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Zwei gefährliche Schwestern, ein Waisenhaus voller Geheimnisse und eine Ermittlerin, die nie aufgibt: ein Fall für Idun Lind
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Elvira verschwand vor drei Jahren spurlos aus einem Kinderheim. Dann stürzt sie bei einer Trauung vom Kirchturm in den Tod. Hat die junge Frau sich das Leben genommen, oder wurde sie ermordet? Kommissarin Idun Lind beginnt mit ihrem Partner Calle Brand im Kinderheim zu ermitteln, wo sich ein verstörendes psychologisches Porträt von Elvira abzeichnet. Da findet Idun heraus, dass erst vor wenigen Monaten noch ein Mädchen aus dem Heim verschwand – und die Kriminalkommissarin ahnt nicht, in welch schrecklichem Gefängnis sich das Kind befindet ...
Idun Lind und Calle Brand sind ein unschlagbares Team – erfahren Sie in »Apfelmädchen«, wie die beiden ihren ersten Fall lösen.
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Seitenzahl: 617
Elvira verschwand vor drei Jahren spurlos aus einem Kinderheim. Dann stürzt sie bei einer Trauung vom Kirchturm in den Tod. Hat die junge Frau sich das Leben genommen, oder wurde sie ermordet? Kommissarin Idun Lind beginnt mit ihrem Partner Calle Brand im Kinderheim zu ermitteln, wo sich ein verstörendes psychologisches Porträt von Elvira abzeichnet. Da findet Idun heraus, dass erst vor wenigen Monaten noch ein Mädchen aus dem Heim verschwand – und die Kriminalkommissarin ahnt nicht, in welch schrecklichem Gefängnis sich das Kind befindet …
Tina N. Martin wurde 1980 geboren und lebt in der Stadt Boden an der schwedischen Grenze zu Finnland. Dort spielt auch ihre Thriller-Reihe über die Kriminalkommissarin Idun Lind, die in »Apfelmädchen« erstmals ermittelt. Tina N. Martins Debütroman schlug in ihrem Heimatland ein wie eine Bombe: Leser*innen wie Kritiker*innen begeisterten sich so sehr für »Apfelmädchen«, dass der Thriller Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste erreichte. Auch die deutsche Ausgabe befand sich wochenlang unter den Top 10 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Wenn Tina N. Martin nicht schreibt, arbeitet die studierte Literaturwissenschaftlerin als Lehrerin an einer Schule in Boden.
Tina N. Martin
Thriller
Deutsch von Leena Flegler
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Sorgsystern« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.
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Copyright der Originalausgabe © 2023 by Tina N. Martin and Bokförlaget Polaris 2021 in agreement with Politiken Literary Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Ingola Lammers
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
BL · Herstellung: DiMo
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-32000-3V002
www.blanvalet.de
Remember who gave you silence when all you needed was love
Elvira Lind hat beschlossen zu sterben. Der Gedanke ist ihr über die Jahre öfter gekommen und jedes Mal wieder verflogen, doch nach sechs Monaten innerhalb geschlossener Mauern und hinter vergitterten Türen steht ihr Entschluss fest. Heute ist es so weit: Sie will das Bettlaken durch den Gittereinsatz in der Tür schlingen, hat schon kontrolliert, ob es hält, und sichergestellt, dass die Tür ihr Gewicht tragen kann, obwohl sie derzeit mehr wiegt denn je.
Im Grunde hätte sie sich bereits tags zuvor umbringen können, doch sie wollte ein letztes Mal das befreiende Gefühl des Einschlafens erleben und das Grauen verspüren, an einem weiteren Tag aufzuwachen, an einem letzten Morgen voller Panik angesichts ihrer Lage, einfach um sich selbst davon zu überzeugen, dass der Tod die einzig richtige Entscheidung ist. Endlich hat ihre Lebensangst ein Ende. Elvira hat nie verstanden, warum es Todesangst heißt, wenn es doch das Leben ist, das einem Angst macht.
Eine Kindheitserinnerung flackert auf, in der ihre Mutter eine Rolle spielt. Elvira versucht, sie festzuhalten, kann sie aber nicht vollends greifen und ärgert sich, als die Erinnerung ihr prompt wieder entgleitet. Von allen Dingen, die sie im Leben vermisst hat, macht dies ihr den größten Kummer: keine Mutter gehabt zu haben, die gesund, stark und liebevoll war. Elvira weiß natürlich, dass ihre Mutter krank war, dass das Problem in ihrem Kopf steckte und all die Unzulänglichkeiten nur darauf zurückzuführen waren. Dass die blöde Kuh vom Jugendamt nur deshalb der Ansicht war, Elvira könne nicht zu Hause wohnen bleiben. Kranke Mütter verlieren das Sorgerecht für ihre Kinder, während Väter mit allem davonkommen.
Elvira hat oft darüber nachgedacht, wie es hätte werden können, wenn ihre Mutter nicht krank gewesen wäre. Womöglich hätte sie Zimtschnecken gebacken, sie vom Hort abgeholt, zum Fußballtraining und zu Freundinnen gefahren, an Elviras Geburtstagen Luftballons aufgeblasen. Ohne die Krankheit hätte sie Elvira die Haare geflochten, ihr im Sommer die verschrammten Knie verpflastert, im Dezember mit ihr zusammen den Weihnachtsbaum geschmückt, Sahnebonbons gekocht und Geschenke eingepackt. Doch nichts dergleichen hat ihre Mutter gemacht. Weil sie krank war, im Kopf und in der Seele.
Elvira stemmt die Hände auf die Matratze und steht auf. Ihr Bauch sieht aus wie ein Wasserball, die Haut ist gerissen. Immer noch sechs Wochen Schwangerschaft. Es zieht im Kreuz, wenn sie sich bewegt. Gestern hatte sie eine Zwischenblutung und musste heulen, weil die nicht früher eingesetzt hatte. Sie hatte lange gehofft, eine Fehlgeburt zu erleiden, am Ende jedoch einsehen müssen, dass es dazu nicht kommen würde. Elvira weiß genau, dass sie nicht Mutter werden kann, nicht Mutter werden darf. Sie darf nicht riskieren, dass ihr Kind ähnlich aufwachsen muss wie sie selbst. Außerdem sitzt sie hinter Gittern, innerhalb geschlossener Mauern in klammen Räumen tief unter der Erde. Hier unten kann doch kein Mensch als Elternteil funktionieren – ganz gleich, ob man krank in der Seele ist oder nicht.
Noch ist es Nacht, noch ist keine Klaviermusik aus den Lautsprechern gekommen. Der Schein der gedimmten Lampe draußen im Aufenthaltsraum fällt durch die Gittertür und wirft ein verzerrtes Schattennetz auf den Steinboden. Elviras Zimmer ist klein und kühl, es gibt ein Bett, eine Toilette und ein Waschbecken aus Edelstahl, nichts weiter. Elvira weiß, dass die Tür abgeschlossen ist, aber das macht nichts. Man kann sich trotzdem ganz hervorragend daran erhängen.
Sie dreht sich um und will gerade das Laken abziehen, als sich etwas tief in ihrem Innern verkrampft. Schon in der nächsten Sekunde rauscht das Fruchtwasser aus ihr hinaus. Sie ist verdattert und fasziniert zugleich: Es ist so viel, dass es vom Boden bis hoch zu den Oberschenkeln zurückspritzt. Als sich die erste Wehe in ihr Kreuz krallt, schlägt die Faszination um in Panik. Die Schmerzen sind übermächtig und kommen nicht annähernd so zögerlich, wie es in dem Geburtsratgeber stand, der auf dem Boden neben ihrem Bett liegt. Elvira gerät ins Wanken, muss sich an der Wand abstützen, und allmählich dämmert ihr, dass Eile geboten ist. Sie muss sofort das Laken aufhängen, durchs Gitter ziehen, erst einen ordentlichen Knoten und darunter eine ausreichend große Schlinge binden.
Sie beugt sich vor, bekommt das Laken jedoch nicht mehr zu fassen, weil bereits die nächste Wehe einsetzt – so heftig, dass ihre Knie weich werden. Elvira sinkt laut stöhnend zu Boden, und ihr kommen die Tränen. Das hätte nicht passieren dürfen, sie kann dieses Kind nicht gebären, es muss in ihr sterben.
Sie schließt die Augen und versucht, alle Kraft zusammenzunehmen. Will aufstehen und das Laken abziehen, ehe die nächste Wehe kommt. Den Schmerzen die Stirn bieten und spüren, wie sie wieder verebben, und dann sofort die Tür in Angriff nehmen. Vielleicht schafft sie den Knoten, bevor die nächste Wehe einsetzt – die wird sie an der Tür über sich ergehen lassen, den Schmerz ertragen und dann die Schlinge binden. Drei Schmerzenswellen, schlimmstenfalls vier, so viel muss sie noch aushalten, dann ist es ausgestanden, und sie darf wieder schlafen: mit dem Laken um den Hals und dem ungeborenen Kind für alle Ewigkeit in ihrem Bauch.
Unwillkürlich schießt ihr durch den Kopf, wie ungewohnt es sich anfühlt, einen echten Plan zu haben, als auch schon die nächste Wehe einsetzt – und das mit solcher Wucht, dass ihr schwarz vor Augen wird. Es ist fast, als krampfte ihr ganzer Leib. Ihr Rücken zwingt sie, sich hintüberzustrecken. Elvira presst die Augen zu, versucht, die Sekunden zu zählen, doch der Schmerz ist unerbittlich. Stöhnend legt sie sich auf die Seite, und dann schreit sie den Irrsinn, der sich immer fester um ihr Kreuz und um ihren Bauch legt, hemmungslos hinaus. Kaum dass die Welle zu verebben beginnt, rollt die nächste heran – sie kommen so schnell hintereinander, dass es nicht mehr zu ertragen ist. Es zerreißt sie, und es fühlt sich an, als würde ihr Rücken schier explodieren. Elvira hört sich selbst schreien und beißt sich in die Wangen, bis die Haut komplett wund ist.
Zwei weitere Wellen, und sie kann dem Druck nicht länger standhalten. Sie stößt einen Schrei aus, bei dem ihre Stimme bricht, irgendwas passiert mit ihren Beinen, sie zittern unkontrolliert. Stöhnend wälzt sie sich auf den Rücken, legt die Hände unter die Oberschenkel und zieht die Knie an. Übelkeit steigt in ihr auf, und sie fühlt sich, als würden ihr die Augen aus dem Schädel platzen. Sie dreht den Kopf zur Seite, kotzt auf den Boden, heult und würgt. Stirbt sie jetzt? Auch gut, das wollte sie ohnehin.
Es folgen mehrere merkwürdige Minuten der Stille; Elvira liegt auf dem Steinboden auf dem Rücken, atmet durch den Mund, schließt die Augen, und ihr dämmert, dass es keinen Zweck mehr hat zu kämpfen. Die Zimmerdecke scheint Wellen zu schlagen, die Wände wölben sich, und sie ahnt, dass jetzt das Kind kommen wird. Sie hofft nur, dass es tot zur Welt kommt und dass es schnell geht.
Als die Schmerzen abermals einsetzen, fühlen sie sich anders an. Das Krampfen tut nicht mehr ganz so weh wie zuvor, mit einem Mal scheint ihr Körper zu funktionieren, er presst wie von selbst nach unten, scheint ganz von allein zu wissen, was er tun muss. Elvira greift erneut unter ihre Schenkel und zieht das Kinn in Richtung Brustkorb. Sie will schreien, kann aber nicht mehr, ihr Mund öffnet sich nicht, ihr ganzes Gesicht zieht sich zusammen. Sie schreit durch die Nase, und es ist, als würde ihr Unterleib in Flammen stehen. Bei der nächsten Wehe verliert sie die Kontrolle, spürt, wie ihr Unterleib zerreißt, als der Kopf des Kindes aus ihr herausgleitet. Es geht zu schnell – eine Geburt soll bis zu einem ganzen Tag andauern, wenn es das erste Kind ist, so steht es in ihrem Buch. Elvira wird das Buch in Fetzen reißen, sobald diese Hölle ausgestanden ist. Sie ist siebzehn und liegt mutterseelenallein auf einem Steinboden. Eingesperrt und mit Lebensangst.
Als sich die nächste Wehe anbahnt, holt sie tief Luft. Die Schmerzen lodern, und über die Tränen hinweg stöhnt sie laut auf, als der kleine Körper aus ihr hinausgleitet. Dann urplötzlich entspannt sie sich, obwohl ihr Unterleib immer noch schmerzt wie eine klaffende Wunde. Elvira schließt die Augen, lässt ihre Beine los, lehnt sich zurück und gestattet sich einen Moment der Ruhe auf dem kalten Boden.
Herr im Himmel.
Es ist vorbei.
Sie möchte nur einen Augenblick lang durchatmen, ehe sie sich wieder ihrem Tod widmen will. Dem Laken um ihren Hals. Es ist lange her, seit sie sich etwas so sehr gewünscht hat.
Ein Gurgeln zwischen ihren Beinen. Es klingt kümmerlich und schwach. Langsam schlägt Elvira die Augen auf, überlegt kurz, liegen zu bleiben, stemmt sich dann aber unter enormen Mühen schwerfällig hoch.
Bereits im nächsten Moment hört alles um sie herum auf zu existieren. Zwischen Elviras Beinen liegt ein kleines Mädchen: nackt und schrumpelig, mit vollem Haarschopf und zugekniffenen Augen. Die dünnen Ärmchen bewegen sich langsam, die Fäuste sind geballt, die Haut ist glitschig und flammend rot. Es ist, als würde das Herz in Elviras Brust explodieren. Nie zuvor hat sie etwas Schöneres gesehen.
Sie streckt sich nach dem Mädchen aus, schiebt ihm die Hände ungeschickt unter den Rücken, und ihre Arme zittern, als sie den kleinen Körper hochhebt. Sie ist übervorsichtig, als bestünde das Mädchen aus feinstem Glas. Als sie es sich an die Brust legt, fängt die Kleine an zu schreien. Erst ist es ein zittriger Laut, doch sowie die Lunge sich füllt, wird er stärker. Elvira schluchzt vor Erleichterung, neigt den Kopf und schmiegt ihre Wange an den kleinen Scheitel. Sie atmet den süßwarmen Duft der frisch geborenen Haut ein. Dieser Duft ist das Herrlichste, was sie je erlebt hat.
Dann kommt die Erkenntnis – glasklar und mit einer Überzeugungskraft, die Elvira nie für möglich gehalten hätte: Sie wird eine gesunde Mutter sein, eine liebevolle Mutter, eine, die der Kleinen den Weg weisen, sie lieben und sich um sie kümmern wird. Eine ganz andere Mutter, als ihre eigene es gewesen ist.
Elvira neigt erneut den Kopf, schnuppert an den Haaren ihres Babys und spürt, wie ihr die Tränen kommen. Diesmal jedoch vor Glück. Elvira Lind ist jetzt Mutter, und sie wird all dies hier überleben.
Im nächsten Moment erklingt aus den Lautsprechern Klaviermusik.
Vera Bengtsson hat feuerrote Haare bis zur Taille und die Ohren voller Piercings. An ihrer linken Hand fehlt ein Finger, so ist sie zur Welt gekommen, wurde in ihrer Kindheit oft dafür gehänselt und hat trotzdem ein Selbstbewusstsein wie vom anderen Stern. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Mutter ihr eingebläut hat, dass Vera ganz einfach besser ist als alle anderen. Oder dass ihr Vater ihr beigebracht hat, dass jeder da draußen, der anders denkt, ein kompletter Idiot ist.
Vera steht auf dem breiten Kiesweg vor der Överluleå-Kirche in Boden. Sie hat ihre Kamera vor sich, das schwarze Stativ ist in der Augustsonne heiß geworden. Sie beugt sich vor und kneift ein Auge zu.
»Wenn ihr euch ein bisschen näher zusammenstellen könntet … Ja, genau so, und jetzt die Hand auf den Rücken der Braut – und den Brautstrauß frontaler … Genau so! So ist es perfekt!«
Sie betrachtet sie durch den Sucher. Himmel, was für ein hässliches Paar. Dass zwei Minuspersonen zueinanderfinden … Wie passiert so etwas? Gibt ein hässlicher Mensch eine Anzeige auf, in der er nach einem anderen hässlichen Menschen sucht? Oder finden die sich andernorts – etwa wie in einer Kneipe, in die nur ugly people reingelassen werden?
»Wahnsinn, wie toll ihr ausseht! Das schönste Paar aller Zeiten!«
Auf ihren lauten Ruf hin lächeln die zwei Hässlichkeiten in die Kamera, was alles noch viel schlimmer macht.
»Nicht die Augen zusammenkneifen! Ich mache jetzt mehrere Fotos – und nicht den Strauß bewegen!«
Die Kamera löst mehrmals aus. Vera schießt immer mehr Bilder, als sie benötigt, damit ihre Auftraggeber das Gefühl haben, dass sie etwas für ihr Geld kriegen. Sie selbst weiß genau, welche Fotos sie am Ende nehmen wird. Das ist ihr im selben Moment klar, wo sie auf den Auslöser drückt. Vera ist einfach zu gut für diesen Job, um ein Sicherheitsnetz aus zighundert Bildern zu brauchen, die sie ja doch nur retuschieren müsste. Allerdings ist sie auch klug genug, ihrer Kundschaft zu geben, was diese glaubt haben zu wollen.
»Ich gehe jetzt ein Stück zurück, damit auch die ganze Kirche mit drauf ist. Ihr könnt kurz entspannen, wenn ihr wollt.«
Vorsichtig hebt sie das heiße Stativ hoch und macht ein paar Schritte über den Kiesweg. Die Sonne steht hoch am Himmel. Vera hätte sich den Nacken eincremen müssen, die Haut brennt bereits. Sie stellt das Stativ ab und wirft einen Blick durch den Sucher, stellt die richtige Brennweite ein und hebt dann die Hand, um das Brautpaar auf sich aufmerksam zu machen.
»Okay, ihr Lieben, weiter geht’s! Die Blumen bitte nach vorn!«
Natürlich wollen sie traditionelle Hochzeitsbilder. Ein paar Nahaufnahmen und einige mit der ganzen prächtigen Kirche im Hintergrund. Auf der Vordertreppe, Ganzkörperansicht. So unfassbar langweilig. Kein Aas wird sich diese Fotos je wieder ansehen wollen. Hinausgeworfenes Geld – für das Brautpaar, aber immerhin landet es direkt in Veras Tasche.
Ein Stück entfernt stehen die Hochzeitsgäste auf dem Rasen und lächeln verzückt. Unter Garantie werden sie gleich in einem langweiligen Landgasthof essen, und zwar trockenes Schweinefilet mit Kartoffelgratin, dazu Wein aus dem Karton in zu kleinen Gläsern. Billige Servietten und Kerzen in hässlichen Glas-Teelichthaltern von Ikea.
»Noch ein paar allerletzte … Könntet ihr vielleicht doch mal die Arme zu einer Siegergeste hochnehmen? Gegen Ende noch ein bisschen lockerer, dachte ich mir?«
Das Brautpaar wechselt einen Blick, ehe der Bräutigam in Veras Richtung knapp den Kopf schüttelt. Nee, das hässliche Langweilerpärchen will natürlich nur hässliche Langweilerbilder. Tja, dann gibt es davon eben noch ein paar mehr.
Vera schießt noch eine Handvoll Fotos, klappt das Kameradisplay aus und hält die Hand gegen die Sonne über die Augen. Wenn sie noch ein bisschen rückwärtsgeht und die Kamera anwinkelt, kriegt sie den Turm und den Himmel mit drauf. Das wäre eine interessante Serie, wenn die weiße Kirche aus dem harten Kiesweg in das ewige Blau emporzuwachsen scheint.
Sie nimmt das Stativ erneut hoch, geht ein paar Meter rückwärts und bleibt dann stehen. Sie richtet die Kamera neu aus und winkt dem Brautpaar auf der breiten Vordertreppe zu. Der Bräutigam blinzelt unsicher in die Kamera. Seine schiefen Eckzähne sehen nun wirklich nicht vorteilhaft aus, aber zum Glück sind sie aus dieser Entfernung auf den Fotos nicht zu erkennen.
Vera schießt weiter Bilder und will eben dem Brautpaar zurufen, dass sie sich aufrechter hinstellen sollen, als von oben ein Schrei ertönt. In der nächsten Sekunde zieht hinter den Brautleuten ein blauschwarzer Streifen vorbei. Instinktiv weiß Vera, dass da ein Mensch abgestürzt ist, und sie kann den Gedanken in ihrem Kopf nicht mal mehr fertig denken, als auch schon der erwartete dumpfe Aufprall ertönt. Es klingt, als wäre ein großer Stein auf Asphalt gedonnert, gefolgt von einem feucht-peitschenden Geräusch.
Langsam richtet Vera sich auf. Sie sieht dem Bräutigam in die Augen. Sein Lächeln ist wie weggefegt, und seine Lider flattern wie in Zeitlupe, bevor er sich umdreht. Im nächsten Moment gerät er ins Taumeln, streckt die Arme aus und tastet nach seiner frisch angetrauten Ehefrau. Vera folgt dem Paar mit dem Blick, als sie zur Seite ausweichen, und sieht, dass sie drauf und dran sind, die Treppe runterzustolpern. Die Braut schlägt die Hände vors Gesicht und ruft den Namen ihres Mannes. Einer der Gäste auf dem Rasen kreischt auf, vielleicht sind es auch mehrere, Vera kann die Geräusche nicht mehr unterscheiden. Das Brautpaar rennt an ihr vorbei, die Braut heult, und das Gesicht des Bräutigams ist so kreideweiß wie das Kleid seiner Frau.
Vera geht in die entgegengesetzte Richtung. Langsam schreitet sie den Kiesweg hoch und lässt dabei die Frau auf der Kirchentreppe nicht aus den Augen. Es ist, als stünde die Zeit still.
Erst als Vera an der Treppe angelangt ist, bleibt sie stehen und legt die Hand an das schwarze Treppengeländer. Das Bein der Frau ist in einem unnatürlichen Winkel verdreht, es ist eindeutig unterhalb des Kniegelenks gebrochen. Der Kopf ist zerschmettert und hat eine merkwürdige Form angenommen. Dunkles Blut ergießt sich über die Steintreppe, Schwarz, vermischt mit etwas anderem, das vage an graugelblichen Brei erinnert. Die Augen starren Vera direkt ins Gesicht. Ihr wird schwindlig, und sie klammert sich am Handlauf fest, während sie sich gleichzeitig darauf konzentriert, tief in den Bauch zu atmen. Der Anblick ist faszinierend. Am liebsten würde sie sich ihre Kamera holen. Sie weiß allerdings, dass ihr das die soziale Norm verbietet.
Immer noch schreien mehrere Hochzeitsgäste, irgendwer heult laut, ein anderer kotzt. Vera hört das Würgen wie in Zeitlupe, sämtliche Geräusche sind verzerrt und lang gezogen, wie lautmalerische Pinselstriche. Ein Mann brüllt, jemand möge einen Rettungswagen rufen.
Vera zwingt sich, den Blick von der Toten loszureißen. Langsam lässt sie ihn an der Kirche hinauf in Richtung des hohen Turms wandern. Dort oben hängen schwarz und solide inmitten von Weiß die Kirchenglocken. Von dort ist die Frau gekommen. Sie muss direkt vor dem massiven Glockenwerk gestanden haben, bevor sie durch die Luft und dann in die Unendlichkeit geflogen ist. Vera könnte nicht sagen, wie viel Zeit vergeht, doch irgendwann fangen die riesigen Glocken an, sich zu bewegen. Erst quälend langsam – ein träger Start –, doch dann hört man das Gottesläuten in ganz Boden. Oben im Turm ist niemand zu sehen. Die Glocken schwingen nur schwer und erhaben hin und her, der Klang legt sich über Veras Ohren und ertränkt das Heulen der Hochzeitsgesellschaft.
Calle Brandt steigt aus dem Wagen. Die Sonne steht immer noch hoch am Himmel. Er hält sich die Hand über die Augen, als er sich umsieht. Vor ihm erstreckt sich der Kirchhof mit akkurat gemähten Rasenflächen und ordentlich geharkten Kieswegen. In geraden Reihen stehen grauschwarze Steine mit eingemeißelten Buchstaben, Worte des Gedenkens an verstorbene Angehörige, Namen schmerzlich vermisster sowie vergessener Menschen, darunter bestimmt auch der eine oder andere, der seinen Tod als Erleichterung empfunden hat. An diesem Ort hat es zumeist ein Ende. Mal abgesehen von der Trauer und dem Verlust.
Er schließt den Wagen ab und hält auf das Tor im Eisenzaun zu. Dagny Haraldsson, steht auf dem Stein direkt hinter dem Tor. Hier ruhen fleißige Hände. Die arme Dagny – haben sie wirklich bloß ihre Flossen verbuddelt? Unwillkürlich fragt sich Calle, wo bitte schön der Rest der Dame begraben liegt.
Er folgt dem Kiesweg durch den südlichen Teil des Friedhofs und kommt an ein paar flachen roten Gebäuden vorbei. Der Eingang des Gemeindehauses ist mit Blumen und Ballons dekoriert, und vor der abgetretenen Vordertreppe stehen ein paar handgezimmerte Bänke. Eine Taube stakst hinauf in Richtung Waldrand. Am hinteren Ende des Wäldchens schließt sich das Seeufer an.
Die Kirche steht auf dem Grat einer lang gezogenen Anhöhe. Weiß verputzte Wände, das Dach teerschwarz und eine Treppe, die annähernd doppelt so breit ist wie das Kirchenportal. Es riecht nach frisch gemähtem Gras und sonnenheißem Asphalt. Dieser Sommer ist der wärmste seit Jahren.
Es sind bereits mehrere Streifen vor Ort, und die Kollegen sperren die Umgebung ab. Unten am Gehweg jenseits des Zauns haben sich ein paar Schaulustige versammelt, doch noch legt niemand die Geschmacklosigkeit an den Tag und will näher herankommen.
Calle hebt das blau-weiße Flatterband an, das zwischen ein paar Stangen gespannt wurde, und nickt einer jungen Kollegin mit Hijab zu, ehe er das letzte Stück auf die Kirchentreppe zugeht. Es ist wirklich brutal warm für Ende August und fast südländisch schwül. Vor der Treppe steht Mikael Malm, der bei ihnen nur Malmen heißt. Hoch konzentriert beäugt er sein Team aus der forensischen Abteilung, das langsam und methodisch die unmittelbare Umgebung absucht. Sie fotografieren mehr oder weniger alles, vermessen und sichern Finger- und Fußabdrücke und legen Platten an Stellen aus, wo die Ermittler sich frei bewegen dürfen. Calle bleibt neben Malmen stehen. Wie immer zeichnet sich eine tiefe Kummerfalte zwischen den Augenbrauen des Kollegen ab.
»Hej.«
Malmen dreht sich zu ihm um und sieht Calle überrascht an.
»Calle? Willkommen zurück!«
Calle steht breitbeinig da und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Seine bunten Unterarmtattoos wirken in der starken Sonne ausgebleicht. Er ärgert sich, dass er keine leichteren Schuhe angezogen hat. Bei rund dreißig Grad sind Schnürstiefel keine gute Idee.
»Darf ich es mir schon genauer ansehen?«
Malmen bedeutet ihm vorzugehen, und gemeinsam steigen sie die Treppe hinauf, bleiben aber auf der vorletzten Stufe stehen.
»Das sieht ja mal nach Bruchlandung aus …«
Als Malmen die Hände in den unteren Rücken stemmt, raschelt sein weißer Overall.
»Wenn sie nicht schon vor dem Absturz tot war, dann war sie es in dem Moment, als sie hier aufgeschlagen ist. Ist wohl nicht zu übersehen, dass der Kopf das meiste abbekommen hat.«
Einer von Malmens Spurentechnikern legt weitere Platten vor Calle hin, auf die er sich stellen kann, ohne Spuren zu verunreinigen. Calle macht einen Schritt nach vorn.
Die Frau ist jung, allerhöchstens fünfundzwanzig. Sie ist schlank, ohne dürr zu sein, hat lange blonde Haare, die mit rotschwarzem Blut und Gehirnmasse verschmiert sind. Sie sieht aus, als wäre sie einem Horrorfilm entsprungen, findet Calle. Die Augen sind weit aufgerissen, nur sehen sie nichts mehr. Die Haut auf Armen und Beinen ist unfassbar hell, das Gesicht fast durchscheinend. Brächte man sie in einen abgedunkelten Raum, wäre sie womöglich selbstleuchtend.
»Die ist ja noch blasser als ich, verdammt!«
Malmen streift die Frau mit dem Blick.
»Sie ist wirklich ungewöhnlich blass, muss ich auch sagen. Mein erster Gedanke war Albinismus, aber die Körperbehaarung ist pigmentiert, insofern kann ich Albinismus ausschließen.«
Calle neigt den Kopf leicht zur Seite und betrachtet den Kopf der Frau. Ja, das Haar ist hellblond, aber nicht weiß.
»Und die Todesursache dürfte der Sturz sein, ja?«
»Davon gehen wir aus, zumindest fürs Erste. Aber diesbezüglich hat Svetlana das letzte Wort.«
Langsam lässt Calle den Blick über die Frau wandern. Sowohl in den Haaren als auch auf der Haut fängt das Blut bereits an zu gerinnen. Bestimmt beschleunigt die Wärme den Prozess. Sie trägt ein hellblaues Nachthemd. Ein BH-Träger ist über ihre Schulter gerutscht. An den Füßen trägt sie schwarze Sandalen mit breiten Riemchen. Irgendwie sehen sie unmodisch aus. Und schläft man wirklich mit BH? Calle nimmt sich vor, Siv danach zu fragen.
»Anzeichen von Gewalt?«
»Wir haben nichts dergleichen feststellen können.«
Calle legt den Kopf in den Nacken und sieht zum Kirchturm hoch.
»Und von dort ist sie abgestürzt?«
»Ja.«
»Wart ihr schon oben?«
»Ja, im Turm sind wir fertig. Er ist immer noch abgesperrt, aber ihr dürft auch ohne Platten rein.«
Calle sieht wieder die Tote an.
»Wisst ihr schon etwas über sie?«
»Im Augenblick nicht. Sie wurde noch nicht identifiziert. Unterm Strich sieht es derzeit so aus, als wäre sie vom Turm gestürzt, sofort gestorben – also wie gesagt, falls sie nicht schon zuvor tot war. Sie ist jung, ungewöhnlich blass und für einen Kirchenbesuch ziemlich komisch gekleidet. Mehr hab ich derzeit nicht, aber wir arbeiten weiter, so schnell wir können.«
Calle zieht seinen T-Shirt-Kragen vom Hals.
»Verdammt, ist das warm …«
»Hat Idun noch frei?«
»Morgen noch. Am Montag ist sie wieder da. Ich gehe dann mal hoch, wenn du nichts weiter hinzuzufügen hast?«
Malmen stemmt erneut die Hände in die Hüften. Der weiße Vliesstoff-Overall rutscht ein Stück hoch, und Calle sieht die helle Hose, die Malmen darunter trägt.
»An sich nicht … Der Schädel ist aufgeplatzt, das Genick ohne Zweifel gebrochen. Darauf würde ich Gift nehmen, sogar ohne zuvor Svetlanas Meinung gehört zu haben.«
»Siv hat erzählt, sie sei während einer Hochzeit hier runtergerauscht – vor den Augen der Gäste. Außerdem sei die Kirche für jeden zugänglich gewesen, der an einem Samstag wie diesem eine Kirche besichtigen will. Der Notruf kam vor einer knappen Stunde, und wir wissen noch nicht, wer alles vor Ort war.«
Malmen kommt nicht mehr zu einer Antwort, weil eine Stimme von hinten sie unterbricht.
»Darüber wüsste ich halbwegs Bescheid.«
Calle dreht sich um. Auf dem Kiesweg vor der Kirchentreppe steht die Polizistin mit Hijab.
»Entschuldigung?«
Die Frau strafft die Schultern und sieht Calle ins Gesicht.
»Ich war mit der ersten Streife vor Ort und habe eine Liste derjenigen erstellt, die sowohl drinnen als auch draußen vor der Kirche waren. Die Liste ist überschaubar. Kann ich Ihnen gern schicken.«
»Das wäre toll. Und Sie sind …?«
»Fatima Behran.«
»Die Liste nehme ich gern. Ich lasse Ihnen meine E-Mail-Adresse zukommen.«
Sie nickt militärisch knapp.
Calle dreht sich wieder zu Malmen um.
»Ich gehe jetzt hoch. Stehst du mit Svetlana in Kontakt?«
»Sie braucht noch ein bisschen. Ich soll ihr schreiben, sobald die Leiche von hier abtransportiert wird.«
In der Kirche ist es merklich kühler als draußen. Calle seufzt erleichtert, als er den Eingangsbereich betritt. Hinter einer Zwischentür liegen der riesige Altarraum und stumme Bankreihen aus Nussbaumholz. Ganz vorn zur Rechten befinden sich ein halbkreisförmiger Altar sowie ein steinernes Taufbecken, darüber an der Wand hängt unter der himmelhohen Decke, an ein Holzkreuz genagelt, der leidende Jesus. Calle sieht ihm ins Gesicht, das er aufgrund der Schmerzen verzerrt, die er angeblich um der Menschheit willen erduldet. Calle glaubt nicht an Gott, das war schon als Kind so, trotzdem hat er Respekt vor dem Glauben anderer Menschen, auch wenn er nicht begreift, wie man sein Geld oder seine Zeit einem solchen Hirngespinst widmen kann.
Eine Bewegung ein Stück entfernt erregt seine Aufmerksamkeit. Der Pfarrer. Er steht von einer Kirchenbank auf und kommt auf Calle zu.
»Guten Tag. Mein Name ist Valdemar Niska.«
Der Pfarrer ist sichtlich betagt, hat das Rentenalter zweifellos schon länger hinter sich. Er schüttelt mit beiden Händen und merkwürdig weichem Druck Calles Hand.
»Ich bin Calle Brandt und Ermittler im Dezernat für Kapitalverbrechen.«
Valdemar verschränkt die Hände über dem Bauch – eine Geste, die nach Calles Dafürhalten als Berufskrankheit durchgehen dürfte und von Jahren im Dienst des Herrn herrührt.
»Wir hier in der Kirche sind angesichts dieses Vorfalls natürlich zutiefst betroffen. Es ist traurig und erschütternd.«
»Wissen Sie, wer die Frau war?«
Valdemar schüttelt den Kopf.
»Ich habe sie noch nie gesehen. Das arme Mädchen.«
»Waren Sie draußen, als sie vom Turm gestürzt ist?«
»Ich war in der Sakristei und habe mich umgezogen. Ich hatte eben erst das Brautpaar gesegnet, das draußen auf der Treppe stand. Dann habe ich den Schrei gehört und bin nach draußen gerannt. Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen – ich könnte wichtige Spuren zerstört haben. Ich hab durchs Fenster gesehen, wie Ihre Kollegen auf der Treppe alles mit kleinen Pinselchen abfahren.«
»Ich glaube nicht, dass das so wesentlich ist … Wichtiger wäre der Kirchturm, weil sie von dort abgestürzt ist. Waren Sie auch oben?«
Valdemar hebt beide Hände. Am linken Ringfinger trägt er einen dicken Siegelring.
»Nein, nein, absolut nicht! Ich habe den Notruf gewählt, bin nach draußen gelaufen und habe versucht, das Brautpaar und die Gäste zu trösten. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte – was vielleicht komisch klingt, weil ich mit Krisen doch eigentlich vertraut sein sollte. Aber dass jemand hier in der Kirche zu Tode kommt … Darauf war ich nicht vorbereitet, das muss ich zugeben.«
Calle kneift misstrauisch die Augen zusammen, obwohl er weiß, dass er es besser bleiben lassen sollte.
»Trotzdem wirken Sie ziemlich gelassen.«
Valdemar zuckt leicht mit den Schultern.
»Es ist meine Aufgabe, Ruhe zu bewahren.«
»Wie viele Kirchenbedienstete waren denn vor Ort?«
»Nur ich. Der Organist war schon weg, immerhin ist heute Samstag, sogar für uns, die wir am Wochenende arbeiten.«
Er lächelt schief.
»Kein Hausmeister oder so was in der Art?«
Calle dämmert, dass er nicht sonderlich gut darüber Bescheid weiß, wer alles in einer Kirche arbeitet.
»Nur ich. Und die Hochzeitsgesellschaft.«
»Andere Besucher, die nicht zu der Gesellschaft gehörten?«
Valdemar schüttelt bedächtig den Kopf.
»Ich glaube nicht … Außer der Frau auf der Treppe natürlich. Ich meine, die hat nicht zum Brautpaar gehört.«
»Und Sie haben nicht gesehen, wie sie den Turm hochgestiegen ist?«
Neuerliches Kopfschütteln.
»Es kann natürlich sein, dass sie bei den Gästen gesessen hatte und ich deshalb nicht weiter darüber nachgedacht habe, insofern weiß ich es nicht, aber da kann das Brautpaar besser Auskunft geben.«
»Wie komme ich denn hoch auf den Turm?«
Valdemar dreht sich in Richtung Altar.
»Die Tür dort vorne rechts, neben der kleineren Orgel. Die linke führt in die Sakristei und ins Büro.«
»Und ist die Tür normalerweise verschlossen?«
»Normalerweise schon. Der Schlüssel hängt an der Wand neben meiner Bürotür. Als ich mich dort umgezogen habe, stand die linke Tür offen.«
»Ich gehe mich mal oben umsehen. Könnten Sie bitte unterdessen hier warten?«
Zögernd zeigt Valdemar zum Ausgang.
»Wenn Sie erlauben, würde ich mich gern weiter um die Brautleute kümmern. Ich könnte dort nützlich sein, glaube ich, und es fühlt sich gut an, zu helfen – oder es zumindest zu versuchen.«
Calle gibt grünes Licht und geht dann auf die Tür zu, hinter der eine Treppe hoch in den Kirchturm führt.
Sowie er die Tür aufschiebt, schlägt ihm warme Sommerluft entgegen. Leise seufzend macht er sich an den Aufstieg. Die Treppe ist steil und will kein Ende nehmen, trotzdem kommt Calle nicht nennenswert außer Atem. Die Reha in allen Ehren, aber das, was er heimlich nebenher betreibt, scheint weitaus bessere Ergebnisse zu erzielen: Er geht laufen wie ein Besessener. Er befolgt zwar artig den Rat des Physiotherapeuten und macht seine Übungen, aber auf die Laufrunden, sowohl draußen als auch in der Halle, kann und will er nicht verzichten. Nur ins Hermelin geht er nicht, in das Fitnessstudio, in dem Idun und er sonst immer trainiert haben. Sie wäre stinksauer, wenn er dort auftauchen würde, und Calle weiß, dass sie die Anweisungen gelesen hat, die zu Hause an seinem Kühlschrank hängen. Als Idun dort gestanden und den Zettel studiert hat, hat er sich sofort darüber geärgert. Dass sie aber auch ständig kontrollieren und den Zeigefinger heben muss, damit er auch ja nicht mehr Sport treibt als erlaubt! Als würde sie es anders machen, wenn sie angeschossen worden wäre. Idun war nicht mal die Hälfte von Calles Zeit krankgeschrieben, deshalb sollte sie besser den Mund halten – oder ihn ermutigen. Aber natürlich tut sie das nicht, weil sie sich Sorgen um ihn macht, und zwar so große, dass er jetzt sogar den Mitgliedsbeitrag für ein zweites Fitnessstudio hinblättern muss, nur um ihr aus dem Weg zu gehen.
Er erreicht den oberen Absatz. Die Tür nach draußen steht offen, es riecht nach Sommerblüte. Calle tritt über die Schwelle und stellt erleichtert fest, dass das Dach den nötigen Schatten wirft. Links an der Außenmauer hängt ein Blechschrank, der mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Bestimmt verbirgt sich darin die elektrische Anlage, die die Kirchenglocken steuert. Es sind zwei, die aussehen wie gigantische rabenschwarze Gaumensegel. Wenn die jetzt loslegten, würde Calle wohl für alle Zeiten sein Gehör einbüßen.
Von hier oben kann er die komplette Innenstadt überblicken. Das Hotel Bodensia überragt die Wohnhäuser und Ladengeschäfte. Die Fenster dort sehen im gleißenden Sonnenlicht aus, als wären sie weiß lackiert.
Langsam geht er am Geländer entlang, das rechtwinklig um die Glocken verläuft. Er kann nichts Auffälliges entdecken.
»Von hier muss sie abgestürzt sein.«
Obwohl er allein oben ist, spricht er es laut aus.
Dann hat er die Vorderseite erreicht, lehnt sich ein Stück vor und sieht nach unten. Die Brüstung ist überraschend niedrig.
Direkt unter ihm liegt die Tote. Malmens Spurentechniker huschen um die Leiche herum, pinseln, fotografieren, machen sich Notizen. Womöglich hat sie sich umgebracht? Ehe er weiterermitteln kann, muss Calle herausfinden, wer sie war. Er will zuallererst die Hochzeitsgesellschaft befragen, ahnt aber schon, dass er so nicht weiterkommt. Es hätte längst die Runde gemacht, wenn die Tote zu den Brautleuten gehört hätte. Schritt zwei wäre, die Rechtsmedizinerin mit der Identifizierung zu beauftragen. Der Zahnstatus wäre das Einfachste – oder der Daumenabdruck, vorausgesetzt, die Frau hatte einen schwedischen Pass.
Er blickt hinüber zu den Leuten, die sich dem Anlass zu Ehren in Schale geworfen haben und jetzt nervös auf dem Kiesweg im Schatten der Birken stehen. Mehrere weinen, eine ältere Dame sitzt, an den schwarzen Eisenzaun gelehnt, am Boden, ein jüngerer Mann fächelt ihr mit einem Strohhut Luft zu. Eine graue Katze huscht hinter dem Zaun vorbei, springt über die niedrige Hecke zum dahinterliegenden roten Gebäude und verschwindet um die Ecke. Svetlana wird die Tote identifizieren, da ist Calle sich sicher.
Er wirft einen Blick auf sein Handy. Er will Idun anrufen, obwohl sie immer noch Urlaub hat, und wenn Siv richtigliegt, dann dürfte Idun mit dieser Ermittlung auch absolut nichts zu tun haben wollen – zumindest nicht vor kommenden Montag. Aber das ist Calle natürlich egal.
Emma kauert auf dem Fensterbrett. Sie hat den Kopf so weit gedreht, wie es nur geht, und presst die Wange gegen die Scheibe, um zu sehen, was drüben bei der Kirche vor sich geht. Das Glas fühlt sich kühl auf ihrer Haut an.
Hinter ihr tritt Kajsa ungeduldig von einem Bein aufs andere.
»Kannst du mal rutschen? Verdammt, Emma, ich will auch etwas sehen!«
Kajsa spricht so leise, dass Emma einfach so tun kann, als hätte sie nichts gehört. Sie weiß, dass Kajsa sich nur zu fluchen traut, solange Joanna nicht in der Nähe ist. Eigentlich ist Kajsa ein Feigling, vierzehn, und damit drei ganze Jahre jünger als Emma, Joanna und Agnes. Sie würde es nie wagen, ausfällig zu werden, obwohl sie Emma körperlich überlegen ist.
»Willst du Prügel, oder was? Rutsch mal, hab ich gesagt!«
Kajsa klingt richtig verärgert, doch Emma antwortet, als hätte sie abermals nichts gehört.
»Da stehen mehrere Streifenwagen. Sie haben auf dem Gehweg geparkt. Und sie haben dieses Plastikband aufgehängt, auf dem Polizei steht. Das kann ich von hier aus zwar nicht lesen, aber ich weiß, dass das draufsteht, das hab ich so schon im Fernsehen gesehen.«
Um ganz ehrlich zu sein, hat sie es auch schon in der Realität gesehen, aber das erzählt sie Kajsa natürlich nicht.
»Mann, Emma, du bist nicht die Einzige, die etwas sehen will!«
Sie hört Kajsa an, dass sie drauf und dran ist, zu heulen. Emma gibt nach und rutscht von der Fensterbank. Sie hat alles gesehen, was sie sehen konnte. Außerdem braucht Kajsa jetzt wirklich keine Szene zu machen – weil Auffallen mit das Letzte ist, was Emma will.
»So, du bist dran.«
Sie schiebt sich an Kajsa vorbei, überlegt flüchtig, sich an den Esstisch zu setzen, will dann jedoch kurz allein sein. Ungelenk klettert Kajsa auf die Fensterbank. Unter ihrem Gewicht knarzt das Holz.
»Ich sehe die Streifenwagen! Sind das viele!«
Emma geht in Richtung Glaskasten, in dem Knut sitzt und auf seinen Bildschirm glotzt. Joanna behauptet gern, dass er sich Pornos ansehe, dabei glaubt Emma eher, dass er Berichte schreibt und notiert, wie der Vormittag war und welche lästigen Vorkommnisse es gab. Bestimmt soll er auch über die positiven Vorkommnisse schreiben, aber wenn man bedenkt, wie der Vormittag bislang verlaufen ist, dürfte ihm dahingehend nicht allzu viel einfallen.
Es hatte schon vor dem Frühstück angefangen. Joanna war in der Waschküche ausgerastet – weshalb, weiß Emma nicht, und genau genommen ist heute nicht einmal Joannas Waschtag. Doch innerhalb von Sekunden hat sie sowohl Kajsa vors Schienbein getreten als auch versucht, Beata eine Kopfnuss zu verpassen. So ist das mit Joanna: binnen eines Wimpernschlags von null auf hundert, ohne dass irgendwer sich erklären könnte, warum. Und weil Knut heute Dienst hat, ist Joanna prompt in der Iso gelandet. Dort sitzt sie seither fest, und Beata sitzt vor der Tür und bewacht die stinkwütende Joanna, die erst gestern verkündet hat, dass sie sich umbringen will, sobald sie die Gelegenheit dazu hat. Typisch Knut, dass er die Überwachung nicht selbst übernimmt. Er steckt die Mädchen oft in die Iso, aber aufpassen darf dann jemand anders.
Emma klopft vorsichtig an die Fensterscheibe. Nicht weil sie will, sondern weil sie ahnt, dass sie es tun sollte. Es ist schließlich normal, ungewöhnliche Vorgänge drüben an der Kirche zu erwähnen, und Emma will, dass die anderen glauben, sie wäre normal, weil das Normale am wenigsten auffällt.
Knut blickt auf und sieht sie irritiert an.
»Da stehen Streifenwagen vor der Kirche.«
Er zuckt mit den Schultern.
»Und? Das hat ja wohl nichts mit uns zu tun.«
Durch die Glasscheibe klingt seine Stimme gedämpft. Bevor Emma mehr sagen kann, fuchtelt er mit der Hand in ihre Richtung. Die Jugendlichen dürfen das Glas nicht berühren, weder anklopfen noch dagegenschlagen oder treten. Auch nicht ablecken – das weiß Emma, weil Joanna jedes Mal, wenn sie es ausprobiert, Ärger bekommt.
Emma geht weiter, in ihr Zimmer. Von hinten hört sie, dass Kajsa irgendwas von einem Leichenwagen sagt, aber Emma ist das inzwischen egal. Sie hat vor, sich heute vorbildlich zu verhalten, damit sie am Abend im Aufenthaltsraum sitzen und Nachrichten gucken darf. Da erzählt ein Reporter alles, was die Allgemeinheit wissen muss, und mehr braucht auch eine Bewohnerin des Bodengården nicht zu wissen. Ihre Welt ist mehr oder weniger von der Realität dort draußen abgekoppelt. Besser, man schert sich um nichts und konzentriert sich darauf, den Tag zu überstehen und das Beste aus dem Hier und Jetzt zu machen. Man streitet so wenig wie möglich, hält die Füße still, sitzt seine Zeit ab und fällt nicht weiter auf. Darin ist Emma gut – sie hält sich im Hintergrund und sitzt alles aus. Das haben Molly und sie in der Kindheit regelrecht trainiert. Wenn man Emma fragen würde, dann ist sie eine Expertin darin, unter dem Radar zu fliegen – eine unschätzbar wertvolle Fähigkeit, wenn man im Bodengården untergebracht ist.
Die Zwillingsschwestern Molly und Emma kommen wenige Minuten nach Mitternacht zur Welt. Es ist Januar und brutal kalt draußen, doch im Kreißsaal in Sunderby ist es warm, die Beleuchtung gedimmt, die drei Hebammen und zwei Krankenschwestern lächeln, und der Vater ist drauf und dran, in den letzten quälenden Minuten, in denen er die schweißnasse Hand der Mutter hält, ohnmächtig zu werden.
Molly kommt als Erste: Begleitet von einem lang gezogenen Schrei, gleitet sie heraus – ein schmieriges, pummeliges Bündel mit rotem Mund und bläulich schrumpeliger Haut. Eine Hebamme legt sie der Mutter an die Brust und verkündet: ein properes Mädchen, es wiege sicher vier Kilo. Die Mutter ist überwältigt und kann überhaupt nicht fassen, was ihr gerade widerfährt. Der Vater steht neben ihr und starrt seine erstgeborene Tochter an. Er traut sich kaum noch zu atmen, hat Todesangst, auch nur einen winzigen Augenblick zu verpassen.
Fünf Minuten lang darf sich die Mutter ausruhen. Dann setzen erneut die Presswehen ein, und diesmal sind lediglich zwei nötig, bis das zweite Mädchen zwischen den ermatteten Beinen hervorschlüpft. Emma atmet nicht. Die Hebamme rubbelt sie grob mit einem Frotteehandtuch ab, und nach einer gefühlten Ewigkeit ist endlich ein Wimmern zu hören. Emma ist klein. Sie wird neben ihre fünf Minuten ältere Schwester gelegt, hat nicht genug Kraft, um zu schreien, kann aber immerhin hinreichend selbstständig atmen. Die Mutter weint, möglicherweise teils überwältigt von Liebe, eher aber vor Erleichterung. Der Vater traut sich zu guter Letzt auszuatmen. Seine Mädchen sind da, eins davon mopsig und eines dünn, das eine normal groß, das zweite winzig. Zwillinge, Schwestern. Das Leben kann so herrlich sein.
Nach einer ersten Untersuchung bekommt die Mutter beide Babys wieder an die Brust gelegt und wird mit einer weichen Decke zugedeckt. Dann verlässt das Klinikpersonal den Raum. Zurück bleibt die kleine Familie, die eben noch aus zwei Menschen bestand, von nun an jedoch ein Quartett ist. Auf einen Schlag verdoppelt.
Der Vater versucht zu sprechen. Mit einem dicken Kloß im Hals bringt er flüsternd sein unbeschreibliches Glück zum Ausdruck. Die Mutter lächelt ermattet, sagt, dass sie müde sei und schlafen wolle. Begreift hier denn niemand, wie unendlich sie zu bemitleiden ist? Der Vater ist verwirrt, als sie die Zwillinge wieder abgeben will, als sie sie abermals wiegen und vermessen lassen möchte. Denn vielleicht seien die Zahlen ja falsch gewesen. Ob der Unterschied wirklich so groß sein könne? Außerdem will die Mutter duschen. Einen Moment lang allein vor sich hin weinen. Warum sind die Mädchen so unterschiedlich groß? Hat das eine sich alle Nahrung geschnappt? Außerdem hasst die Mutter ihren Körper. In der Schwangerschaft ist sie aus dem Leim gegangen, ist von innen heraus angeschwollen, hat hängende Brüste bekommen, einen schwabbeligen Bauch und Oberschenkel so dick wie Baumstämme. Sie riecht selbst, dass sie nach Schweiß stinkt, will sich die Zähne putzen und saubere Sachen anziehen, ihre eigenen Sachen anstelle des entwürdigenden, billigen Baumwoll-Krankenhauskittels.
Molly wimmert an ihrer Brust, tritt mit den Füßen in den schwammigen Bauch der Mutter. Gierig reißt sie den kleinen Mund auf, will augenblicklich Milch. Emma liegt still daneben und atmet flach, will gar nichts zu sich nehmen. Wird die Kleine zur anderen aufschließen, oder bleibt das jetzt so? Und weshalb steht der Vater da und hat nur Augen für die Babys, obwohl er deren Mutter doch viel mehr lieben sollte? Schließlich war sie es, die heute um ihr Leben gekämpft hat.
Der Vater weint schon wieder und streichelt die Stirn der Mutter. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, flüstert er ihr zärtlich zu, dass er sie und die Mädchen liebe – fast als würde er versuchen, ihr diplomatisch zu verstehen zu geben, dass seine Liebe von nun an auf drei verteilt sei. Die Mutter hingegen weiß, dass sie den verlogenen Worten nicht trauen darf. Sie schließt die Augen, lächelt, flüstert das Gleiche zurück, spürt aber, wie etwas in ihr für alle Zeiten zerbricht. Sie hat das Siegerpodest räumen müssen.
Das Klingeln kommt von weit her. Idun Lind hat tief geschlafen und geträumt. Ihr Körper ist bleischwer, sie bekommt die Augen nicht auf und entscheidet schlaftrunken, dass der Anruf auf der Mailbox landen soll. Es ist Sonntag, offiziell ihr letzter Urlaubstag, und sie hat nicht vor, an diesem Tag früh aufzustehen.
Das Klingeln verstummt. Idun ist drauf und dran, wieder in den Tiefschlaf abzugleiten, als ihr Handy abermals klingelt. Sie seufzt, zwingt sich, die Augen aufzuschlagen, spürt Tareqs Hand auf ihrer Brust. Sie legt ihre Hand obenauf und dreht den Kopf in seine Richtung. Sein dichter Bart streift weich ihre Wange.
»Da ruft jemand an …«
Sie sagt es so leise, dass sie es selbst kaum hört. Tareq schläft weiter und atmet lautlos an ihrer Schläfe. Das Handy verstummt, und Idun denkt kurz darüber nach, sich wieder umzudrehen, als es schon wieder losgeht.
»Verdammt noch mal …«
Sie schlägt die Decke zurück und schiebt die Beine über die Bettkante. Sie hat nur eine Unterhose an und zittert an der kühlen Luft, greift nach Tareqs weißem Hemd, das über der Stuhllehne liegt, knöpft zwei Knöpfe zu, zieht ihr Haargummi vom Handgelenk und bindet sich einen zerzausten Dutt. Die Müdigkeit macht sie träge, das Handy hört auf zu klingeln, klingelt dann aber sofort wieder los.
Das Geräusch kommt aus ihrer Tasche. Sie beugt sich nach unten, wühlt herzhaft gähnend in der Tasche herum, ertastet das Handy und wirft einen Blick aufs Display.
Sie seufzt und geht ran.
»Du weißt genau, dass ich noch Urlaub habe.«
Sie lässt sich schwer auf den Boden sinken, schließt die Augen und presst die Finger der freien Hand auf ihre Lider. Der Fußboden ist kalt, und sie kriegt Gänsehaut an den Beinen. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen kann sie sehen, dass die Sonne gerade erst aufgeht. Es ist unmenschlich früh. Trotzdem klingt Calle hellwach.
»Heute noch, stimmt. Aber ich dachte, du könntest vielleicht trotzdem einen Tag früher zurückfliegen.«
Idun massiert sich die Wangen.
»Warum sollte ich?«
Sie hört ihn durchs Handy atmen.
»Ich war gestern in einer Kirche.«
»Dann hast du zu Gott gefunden? Gratuliere. Okay, wenn ich mich wieder schlafen lege?«
Calle antwortet nicht sofort, und Idun denkt darüber nach, einfach aufzulegen.
»Ich war beruflich dort. Wir haben eine Leiche am Hals.«
»Ach.«
Durchs Handy hört sie entfernte Sirenen. Sie wundert sich kurz, warum Calle an einem Sonntag ernsthaft so früh bei der Arbeit ist, bringt es aber nicht fertig, zu fragen. Im Grunde ist es ihr auch egal.
»Möglicherweise ein Selbstmord, aber wir gehen wie immer erst mal von einem Verbrechen aus.«
Idun muss einen Seufzer unterdrücken. Warum erzählt Calle ihr das, obwohl sie das übliche Vorgehen doch in- und auswendig kennt?
Sie friert, steht auf, setzt sich in den braunen Ledersessel am Fenster. Sie gähnt und zieht sich die Zierdecke von der Armlehne über die Beine. Tareq liegt immer noch im Bett und schläft, sein Gesicht ist entspannt, der Mund halb offen. Sein schwarzer Bart ist wirklich wahnsinnig dicht, damit kann Calle nicht mithalten.
»Raus mit der Sprache. Ich bin zu müde, um Fragen zu stellen.«
Sie will nichts lieber, als zurück unter die Decke zu kriechen, und ist insgeheim enttäuscht, dass die Müdigkeit zu verfliegen droht.
»Es ist halb drei Uhr morgens – ich weiß, das ist früh, aber wenn du den ersten Flieger kriegen willst, musst du in einer Stunde los nach Arlanda. Die Schlangen an der Security sollen ja die Hölle sein.«
Idun will bereits protestieren, als Calle auch schon weiterspricht.
»Ich weiß, du bist bei Tareq. Siv hat geplaudert, nach zwei Gläsern Wein hat sie gesungen wie eine Lerche. Schön für dich, Idun – und wie ist er so, privat?«
»Ich lege jetzt auf.«
»Schon gut, schon gut!«
Sie kann Calle anhören, dass er grinst. Dann klingt er sofort wieder ernst.
»Eine junge Frau ist während einer Hochzeit hier vom Kirchturm gestürzt. Oder besser gesagt: direkt anschließend. Das Brautpaar stand noch auf der Kirchentreppe und hat Fotos gemacht, als das Mädchen von oben runtergesegelt kam. Aus der Höhe ein brutaler Aufprall. Wir sprechen von einem geplatzten Schädel und überall Gehirnmasse – sogar auf dem Brautkleid.«
Idun schließt erneut die Augen. Sieht Bodens große Kirche vor sich. Auf dem dortigen Friedhof liegt ihre Mutter begraben. Ihre kleine Schwester Mika und ihr Vater gehen manchmal hin, zünden eine Kerze an und bringen Blumen. Sie selbst war seit der Beerdigung nicht mehr dort.
»Wie alt war sie? Polizeibekannt?«
Sie kann es nicht lassen, spürt, dass etwas erwacht, was zuvor in ihr geschlummert hat. Calles Stimme verändert sich, klingt jetzt fast demütig.
»Svetlana hat sie spätnachts identifiziert. Sie war zwanzig, gehörte nicht zur Hochzeitsgesellschaft, das haben wir schon sichergestellt. Trotzdem war sie vor Ort – und jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie sie hoch auf den Glockenturm kam. Der war am Samstag aus unerfindlichen Gründen nicht abgeschlossen. Der Schlüssel hängt normalerweise im Flur neben dem Pfarrbüro, deshalb könnte die Frau ihn selbst geholt haben; das wissen wir noch nicht. Aber niemand hat sie in der Kirche gesehen. Vielleicht war sie schon länger oben im Turm – schon bevor die Hochzeit begonnen hat. Tja, und jetzt dachte ich mir, dass wir beide diesen Fragen nachgehen könnten. Du bist ja bekanntermaßen der analytischste Kopf im ganzen Revier.«
Idun massiert sich die Nasenwurzel. Gott, was erzählt er denn da? Das sind eindeutig zu viele Infos so früh am Sonntagmorgen.
»Dann soll ich jetzt meinen Urlaub abbrechen, um Fragen zu klären, die du mindestens genauso gut klären kannst? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich dazu Lust habe.«
»Lass die Schmeicheleien. Wir wissen beide, dass du die Beste in ganz Nordschweden bist. Du bist sogar mir einen Hauch überlegen.«
Tareq bewegt sich im Schlaf. Idun sieht zu, wie er sich umdreht und ihr den Rücken zukehrt. Sie muss schlucken, als sie die Brandmale auf seinem Rücken sieht. Auf der Schulter hat er eine zerklüftete Narbe von einer lange verheilten Schussverletzung.
Sie räuspert sich leise.
»Wenn ich ehrlich sein soll, wollte ich Anders schon anrufen und ihm sagen, dass ich noch eine Woche wegbleiben will. Ich hab noch jede Menge Resturlaub. Die Personalabteilung liegt mir deshalb seit Jahresbeginn in den Ohren – und Anders im Übrigen auch. Die Gewerkschaft mag es gar nicht, wenn man Urlaubstage vor sich herschiebt.«
Es knistert in der Leitung. Idun ahnt, dass Calle in diesem Moment abwinkt, auf diese abfällige Art, die er immer an den Tag legt, wenn ihm etwas nicht passt.
»Iddan, du kannst deinen Urlaub jetzt nicht verlängern. Ich hab jetzt schon zwei Wochen ohne dich hinter mir – weißt du überhaupt, wie ätzend das ist? Siv gibt sich alle Mühe, damit es hier glattläuft, aber Berichte schreiben und Strategiesitzungen, das ist einfach so verdammt langweilig. Komm nach Hause! Tareq kannst du doch auch an Weihnachten vögeln.«
Idun schüttelt den Kopf, auch wenn Calle es nicht sehen kann. Sie hat nicht vor, ihr Privatleben mit ihm auszudiskutieren.
»Arbeitest du in Teilzeit, so wie der Physiotherapeut es dir empfohlen hat?«
Calle lacht so laut, dass Idun das Handy vom Ohr weghalten muss.
»Teilzeit? Spinnst du? Ich arbeite doppelte Vollzeit! Calle fucking Brandt liegt doch nicht auf der faulen Haut!«
Sie will gerade antworten, als sie sieht, dass Tareq aufgewacht ist. Er liegt jetzt auf dem Rücken, hat einen Arm hinter dem Kopf verschränkt und sieht sie verschlafen an. Als sie seinen Blick erwidert, lächelt er sie durch seinen Bart hindurch verpennt an.
»Tut mir leid, Calle. Ich verstehe schon, dass du mich vermisst, aber ich will noch eine Woche hier in Stockholm bleiben. Wir sehen uns nächsten Montag – und ich mach es sogar wieder gut, indem ich richtig früh da bin. Was meinst du – sollen wir den Herbst mit einer gemeinsamen Joggingrunde einläuten?«
»Dann entscheidest du dich allen Ernstes für Tareq statt für mich?«
Calle klingt pseudobeleidigt. Tareq zieht an seiner Bettdecke, und sie rutscht ihm von der Hüfte. Idun hätte auch so gewusst, dass er nackt geschlafen hat.
»Genau das.«
Sie schließt kurz die Augen. Als sie sie wieder aufschlägt, hat Tareq die Decke komplett beiseitegeschoben. Ihr läuft ein wohliger Schauder über Arme und Nacken.
»Und es gibt nichts, was ich noch sagen kann, damit du es dir doch noch anders überlegst?«
»Tschüss, Calle. Wir sehen uns in einer Woche!«
Sie hat fast aufgelegt, als sie gerade noch hört, dass er mit ernster Stimme weiterspricht.
»Auch nicht, wenn ich dir erzähle, dass es sich bei der Toten um Elvira Lind handelt?«
Idun erstarrt. Calles Aussage klingt seltsam lang gezogen, und in ihrem Kopf beginnt es, zu rauschen. Unwillkürlich kommen ihr alte Erinnerungen.
»Was hast du gerade gesagt?«
»Ich hab gesagt, dass es sich bei der Toten leider um Elvira Lind handelt.«
Idun schwirrt der Kopf so sehr, dass es in den Schläfen brennt. Schlagartig fühlt sie sich verraten. Jahrelang hatte sie den Deckel darauf, und trotzdem droht es darunter jetzt wieder zu brodeln.
»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
Mit einiger Mühe reißt sie sich zusammen. Sie hört, wie Calle zögert, und wundert sich. Dass Calle Brandt zaudert, sieht ihm nicht ähnlich.
»Weil du dir die Vorgeschichte nicht neutral angehört hättest. Weil sogar du voreingenommen gewesen wärst, ganz egal, wie verdammt gut du ansonsten bist, Iddan.«
Sie antwortet nicht. Ihr ist natürlich klar, dass er recht hat. Gewisse Dinge muss man sich erst unvoreingenommen anhören, ganz gleich, wie es hinterher aussieht, wenn man das große Ganze vor sich hat. Trotzdem fühlt sie sich hintergangen.
Tareq stemmt sich im Bett hoch. Die Energie im Zimmer hat sich verändert, und er sieht sie fragend an. Beschämt erwidert sie seinen Blick und steht vom Sessel auf.
»Buch mir den ersten Flug.«
»Hat Siv schon erledigt. Er geht um 6.00 Uhr ab Arlanda.«
Idun hält Ausschau nach ihrer Jeans.
»Ich brauche auch ein Taxi …«
Am Fußende des Bettes liegt ein Klamottenhaufen.
»Kommt in einer Dreiviertelstunde. Du kannst also noch eine Runde vögeln oder wahlweise frühstücken.«
Idun legt auf und wirft das Handy in ihre Tasche. Bekümmert sieht sie Tareq an.
»Ich muss nach Hause. Tut mir leid.«
Er sieht sie aus seinen dunklen Augen an. Idun spürt, wie der Boden unter ihr ins Wanken gerät. Sie ist drauf und dran, diesem Mann zu verfallen, obwohl sie genau das partout nicht will.
Tareq gähnt hinter vorgehaltener Hand.
»Ruf an, wenn du Hilfe brauchst. Luleå ist ja nur einen kurzen Flug entfernt.«
Sie zieht sein Hemd wieder aus und steht nur in Unterhose vor ihm.
»Ich springe nur noch schnell unter die Dusche.«
Er legt sich wieder hin, verschränkt erneut den Arm im Nacken.
»Mach das. Ich koche in der Zwischenzeit Kaffee.«
Das kleine Kinderzimmer liegt im Dunkeln. Erst als die Eltern die Tür einen Spalt weit aufschieben, fällt ein Streifen Licht hinein. Schon in der nächsten Sekunde singen sie ein Geburtstagslied. Molly wacht als Erste auf und stemmt sich hoch. Ihre Haare sind vollkommen zerzaust. Von ihrem Nachthemd hat sich in der Nacht ein Knopf losgemacht und ist zwischen den Laken verschwunden. Sie reibt sich die Augen und lacht ihre Eltern, die mit Geschenken in den Händen am Fußende stehen, übers ganze Gesicht an. Im benachbarten Bett wälzt sich Emma verschlafen herum. Sie gähnt, streckt sich und setzt sich langsam auf. Ihr rosa Schlafanzugoberteil ist über den Bauch hochgerutscht. Sie kneift die Augen zusammen, sieht zu Molly und gluckst vergnügt.
»Dass ihr schon fünf ganze Jahre alt seid!«, sagt ihr Papa. »Eine ganze Handvoll Jahre! Da fragt man sich, wo die Zeit geblieben ist.«
Noch im Bett öffnen sie die Geschenke. In den ersten beiden sind Kleider – eins in Lila für Molly, eins in Rosa für Emma. Sie tragen beide fast ausschließlich Kleidungsstücke in ihren jeweiligen Lieblingsfarben. In den anderen Päckchen stecken Krönchen, Buntstifte, Malbücher und Sprungseile. Das letzte ist eins für sie beide zusammen: Es ist groß, schwer und hoch spannend. Es ist ein Puppenhaus, mit einem dunkelrosa Dach und lila Wänden. Die beiden Mädchen quietschen begeistert auf. Molly streicht mit der Hand über die Wände. Die Oberfläche fühlt sich unter ihren Fingern hubbelig an. Papa faltet das Geschenkpapier zusammen, während Mama sich auf die Bettkante setzt.
»Das hab ich entdeckt, als ich in Göteborg war. Ich dachte mir, ihr könntet es auf die Kommode unter dem Fenster stellen. Das würde doch toll aussehen? Ist eure Mama nicht nett?«
Emma kann den Blick nicht von ihrem Puppenhaus losreißen. Sie untersucht jedes einzelne Zimmer, tastet über das kleine Miniatursofa. Der rosa Plüschstoff ist watteweich.
»Wir könnten noch Fimo kaufen und Essen für die Puppen basteln. Köttbullar, Spaghetti und vielleicht eine Torte?«
Molly legt sich wieder ins Bett. Sie sieht Emma an, die immer noch das Puppenhaus bestaunt.
»Können wir auch Tiere basteln? Eine Katze und einen Hund?«
Molly will immer, dass sie Tiere spielen: dass Emma und sie entweder Hunde, Katzen oder Pferde sind. Auch wenn sie malt, dann immer nur verschiedene Tiere.
Ihre Mutter lächelt milde.
»Können wir. Wir kaufen Fimo in Naturfarben, damit die Tiere die richtigen Farben haben.«
Ihr Vater nimmt seine Kamera hoch und stellt sich vor den Kleiderschrank, um ein Foto von den Geburtstagskindern zu schießen.
»Rutscht mal zusammen, damit Papa ein richtig gutes Bild von euch machen kann!«
Die Zwillinge tun wie geheißen, setzen sich nebeneinander aufs Bett und lächeln in die Kamera. Mama kommt näher, hockt sich vor die Mädchen, zieht sich den Bademantel eng um den Oberkörper und lächelt ebenfalls. Papa guckt durch den Sucher und sagt dann mit seiner sanftesten Stimme: »Du verdeckst die Geburtstagskinder. Magst du nicht bitte ein Stück zur Seite rücken?«
Doch Mama rührt sich keinen Millimeter. Sie lächelt einfach weiter, faucht aber durch die zusammengebissenen Zähne: »Mach jetzt das Foto, damit wir irgendwann auch noch frühstücken können.«
Papa drückt auf den Auslöser. Ein halbes Jahr später sucht Mama genau dieses Bild als Titelbild für ein Fotobuch aus, das Oma geschenkt bekommen soll. Emmas und Mollys Arme und Beine sind zwar zu sehen, ihre Gesichter jedoch sind vom in den Bademantel gehüllten Oberkörper ihrer Mutter verdeckt.
Svetlana Moritz, die Rechtsmedizinerin, bedenkt Idun mit ihrem typisch schroffen Blick.
»Ist das wirklich so gut, dass du an diesem Fall mitarbeitest?«
Sie hat einen starken russischen Zungenschlag. Idun sieht ihr ins Gesicht und konzentriert sich darauf, ihrem Blick standzuhalten. Sie weiß genau, dass Anders die gleiche Frage stellen wird und sie deshalb so ehrlich sein sollte wie nur möglich – allerdings ohne die ganze Wahrheit zu erzählen.
»Wir hatten keinen Kontakt. Meine und Elviras Mutter waren Schwestern, allerdings haben sie sich schon in der Jugend zerstritten. Ich habe Elvira überhaupt nur ein paarmal getroffen, als sie noch klein war, besser kannten wir uns nicht. Meine Tante war jünger als meine Mutter und hat Elvira erst spät bekommen. Wir sind uns nicht mehr begegnet, seit Elvira ungefähr drei Jahre alt war.«
Womöglich eine etwas zu umständliche Antwort.
Calle steht neben Idun und sagt kein Wort. Idun weiß, dass es ihm schwerfällt, all dies auch nur annähernd nachzuvollziehen. Bei der Arbeit ist man im Dienst, da stellt man sein Privatleben zurück, das ist Calles Überzeugung. Allerdings weiß Idun auch, dass selbst er tief in seinem Innern Svetlana recht gibt: Man sollte nicht in einem Fall ermitteln, in den die eigene Verwandtschaft verwickelt ist. Andererseits ist das Opfer in diesem Fall allenfalls auf dem Papier mit Idun verwandt.
Sie beschließt, das Thema zu wechseln und zugleich die Stimmung zu lockern.
»Warten wir einfach ab, was Anders dazu sagt. Aber jetzt bin ich hier, und Calle und ich hören uns gern an, was du uns zu berichten hast.«
Svetlana scheint sich damit zufriedenzugeben. Sie mischt sich auch sonst nicht in ihre Ermittlungen ein. Schweigend wendet sie sich der Leiche zu, die hinter ihr auf dem Sektionstisch liegt. Idun und Calle machen einen Schritt darauf zu und stellen sich Svetlana gegenüber auf die andere Seite des Tisches.
Die bleiche Haut ist in klinisch weißes Licht getaucht. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Idun reißt sich zusammen, spürt aber, wie ihre Hand anfängt zu zittern. Sie schiebt sie in die Hosentasche, damit die anderen es nicht sehen.
»Euer Opfer heißt Elvira Lind und ist zwanzig Jahre alt geworden. Todesursache ist ein Sturz aus großer Höhe. Sie war auf der Stelle tot, hat sich in derselben Sekunde, als sie auf dem Treppenabsatz aufgeschlagen ist, das Genick gebrochen. Sie hat nichts gespürt.«
Letzteres fügt Svetlana fast schon fürsorglich hinzu, was Idun nicht behagt. Verkniffen sieht sie Svetlana an.
»Ich bin als Kommissarin hier, nicht als Elviras Cousine.«
Svetlana zuckt nicht mit der Wimper.
»Dass man Teile seiner Persönlichkeit ausblenden kann, das können auch nur Schweden denken.«
Idun reagiert nicht darauf, aber in ihr rührt sich etwas. Im Frühjahr haben Svetlana und sie sich bei einer Fortbildung zum Thema häusliche Gewalt getroffen; in der Pause landeten sie nebeneinander in der Kaffeeschlange, und hinter ihnen kommentierten ein paar Polizeiermittler die völkerrechtswidrige russische Invasion in der Ukraine. Zum ersten Mal überhaupt zeigte Svetlana Gefühle, als sie Idun leise ein einziges Sätzchen zuflüsterte – so leise, dass die Männer hinter ihnen sie unter Garantie nicht hören konnten.
»Putin ist ein Despot, pust’ on gorit w adu!«
Noch ehe Idun etwas erwidern konnte, hatten sie das Kaffeebüfett erreicht.