Gewittermann - Tina Martin - E-Book

Gewittermann E-Book

Tina Martin

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Beschreibung

Du fürchtest Blitz und Donner? Dann fürchtest du dich noch nicht genug ... Der nächste Fall für die schwedische Kommissarin Idun Lind!

Bei minus 22 Grad wird auf der gefrorenen Ostsee eine Leiche gefunden – doch der alte Mann starb keines natürlichen Todes. Zwei Dutzend Schläge wurden gegen den Schädel des steinreichen Rentners Evert Holm ausgeführt, den Penis hatte der Täter ihm noch vor Eintritt des Todes abgeschnitten. Als Kriminalkommissarin Idun Lind den Fall übernimmt, werden die Hintergründe der Tat klar – die Spur führt ins Rotlichtmilieu Nordschwedens. Und plötzlich betritt Idun eine Welt, in der Geld, Gewalt und Macht schon einmal das Leben zweier unschuldiger Menschen zerstört haben ...

Alle Fälle von Kriminalkommissarin Idun Lind:
Apfelmädchen
Gewittermann
Idun Linds Fälle sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 533

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Buch

Bei minus 22 Grad wird auf der gefrorenen Ostsee eine Leiche gefunden – doch der alte Mann starb keines natürlichen Todes. 22 Schläge wurden gegen den Schädel des steinreichen Rentners Evert Holm ausgeführt, den Penis hatte der Täter ihm noch vor Eintritt des Todes abgeschnitten. Als Kriminalkommissarin Idun Lind den Fall übernimmt, werden die Hintergründe der Tat klar – die Spur führt ins Rotlichtmilieu Nordschwedens. Und plötzlich betritt Idun eine Welt, in der Geld, Gewalt und Macht schon einmal das Leben zweier unschuldiger Menschen zerstört haben …

Autorin

Tina N. Martin wurde 1980 geboren und lebt in der Stadt Boden an der schwedischen Grenze zu Finnland. Dort spielt auch ihre Thriller-Serie über die Kriminalkommissarin Idun Lind, die in »Apfelmädchen« erstmals ermittelt. Tina N. Martins Debütroman schlug in ihrem Heimatland ein wie eine Bombe: Leser*innen wie Kritiker*innen begeisterten sich so sehr für »Apfelmädchen«, dass der Thriller Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste erreichte. Wenn Tina N. Martin nicht schreibt, arbeitet die studierte Literaturwissenschaftlerin als Lehrerin an einer Schule in Boden.

Tina N. Martin

Gewittermann

Thriller

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Åskmakaren« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Tina N. Martin and Bokförlaget Polaris 2021 in agreement with Politiken Literary Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: mauritius images / Anders Ekholm, www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29112-9V005

www.blanvalet.de

Prolog

Marina schlägt die Wohnungstür hinter sich zu. Es dröhnt in ihrem Kopf, als sie die Treppe hinunterstürzt und rennt, so schnell sie nur kann. Sie atmet durch den offenen Mund, und Schweiß strömt ihr über den Rücken. Das Gefühl von Unwirklichkeit ist schier überwältigend. Es ist fast, als würde ihr ganzer Körper zugleich krampfen und regelrecht voranfliegen. Sie spürt jeden ihrer Schritte in den Knöcheln, hört nicht mal mehr, ob sie ihr hinterherlaufen, wagt auch nicht, sich umzudrehen, sondern rennt heulend weiter, und ihr Sichtfeld verengt sich zu einem Tunnel. Lieber will sie sterben, als sich von ihnen einholen zu lassen.

Als sie endlich die Haustür erreicht hat, dreht sie den Knauf herum und stößt die Tür auf. Warme Spätsommerluft schlägt ihr entgegen, und sie schluchzt auf. So fühlt es sich draußen an? Das hatte sie schon ganz vergessen.

Sie vertritt sich den Fuß und gerät ins Straucheln, schürft sich die Knie auf dem Asphalt auf, kommt aber sofort wieder hoch. Rennt weiter in Richtung Fußgängerzone, stößt sich flüchtig an der Hausfassade ab, der raue Putz reißt an ihren wunden Fingerkuppen. Sie hat einen bitteren Geschmack im Mund. Hinter sich hört sie, wie die Haustür aufgeht, doch im selben Moment hat sie die Straßenecke erreicht. Ohne sich noch einmal umzublicken, verschwindet sie um die Ecke.

Die Luft auf der anderen Seite ist stickig und dunstig. Vor ihr erstreckt sich die ihr nur zu gut bekannte Straße in beide Richtungen. Hier ist sie zigmal gewesen, aber nie zuvor waren hier so viele Menschen unterwegs. Zu Hunderten schieben sie sich in alle Richtungen. Verkaufsstände reihen sich auf dem Asphalt. Es riecht nach Bratfett und Gewürzen, und Marina glaubt bereits, dass sie träumt.

Dann ruft jemand von hinten. Ihr ist sofort klar, dass sie es sind.

Geduckt flüchtet sie zwischen die Stände, umrundet ein Zelt voller Plastikstühle und ein Schild, auf dem in roten Lettern für Kebab geworben wird. Sie rennt, so schnell sie nur kann, macht sich dabei so klein wie nur möglich, um nicht entdeckt zu werden, aber so, dass sie ihr Tempo halten kann. Fast stößt sie mit einer Frau zusammen, die gerade einen Schluck aus einem Plastikbecher nimmt. Sie rempelt sie an, und Limo spritzt über ihre Beine, als der Becher zu Boden fällt. Noch ehe sie die Frau wütend schreien hört, ist Marina schon am nächsten Stand vorbei.

Kurz blitzt durch ihre Panik der Gedanke auf, dass sie um Hilfe schreien könnte, doch sie hat zu viel Angst, will kein Risiko eingehen, weiß nicht, wie nahe sie ihr bereits sind oder ob irgendwer auf dieser Straße ihr überhaupt glauben würde.

Sie rennt auf das Hotel zu, in dem sie mal mit Leon gefrühstückt hat, am Speisesaal hinter der Fensterfront vorbei, und dann sieht sie den Zebrastreifen vor sich. Hier ist weniger los, und sie kann sich auch nicht mehr hinter Verkaufsständen verstecken. Sie rennt über die Straße, vorbei an dem Flachbau auf der rechten Seite, der gegenüber vom Rathaus von Luleå steht. Ihre nackten Füße brennen, sie biegt nach rechts ab und rennt weiter in Richtung Hafen. Sie hat schon den Geschmack von Blut auf der Zunge, treibt ihren Körper trotzdem weiter an und spürt, dass ihr schlecht zu werden droht, als sie das Schulgebäude ein Stück voraus entdeckt. Sie überquert den Schulhof, rennt an der Mensa vorbei, dann um die Ecke. Und schlagartig fühlt sie sich um zehn Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Ein eigentümliches Gefühl von Sicherheit ergreift von ihr Besitz. So hat sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Es muss Abend geworden sein, das merkt sie erst jetzt, am Licht, das schräg über den Schulhof fällt, und an der Stille. Trotzdem rennt sie weiter auf die große Eingangstür zu, zerrt daran, verspürt eine lange vergessene Euphorie, als die schwere Holztür aufschwingt.

Es ist, als würde das Schulhaus sie förmlich verschlucken. Sie stürzt die Handvoll Stufen zum Eingangsbereich empor und hält auf den schmalen Treppenaufgang zu, während hinter ihr die Tür ins Schloss fällt. Ihr kommen die Tränen, als sie auf dem Weg hinauf in dieses vertraute Gebäude immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Sie lässt ein dunkles Stockwerk nach dem anderen hinter sich. Erst als sie das oberste erreicht hat, hört sie es – erst da sickert es durch ihre Panik hindurch. Erinnerungen blitzen auf, und sie bleibt auf der letzten Stufe stehen, krallt sich mit den schorfigen Fingern in den Handlauf und spürt, wie ihr Herz bis zum Hals schlägt.

Geräusche.

Hier sind Menschen.

Marina schlüpft durch die Tür zur Schülercafeteria. Vor ihr liegt ein offener Bereich, der sich in Richtung dreier Treppenaufgänge verzweigt. An der gegenüberliegenden Seite gehen Fenster hinaus zum Hafen. Linker Hand stehen eine altmodische Kaufmannstheke und zwei surrende Kühlschränke.

Hier ist niemand. Auf leisen Sohlen schleicht sie über den glatten Steinboden. Auf dem linken Flur steht ganz zuhinterst die Tür zu einem Klassenraum offen, und von dort fällt schwaches Licht heraus auf den schmutzig grauen Flurboden.

Sie nimmt den sogenannten Theatergang. Auch dort ist niemand zu sehen, doch aus der Aula ist ein gedämpftes Raunen zu hören, sie muss voll besetzt sein, Marina hat es selbst erlebt, hat die Vorfreude und das Lampenfieber verspürt, während die Zuschauer ihre Plätze einnahmen. Sie weiß nur zu gut, wie sich die mit gut vierhundert Leuten voll besetzte Aula anhört.

Im Treppenaufgang hinter ihr hört sie Absätze über den Steinboden klackern. Vor Angst wird ihr fast schwarz vor Augen, und nur mit letzter Kraft verhindert sie, dass sie sich in die Hose macht. Sie eilt auf die Treppe zu.

Die Flügeltüren zum Zuschauerraum stehen offen, und vorfreudiges Gemurmel weht ihr entgegen. Für einen kurzen Augenblick fühlt sie sich wie zu Hause, allerdings weiß sie, dass der Moment flüchtig ist. Es kann jederzeit mit ihr vorbei sein.

Die Lichter werden gedimmt, und im selben Moment wird es still im Publikum. Marina blickt zu Boden, wünschte sich, sie hätte Schuhe an, und schlüpft durch die Tür. Sie späht zum rückwärtigen Bereich, wo Brage, der Bühnenmeister, an seinem Mischpult sitzt, und lässt dann den Blick durch den abgedunkelten Zuschauerraum schweifen. Soweit sie es erkennen kann, ist er wirklich bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein geschminkter Teenager huscht an ihr vorüber und sieht im Vorbeigehen leicht angewidert auf ihre nackten Füße hinab. Verlegen dreht sich Marina weg und schleicht an der Wand entlang bis zum Bühnenrand, spürt die kühle Luft der Lüftungsanlage. Sie zieht den Kopf ein, so gut sie kann, und huscht durch die Dunkelheit hinüber zur anderen Seite, muss an der vordersten Stuhlreihe entlanggehen und bittet dort tonlos um Entschuldigung für die Störung. Als sie am anderen Ende ankommt, entdeckt sie einen freien Platz. Vierte Reihe, ganz außen. Der Mann daneben scheint nicht mal zu bemerken, dass sie sich auf den leeren Stuhl setzt.

Der Vorhang geht auf. Die Bühne ist in Licht getaucht, und ein Chor hebt an zu singen. Übelkeit steigt in ihr auf, doch sie weiß, dass ihr jetzt nicht schlecht werden darf. Ihre Füße tun höllisch weh, eine Ferse pulsiert, sicher eine entzündete Schnittwunde, allerdings traut sie sich nicht, sich danach hinunterzubeugen, um nach ihr zu tasten. Sie hat keine Ahnung, was sie als Nächstes tun soll, hofft aber, dass es von jetzt an gut geht, immerhin ist sie entkommen, hat die Tür aufbekommen und die Flucht ergriffen und ist gestürzt, aber wieder hochgekommen. Es muss endlich alles gut werden.

Nur dass Helena dortgeblieben ist.

Oh Gott.

Sie werden Helena dafür bestrafen, dass Marina abgehauen ist.

Die Aufführung geht weiter. Marina traut sich nicht, den Kopf zu heben, um zu sehen, was auf der Bühne vor sich geht. Stattdessen folgt sie mit dem Blick den Lichtreflexionen auf dem gesprenkelten Linoleumboden. Sie schimmern rot und golden. Irgendwo hinten im Raum geht eine Tür auf. Marina schießt durch den Kopf, dass sie allmählich Hilfe braucht, und im selben Moment kommt sie darauf: Brage! Sobald die Aufführung vorbei ist, will sie zu ihm laufen, dort kann sie sich unter dem Mischpult verstecken, während er die Polizei benachrichtigt. Der freundliche, hilfsbereite Brage. Er wird sie wiedererkennen, das weiß sie genau. Sie, das dunkelhaarige, schüchterne Mädchen, das den Musikzweig gewählt und Shakespeare und griechische Dramen geliebt hat. Das sich auf der Bühne einmal nackt ausgezogen hat, weil die Rolle es nun mal erforderte und sich niemand sonst getraut hatte. Und weil sie nun mal anders gegen die Ängste angehen musste, als immer nur, indem sie sich ritzte.

In den hinteren Reihen scheint sich Unruhe auszubreiten. Marina hört, wie Schuhe über den Boden wetzen, wie jemand sich durch die Stuhlreihen schiebt. Absätze hämmern über den Fußboden wie Pulsschläge. Einer der Schüler auf der Bühne sagt etwas Komisches, und das Publikum bricht in lautes Gelächter aus. Es folgt tosender Applaus.

Das Licht verändert sich, aus warmem Gelb wird erst gleißendes Weiß, und dann wird plötzlich alles schwarz. Zeit für die Pause. Das Publikum applaudiert weiter und stampft mit den Füßen, um sich ausgiebig für den ersten Akt zu bedanken. Jemand aus den hinteren Reihen pfeift auf den Fingern.

Über das begeisterte Getöse hinweg spürt Marina zunächst nicht die leichte Berührung an ihrer Schulter. Sie ist viel zu überwältigt, viel zu sehr konzentriert darauf, endlich zu Brage laufen zu können, ihrer Rettung und der Freiheit entgegen.

Dann knistert es an ihrem Ohr, und keine Sekunde später piekst es an ihrem Hals, als die dünne Nadel sich durch ihre Haut bohrt. Ihr Zwerchfell krampft sich zu einem Schreckensschrei zusammen, sie öffnet den Mund, aber sie bringt keinen Ton heraus. Die Haut spannt, als die Flüssigkeit aus der Kanüle sich ausbreitet, sie atmet durch den weit offenen Mund und spürt, wie ihr Blutdruck jäh absackt. Sie ist von Kopf bis Fuß wie gelähmt, genau wie bei der ersten Vergewaltigung und wie bei der zweiten, dritten und vierten. Es rauscht in ihren Ohren. Jede Faser ihres Körpers tut weh – und dann ist der Schmerz plötzlich weg.

Nach und nach gehen die Lichter im Zuschauerraum an. Das Publikum steht auf und strömt in die Cafeteria, wo die jüngeren Jahrgänge selbst gebackene Kuchen verkaufen, um sich den bevorstehenden Schulausflug zu finanzieren. Am Eingang zur Aula hing ein Zettel mit der Bitte um großzügige Spenden.

Allmählich leert sich die Aula. Marina ist in der vierten Reihe ganz außen sitzen geblieben. Sie hat die Augen geschlossen, und ihr Mund ist noch immer zu einem stummen Schrei geformt.

Keine halbe Minute zuvor hat ihr Herz aufgehört zu schlagen.

Drei Jahre später

Zunächst sieht sie ihn nicht mal, den kältestarren Körper, der am Rand der Eisbahn liegt. Wie Marmor changiert er in bläulichem Weiß. Die Laternen oben auf der Bergnäsbrücke werfen Schatten, die sich wie aschfahle Arme über die nackte Haut legen.

Malin Jacobsson ist schnell unterwegs. Die Februarsonne steht tief, sodass das Eis ringsum glitzert. Das Kratzgeräusch ihrer Langlaufschlittschuhe weht empor in den blassblauen Himmel. Es ist ein schöner, wenn auch kalter Nachmittag. Sie hat die Hände im Rücken verschränkt, ihre Füße brennen ein bisschen, aber die Oberschenkel fühlen sich verlässlich kraftvoll an. Sie ist am Nordkai gestartet und hat vor, bis zu der kleinen Schäreninsel Gråsjälören zu laufen. Dort will sie die Banane essen, die sie eingepackt hat, und wieder umkehren. Zu Hause sollte sie dann noch ein paar Stunden arbeiten, bevor sie sich ums Abendessen kümmert, aber wenn sie länger braucht, dann ist das eben so. Nach dem finsteren norrbottnischen Winter kann sie einem sonnigen Februartag einfach nicht widerstehen.

Es ist die Uhr, die Malins Blick auf sich zieht. Die Sonnenstrahlen, die am Ufersaum reflektiert werden. Unwillkürlich wird sie langsamer, lässt ein paar Sekunden verstreichen, ehe sie den nächsten Schlittschuhschritt setzt und die Augen zusammenkneift, um besser zu sehen, was dort aufgeblitzt hat. Sie ist inzwischen keine hundert Meter von der Brücke entfernt und nur mehr auf dieses Blitzen konzentriert. Mit ein wenig Druck auf die äußere Kufe schwenkt sie auf das Ufer zu. Der Wind beißt in ihren Wangen, die Sonne kann noch nicht nennenswert dagegenhalten.

Als sie das Ufer erreicht, zuckt sie heftig zurück. Durch die abrupte Bewegung verliert sie das Gleichgewicht und kann die Rücklage nicht mehr verhindern. Hart schlägt sie auf dem Eis auf, und wie eine Gewehrkugel schießt ihr der Schmerz in die Hüfte. Kurz streift sie der Gedanke, dass sie sich etwas gebrochen hat, und ein paar panische Sekunden lang bleibt sie auf dem eisigen Untergrund liegen. Sie atmet tief und konzentriert ein, spürt einem Körperteil nach dem anderen nach, doch sie scheint unverletzt zu sein. Dem Himmel sei Dank.

Ächzend dreht Malin sich auf den Bauch, rammt die Spitzen der Kufen ins Eis und stemmt sich hoch. Sekundenlang bleibt sie mit dem Rücken zu der Leiche stehen. Sie atmet flach, starrt in die Ferne, fühlt sich in diesem Augenblick unendlich einsam.

Dann zieht sie mit zitternden Händen den Reißverschluss auf – den ihrer winddichten Softshelljacke, dann das dünne Fleece, das sie darunter trägt. Ihr Handy steckt in der Brusttasche ihres Funktionsunterhemds.

Obwohl die Stimme der Frau aus der Notrufzentrale beruhigend klingt, bringt Malin kein Wort heraus. Mehrere Sekunden verstreichen, bevor die Frau nachhakt.

»Hallo …?«

Malin spürt, wie ihr der kalte Schweiß ausbricht. Es rauscht in ihrem Kopf, und sie fühlt sich, als könnte sie jeden Moment ohnmächtig werden. Sie muss sich zusammenreißen und wieder ruhig und tief atmen.

»Da liegt ein Mann auf dem Eis …«

Auf ihren Schlittschuhkufen dreht sie sich zaghaft halb um. Er liegt steif gefroren auf der Seite. Die Hautfarbe erinnert sie an den Wohnzimmertisch ihrer alten Tante. Der Hinterkopf sieht irgendwie unförmig aus, und in den dünnen Haaren klebt grauschwarzer Schmutz. Die Augen sind halb geschlossen. Blicklos starrt er in die leere, kalte Luft. Unter seinem Bauch und den Hüften hat sich erstaunlich viel Blut über das Eis ergossen, es ist gefroren und dunkel, eher schwarz als rot. Obwohl der Penis an der Wurzel entfernt wurde, ist ihr nur zu klar, dass es sich um einen Mann handelt. Wo sich zuvor das Geschlechtsteil befunden hat, klafft eine offene Wunde, die aussieht, als hätte ein Krater schwarze, dünnflüssige Lava über grimmiges Wintereis gespuckt.

Malin schafft es gerade rechtzeitig, ihren Standort zu nennen, ehe sie das Handy von sich weghalten muss und sich zur Seite krümmt. Es brennt im Rachen, und dann platzt ihr Mageninhalt nur so aus ihr heraus. Sauer sickert es über das Eis, und kurz steigt Dampf empor. Hoch über ihr überquert ein Fahrzeug nach dem anderen die winterliche Brücke.

Tareq Shaheen lehnt sich an die Wand. Er hat eine graue Anzughose an und die Ärmel seines weißen Hemdes locker hochgekrempelt. Sein dichter schwarzer Bart ist akkurat gestutzt und schimmert im Licht der zahlreichen Leuchten, die an den Sichtbalken unter der Decke hängen. Hinter ihm liegt der weitläufige Eingangsbereich des Bezirksgerichts mit dem großen Eingangsportal auf der einen und den beiden Gerichtssälen auf der anderen Seite. Leute kommen und gehen, ohne dass ein Bulle in Zivil sie interessieren würde.

Neben ihm steht Idun Lind. Sie hat einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Der Kaffee ist kochend heiß, und sie muss sich noch einen Moment lang gedulden. Obwohl sie weiß, dass es kaum etwas bringt, pustet sie durch die winzige Öffnung im Plastikdeckel.

»Was glaubst du, was er kriegt?« Tareq hat die Stimme gesenkt.

Idun zuckt mit den Schultern.

»Wenn ich mir die Todesstrafe wünsche … wäre das dann ein Dienstvergehen?«

Er sieht ihr ins Gesicht. Sie seufzt.

»War ein schlechter Scherz. Hätte auch von Calle kommen können.«

Sie schlägt den Blick nieder. Calle ist immer noch krankgeschrieben, hat laut Siv Gleichgewichtsstörungen und Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis. Idun hat aufgeschnappt, dass er sich in der Reha krummmacht, um wieder arbeiten zu können. Wie lange das noch dauern wird, weiß sie nicht. Sie hat es nach wie vor nicht übers Herz gebracht, bei ihm vorbeizufahren, das schlechte Gewissen ist einfach zu übermächtig, sobald sie auch nur darüber nachdenkt.

Vor wenigen Minuten ist der Prozess gegen Tommy Andersson zu Ende gegangen. Es ist jetzt ein halbes Jahr her, seit Idun und Tareq ihn im Wald hinter seinem Häuschen in Pagla festnehmen konnten. Davor hatten sie Sara Selberg befreit, die Tommy verschleppt und in seinem Kellerverlies gefangen gehalten hatte. Sara, die wenige Wochen später spurlos verschwand. Die niemand seither mehr gesehen hat. Deren Zeugenaussage wesentlich gewesen wäre, doch trotz intensiver Suche hat die Polizei sie nirgends aufspüren können.

Idun muss an die fünfjährige Ellen denken, die Tommy ebenfalls gekidnappt hatte. Das Mädchen war an einer Insulin-Überdosis gestorben und einen Monat später beigesetzt worden. Weder Idun noch Tareq hatte die Trauerfeier besuchen können, doch seither ist kein Tag vergangen, an dem Idun nicht an sie gedacht hätte.

Es piepst in ihrer Tasche. Idun angelt ihr Handy hervor. Siv hat eine SMS geschrieben. Idun überfliegt den Text und tippt Tareq an.

»Sobald wir hier fertig sind, müssen wir raus zur Bergnäsbrücke.«

Er sieht sie ratlos an. Er kennt sich in Luleå nicht aus. Außerdem ist er nur wegen der Gerichtsverhandlung angereist, sein Rückflug nach Stockholm geht in zwei Tagen. Idun schiebt ihr Handy zurück in die Tasche und zieht den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis obenhin zu. Der Kunstfaserpelz an ihrer gefütterten Kapuze liegt wie ein enger Reif um ihren Hals.

»Es ist zwar nicht weit, aber wir nehmen mein Auto. Draußen ist es einfach zu verdammt kalt.«

Auch Tareq macht seine Jacke zu. Sie ist noch dicker als die von Idun – sofern das überhaupt möglich ist. Bestimmt hat er sie sich eigens für die auf zwei Wochen angesetzte Gerichtsverhandlung in einer schweineteuren Stockholmer Boutique gekauft.

»Was hat Siv denn Spannendes für dich in petto?«

Idun wendet sich in Richtung Ausgang. Die untergehende Sonne schickt orangerotes Licht durch die schmutzigen Scheiben in den Eingangstüren.

»Ein Toter. Liegt nackt auf dem Eis unter der Brücke und scheint überdies einen gewissen männlichen Körperteil eingebüßt zu haben.«

Tareq verzieht das Gesicht. Als Idun die riesige Tür aufschiebt, holt er tief Luft. Der erste eisige Atemzug ist immer der schlimmste.

Als Idun und Tareq die Böschung erreichen, sind unten auf dem Eis bereits eine Unmenge von Polizisten zu sehen. Unterhalb des Ufersaums steht ein weißes Zelt, und die Kollegen der Spurensicherung laufen umher. Sie fotografieren, nehmen Proben im Schnee und vermessen sämtliche sichtbaren sowie annähernd unsichtbaren Fußabdrücke.

Idun und Tareq schlittern den Abhang hinunter. Tareq stürzt um ein Haar, erlangt aber das Gleichgewicht wieder, indem er kurz mit den Armen rudert. Unten angekommen, empfängt sie der Leiter der forensischen Abteilung, Mikael Malm, von allen nur Malmen genannt. Er hat einen weißen Vliesstoff-Overall angelegt, unter dem seine rote Steppjacke zu erahnen ist. Sein Atem bildet Wölkchen, die wie Zigarettenrauch aussehen.

»Hej, Idun – und hallo, Tareq! Mit dir habe ich hier nicht gerechnet, muss ich sagen.«

»Ich auch nicht … Himmel, wie kalt es bei euch ist!«

Malmen winkt ab. Sein schwarzer Handschuh ist groß wie ein Boxhandschuh.

»Minus zweiundzwanzig sind doch gar nichts! Im Winter 1999 waren es minus zweiundvierzig. Das war wirklich kalt.«

Idun kann Tareq ansehen, dass er denkt, Malmen würde übertreiben. Sie selbst hat keine Lust, über das Wetter zu plaudern, und wechselt das Thema.

»Siv hat mir Bescheid gegeben. Verstümmelte männliche Leiche, wenn ich es richtig verstanden habe?«

Malmen hält auf das Zelt der Spurensicherung zu. Die beiden Ermittler folgen ihm.

»Der Mann heißt laut Führerschein Evert Holm. Vierundsiebzig Jahre alt, wohnhaft in Luleå. Vor vier Jahren wurde mal gegen ihn ermittelt – Verdacht auf Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen. Sie haben ihn laufen lassen, weil die Beweise nicht ausreichten.«

Idun pfeift durch die Zähne.

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass so etwas heutzutage im Führerschein steht.«

Malmen sieht sie leicht gereizt an.

»Letzteres waren Infos von Siv. Sie hat mir vor zwei Minuten geschrieben. Garantiert hast du die gleiche Nachricht gekriegt.«

Idun will ihre warmen Handschuhe nicht abstreifen, um ihr Handy hervorzuholen. Stattdessen fragt sie lieber Malmen: »Hat Siv noch mehr geschrieben?«

Er schüttelt den Kopf.

Ein Stück abseits des Zeltes steht eine Frau in Thermohose, mit Langlaufschlittschuhen an den Füßen und einer grauen Decke über den Schultern. Sie gehen auf sie zu.

»Mein Name ist Idun Lind, und das hier ist mein Kollege Tareq Shaheen. Wir sind von der Polizei.«

Die Schlittschuhläuferin hat geweint. Sie zittert, auch wenn Idun nicht sagen könnte, ob aufgrund des Schocks oder aufgrund der Kälte.

»Sie haben das Opfer also entdeckt?«

Sie spricht bewusst ruhig und widersteht dem Impuls, von einem Fuß auf den anderen zu treten, um sich warm zu halten. Ihr Kinn zittert.

»Die Uhr hat in der Sonne geblitzt … Ich nehme an, weil sie schon so tief stand.«

Ein Sanitäter tätschelt ihr den Rücken. Idun weiß, dass er nur versucht, den Schock abzufedern. Berührungen sind in der akuten Phase ganz wesentlich.

»Also … die Sonne. Die Uhr hat in der tief stehenden Sonne geblitzt.«

Idun nickt, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie es kapiert hat.

»Wie heißen Sie?«

Die Augen der Frau sehen gläsern aus.

»Entschuldigung … Mir ist immer noch ein bisschen übel … Ich heiße Malin Jacobsson. Ich wollte bis raus nach Gråsjälören laufen. Ich hatte eine Banane dabei, die wollte ich dort essen, aber dann hab ich diese Uhr gesehen … oder vielmehr etwas, was aufgeblitzt hat. Und dann lag da ein nackter Mann, ein verletzter … Aber er ist tot, oder? Er ist doch tot, oder?«

Ihre Schultern fangen an zu beben. Der Sanitäter sieht Idun vielsagend an, sagt jedoch nichts.

»Haben Sie noch jemand anderen gesehen? Jemanden, der sich von hier weg- oder auf den Toten zubewegt hätte?«

Malin Jacobsson schüttelt zögerlich den Kopf.

»Ich hab nur diesen Mann gesehen und das ganze Blut. Dann hab ich die 112 gewählt – und mich übergeben … Tut mir wirklich leid, das ist mir sehr peinlich.«

»Das muss Ihnen nicht peinlich sein. Dass Sie vor Ort geblieben sind und den Notruf gewählt haben, war vollkommen richtig. Gut gemacht.«

»Dürfte ich vielleicht meinen Mann anrufen? Unsere Kinder sind allein zu Hause. Sie kommen gut klar, aber sie fragen sich wahrscheinlich schon, wo ich bleibe. Ich will nur nicht, dass sie sich Sorgen machen.«

Idun notiert sich Malins Kontaktdaten und bedankt sich für deren Hilfe. Es ist ein trauriger Anblick, als ein zweiter Sanitäter dazukommt, sie die Schlittschuhläuferin in die Mitte nehmen und aufs Ufer zuschieben, wo der Krankenwagen bereitsteht.

Idun und Tareq kehren zum Zelt zurück. Malmen beratschlagt mit einem Kollegen die nächsten Schritte und weist dann sein Team an, wie es sich am Leichenfundort bewegen soll, um keine Spuren zu vernichten. Ein Spurentechniker – ebenfalls in Weiß – zieht den Plastikgurt auf, mit dem der Zelteingang verschlossen ist, damit Idun und Tareq eintreten können.

Im Zelt knien zwei weitere Techniker neben der Leiche. Mit Pinsel, Pinzette und fotografisch sichern sie sämtliche Spuren. Idun macht einen Schritt auf sie zu, um sich die Leiche genauer anzusehen. Der Mann ist alt. Unbekleidet. Weiße Haare. Ein feines Netz aus Runzeln am ganzen Leib. Für vierundsiebzig erstaunlich gut in Form. Muskulöse Arme, kaum Bauchansatz. Breiter Hals, große Hände, dicke Waden. Der Hinterkopf ist übel zugerichtet, zweifelsohne hat er mit einem harten Gegenstand mehrere Schläge abbekommen. Im Schädel klafft ein großes Loch, und die Haare sind blutverklebt.

Auf Höhe des Bauches befindet sich auf dem Eis eine gefrorene Lache rotschwarzen Blutes. Der Penis wurde abgetrennt, unter der klaffenden Schnittwunde entdeckt Idun den Hodensack und auf der linken Bauchseite ein eingeritztes Symbol, einen knapp zehn Zentimeter langen Blitz, der mit einem scharfen oder spitzen Gegenstand ausgeführt wurde, mit einer Nadel oder einer Messerspitze.

»Vor oder nach Eintritt des Todes abgehackt?«

»Schwer zu sagen. Die Todesursache an sich ist vermutlich ein Schlag auf den Kopf, aber das soll sich Svetlana ansehen. Die Kälte macht es uns nicht gerade leichter – man blutet langsamer, wenn es dermaßen kalt ist.«

Malmen verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er ist froh, dass Idun bereits erste Fragen stellt. Solange sie nicht nachfragt, will sie nichts hören, das weiß er. Es ist eine Art Ritual, und er würde ihr nie in die Parade fahren. Doch jetzt, da sie die erste Frage gestellt hat, kann er weitermachen.

»Wir haben weder an der Böschung noch auf der Eisbahn Blutspuren gefunden. Allerdings führt eine frische Schneescooter-Spur an der Leiche vorbei – genau dort hinter der Zeltwand. Sie kommt von Norden, verliert sich aber unmittelbar vor der Landzunge in einer Menge anderer Spuren und lässt sich nicht weiterverfolgen.«

Idun starrt auf den Toten hinab.

»Es ist zwar relativ kalt … aber trotzdem. An einem Februartag bei solchem Wetter! Da muss doch jemand gesehen haben, wie er hergebracht wurde? Und als ihm das Geschlechtsteil abgeschnitten wurde, muss er doch geschrien haben wie am Spieß? Sofern er da noch am Leben war, klar.«

Malmen wackelt nachdenklich mit dem Kopf.

»An und für sich hast du recht. Andererseits wissen wir nicht, wie lange er hier schon gelegen hat. Die Böschung ist nicht gerade der naheliegende Weg runter aufs Eis. Und die meisten, die unter der Brücke durchkommen, nehmen die Mitte, wo der Schneepflug fährt. Von dort bis ans Ufer sind es an die fünf-, sechshundert Meter, insofern sprechen wir von einer ordentlichen Fläche – er könnte hier Stunden gelegen haben, bis er entdeckt wurde. Und so steif gefroren, wie er ist, glaube ich fast, dass es genauso war, aber auch das soll die Rechtsmedizin klären. Wenn er heute früh hergebracht und erst hier verstümmelt worden wäre, wäre es nicht weiter verwunderlich, dass das keiner mitbekommen hat. Oben auf der Brücke konzentrieren die Fahrer sich auf den Verkehr, und zu dieser Jahreszeit sind frühmorgens vermutlich nicht allzu viele Fußgänger unterwegs. Aber das ist letztlich euer Terrain – und ich hab auch gerade nur wild spekuliert.«

Er verstummt. Idun geht in die Hocke, um sich die Leiche abermals genau anzusehen. Der entmannte, steif gefrorene Körper ist ein makabrer Anblick. Ihr fällt auf, dass Evert Holm eine Uhr, aber keinen Ehering trägt.

»Gibt es Fußabdrücke?«

»Ein Paar in Größe dreiundvierzig. Aber es ist noch zu früh, um zu entscheiden, ob das relevant ist. Fester Männerschuh, und zumindest ein Abdruck ist so deutlich, dass wir schon sagen können, dass es ein neuerer Schuh ohne Abnutzungsspuren war. Wir suchen noch nach Fingerabdrücken, aber vermutlich werden wir keine finden. Nicht mal in seinem Schritt haben wir welche gefunden, was darauf schließen lässt, dass unser Täter Handschuhe getragen hat.«

»Irgendwelche anderen Hinweise auf Gewalteinwirkung? Sexueller Natur? Injektionen?«

Malmen nickt in Richtung der Leiche.

»Mal abgesehen von seinem eingeschlagenen Schädel haben wir eine interessante Sache gefunden. Wenn du dir den Nacken anschaust – da sind rote Flecken. Sehen aus wie kleine Brandverletzungen.«

Idun umrundet die Leiche und geht erneut in die Hocke. Seit dem Intervalltraining am Vortag hat sie Muskelkater, und es zieht in den Beinen. Tareq gesellt sich zu ihr, bleibt hinter ihr stehen und beugt sich vor. Konzentriert mustern sie die roten Striemen in Everts Nacken.

»Stromstöße. Irgendjemand hat ihn mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt.«

»Und das da?«

Sie zeigt auf den eingeritzten Blitz am Bauch, ohne ihn zu berühren.

»Schwer zu sagen – aber es sieht fast nach einer Signatur aus.«

Idun überlegt.

»Dass ein Täter sein Opfer markiert, ist sehr selten. Kommt aber natürlich mitunter vor.«

Sie spürt Tareqs Atem in ihrem Nacken und steht wieder auf.

»Okay, wir fahren zurück ins Revier. Schick uns, was du hast – Bilder, deinen Bericht, alles.«

Malmen schiebt die Zeltplane für sie zur Seite, und sie treten hinaus in den eisigen Winternachmittag.

»Bekommt ihr, sobald wir hier fertig sind.«

Kurz bleiben sie noch in der Kälte stehen. Die Sonne ist mittlerweile fast verschwunden. Über die Eisfläche wandert schwach rötliches Licht, das hier und da in den breiten gelblichen Lichtkegeln der starken Technikleuchten untergeht. Auf der Anhöhe und oben auf der Fahrradspur, die über die Brücke führt, haben sich Schaulustige versammelt. Ein paar haben ihre Handys gezückt und filmen die Arbeiten auf dem Eis.

»Da hat Evert ja Glück, dass ihr das Zelt aufgestellt habt«, bemerkt Tareq nüchtern.

Malmen nickt, aber der Ärger ist ihm deutlich anzusehen.

»Und die Idioten, die da oben filmen, haben womöglich noch viel größeres Glück.«

Idun trampelt auf der Stelle.

»Warum lässt der Täter die Leiche hier auf dem Eis liegen? Es fühlt sich an, als wäre der Ablageort ganz bewusst gewählt – trotz des Risikos, dabei erwischt zu werden.«

Tareq sieht sie an.

»Die Leiche sollte gesehen werden. Von vielen.«

Er nickt in Richtung der Horden auf der Brücke.

»Und der Blitz ist vermutlich eine Nachricht. Auch die ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Das Ganze – sowohl der Blitz als auch die nackte Leiche und erst recht die Ablagestelle – schreit doch danach, dass uns jemand etwas mitteilen will.«

Diesmal ist Idun an der Reihe zu nicken.

»Wenn es ihm um Sichtbarkeit ging, dann ist diese Stelle wirklich gut ausgewählt. Die Eisbahn ist gut besucht, und von der Brücke hat man beinahe Rundumsicht. Man kommt leicht mit dem Scooter hierher, und es gibt zig potenzielle Fluchtwege in mehr oder weniger alle Richtungen, da ist man im Handumdrehen wieder weg.«

Sie verabschieden sich von Malmen und lassen das Zelt und den verstümmelten Evert Holm hinter sich. Nebeneinander kämpfen sie sich die Böschung hinauf. Schweigend kehren sie zu ihrem Wagen zurück und merken nicht, wie einer der Schaulustigen auf der Brücke ihnen konzentriert nachstarrt.

Anders Eriksson sitzt schon am großen Besprechungstisch. Der Leiter der Mordkommission trägt einen selbst gestrickten Pullover und ausgebeulte Jeans. Er hat dichtes, unbändiges Haar, doch die Wangen sind glatt rasiert, und sein Blick ist hellwach. Vielleicht sieht er nicht aus wie der typische Vorgesetzte in einer Polizeibehörde, aber Idun arbeitet schon seit Jahren unter ihm und weiß, dass der Schein trügt. Anders’ Gespür für seine Mitarbeiter ist unfehlbar, und er bringt seinen Leuten enormes Vertrauen entgegen, was dazu geführt hat, dass das Team schon bei mehreren vertrackten Ermittlungen große Erfolge erzielen konnte. Nur seine Herangehensweise ist mitunter wenig vertrauenerweckend.

Idun und Tareq haben nebeneinander an der Längsseite des Tisches Platz genommen. Ihnen gegenüber sitzt Siv Liv, die einzige Zivilangestellte in der Abteilung. Ihr Schreibtisch steht direkt neben den Aufzügen im Empfangsbereich. Mit ihrer unverblümten, aber empathischen Art und ihrem Sinn für Effizienz ist sie Iduns Lieblingskollegin. Außerdem ist sie genauso gewissenhaft, wie sie aussieht: Ihre kurzen blonden Haare sind immer akkurat frisiert, die Kleidung wirkt tadellos, und die Brille hat sie sich entweder in die Haare geschoben, oder sie sitzt so weit vorn auf der Nasenspitze wie nur möglich, ohne hinunterzurutschen. Siv hat vier schwarze Hefter mitgebracht, die sie gleich verteilen wird, wie Idun weiß.

»Schön, dass du wieder da bist, Tareq.«

Siv zwinkert ihm zu, als sie ihm einen Hefter überreicht. Tareq nimmt ihn entgegen, winkt jedoch mit der freien Hand ab.

»Ich bin nur wegen der Gerichtsverhandlung hier. Nach dem Urteilsspruch bin ich mit Idun raus zur Brücke und dann mit hierher zurückgefahren. Übermorgen geht’s wieder zurück nach Stockholm.«

Siv drückt auch Anders und Idun je einen Hefter in die Hand und antwortet Tareq: »Das wollen wir doch erst mal sehen.«

Der Inhalt der Hefter ist mickrig, aber wie sie alle nur zu gut wissen, wird sich das alsbald ändern. Zuoberst liegt ein Foto von Evert Holm in Hemd und Sakko. Verkniffen und ohne die Spur eines Lächelns blickt er in die Kamera.

»Das ist also unser Opfer, Evert Holm. Er wurde vierundsiebzig Jahre alt.« Sie betrachten alle das Foto, während Siv fortfährt: »Er war schon seit Jahren verwitwet. Zwei erwachsene Kinder, die beide in Boden wohnen: Pia Holm, vierunddreißig, und Adam Holm, fünfundzwanzig. Evert war seit vier Jahren in Rente, zuvor war er selbstständig – irgendwas mit Stahlkonstruktionen. Ich schaue mir noch an, was genau er gemacht hat.«

Anders räuspert sich und bringt Siv damit aus dem Konzept. Verwundert sieht sie ihren Chef an. Als er keine Anstalten macht, etwas zu sagen, wendet sie sich wieder ihren Aufzeichnungen zu.

»Evert stand unter Verdacht, sexuelle Dienstleistungen in Anspruch genommen zu haben. Vor vier Jahren wurde er im Zuge einer Razzia in einer Privatwohnung hier in Luleå verhaftet. Es sah alles danach aus, als hätte er eine Prostituierte besucht – und wie wir alle wissen, macht man sich in Schweden als Freier schuldig. Allerdings wurde letztlich nie Anklage erhoben. Evert behauptete, er sei in der Wohnung gewesen, um sich dort die Balkonkonstruktion anzusehen, was der Vermieter des Hauses – im Übrigen Everts Sandkastenfreund – unter Eid bestätigte.«

Siv hält inne und überfliegt ein paar Zeilen, ehe sie weiterspricht.

»Die zwei Kollegen, die ihn damals festgenommen haben, waren Morgan und Emil. Vielleicht haben sie ja noch etwas Spannendes über den Verblichenen zu berichten?«

Morgan Samuelsson und Emil Warg. Beide arbeiten – außerordentlich erfolgreich – in der Abteilung für Organisierte Kriminalität und Menschenhandel. Die zwei sind überdies echt nette Kerle.

»Soweit ich es sehen konnte, ist Evert nicht bedroht worden, zumindest hat er nie jemanden angezeigt. Er taucht nicht in sozialen Netzwerken auf – was man wahrscheinlich mit seinem Alter erklären kann –, insofern auch an dieser Front keine uns bekannte Bedrohungslage. Er hat mit Renteneintritt seine Firma abgewickelt und seither, wenn ich es richtig sehe, allein in seiner Fünfzimmerwohnung am Südkai gewohnt.«

Anders pfeift übertrieben theatralisch durch die Zähne, bis ihm die Luft ausgeht und der Pfiff zu einem traurigen Seufzer verkümmert.

»Eine Fünfzimmerwohnung für einen allein? Nicht schlecht!«

Idun streckt die Beine aus.

»Und keine anderen Verdachtsmomente oder Begegnungen mit der Polizei?«

Siv schüttelt den Kopf.

»Er taucht nur in dieser einen Ermittlung auf – als mutmaßlicher Freier. Aber sofern er damals wirklich schuldig war, muss das ja nicht bedeuten, dass er nur das eine Mal bei einer Prostituierten war. Allerdings taucht er in keinem unserer Register auf, weder wegen eines Prostitutionsvergehens noch für etwas anderes.«

Idun denkt kurz darüber nach.

»Ein alter Mann, der für Sex bezahlt hat, einer Anklage aber entgangen ist. Dass ihm jetzt jemand den Penis abgeschnitten hat, deutet auf eine hochemotionale Tat hin, und welches Motiv läge da näher als eins, das ausdrücklich mit seinem Geschlechtsteil zu tun hat? Ob der eingeritzte Blitz auf dem Bauch mit dem Mord in Zusammenhang steht, können wir noch nicht mit Gewissheit sagen, aber wenn, dann nehme ich an, dass der Blitz eine Art Signatur oder eine Nachricht war … Die Frage ist nur, an wen sie sich richtet.«

Sie hält inne. Die anderen warten geduldig auf eine Fortsetzung.

»Was wissen wir über die Prostituierte, die in der Wohnung war, als Evert angeblich den Balkon besichtigt hat?«

Siv überfliegt ihre Notizen.

»Es waren zwei Frauen in der Wohnung – eine Russin, die sich illegal in Schweden aufhielt, aller Wahrscheinlichkeit eine Zwangsprostituierte. Die andere war Schwedin. Der Mann, der die zwei Frauen bewacht hatte, wurde angeklagt, und beide Frauen hätten als Nebenklägerinnen auftreten sollen, allerdings hat sich die Schwedin gleich nach der ersten Befragung aus dem Staub gemacht. Wie sich herausstellte, waren die persönlichen Angaben frei erfunden, und man konnte sie nicht aufspüren. Emil und Morgan gehen davon aus, dass sie untergetaucht ist oder aber von ihrem Zuhälter andernorts zur Prostitution gezwungen wurde. Aber was immer hinter ihrem Verschwinden steckt – tragisch ist es allemal.«

»Es wäre natürlich gut, mit ihr zu reden«, unterbricht Idun. »Sofern es einen Zusammenhang gibt zwischen Everts ›mutmaßlichem Vergehen‹« – sie malt Anführungszeichen in die Luft – »und seiner Ermordung, könnte die Frau wichtige Informationen für uns haben.«

Siv schiebt sich die Brille in die Stirn.

»Natürlich. Nur haben wir keinerlei Anhaltspunkte. Ein falscher Name und eine in höchstem Maße durchschnittliche Beschreibung – mehr gibt es nicht. Blonde Haare, normaler Körperbau, panischer Blick. Sowie sie weg war, waren auch unsere Möglichkeiten dahin, noch einmal mit ihr Kontakt aufzunehmen. Nicht mal die angegebene Adresse stimmte – ein verfallenes Haus nördlich von Boden.«

Idun seufzt.

»Die Russin«, fährt Siv fort, »bekam nach Abschluss des Verfahrens ein erbärmliches Schmerzensgeld und ein One-Way-Ticket nach Russland. Unseren russischen Kollegen zufolge starb sie zwei Jahre später – bei einem Verkehrsunfall am Stadtrand von Moskau mit drei Toten. Eins der Opfer war sie.«

Idun denkt fieberhaft nach. Eine untergetauchte Schwedin, eine tote Russin und ein mutmaßlicher Freier, der aller Wahrscheinlichkeit nach mit mindestens einer der beiden Sex gehabt hatte. Vier Jahre später liegt er tot auf dem Eis – verstümmelt, ermordet und mit einem Zeichen markiert. Gibt es da einen Zusammenhang? Einen, der aus jener Wohnung, die für illegale Prostitution zweckentfremdet wurde, hinausführt?

Siv legt ihren Hefter auf den Tisch und verschränkt die Hände. Sie hat ihr Soll erfüllt, jetzt ist Anders gefragt.

»Idun und Tareq, ihr beide sprecht mit Evert Holms Angehörigen – also mit den zwei Kindern. Sie wissen noch nicht, dass ihr Vater tot ist – aber fragt sie darüber hinaus, ob sie von potenziellen Feinden wussten. Der abgeschnittene Penis deutet auf eine symbolhafte Handlung hin. Das ist nichts, was so nebenbei passiert.«

Idun schreibt sich ein paar Stichwörter auf, während Tareq die Hand hebt.

»Ich muss entschuldigen, aber … ich arbeite nicht mehr hier. Mein Rückflug nach Stockholm geht wie gesagt übermorgen.«

Anders sieht ihn verständnislos an.

»Wir haben immer noch keinen Ersatz für Calle. Die Stelle war zweimal ausgeschrieben, aber gute Ermittler, die unseren Ansprüchen genügen, wachsen nun mal nicht an Bäumen. Ich rufe deinen Chef an und frage ihn, ob er für ein paar Wochen auf dich verzichten kann – für höchstens zwei Monate, wenn das für dich okay wäre?«

Tareq sieht aus, als müsste er darüber nachdenken. Idun beobachtet ihn aus dem Augenwinkel.

»Ja, schon … Gegen einen Tapetenwechsel habe ich an sich nichts einzuwenden. Allerdings müsste ich dann gleich morgen in die Stadt und mir eine Thermohose und wärmere Schuhe kaufen.«

Idun schmunzelt in sich hinein. Man muss anscheinend schon syrischstämmig sein, um als Stockholmer zu wissen, wie man mit dem norrbottnischen Winter klarkommt.

»Na dann.«

Anders nickt zufrieden.

»Und du, Siv, sprich mit Staatsanwalt Sandberg wegen eines Durchsuchungsbeschlusses für Everts Wohnung – inklusive E-Mails und Handyverbindungen.«

Damit ist die Besprechung vorbei. Alle vier stehen auf und schlendern nacheinander hinaus. Idun dreht sich zu Tareq um.

»Schön, dass du noch eine Weile hierbleibst.«

Er streicht sich über den schwarzen Bart, sodass es unter seinen Fingern leise knistert.

»Finde ich auch. Obwohl es hier echt unerträglich kalt ist.«

1977 

Das Schulgebäude ist ein hässlicher, mit orangefarbenem und braunem Blech verkleideter Klotz. Wie Hochwasser aus trockener Schwärze erstreckt sich Asphalt um den kantigen Bau. Der Schulhof selbst ist riesig und farblos; es gibt ein Klettergerüst, vier Schaukeln und einen Bolzplatz, der schon bessere Tage gesehen hat.

Das Wohnviertel Heden schließt westlich an den Stadtkern von Boden an. Hier stehen die Häuser dicht beieinander innerhalb verwinkelter, eng gezogener Grundstücksgrenzen, was dem Ganzen einen fast dörflichen Anstrich verleiht. An den Schulhof grenzt dichter Wald – das perfekte Versteck für jemanden, der nicht gesehen werden will.

Die Tür, die hinaus nach Norden geht, wird aufgestoßen, und ein lemminghafter Strom aus Siebenjährigen ergießt sich aus dem Gebäude. Nur mit dünnen Jacken oder Strickpullovern bekleidet, drängen sie hinaus an die Frühlingssonne und weiter in Richtung der Schaukeln und des Bolzplatzes. Dann fällt die Tür wieder zu, bleibt eine Weile geschlossen, ehe sie sich langsam wieder öffnet. Der siebenjährige Peter zögert. Er lässt den Blick über den Schulhof schweifen, blinzelt in Richtung Bolzplatz, entdeckt Uffe und die anderen, die am entfernteren Tor stehen, und packt die Gelegenheit beim Schopfe. Mit gesenktem Blick huscht er um die Ecke. Unter einem der Mensafenster bleibt er stehen, drückt sich an die Mauer und versucht, so still und leise dazustehen, wie er nur kann. Ein paar Mädchen laufen an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er hält den Atem an, bis sie verschwunden sind, und lässt dann mit einem tonlosen Seufzer langsam die Luft wieder entweichen.

Drüben am Bretterzaun sieht er die Mädchen aus seiner Klasse seilspringen. Zwei Lehrerinnen sehen ihnen zu und sagen irgendwas, doch dort, wo Peter gerade steht, hört er kein Wort. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Braunes Leder, schwarze Ziffern auf einem weißen Ziffernblatt. Er hat sie zu Weihnachten von seiner Mutter bekommen. Ein kleines Päckchen mit rotem Geschenkpapier und goldfarbenem Geschenkband. Peter hat sich riesig darüber gefreut. Ihm war sofort klar, dass sie für ein so schönes Geschenk lange hatte sparen müssen. Seine Mutter lächelte und meinte nur, er habe die Zeit jetzt immer an seiner Seite. Peter wusste zwar nicht, was das heißen sollte, aber es hatte schön geklungen.

Bei der Erinnerung an Weihnachten ist er für einen Moment unachtsam gewesen. Zu spät entdeckt er, dass die Jungen um die Ecke gekommen sind. Sofort krampft sich in ihm alles zusammen. Er schiebt die Hände in die Taschen, macht zwei zaudernde Schritte an der Wand entlang und überlegt noch, ob er zu den Seilspringerinnen und Lehrerinnen laufen und ihnen erzählen soll, dass er Bauchweh hätte und nach Hause müsste, vielleicht für die ganze Woche. Doch dafür ist es jetzt zu spät, er kann nicht mehr laufen, seine Beine sind vor Angst wie gelähmt, und er wird wattig im Kopf. Sogar das Atmen tut weh.

Uffe baut sich vor ihm auf. Peter wagt es nicht, ihn anzusehen, und starrt zu Boden, wo er hinter Uffe einen Kreis aus Füßen sieht. So ist es jedes Mal: Uffe vorn, der Rest hinter ihm. Peter muss jedes Mal an eine Wand aus Gewalt denken.

»Hier versteckst du dich also?«

Peter traut sich nicht zu antworten.

»Warum bist du denn hier hergerannt und dann stehen geblieben? Hast du etwa geglaubt, wir würden dich hier nicht finden? Ist ja nicht so, als wärst du unsichtbar. Sooooo klein bist du ja auch wieder nicht.«

Er zieht das Wort theatralisch in die Länge, und seine Gang lacht. Wenn Peter nur ein bisschen größer wäre – zehn, fünfzehn Zentimeter würden schon reichen –, dann würden sie ihn vielleicht in Ruhe lassen und sich ein anderes Opfer suchen.

»Apropos klein«, fährt Uffe fort. »Wie war das – hast du den Meter überhaupt schon geschafft?«

Peter richtet sich gerade auf, aber es hilft nicht viel, er ist trotzdem der Kleinste – der kleinste Junge in der Klasse, und das ist das Erste und Letzte, woran er tagtäglich denkt, und was er am meisten an sich selbst hasst.

Uffe neigt den Kopf zur Seite.

»Eigentlich müsstest du Meter heißen und nicht Peter.«

Seine Kumpels brüllen vor Lachen. Peter bleibt stumm mit dem Rücken zur Schulmauer stehen. Er weiß, dass er jetzt nicht mehr fliehen kann. Uffe ist schnell, seine Gang zu groß und die Gemeinheit übermächtig. Peter versucht, durch die Nase zu atmen. Sein Hals brennt.

»Los, sag was, Meter. Warum stehst du hier rum? Willst du gar nicht mit uns spielen?«

Sie dürfen ihn nicht wieder in den Wald zerren. Bitte, nicht in den Wald. Sein Rücken und die Oberschenkel sind vom letzten Mal immer noch grün und blau.

Uffe beugt sich vor. Er kommt mit dem Gesicht ganz nah heran. Peter riecht seinen säuerlichen Atem.

»Sollen wir vielleicht einen kleinen Ausflug in den Wald machen? Oder was meinst du, Minimeter?«

Peter würde gern antworten, traut sich aber nicht. Er befürchtet, Uffe könnte ihm anmerken, dass er den Tränen nahe ist. Deshalb starrt er zu Boden, schüttelt zaghaft den Kopf, sagt aber nichts. Uffe richtet sich auf. Peter würde am liebsten die Augen zukneifen und die Außenwelt aussperren, aber er weiß, dass er auf der Hut bleiben muss. Der Trick ist, unsichtbar, aber wachsam zu sein. Für einen Siebenjährigen eine echte Gratwanderung. Aber wie immer gibt er sein Bestes.

Uffe will gerade etwas sagen, als der Hausmeister auf sie zukommt. Er starrt erst Uffe, dann Peter, dann die Gang an. Der Mann geht ziemlich steif und hinkt, und dann grunzt er wütend durch seinen spärlichen Bart.

Peter sieht sofort seine Chance. Er duckt sich zur Seite weg, läuft hinter dem Hausmeister her und wird erst langsamer, als er fast zu ihm aufgeschlossen hat. Peter weiß nur zu gut, dass sie sich jetzt nicht mehr trauen, ihn zu verprügeln. Da würde der Alte nur wütend werden.

Der Hausmeister und Peter gehen um die Ecke, und Uffe und seine Kumpels verschwinden außer Sicht. Der Hausmeister hält auf die Schultür zu, und Peter biegt ab zu den Schaukeln. Die Mädchen aus der Parallelklasse sind auf den niedrigen Zaun geklettert. Im Schutz dieser Mädchen – auch wenn sie ihn keines Blickes würdigen – setzt Peter sich auf die hinterste Schaukel.

Puh. Die erste Pause für heute wäre geschafft. Bleiben noch zwei.

Pia Holm empfängt Idun und Tareq bei sich zu Hause in der Innenstadt von Boden. Sie bewohnt eine Vierzimmerwohnung mit edlem Stuck an himmelhohen Decken. Sie bittet die beiden ins Wohnzimmer, aus dem man durch die Fensterfront in den meterhoch verschneiten Innenhof blickt. Dank der Straßenlaternen ist der Innenhof sogar erleuchtet, obwohl der Februarabend ansonsten bereits pechschwarz geworden ist.

Sie wählen die beiden Sessel. Pia bewegt sich behutsam, als hätte sie Schmerzen. Als sie aufgemacht hat und Idun und Tareq sich vorgestellt haben, war nicht zu übersehen, wie verblüfft sie war. Trotzdem stellte sie keine Fragen, bat sie nur bekümmert herein. Jetzt sitzen sie einander in ihrem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer gegenüber.

»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater gestorben ist.«

Idun hält den Blick unverwandt auf Pia gerichtet, die überrascht die Augen aufreißt.

»Gestorben?«

»Er ist heute Nachmittag tot aufgefunden worden. Unser aufrichtiges Beileid.«

Sie spürt mehr, als dass sie sieht, wie Tareq ihre Beileidsbekundung mit einem Nicken quittiert. Pia starrt auf ihre Hände hinab.

»Ist er eines natürlichen Todes gestorben?«

Idun zuckt leicht zusammen, lässt sich aber nichts anmerken. Was für eine bemerkenswerte Frage.

»Nein. Ist er nicht.«

Pia macht den Mund auf und wieder zu. Idun wartet darauf, was als Nächstes kommt.

»Ist er ermordet worden?«

Ihr Blick ist leicht glasig, aber sie weint nicht.

»Wir haben Grund zu der Annahme, ja. Wir sind hier, um Sie zu informieren und unser Beileid auszusprechen … und um Ihnen mitzuteilen, dass eine Voruntersuchung eröffnet wurde. Ich leite die Ermittlungen, und mir zur Seite steht mein Kollege hier, Tareq.«

Sie hebt kurz die Hand in seine Richtung, obwohl er sich an der Tür bereits vorgestellt hat.

»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater?«

Idun weiß, dass es noch ein wenig zu früh ist, will die Frage jedoch trotzdem stellen. Pia kratzt sich geistesabwesend an der Hand.

»Unser Verhältnis war schlecht.«

Es dauert eine Weile, bis sie weiterspricht.

»Ich würde sagen, wir hatten ein sehr unbeholfenes Verhältnis. In den vergangenen Jahren haben wir uns gar nicht mehr gesehen. Und in meiner Kindheit war er nie da. Hat immer gearbeitet, schien an uns und an unserer Mutter nicht interessiert zu sein. Für mich hat er sich nie wie ein Vater angefühlt, eher wie ein Erwachsener, der sich am Rande meiner Kindheit und Jugend bewegte.«

Idun hört aufmerksam zu. Pia lächelt entschuldigend.

»Ich rede zu viel … Das mache ich immer, wenn ich nervös werde. Bitte entschuldigen Sie.«

Sie streicht sich über die Lippen. Tareq hat immer noch kein Wort gesagt.

»Warum sind Sie so nervös?«

Pia lacht tonlos auf.

»Zwei Polizeibeamte, die bei mir zu Hause aufkreuzen, um mir zu erzählen, dass Evert ermordet wurde. Selbst wenn ich ihm nicht nahestand, ist Nervosität da doch wohl eine ganz natürliche Reaktion. Oder finden Sie nicht?«

Sie klingt kein bisschen vorwurfsvoll, eher nüchtern.

»Was Gefühle betrifft, käme uns wohl keines komisch vor … Wir fragen nur deshalb, weil wir versuchen, uns ein Bild von Evert zu machen. Und von den Menschen, mit denen er sich umgab.«

Pia antwortet nicht. Idun schweigt ebenfalls, und das so lange, dass Tareq zu guter Letzt das Wort ergreift.

»Sie sagten, Sie hätten Ihrem Vater nicht nahegestanden. Gibt es denn jemanden, mit dem er mehr Umgang hatte? Mit einer neuen Partnerin? Oder mit Adam, Ihrem Bruder?«

Ein Schatten huscht über Pias Gesicht.

»Evert war ein einsamer Mann. Ein egoistischer, gefühlskalter Mann. Soweit ich weiß, hatte er weder eine Partnerin noch Freunde. Und Adam und ich wollen schon lange nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nun haben mein Bruder und ich auch keinen engen Kontakt – Adam hat früher Drogen genommen, ist zwar seit einigen Jahren clean, aber die Drogensucht hat uns auseinandergetrieben. Auf jemanden wie Adam kann man sich nicht verlassen. Und früher ging er über Leichen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein. Evert hatte niemanden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er einsam gestorben – genau so, wie er es verdient hatte.«

Evert.

Nicht Vater.

»Und das wissen Sie, obwohl Sie und Ihr Vater keinen Kontakt mehr hatten?«

Darauf antwortet Pia nicht.

»Vielleicht gab es ja jemanden von früher? Einen alten Kollegen oder Nachbarn oder Freund?«

Pia nickt bedächtig.

»Everts Sekretärin, Boel Grage. Allerdings weiß ich nicht, ob sie überhaupt noch lebt, aber soweit ich weiß, ist das die Einzige, mit der Evert je eine Art Beziehung hatte – mal abgesehen von Adam und meiner Mutter.«

»Wissen Sie, wo wir diese Boel finden können?«

Pia schüttelt den Kopf und presst die Lippen zusammen.

Idun versucht es anders.

»Ihr Bruder, Adam … Wo finden wir den?«

»Er wohnt in einem Wohnheim hier in der Stadt, in Prästholmen. Sein letzter Rausch hat allerdings Spuren hinterlassen – eine Psychose. Seither hat er Wahnvorstellungen. An manchen Tagen geht es ihm wohl besser als an anderen, aber wie viel besser, könnte ich nicht sagen. Ich hab ihn zuletzt vor rund einem Jahr besucht, und da war klar, dass unser Geschwisterverhältnis ein für alle Mal Geschichte war. Mit ihm eine Verbindung aufrechtzuhalten war unmöglich, als er noch Junkie war, und daran hat sich auch nichts mehr geändert.«

»Haben Sie sonst noch Angehörige? Ihre Mutter? Eigene Kinder?«

»Unsere Mutter starb, als ich in der Oberstufe war. Jahrelang waren es nur Evert, Adam und ich. Ich habe nie geheiratet und habe auch keine Kinder. Insofern – nein, da gibt es sonst niemanden mehr, mit dem Sie reden könnten, wenn Sie darauf hinauswollen. Everts Tod geht mich nichts mehr an. Unsere gemeinsame Reise ist schon vor Jahren zu Ende gegangen, und in diesem Fall zähle ich als Fremde, die Ihnen nicht weiterhelfen kann, tut mir leid. Aber wenn mir noch etwas einfällt, kann ich Sie natürlich anrufen.«

Pia will dieses Gespräch eindeutig beenden. Doch Idun hat noch ein paar Fragen.

»Was Sie von Ihrem Vater erzählt haben … inwiefern hat Sie das beeinflusst?«

Pias Blick erstarrt.

»Es hat mich insofern beeinflusst, als ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. So einfach ist das.«

»Und wie hat es Adam beeinflusst?«

»Das fragen Sie ihn besser selbst.«

»Wann haben Sie Ihren Vater zuletzt gesehen?«

Pia zuckt mit den Schultern.

»Das ist Jahre her. Keine Ahnung. Und Sie müssten mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss zur Arbeit. Ich habe Nachtschicht. Wenn sonst nichts mehr ist?«

Sie stehen alle drei auf. Idun und Tareq schütteln Pia die Hand und bedanken sich, dass sie sich Zeit genommen hat. Pia bringt die zwei noch zur Tür und stellt schließlich doch noch eine Frage, während Idun und Tareq sich die Schuhe anziehen.

»Wie ist er gestorben?«

Idun richtet sich gerade auf.

»Das können wir derzeit leider noch nicht sagen. Es dürfte ein paar Tage dauern, bis wir Sie über die Einzelheiten in Kenntnis setzen dürfen, aber ich verspreche, wir tun es, so schnell es geht.«

Pia schürzt die Lippen, sodass sie fast kindlich aussieht.

»Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.«

Das Wohnheim liegt am Ende der Landzunge von Prästholmen und ist ein in die Jahre gekommener Wohnblock, schmutzgrauer Putz und Balkone, deren rote Lackierung selbst in der fahlen Außenbeleuchtung rissig aussieht. Idun parkt direkt am Wasser. Sie und Tareq bleiben noch kurz sitzen. Beide haben den Kopf gegen die Nackenstütze gelehnt. Es ist bereits nach neun Uhr, und draußen ist es stockdunkel.

»Was hat Siv genau gesagt, als du sie angerufen hast?«

Idun klingt genauso müde, wie sie sich fühlt. Außerdem spürt sie ein leises Kratzen im Hals, womöglich hat sie sich erkältet. Schon tags zuvor hat sich das Intervalltraining gezogen, und obwohl sie es durchgezogen hat, war sie mit dem Ergebnis nicht glücklich. Allerdings hatte sie sich schon beim Aufwärmen wie gerädert gefühlt.

»Adam Holm ist neun Jahre jünger als Pia. Er hat am Gymnasium den sozialkundlichen Zweig gewählt und ein ordentliches Abitur gemacht. Im Jahr darauf hat er sich an der Schauspielschule in Luleå beworben und ist aufgenommen worden, als jüngster Schüler überhaupt. Siv hat mit dem Ausbildungsleiter gesprochen, und der konnte sich noch gut an Adam erinnern. Dass er überhaupt dort aufgenommen wurde, spricht für sein Talent. In dem Jahr haben das nur acht von rund vierhundertsechzig Bewerbern geschafft.«

Beeindruckt pfeift Idun durch die Zähne.

»Etwa zum selben Zeitpunkt ist er in eine eigene Wohnung gezogen. Anfangs war er an der Schule ziemlich erfolgreich, wenn auch so was wie ein Einzelgänger. Das Einzige, was er wollte, war Theater spielen. Im dritten Ausbildungsjahr kam er aus dem Tritt, war immer öfter zu spät, fehlte manchmal tagelang. Vier Monate vor den Sommerferien wurde er in einem Laden in der Stadt aufgegriffen – und wie sich zeigte, hatte er Drogen bei sich. Marihuana, um genau zu sein.«

Idun spürt, wie sich ihr Hals zusammenkrampft, wann immer sie schluckt.

»Hat er vom Gras die Psychose gekriegt?«

Tareq streicht sich über den Bart. Unwillkürlich fragt sich Idun, wie oft am Tag er das macht.

»Scheint fast so, ja. Er ist zu zwei Monaten Bewährung verurteilt worden und war da anscheinend ›okay im Kopf‹, um es mit Sivs Worten zu sagen. Eine Woche später wurde er von seinem Bewährungshelfer als vermisst gemeldet. Anscheinend war er gleich zum ersten Termin nicht aufgetaucht. Die Polizei brauchte knapp zwei Wochen, um ihn aufzuspüren. Am Ende haben sie ihn in einer Fixerbude in der Innenstadt von Luleå gefunden. Ursprünglich war gegen den Wohnungsbesitzer ermittelt worden, der wegen Drogenhandels unter Verdacht stand. Und überraschenderweise hatte sich Adam Holm im Schlafzimmer unter einem Bett versteckt. Er ist völlig ausgerastet, als sie ihn dort rauszogen. Am Ende waren vier Beamte nötig. Er kreischte und schlug um sich, hat einen Beamten sogar ziemlich heftig gebissen. Er ist daraufhin wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt worden und musste sich einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen.«

Idun knetet sich die Nasenwurzel.

»Weil das so ein schweres Verbrechen war?«

Angesichts ihres Sarkasmus muss Tareq lächeln.

»Weil er sich nicht verhören ließ. Den Beamten, die ihn festgenommen hatten, war anscheinend da schon klar, dass er krank war, und die psychiatrische Untersuchung hat dann auch ergeben, dass er psychotisch war. Drogeninduziert, hieß es. Er wurde fürsorgerisch in der Psychiatrie untergebracht und war das darauffolgende Jahr in einer Klinik in Umeå. Anschließend ist er in dieses Wohnheim gezogen«, erklärt Tareq mit Blick auf das Gebäude auf der anderen Seite des Parkplatzes.

»Siv hat dort angerufen und uns angekündigt. Wir sollen mit einem gewissen Christian Ekenstjerna reden.«

Idun löst ihren Sicherheitsgurt.

»Reden oder zuhören?«

Tareq streicht sich erneut über den Bart, sodass die dichten Haare knistern.

»Du redest. Meine Rolle in dieser Ermittlung ist zunächst lediglich zuzuhören. Das hier ist dein Revier.«

Sie steigen aus. Idun muss sich insgeheim eingestehen, dass er doch kein so anstrengender Kollege ist, dieser sanfte, bärtige Polizist aus Stockholm, von dem sie so wenig weiß. Sie ist selbst überrascht, als sie sich fragt, wie lange er möglicherweise bleiben will.

1978 

Es ist glühend heiß an diesem Sommertag. Der achtjährige Peter und seine Mutter sind zum Aldersjön gefahren und liegen auf einer Decke am Ufer im Sand. Der See ist bernsteinfarben, und die kleineren Kinder planschen unter Aufsicht ihrer Mütter und Väter im seichten Wasser. Weiter draußen schwimmen ein paar ältere Kinder und Teenager. Noch mehr Teenager liegen im Pulk auf dem Steg und hören laute Musik aus einem Gettoblaster.

»Hast du gar keinen Hunger?«

»Ein bisschen«, murmelt Mama in die Decke.

Peter kann ihr ansehen, dass sie drauf und dran ist einzuschlafen.

»Warten wir noch ein bisschen mit dem Essen?«

Inzwischen flüstert sie nur noch. Peter antwortet nicht, und in der nächsten Sekunde ist sie auch schon eingeschlafen. Er wartet noch kurz, dann setzt er sich auf, lässt den Blick über den See schweifen, versucht zu erkennen, ob in der Nähe irgendwer ist, den er kennt, aber das sind alles Fremde. Und es ist wirklich sehr warm. Die Sonne zischt beinahe auf der Haut. Mama schläft mit offenem Mund, ihr Kopf liegt schwer auf der Decke. Im Leben wird er diese Hitze nicht ertragen können, bis sie wieder wach wird.

Vorsichtig steht er auf, zieht sofort den Kopf ein und sieht aus, als würde er den Sand inspizieren, dabei versucht er nur, sich unauffällig einen Überblick über den Strand zu verschaffen. Es ist unendlich schwer, sich auf einer so offenen Fläche unsichtbar zu machen.

Er schlendert ans Ufer. Mäandert zwischen den Decken und Handtüchern hindurch und kommt an einer Familie vorbei, die sich über irgendetwas kaputtlacht. Sie sind so laut, dass sie schon Blicke auf sich ziehen, und er beschleunigt, um so schnell wie möglich an ihnen vorbeizuziehen. Das letzte Stück bis runter ans Ufer joggt er, und dann läuft er, ohne innezuhalten, ins Wasser und taucht bis zu den Schultern unter.

Das Wasser ist kühl und wahnsinnig angenehm. Er schwimmt ein Stück raus, zieht nach rechts und umrundet den ersten Steg. Das Wasser umspielt ihn, es ist frisch und herrlich und befreiend. Ein vielleicht fünfjähriges Mädchen steht auf dem Steg, dahinter eine Frau, bestimmt die Mutter, die ihre Tochter lautstark daran erinnert, dass es jenseits des Steges zu tief für sie wird.

Peter schwimmt weiter auf den nächsten Badesteg zu. Das Wasser ist bräunlich, trotzdem sieht man den Grund. Er ist sandig, leicht gewellt, fühlt sich weich an, wenn man die Füße daraufsetzt. Er schwimmt an einer schilfigen Stelle vorbei und entdeckt ein Teenagerpärchen. Ein Junge und ein Mädchen, beide einige Jahre älter als er, die teils vom Schilf verdeckt sind und einander die Zunge in den Hals stecken. Der Junge hat seine Hand in das Bikinioberteil des Mädchens geschoben. Peter rümpft die Nase und schwimmt ein Stück schneller.

Beim Anblick des Pärchens ist er unachtsam geworden. Er entdeckt sie zu spät – sie stehen zusammen auf dem hinteren Steg. Die Gang und Uffe vorneweg. Ihre Blicke kreuzen sich. Peter spürt, wie ihm das Blut in den Adern gefriert. Uffe grinst und macht einen Klatscher ins Wasser. Peter schwimmt kurz auf der Stelle und macht dann ein paar hektische Schwimmzüge in Richtung Ufer, doch er kommt nicht mehr an ihm vorbei. Er erstarrt mitten in der Bewegung, streckt panisch die Beine nach unten aus, und zum Glück kann er stehen. Schlamm sickert zwischen seinen Zehen hindurch, und sein Herz hämmert so heftig, dass ihm schon der Brustkorb wehtut.

»Ach, Meter ist auch hier und macht einen kleinen Badeausflug.«

Uffes Grinsen ist wie ein Schlag ins Gesicht. Peter versucht, in Richtung Ufer zu waten, doch seine Füße rutschen auf dem glitschigen Untergrund weg. Es fühlt sich an, als würde das Wasser ihn festhalten.

»Ich geh etwas essen. Meine Mutter sucht mich schon.«

Uffe lacht bloß hämisch. Er nimmt ihm die suchende Mutter nicht ab.

»Du gehst jetzt nicht essen. Du gehst jetzt tauchen.«