. Ist das korrekt?«
Siv sieht Idun konzentriert an und nickt fast militärisch knapp.
»Das ist korrekt. Ich bin selbst sofort hellhörig geworden und habe es deshalb gleich doppelt überprüft. Zwei Jahre bevor die Scheidung von Jan-Olov rechtskräftig war, ist Eva mit Vidar zusammengezogen, auch wenn es komisch klingt, aber was weiß denn ich? Heutzutage kann man anscheinend mit einem verheiratet sein und mit dem anderen zusammenwohnen. Für den modernen Beziehungsmenschen ist jede Konstellation möglich.«
Ihr Tonfall lässt eindeutig darauf schließen, dass sie gegen weniger klassische Liebesbeziehungen gewisse Vorbehalte hat. Die eher konservative Einstellung der Kollegin ist Idun herzlich egal, und immerhin hat auch sie selbst bei der Sache gestutzt: Mit dem neuen Partner zusammenzuziehen, sich aber erst zwei Jahre später vom alten scheiden zu lassen – ist das nicht wirklich ein bisschen seltsam?
»Evas Vater ist noch am Leben«, fährt Siv unterdessen fort. »Åke Stenberg, ebenfalls wohnhaft in Piteå, allerdings in einem Seniorenheim. Keine Ahnung, in welcher Verfassung er ist – er ist immerhin stolze sechsundneunzig. Hoffen wir mal, dass er rüstig genug ist, dass wir ihn befragen können.«
Calle reißt die Arme hoch. Anders, der mit hektischen Bewegungen offenbar nicht umgehen kann, zuckt heftig zusammen.
»Also, ich weiß nicht, ob ihm das zu wünschen ist … Für den Alten ist es doch bestimmt am besten, wenn er so dement ist, dass er sich an eine Tochter nicht mehr erinnert. Wie verdammt lustig ist es denn bitte zu hören, dass sie ermordet und aufgehängt wurde wie die Jesusversion am Fleischerhaken? Und auch selbst jeden Moment damit rechnen zu müssen, ins Gras zu beißen?«
Es ist nicht zu überhören, dass Calle empört ist, was eher die Regel als eine Ausnahme ist. Siv bedenkt ihn mit einem stoischen Blick. Idun hingegen ist überrascht, dass der unbeherrschte Ausbruch des Kollegen für eine gewisse Fürsorge spricht. Nach all den Jahren in ihrem Beruf weiß sie nur zu gut, dass mit das Schlimmste, was einem passieren kann, der Tod des eigenen Kindes ist. Sein Kind obendrein durch Mord zu verlieren macht es, sofern das überhaupt möglich ist, nur noch viel schlimmer. Calle hat nicht ganz unrecht, auch wenn er es nicht sehr charmant formuliert hat.
Siv nimmt den Faden wieder auf.
»Eva war Lehrerin an einer Privatschule in Boden. Ich habe noch nicht herausfinden können, wo sie früher gearbeitet hat, aber die aktuelle Stelle hatte sie seit fünfzehn Jahren. Keine Geschwister, besaß die Hälfte des gemeinsamen Hauses, keine weiteren Immobilien. That’s it für den Moment.«
Sie schlägt den Hefter zu und legt ihn demonstrativ vor sich auf den Tisch. Alles, was Siv derzeit über Eva Vendel weiß, wissen die anderen am Tisch jetzt auch.
Anders richtet sich gerade auf.
»Idun leitet die Voruntersuchung, aber wie immer arbeiten wir im Team.«
Idun und Calle nicken.
»Zuallererst müssen wir uns ein Bild von Eva Vendel als Person machen und in Erfahrung bringen, was sie in den Stunden vor ihrem Tod getan hat. Dabei könnte alles wichtig sein: Wo war sie? Warum? Und mit wem? Dann wäre natürlich auch interessant, ob sie eventuell mit jemandem Streit hatte – ihr wisst schon: die berühmten potenziellen Feinde.«
Ihr Vorgesetzter grinst so breit, dass Idun schon glaubt, ihm müssten jeden Moment die Zähne ausfallen. Niemand grinst zurück.
Calle verschränkt die Hände im Nacken. Seine muskulösen Arme bilden zwei spitze Winkel. Mit dem tätowierten Ellbogen streift er fast Iduns Gesicht.
»Mit Blick auf die Statistik war der Ehemann der Übeltäter.«
Niemand sagt etwas. Alle am Tisch wissen, dass Calle recht hat.
»Idun und Calle, ihr fahrt zurück zum Haus der Vendels und seht euch dort noch mal um. Die Spurensicherung ist inzwischen fertig, oder, Siv?«
»Japp. Allerdings ist das Haus für weitere Untersuchungen versiegelt.«
»Gut. Dann sehen wir doch mal, was die Obduktion ergibt. Bis dahin geht ihr bitte das direkte Umfeld durch: den Ehemann, klar. Und die Stieftochter. Bringt in Erfahrung, wie sie zu Eva stand. Ihr sprecht mit dem gesamten Umfeld – in erster Linie mit Vidar und Nadja, aber auch mit Nachbarn und Bekannten. Man weiß nie, ob nicht irgendwer etwas gesehen oder gehört hat und wo ein denkbares Motiv lauert.«
Er nimmt einen Schluck Kaffee. Nach seiner Grimasse zu urteilen ist der Kaffee kalt geworden und schmeckt nicht mehr.
»Also dann«, sagt er, als er wieder halbwegs normal dreinblickt, »legen wir los.«
Idun fährt an den Straßenrand und stellt den Motor ab. Dann beugt sie sich vor zur Windschutzscheibe, um das Haus des Ehepaars Vendel besser sehen zu können. Strahlend gelb und mit großen Fenstern thront es inmitten des weitläufigen Rasens. In der Augustsonne sieht die Fassade fast selbstleuchtend aus. Eine akkurat gestutzte Hecke säumt das Grundstück, und das Tüpfelchen auf dem i sind die kugelrunden Büsche entlang der Auffahrt.
Vor der Hecke stehen in einem Halbkreis ein paar Grabkerzen. Daneben liegen Blumen und Trauerkarten. Zwei Frauen sind vor dem improvisierten Mahnmal stehen geblieben, neigen die Köpfe und scheinen sich gedämpft zu unterhalten.
Calle sieht an Idun vorbei durchs Seitenfenster. Er ist nonstop auf der Jagd nach Verdächtigen, schießt es ihr durch den Kopf – und prompt hat er einen erspäht.
»Da steht jemand.«
Idun folgt Calles Fingerzeig, und er hat recht: Ein gutes Stück hinter den Frauen auf der anderen Straßenseite steht ein Mann und hält sich die Hand über die Augen, damit ihn die Sonne nicht blendet. Er versucht eindeutig, hoch zum Haus der Vendels zu sehen.
Calle steigt zuerst aus. So wie er sich bewegt, weiß Idun genau, dass er nur noch auf den Mann auf dem Gehweg fokussiert ist. Sie flucht in sich hinein und löst den Sicherheitsgurt. Binnen weniger Sekunden ist sie ebenfalls ausgestiegen und hat Calle eingeholt, kurz bevor er bei dem Mann angekommen ist, aber dass er ihn anspricht, kann sie nicht mehr verhindern.
»Calle Brandt, guten Tag. Darf ich fragen, was Sie hier machen?«
Aus dem Augenwinkel sieht Idun, dass die zwei Frauen den barschen Polizisten interessiert beobachten. Sie ballt die Faust in der Tasche.
Der Mann auf dem Gehweg sieht sie überrascht an. Er ist groß, steht kerzengerade da, und für sein Alter – Idun tippt auf Ende vierzig – sieht er athletisch aus. Ein feinmaschiges Netz aus Fältchen überzieht sein Gesicht. Rund um die Augen sind es besonders viele. Jemand, der viel lacht, denkt sich Idun.
Der Mann sieht Calle offen an.
»Guten Tag. Ich heiße Samuel. Kann ich etwas für Sie tun?«
Idun könnte nicht sagen, ob es der aufrichtig freundliche Tonfall oder etwas anderes ist, was Calle derart aus der Fassung bringt. Sie packt die Gelegenheit beim Schopfe.
»Ich heiße Idun Lind, und das hier ist mein Kollege Calle Brandt. Wir sind von der Polizei.«
Sie zeigt flüchtig auf Calle und gibt sich alle Mühe, entspannt zu klingen. Die beiden Frauen bei den Grablichtern haben sich inzwischen zu dem Trio umgedreht und hören ungeniert zu.
»Suchen Sie hier was Bestimmtes?«
Calle klingt schnippisch. Der Mann, der sich ihnen als Samuel vorgestellt hat, lächelt weiterhin freundlich.
»Nicht so richtig … Ich missioniere in der Gegend, aber jetzt bin ich gerade an dieser Straße vorbeigekommen und wollte für die Vendels eine Kerze anzünden.«
Calle kneift leicht die Augen zusammen.
»Dann ist eine der Kerzen von Ihnen?«
Samuel zuckt mit den Schultern. Er lächelt immer noch.
»Ich habe es mir anders überlegt – es ist einfach zu warm, da entsteht schnell mal ein Feuer, und das will ich natürlich nicht riskieren. Was da passiert ist, ist so unfassbar – die Hinterbliebenen haben mein Mitgefühl. Gott segne die Familie.«
Er sieht ehrlich betrübt aus.
»Sie missionieren?«
Samuel späht zu den Frauen neben den Grablichtern.
»Ich bin Zeuge Jehovas. Ein Bruder und ich missionieren in diesem Wohngebiet. Wir sind zutiefst betroffen von dem, was passiert ist, und wollen den Bewohnern gern anbieten, gemeinsam Texte über Trauer und Trost zu lesen.«
Die Frauen kommen auf sie zugeschlendert und gehen direkt hinter Idun und Calle vorbei. Eine von ihnen nickt zum Gruß. Samuel lächelt und grüßt zurück. Idun sieht ihnen nach, bis sie hinter der nächsten Hecke verschwinden. Die beiden waren für die Sommerhitze ziemlich warm angezogen.
Calle neigt den Kopf leicht zur Seite und sieht Samuel misstrauisch an.
»Jehova, sagen Sie … Haben Sie und Ihr Kumpel vielleicht auch gestern zu Gott und Jesus missioniert?«
Idun unterdrückt einen Seufzer. Gleichzeitig lässt sie Samuel nicht aus den Augen. Wenn er am Tag des Mordes in der Gegend war, besteht immerhin die Möglichkeit, dass er eine interessante Beobachtung gemacht hat.
Samuel scheint über Calles schroffen Ton hinwegzuhören, zumindest erweckt er nicht den Anschein, es ihm übel zu nehmen. Stattdessen sieht er erneut betrübt zum Haus der Vendels.
»Ja, das haben wir tatsächlich.«
Ein Flämmchen Hoffnung flackert in Idun auf, doch dann spricht der Mann weiter.
»Allerdings nicht hier im Viertel. Wir sind eine große Gemeinde, sind aber auch für ein ziemlich großes Einzugsgebiet verantwortlich. Üblicherweise vergehen zwischen Besuchen in ein und demselben Viertel mehrere Monate, daher kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Zuletzt war ich im Frühling in dieser Straße. Mitte Mai, wenn ich nicht völlig falschliege.«
Idun achtet genau darauf, wie er spricht. Er klingt aufrichtig.
»Waren Sie auch bei Familie Vendel?«
Wieder das betrübte Lächeln.
»Früher, ja. Mit der Dame des Hauses haben wir uns mehrmals unterhalten. Aber das letzte Mal ist schon ein gutes halbes Jahr her.«
Seine Stimme ist tief und selbstsicher. Möglicherweise gibt es dieses Unterdrückungsregime, von dem man immer hört, gar nicht überall.
»Als wir sie zuletzt besucht haben – das muss irgendwann kurz nach Weihnachten gewesen sein –, hat ihr Mann zu uns gesagt, wir wären nicht mehr willkommen.«
Er sagt es, ohne mit der Wimper zu zucken. Idun ahnt, dass er es gewohnt ist, abgewiesen zu werden.
»Er war ziemlich deutlich. Und weil seine Frau ein Stück hinter ihm stand und gelächelt hat, haben wir angenommen, dass sie sich in der Sache einig waren. Für einige reichen ein paar Gespräche über Jehova aus, und sie sind glücklich. Zumindest sehen wir es gern so.«
»Missionieren Sie immer zu zweit?«
Samuel nickt.
»Aber heute sind Sie allein.«
Er nickt abermals.
»Ich habe heute frei, aber ich musste einfach vorbeikommen. Was da passiert ist, ist einfach nur schrecklich. Zeitgleich mit mir kam eine Familie mit Kindern. Wir haben uns eine Weile über das Unfassbare unterhalten.«
»Die Familie kannten Sie aber nicht?«
»Nein. Leider.«
Idun bedankt sich für das Gespräch und überreicht ihm ihre Visitenkarte.
»Wenn Ihnen oder einem anderen Gemeindemitglied noch etwas einfällt, wären wir dankbar, wenn Sie sich melden könnten. Ganz egal, was – ob es Ihnen wichtig erscheint oder auch nicht.«
Samuel nimmt ihre Karte entgegen und betrachtet sie nachdenklich, ehe er sie in seine Jackentasche schiebt.
»Wie können wir Sie erreichen, wenn wir weitere Fragen hätten?«
»Im Königreichssaal in Boden. Ich arbeite dort im Wachdienst und bin so gut wie täglich da.«
»Eine Meldeadresse haben Sie nicht?«
Calle klingt unüberhörbar skeptisch.
»Nein. Habe ich nicht.«
Er sagt es, als wäre es das Normalste der Welt. Idun erkundigt sich nach der Anschrift der Gemeinde und macht sich eine Notiz.
Sie und Calle bleiben auf dem Gehweg stehen, als der große Mann die Straße hangabwärts schlendert. Zu den Zeugen zu gehören muss schwierig sein, denkt Idun. Sie hat so eine Ahnung, wie unbeliebt sie gemeinhin sind, wenn sie mit ihren gefühlt unendlichen Geschichten von Gott umherziehen. Ihre jüngere Schwester Mika ist Religionswissenschaftlerin und hat einmal von der Organisation erzählt, von den Anforderungen an die Mitglieder und von den Strukturen der Unterdrückung. Dass sie in der restlichen Gesellschaft mehr oder weniger unerwünscht sind, macht das Leben für sie bestimmt nicht leichter.
Sie reißt den Blick von Samuel los und dreht sich zu Calle um.
»Also. Gehen wir erst ins Haus, oder reden wir mit den Nachbarn?«
Calle spuckt seinen Kautabak aus.
»Wir nehmen die Nachbarn. Ich rede lieber, als dass ich bloß glotze.«
Das Licht ist grau, diesig, sieht schmutzig aus. Wie ein Schleier liegt es über dem Areal, und sogar das Gras wirkt gräulich. Der Himmel ist eine einzige unförmige, vernebelte Masse, die selbst abseits der Schleier kaum noch an Blau erinnert.
Viola friert. Die kalte Luft auf dem Friedhof zieht ihr um die Beine und unter den dünnen Mantel. Sie legt den gestrickten Schal enger um den Hals und späht abermals zum schmutzgrauen Himmel empor. Wenn sie so darüber nachdenkt, passt dieses gedämpfte Licht ganz gut zu einem Tag wie diesen. Ein Nebelkleid für ihr trauerndes Ich. Ein grauer Schleier über ihrem grauen Gemüt. Das Ganze fühlt sich irgendwie dramatisch an – als hätten Natur und Trauer sich in schwermütigem Einvernehmen zusammengetan.
Das einzig Bemerkenswerte ist, dass sie von allen hier die Einzige zu sein scheint, die tatsächlich trauert. Niemand sonst wirkt auch nur annähernd betrübt. Schon in der kleinen Kirche hat sie es bemerkt: Nur ihr liefen Tränen übers Gesicht, nur ihr hat sich der Hals zugeschnürt. Sie saß zwischen ihrer Mutter und ihrer großen Schwester Rita und fühlte sich wie ein Sonderling. Sie war die Einzige, die weinte, die Einzige, deren Schultern bebten.
Ihre Mutter saß da wie versteinert. Ihr Blick war zu Boden gerichtet und schien nicht ansatzweise wahrzunehmen, was um sie herum vor sich ging. Der Pfarrer predigte, las aus der Bibel, segnete Papa, auf dass er in Frieden ruhe, doch Mama schien es nicht zu hören, und selbst wenn, dann erweckte sie nicht den Eindruck, als würde sie hinhören. Sie zeigte keinerlei Regung, nicht mal, als der Pfarrer den Trauergottesdienst beendete und die wenigen Gäste aufforderte, in Frieden zu gehen. Mama stand bloß schwerfällig auf und wandte sich zum Ausgang. Den Sarg bedachte sie mit keinem Blick.
Bei Rita lag die Sache anders. Zunächst einmal wirkte sie ebenso wenig traurig wie Mama, aber wenigstens halbwegs geistesgegenwärtig – wenn auch irgendwie gleichgültig. Während der Pfarrer sprach, saß sie zurückgelehnt in der Kirchenbank, hatte den Arm über die schmerzhaft gerade Rückenlehne gelegt und sah den Pfarrer schräg von der Seite an. Ab und zu gähnte sie – immerhin lautlos –, aber sie riss den Mund dabei so weit auf, dass Viola ihr bis in den Rachen sehen konnte, samt Backenzähnen und Gaumensegel. Rita strahlte einfach nur Langeweile aus.
Der graue Nebel, der den Friedhof einhüllt, ist regelrecht einschläfernd. Neben Viola steht ihre Mutter. Sie trägt ihr schwarzes Kleid – das langärmelige, hochgeschlossene. Auch die Lederstiefel sind schwarz, vorn an den Zehen abgestoßen, das Haar hat sie sich zu einem Knoten gezwirbelt. Sie ist wie sonst auch ungeschminkt. Die Wangen sind blass und sehen aufgeschwemmt aus, der Blick ist glasig, die Lippen presst sie zusammen. Tatsächlich sieht sie irre traurig aus, auch wenn sie nicht weint. Und plötzlich ist Viola verwirrt. Wo war diese Traurigkeit in der Kirche?
Unter dem linken Auge schimmert die dünne Haut gräulich gelb. Viola weiß, dass die Färbung von einem verheilenden Hämatom herrührt. Verlegen wendet sie sich ab und sieht Rita an. In ihrer schwarzen Anzughose, dem weißen T-Shirt und dem offenen Sakko sieht sie eher aus, als hätte sie sich für eine Party angezogen, nicht für eine Beerdigung. Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist Rita stark geschminkt: Die Augen sind kohlschwarz, die Lippen dunkelrot. Einen Mantel trägt sie nicht, trotzdem sieht sie nicht aus, als würde sie frieren.
Violas Schwester hat sich um Regeln nie geschert. Normalerweise liebt Viola sie heiß und innig, aber ausgerechnet heute fühlt es sich einfach nur anstrengend an. Weil dies hier für Rita kein Moment der Trauer ist. Was sie betrifft, ist der Tod ihres Vaters das Beste, was ihnen je widerfahren ist. Viola weiß das und kann es teils sogar nachvollziehen, aber dass Rita es allen unter die Nase reibt, ist eine andere Sache. Auch wenn »alle« heute nur wenige sind.
Der Pfarrer liest noch etwas aus seiner abgegriffenen Bibel und nimmt dann ein Schäufelchen von einem Ständer am Grab. Er wirft dreimal lockere Erde auf Papas braunen Sarg.
»Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden. Gott, unser Herr, empfange unseren geliebten Jan-Ivar und lass ihn in dein Himmelreich eintreten.«
Viola weint.
Rita schnaubt.
Mama verzieht keine Miene.
Idun und Calle haben an diesem Samstagvormittag annähernd zwei Stunden mit der Befragung der Nachbarn verbracht. Fast alle, die zu Hause waren, haben ihr Bedauern über den tragischen Vorfall geäußert, aber angegeben, dass sie tags zuvor leider nichts von Interesse beobachtet hätten. Das Wochenende hätten sie so eingeleitet, wie Wochenenden in derlei Wohngebieten für gewöhnlich eingeleitet werden – zu Hause am Esstisch beim Abendbrot oder in einem Restaurant in der Stadt. Ein paar hatten Gäste, und Idun und Carl haben um die Kontaktdaten gebeten, gehen aber nicht davon aus, dass die telefonische Nachfrage etwas ergibt.
Sie sind gerade auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen, als ein schwarzer BMW-2er-Coupé mit teuren Felgen neben ihnen vom Gas geht. Fast lautlos biegt er in die Auffahrt des Hauses gegenüber von den Vendels ein. Eine Frau mittleren Alters steigt aus. Sie trägt ein Sakko über der Hose, goldfarbene Schuhe mit hohen Absätzen, und in der Hand hält sie eine große weinrote Handtasche mit einer riesigen goldenen Schnalle. Selbst von der Straße aus kann Idun erkennen, dass die Tasche teuer war. Die Frau strahlt ganz ohne Worte, aber unmissverständlich aus, dass sie in Geld schwimmt.
Mit dem Funkschlüssel verriegelt sie ihren Wagen und dreht sich zur Straße um. Für einen Moment bleibt ihr Blick an den beiden Ermittlern hängen. Ohne sich darüber zu verständigen, setzen Idun und Calle sich in Bewegung. Als sie bei der Frau ankommen, registriert Idun das elegante Make-up. Die Frau lächelt zwar nicht, sieht aber nicht unfreundlich aus.
»Wir sind von der Polizei. Mein Name ist Idun Lind, und das hier ist mein Kollege Calle Brandt.«
Idun gibt ihr die Hand. Die schlanken Finger der Frau sind perfekt manikürt. In den eben noch freundlichen Blick schleicht sich zusehends Sorge. So ist es oft, wenn die Polizei auftaucht.
»Caroline Hofverts. Ich wohne hier.«
Sie lässt Iduns Hand los und nickt überflüssigerweise in Richtung des Hauses hinter ihr. Es ist ein Bungalow, deutlich kleiner als das Haus der Vendels, aber mindestens genauso gepflegt. Die Fenster sind riesig, die Fassade ist frisch gestrichen. Das Gras scheint mit der Nagelschere gestutzt zu werden. Einen so akkurat gemähten Rasen hat Idun noch nie gesehen.
»Wir haben uns gefragt, ob wir uns vielleicht kurz unterhalten könnten?«
Caroline Hofverts sieht besorgt aus, nickt aber bedächtig.
»Gern drinnen.«
Caroline umklammert ihre Handtasche.
»Es geht um Eva, oder?«
Idun antwortet nicht.
»Kommen Sie. Ich brauche ein Glas Wasser und muss mir die Hände waschen. Nur in umgekehrter Reihenfolge.« Ihr Lachen klingt gekünstelt und verebbt ebenso schnell, wie sie es herausgepresst hat.
An der Haustür tippt Caroline einen sechsstelligen Sicherheitscode ein. Das elektronische Schloss spielt eine kurze Melodie, gefolgt von einem Klicken. Sie bittet Idun und Calle herein.
Durch die großen Fenster strömt Licht in den Eingangsbereich. Weiße Wände und Möbel werden von goldfarbenen Einrichtungsdetails akzentuiert. Eine große Deckenlampe mit Aberhundert Prismen sorgt für tolles Licht, das von zig blank polierten, metallischen Accessoires reflektiert wird. Caroline bekommt mit, wie Idun die große Lampe mustert.
»Eine Sonderanfertigung eines italienischen Herstellers. War eine stark limitierte Produktion.«
Sie sagt es, als hätte sie soeben ein streng gehütetes Geheimnis gelüftet.
Idun sieht sich um. Der Bungalow ist wesentlich größer, als es von außen den Anschein hat. Caroline hängt ihr Sakko auf.
»Kommen Sie rein. Wir setzen uns ins Wohnzimmer.«
Sie zeigt auf das Zimmer zur Rechten.
»Ich muss mir nur schnell noch die Hände waschen – schmutzige Angewohnheit.«
Erneut lacht sie über ihren schlechten Scherz. Idun lächelt pflichtschuldig, während Calle keine Miene verzieht.
Das Wohnzimmer ist groß und lichtdurchflutet. Mitten im Raum steht ein riesiges tannengrünes Sofa, davor zwei Sessel im selben Farbton. An den Wänden hängen Bilder in verschnörkelten Rahmen, die teuer aussehen. Kein Teppich, keine Gardinen, die einzigen Textilien sind zwei weiße Samtkissen, die geschickt auf dem Sofa platziert sind.
»Setzen Sie sich doch.«
Idun und Calle zucken zusammen. Sie haben beide nicht mitbekommen, dass Caroline schon wieder zurück ist.
Sie entscheiden sich für die zwei Sessel, Caroline setzt sich aufs Sofa. Es ist so groß, dass es fast danach aussieht, als würde es Caroline verschlingen. Nervös zupft sie an ihrer Hose. Allmählich lässt sich der Grund für den Besuch der Ermittler nicht mehr ignorieren.
»Eva … Sie möchten bestimmt über Eva sprechen?«
Mit einem Mal klingt ihre Stimme ganz dünn.
Idun beugt sich auf ihrem Sessel vor. Sie stemmt die Beine in den Boden, stützt die Ellenbogen auf die Knie und faltet die Hände. Auf diese Weise signalisiert sie, dass sie sich auf sicherem Terrain bewegt, was diese Unterhaltung angeht, dass sie zugleich aber aufrichtig interessiert ist an Carolines Beobachtungen.
»Waren Sie gestern zu Hause?«
Caroline blickt fast enttäuscht drein.
»Natürlich. Es war schließlich Freitag.«
»Sind Sie freitags immer zu Hause?«
Caroline nestelt an einem ihrer Ringe. Sicherlich ein echter Diamant.
»Ich bin nicht berufstätig. Es reicht, wenn Dag arbeiten geht. Also, mein Mann. Er heißt Dag.«
»Was haben Sie am Nachmittag gemacht?«
Sie scheint kurz nachzudenken. Als sie antwortet, ist schnell klar, dass sie nicht hätte nachdenken müssen.
»Ich habe einen Martini getrunken. Ohne Olive. Um vier kam Dag von der Arbeit, wir haben eine Flasche Wein aufgemacht, anschließend Rentierfilet mit Röstkartoffeln und Salade niçoise gegessen … Salat baue ich nicht selbst an, den bestelle ich im Feinkostladen in der Stadt. Das Gemüse dort ist unschlagbar.«
Sie sieht Idun und Calle an, als müssten die beiden beeindruckt sein. Keiner von ihnen sagt etwas.
»Nach dem Essen haben wir einen Espresso getrunken. Dag hat die Küche aufgeräumt, während ich ein Bad genommen habe. Anschließend haben wir noch Skavlan geguckt und sind dann ins Bett gegangen. Dort hatten wir eine Dreiviertelstunde lang Sex, bis wir das Licht ausgemacht und geschlafen haben.«
Sie hat kein einziges Mal geblinzelt.
Man kann Calle anhören, dass er amüsiert ist.
»Das war ja schön aufbereitet. Klingt fast, als wäre das Ihre übliche Freitagsroutine.«
Caroline lässt sich gegen die Rückenlehne sinken. So sieht das Sofa plötzlich noch größer aus, sofern das überhaupt möglich ist. Sie schlägt die Beine übereinander und entspannt sich ein wenig. Idun sieht die Veränderung in der Körpersprache. Sie fragt sich, was in der Frau vor sich geht.
»Ich weiß nicht, ob Routine das richtige Wort ist … Manchmal lassen wir Skavlan auch aus. Ich finde ja, er hat seine besten Zeiten hinter sich.«
Calle ahnt sofort, welche Richtung Caroline einschlagen will. Auch er lehnt sich zurück, macht ein ebenso süffisantes Gesicht wie sie, wechselt dann aber das Thema.
»Haben Sie gestern die Vendels gesehen?«
Carolines Lächeln verblasst.
»Nein.«
»Den ganzen Tag nicht?«
»Nein.«
»Haben Sie die Tochter gesehen? Nadja?«
»Nein. Warum fragen Sie?«
Calle ist hochzufrieden, dass Caroline endlich Rückfragen stellt. Doch dann antwortet Idun.
»Wir versuchen, den gestrigen Tag der Vendels zu rekonstruieren. Ist reine Routine bei solchen Todesfällen.«
Caroline blinzelt ein paarmal, ist sichtlich verwirrt.
»Warum sollte es wichtig sein, was Nadja gemacht hat, als die Mutter sich umgebracht hat? Dafür kann doch die Tochter nichts!«
Idun gibt sich alle Mühe, neutral zu klingen.
»Sich umgebracht …?«
Caroline blickt weiter verwirrt drein.
»Wie kommen Sie darauf, dass Eva sich umgebracht hätte?«
Caroline macht eine vage Geste.
»Klar hat sie das … Oder was meinen Sie?«
Calle wiederholt Iduns Frage.
»Wie kommen Sie darauf, dass es Selbstmord war?«
Caroline klappt den Mund auf und wieder zu, was ziemlich dümmlich aussieht.
»Eine Frau ohne Freunde und eigene Familie – die noch dazu als Schlampe bekannt war … Ich meine … war doch klar, dass das irgendwann so enden würde.«
»War Eva in der Siedlung unbeliebt?«
Caroline zuckt mit den Schultern.
»Unbeliebt würde ich jetzt nicht sagen … Eher berühmt-berüchtigt, also für ihren Lebenswandel.«
»Von was für einem Lebenswandel sprechen Sie?«
Jetzt seufzt sie.
»Hier wissen alle, dass Eva Vidar betrogen hat. Das war weithin bekannt – sogar Vidar wusste das.«
Idun nimmt ein vages Alarmsignal wahr. Sie kennt das schon von früheren Ermittlungen – diesen kaum hörbaren Alarmton, der so lange in ihr schrillt, bis sie Antworten auf all ihre Fragen hat.
»Und mit wem hat Eva Vidar betrogen? Wissen Sie das auch?«
Caroline lacht ein wenig zu schrill.
»Fragen Sie mich lieber, mit wem Eva nichts hatte. Da wäre die Antwort sehr viel leichter.«
Idun sieht Caroline auf ihrem tannengrünen Sofa unverwandt an.
»Sie wollen damit sagen, dass Eva gleich mehrere Affären hatte?«
Caroline sieht sie an, als wäre das die dümmste Frage, die sie je gehört hat.
»Natürlich.«
»Sie scheinen sich Ihrer Sache sehr sicher zu sein.«
»Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen.«
»Und Sie sind sich auch sicher, dass Vidar darüber Bescheid wusste?«
»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen. Aber es wäre doch sehr unwahrscheinlich, dass so etwas die Runde macht und ausgerechnet an ihm vorbeigeht.«
Auch darauf antwortet Idun nicht. Anscheinend hat Caroline keine Ahnung, wie viele Sachen die Runde machen und die einzige Person, die es tatsächlich anginge, niemals erreichen.
»Und Sie glauben, dass es Eva schlecht ging?«
»Ohne jeden Zweifel.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Caroline blickt aus dem Fenster. Ein Auto fährt an der Auffahrt vorüber, gerade als eine Katze über die Straße läuft. Sie kommt mit knapper Not davon.
»Das ist schwer zu beschreiben … Aber so habe ich es interpretiert.«
»Was genau haben Sie so interpretiert?«
Caroline sieht betrübt aus.
»Die Frage ist schwer zu beantworten …«
»Versuchen Sie es.«
Sie scheint kurz zu überlegen und ringt die Hände im Schoß.
»Ich weiß nicht … Es war bloß ein Gefühl … So recht kann ich es nicht erklären. Womöglich hat Eva nicht direkt beschlossen, sich umzubringen. Vielleicht hat eine innere Stimme sie dazu gebracht oder so, ich weiß nicht, ich habe mit … psychischen Erkrankungen … keinerlei Erfahrung. Trotzdem … Es ging ihr schon eine Weile nicht gut. Sie wirkte irgendwie deprimiert und traurig, das habe ich gesehen, wenn sie draußen im Garten war. Sie sah aus, als würde sie die Last der Welt auf ihren Schultern tragen. Wissen Sie, was ich meine?«
Calle sieht Caroline fast schon angewidert an.
Die Nachbarin der Vendels spricht weiter.
»Ich hatte irgendwie das Gefühl, als wäre da Trauer in ihrem Blick, auch wenn sie gelächelt hat. Die Augen haben nie mitgelächelt. Ich glaube, sie war eine traurige Seele. Der Ansicht war ich schon lange.«
Caroline verstummt. Calle fordert sie mit einer Geste auf fortzufahren. Es funktioniert.
»Ich hatte das Gefühl, sie würde irgendwann einfach eingehen – an Traurigkeit. Oder Trauer. Oder Sorge – keine Ahnung, und jetzt spekuliere ich nur, und das ist eigentlich nicht meine Art. Ich weiß gar nicht, was ich hier sage … Hören Sie nicht auf mich.«
Sie lehnt sich erneut auf dem Sofa zurück. Calle reibt sich die Nasenwurzel.
»Sie kannten sie kaum, haben ihr aber angesehen, dass sie deprimiert war?«
Caroline nickt geistesabwesend.
»Wir waren Nachbarinnen. Ich habe sie fast täglich gesehen. Und dass es ihr schlecht ging, hat man ihr schon von Weitem angemerkt – an der Haltung, an den Bewegungen. Am Blick und an der Stimme, wenn wir uns mal unterhalten haben. Was aber selten vorkam.«
»Für jemanden, der behauptet, er hätte Eva Vendel kaum gekannt, geben Sie gerade eine ganz brauchbare Analyse ab.«
Idun stößt einen stummen Seufzer aus. Diese verdammte Überheblichkeit.
Caroline indes zuckt nicht mit der Wimper.
Doch Calle ist noch nicht fertig.
»Sie scheinen sie ziemlich oft und aufmerksam beobachtet zu haben. Verbringen Sie viel Zeit im Garten?«
Ihr Blick verdüstert sich.
»Ich weiß genau, was Sie jetzt denken – dass ich so eine Verrückte bin, die den Nachbarn hinterherspioniert und sich dann Geschichten über sie ausdenkt, die kein bisschen der Wahrheit entsprechen.«
Calles Gesicht sagt alles: Genau das hat er gedacht.
»Aber da liegen Sie falsch. In einem Wohngebiet wie unserem passen wir aufeinander auf. Eva und ich waren nicht befreundet, wir hatten nie tiefergehende Gespräche bei einem Gläschen Wein oder bei einem Kaffee – wir waren bloß Nachbarinnen, und sie war deprimiert. Das konnte jeder sehen. Und wenn man einander gegenüber wohnt, dann sieht man sich manchmal öfter, als einem lieb ist. Eva ist gestorben, sie hat sich umgebracht, und das tut mir sehr leid – aber ich habe nicht vor, mich zu grämen, nur weil ich mitbekommen habe, dass es ihr nicht mehr gut ging. Ich verstehe auch gar nicht, warum Sie überhaupt mit mir reden wollten. Bei Selbstmord wird doch nicht ermittelt?«
Calle bleibt stumm, was ihm gar nicht ähnlichsieht.
Idun versucht es so behutsam wie nur möglich.
»Haben Sie Eva denn je gefragt, wie es ihr ging?«
»Nein. So eng war unser Verhältnis nicht.«
Idun nickt, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie das nachvollziehen kann.
»Erzählen Sie uns mehr von Evas Affären.«
Caroline verändert die Sitzposition.
»Immer wenn Vidar auf Dienstreise war, standen Autos in ihrer Auffahrt. Es ist auch kein Geheimnis, dass es verschiedene Männer waren – die verschiedenen Autos waren ja nicht zu übersehen. Und dass eine Frau mit so einem Lebenswandel alles andere als glücklich ist, liegt doch wohl auf der Hand.«
Calle trommelt mit den Fingern aufs Knie.
»Kam da einer nach dem anderen? Oder waren es zwei oder mehrere auf einmal?«
Bei der Frage scheint Caroline zu stutzen.
»Es ist ja nicht so, als hätte ich hinter dem Vorhang gestanden und genau beobachtet, was Eva da treibt …«
Bei der offenkundigen Lüge würde Calle am liebsten die Augen verdrehen.
»Aber nein – es waren nicht mehrere Männer auf einmal. Unterschiedliche Autos zu unterschiedlichen Zeiten. Gott bewahre …«
Sie presst sich die Hand an die Brust, um ihr Entsetzen zu unterstreichen.
»Und woher wissen Sie, dass es unterschiedliche Autos waren?«
»Ich habe doch Augen im Kopf!«
»Und Sie haben gesehen, dass in den Autos unterschiedliche Personen saßen? Unterschiedliche Männer?«
Diesmal windet sich Caroline.
»Na ja, nicht direkt … Das war ja meist abends und dunkel. Und die Auffahrt der Vendels ist sehr schlecht beleuchtet. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es verschiedene Fahrzeuge waren, und da kann man doch wohl davon ausgehen, dass es auch verschiedene Fahrer waren. Versteht sich von selbst, würde ich meinen.«
Idun und Calle haben fürs Erste keine weiteren Fragen. Sie bedanken sich und stehen auf. Caroline entschuldigt sich dafür, dass sie nicht mehr beitragen konnte, doch Idun versichert ihr, dass sie ihnen sehr wohl behilflich war. Sie und Calle teilen ihr mit, sie würden sich melden, wenn sich noch Fragen auftäten, und Caroline verspricht, dass sie sich ihrerseits meldet, wenn ihr noch etwas einfällt, was die Polizei interessieren könnte.
»Was immer es ist, und wenn es noch so unbedeutend wirkt – rufen Sie uns an.«
Caroline steht draußen auf der Zufahrt, als die beiden Ermittler in ihren Wagen einsteigen. Idun fährt vom Bordstein weg und verlässt das Wohngebiet in Richtung des Riksväg 97. Sie sind schon auf halbem Weg nach Luleå, als sie Calle einen flüchtigen Blick zuwirft. Gedankenversunken sitzt er neben ihr.
»Und? Was hältst du von Caroline Hofverts?«
Calle verzieht das Gesicht, dass seine Oberlippe fast die Nase berührt. Sein Gesicht ist zerknittert, und in den Runzeln scheinen die Sommersprossen ineinanderzufließen.
»Sie lügt. Ich weiß nicht, in welcher Hinsicht, und ich weiß verdammt noch mal nicht, warum – aber die Hofverts lügt, so viel kann ich dir sagen.«
Idun wirft einen Blick in den Rückspiegel. Um diese Uhrzeit ist die Verbindungsstraße annähernd verwaist. Die Pendler, die täglich zwischen Boden und Luleå hin- und herfahren, sind noch eine Weile bei der Arbeit, ehe es Zeit für sie wird, nach Hause zurückzukehren.
»Ich hatte auch ein mulmiges Gefühl. Sie hat nicht aufrichtig gewirkt, andererseits könnte ich nicht genau sagen, wie ich daraufkomme. Es hat sich irgendwie nicht angefühlt, als würde sie rundheraus lügen – eher so, als würde sie … falschliegen?«
Calle sieht aus dem Fenster. Rechts von ihnen zieht Gammelstad vorbei.
»Ich weiß auch nicht … Aber Caroline Hofverts weiß mehr, als sie sagt, da bin ich mir sicher.«
Sie werden von Calles Handy unterbrochen. Er meldet sich mürrisch. Idun kann nicht hören, mit wem er spricht. Ohne sich zu verabschieden, legt er auf und schiebt das Handy in die Tasche am Hosenbein.
»Das war Siv. Du kannst wenden, wir fahren zurück nach Sunderby.«
Idun sieht ihn überrascht an.
»Sie hat die behandelnde Ärztin aus der Psychiatrie erreicht, eine gewisse Karin Simma. Vidar Vendel hat sich bereit erklärt, kurz mit uns zu reden. Es geht ihm nicht gut, aber er ist ›besprechbar‹ – was immer das heißen soll.«
Erneut sieht Idun in den Rückspiegel. Die Straße ist frei, und bei der nächsten Lücke in der Mittelleitplanke wendet sie scharf und fährt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Als Idun Gas gibt, sind sie im Handumdrehen mit hundertfünfzig Sachen unterwegs. Diesmal zieht Gammelstad linker Hand an ihnen vorbei.
Der Kallax Airport ist ein graues Gebäude mit dreckigen Fenstern inmitten einer Riesenmenge Asphalt. Irgendein kleinmütiger Optimist hat versucht, den Anblick durch Petunien in großen Kübeln an den Eingängen aufzuhübschen, aber die armen Blumen sind in den kühlen Herbstnächten bereits eingeknickt.
Rita steht vor dem Eingang und raucht. Als sie ausatmet, bilden sich zwei wabernde Ringe, die gen Himmel schweben und sich in der diesigen Luft auflösen. Viola steht neben ihr. Schweigend wartet sie darauf, dass Rita fertig geraucht hat, auch wenn ihr lieber wäre, wenn die Zigarette nie zu Ende ginge. Lieber würde sie für den Rest ihres Lebens hier draußen stehen, als zu tun, was sie gleich tun wird.
Irgendwann ist Rita so weit.
»Scheiße, ist das kalt!«