Apokalypse Job - Antonie Mühlenkamp - E-Book

Apokalypse Job E-Book

Antonie Mühlenkamp

0,0

Beschreibung

Anna Mollenhauer ist eine motivierte Bürokraft als sie sich zum Vorstellungsgespräch in einem mittelständischen Unternehmen vorstellt. Sie bekommt den Job und erlebt auf abstruse und abenteuerliche Weise die enge, einengende und beschränkte Welt ihres Chefs und vieler Kolleginnen und Kollegen kennen. Was folgt ist eine verrückte Reise, in der Anna nicht selten fürchtet, ihren gesunden Menschenverstand zu verlieren. Denn warum lässt sie sich nur immer wieder die verrücktesten Gemeinheiten, Hinterhältigkeiten, Charakterschwächen, Machtkämpfe und Ungerechtigkeiten gefallen? Oder ist das einfach nur der ganz normale Wahnsinn? Anna lernt die Tiefen der Menschheit kennen, doch mit tapferem Mut gibt sie niemals auf und glaubt bis zum Schluss an das Gute im Menschen. Doch gibt es das im Büro überhaupt? Am Ende beschreibt das Buch eine messerscharfe Analyse all jener Charaktere, denen man im Büro begegnet und die es einem nicht selten unmöglich machen, den Job zu lieben. Es sei denn, man ist ein unerschütterlicher Optimist. Das Buch ist eine Mischung aus komödiantischer Beschreibung à la Stromberg und einer knallharten Milieustudie. Tom Ockers Journalist, Autor und Regisseur www.ockers.de

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 330

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Antonie Mühlenkamp hat den Kosmos Büro vor genau 50 Jahren betreten. Damals absolvierte sie eine Lehre zur Industriekauffrau, ein halbes Jahrhundert später bildete sie selbst ambitionierte Menschen aus, die in ihrem Beruf einen Schritt nach vorn machen wollten. Es gibt keine Facette, die sie nicht am eigenen Leib in der ein oder anderen Form erlebt hätte. Unzählige Erfahrungen mit Chefs, Kundschaft, Kolleginnen und Kollegen faszinierten sie, deprimierten sie, motivierten sie. Jetzt zieht sie ihr Resümee.

Denn Antonie Mühlenkamp machte nicht nur ihren Job, sondern sie notierte nebenbei viele ihrer Erlebnisse. Ein halbes Jahrhundert nach ihrem ersten Tag im Büro veröffentlicht sie mehr als nur eine Ansammlung von Anekdoten. Mit wachem Auge, sensiblem Ohr und manchmal auch einem frechen Mundwerk erkennt sie die tiefere Wahrheit hinter den oftmals grotesken Gemeinheiten, die sich in dieser Welt täglich abspielen. Während ihres Berufslebens hat sie im Büro funktioniert. Nun seziert sie das, worunter sie nicht selten gelitten hat.

Inhalt

Vorwort

Kapitel I

Von den Socken

Kapitel II

Blaues Blut und schnelle Flitzer

Kapitel III

Der Rosenkrieg

Kapitel IV

Die Wende?

Kapitel V

Das Finale

Die Erkenntnis

Vorwort

Dieses Buch ist allen gewidmet, die im Beruf stehen. Ganz besonders jedoch meinem Mann, der mich ermuntert hat, alles aufzuschreiben.

Ich heiße Antonie. Meine Freundin Anna ist in meinem Alter. Ihre Geschichte ist der meinen so ähnlich, dass ich glaube, wir beide sprechen so vielen anderen Frauen (und vielleicht auch einigen Männern) aus der Seele. Beruhigend ist dabei, dass meine Geschichte kein Einzelfall ist. Ihre Erfahrungen sind den meinen sehr ähnlich.

Wir sind von der Sorte Frauen, die wohl ein Leben lang arbeiten müssen, weil es uns nicht gelungen ist, reich zu heiraten und unser Dasein bei Kosmetikerinnen, Friseuren, auf Tennisplätzen oder in Reitställen verbringen zu können.

Oft haben wir zusammengesessen und uns die vielfältigen und merkwürdigen Begebenheiten berichtet, die unser Alltag im Beruf so mit sich brachte. Vielleicht ist das für uns der Weg gewesen, um nicht vollkommen verrückt zu werden. Vielleicht haben uns diese Gespräche geholfen, noch einigermaßen normal zu bleiben, vielleicht sind wir aber auch so „durchgeknallt“, dass so mancher Leser an unserer Vernunft zweifeln mag.

Wir haben aus den Tiefschlägen, die wir immer wieder einstecken mussten, etwas gelernt. Wir wissen nun mit Bestimmtheit „der Fisch stinkt immer vom Kopf her“. Wir kennen diese Gerüche und wissen um die Spielregeln, die man im Beruf einzuhalten hat. Wir wissen aber inzwischen auch, wie man auf Drahtseilen balancieren kann, um so manche Spielregel zu umgehen. Vor allem wissen wir aber, dass wir, als das schwache Geschlecht, durchaus unsere Chancen haben. Sie sind nur manchmal nicht so leicht zu erkennen.

Bevor wir nach Hessen kamen, haben wir in einem Weltunternehmen gearbeitet. Beide waren wir in Düsseldorf am Rhein beheimatet. Wir hatten einen guten Job. Alle Türen standen uns offen. Unsere Büros waren modern ausgestattet und unsere Positionen schon recht aussichtsreich.

Mit dem Umzug nach Hessen begann für uns eine völlig neue Ära. Wir haben lernen müssen, wie die Hessen so „ticken“. Das war nicht immer leicht, denn die hessische Mentalität unterscheidet sich gravierend von der eines Nordrhein-Westfalen und insbesondere eines Düsseldorfers.

Dieses Buch entstand aus einem tiefen Gefühl von Frust und Aussichtslosigkeit und sollte zunächst nur dazu dienen, sich den ganzen Ärger von der Seele zu schreiben.

Sollte sich ein Leser/Leserin in diesem Buch wiedererkennen, so ist dies wohl nur ein Zufall.

Mit den Jahren des Schreibens entwickelte sich ein völlig neues Gefühl.

Warum?

Kapitel I

Von den Socken

Nie hätte ich geglaubt, dass ich meine Heimatstadt, das schöne Düsseldorf am Rhein, verlassen würde. Die Stadt, in der ich geboren wurde und die ich immer geliebt habe. Hier bin ich zur Schule gegangen, hier waren meine Freunde, und hier habe ich meine ersten beruflichen Schritte unternommen. Zuletzt in einem internationalen Unternehmen in der Großkunden-Betreuung. Düsseldorf ist zwar keine Weltstadt, aber sie hat einiges zu bieten. Hier findet ein gutes kulturelles Leben statt, Kunst und Musik, viele Veranstaltungen und nicht zuletzt diese wunderbare Altstadt, die man nicht ohne Grund die längste Theke der Welt nennt.

Wie sagt man so schön: „Wo die Liebe hinfällt“. Im wahrsten Sinne des Wortes, ich verliebte mich in einen Mann, der ursprünglich auch aus Düsseldorf kam und nach Hessen ausgezogen war, sein Glück zu suchen.

Die Ironie des Schicksals war, dass er sein Glück ausgerechnet in Düsseldorf fand, nämlich mich. Als wir beschlossen, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen führte uns beide der Weg nach reiflicher Überlegung in ein Provinzstädtchen in Hessen.

So kam ich also in ein kleines Nest namens Hanau. Mein Freund, der zwischenzeitlich mein Verlobter geworden war, übrigens der beste Mann der Welt, hatte einen wunderbaren Job, um welchen ich ihn beneidete. Er war Studioleiter in einem Fotostudio. Hier wurden Möbel und Accessoires fotografiert. Manchmal wurden fantastische Kulissen, er nannte sie Kojen, aufgebaut. Darin befanden sich dann gemütliche Wohnzimmer, Kinderzimmer oder Küchen. Alles war herrlich dekoriert und beleuchtet. Diese Fotografien entstanden für alle möglichen Möbelhäuser, die mit ihren Werbeprospekten die Menschheit zum Kauf anlocken wollten. Dieses Studio erinnerte mich etwas an einen Filmdrehort. Hier lag ein Hauch von Kreativität in der Luft.

„Nun gut“, dachte ich, „sein Job ist gesichert. Ich werde sicher bald auch eine Position finden. Schließlich habe ich eine gute Ausbildung und kann schon eine beachtliche Berufserfahrung vorweisen.“

Also fuhr ich über Land zum Arbeitsamt. Ich und meine Ortskenntnis; Stadtplan auf dem Schoß, Schweißperlen auf der Stirn, irrte ich in diesem Nest herum und fand mich dreimal am selben Friedhof wieder. Nach gut einer Stunde kam ich doch noch beim Arbeitsamt an (der Weg hätte von Profis in zwanzig Minuten erledigt werden können).

Im Arbeitsamt angekommen, überfiel mich ein mulmiges Gefühl. Lange, schmale, etwas muffige Gänge führten mich zu dem Raum, zu welchem mich die etwas mies gelaunte Empfangsdame geschickt hatte. Einige Leute saßen gelangweilt davor. Nach etwa einer Stunde durfte ich dann in den Raum. Eine etwas ältere Dame begrüßte mich sehr freundlich und verscheuchte damit mein ungutes Gefühl. Nach einem kurzen Gespräch lächelte die Dame mich wiederum an und sagte:

„Ich glaube, da habe ich etwas für Sie.“

Das funktionierte prima, Volltreffer; ich bekam sofort eine Adresse in die Hand gedrückt. Gesucht wurde also eine Sachbearbeiterin, die auch den Empfang und die Telefonzentrale betreut. Sofort irrte ich wieder nach Hause (das klappte schon etwas besser - nur 45 Minuten) und rief besagte Telefonnummer auf meinem Zettel an.

Eine freundliche Stimme meldete sich (das war also die Stimme, die ich ersetzen sollte) und dann wurde ich mit einer sehr leisen und ruhigen Dame verbunden. Wir plauderten ein wenig über meinen bisherigen beruflichen Werdegang, und dann lud sie mich ein.

Oh je, was war ich aufgeregt, sollte meine Jobsuche denn so einfach sein? Mein lieber Verlobter kam auf den Gedanken, vor dem Termin doch erst einmal den Weg abzufahren und zu sehen, wo diese Firma ist. Das war eine gute Idee, denn es stellte sich heraus, dass ich den Weg leicht finden kann, wenn ich allein unterwegs bin.

Montag!

Mit aller Sorgfalt machte ich mich zurecht. Ich sah sehr seriös aus. Meine Bewerbungsunterlagen packte ich in eine Ledermappe, stieg in unseren alten Käfer und machte mich auf den Weg. Fünf Minuten zu früh (das macht einen guten Eindruck) stand ich an der Rezeption bzw. vor einem Loch in der Wand, über welchem in großen Buchstaben „ANMELDUNG“ geschrieben stand. Plötzlich wurde mir etwas mulmig in der Magengegend. „Merkwürdiger Ort“, dachte ich noch, als eine sehr höfliche Dame mittleren Alters vor das Loch trat und mich freundlich begrüßte.

Sie forderte mich sehr herzlich auf, ihr durch einen dunklen Gang zu folgen. Drei hintereinanderliegende Büros galt es zu durchqueren, um im vierten Büro der Vertriebsleiterin vorgestellt zu werden.

Eine altmodisch wirkende Frau – auch mittleren Alters - lächelte mich an und streckte mir etwas lasch ihre Hand entgegen. Sie verschaffte sich in einem lockeren Gespräch einen Eindruck von mir und meine gemischten Gefühle verflogen langsam. Nach einer viertel Stunde schlug sie mir vor, den Geschäftsführer aufzusuchen, damit auch er ein Bild von mir bekomme. So gingen wir also wieder durch alle Büros, den dunklen Gang entlang, eine schmuddelige Treppe hinauf, und da stand er schon, der Chef.

Ein großer, stattlicher Mann, etwas ausladend, schütteres Haar mit einer Brille. Er begrüßte mich weltmännisch und führte die Vertriebsleiterin und mich in sein Büro. Es wunderte mich zwar, dass dieses Büro nichts Weltmännisches besaß, sondern eher so aussah, als wäre gerade ein Umzug geplant, aber ich machte mir schließlich keine weiteren Gedanken darüber. Der Chef sprach sehr höflich zu mir und erklärte mir, wie wichtig und verantwortungsvoll der Posten sei, um den ich mich bewarb.

Er sagte, ich würde seinem Bild sehr wohl entsprechen, aber er wolle doch lieber sicherheitshalber einen kleinen Test mit mir machen. Er ging zu seinem Schreibtisch, grub ihn ein wenig um, fischte ein längeres Schreiben heraus und legte es vor mich auf den etwas klebrigen Konferenztisch.

„Würden Sie mir bitte diesen Text vorlesen?“, fragte er und sah mich über den Brillenrand etwas lauernd an.

Sofort registrierte ich, dass es sich um einen englischen Text handelte, nahm das Blatt in die Hand und las ihn flüssig vor. Er war beeindruckt. Ich muss jedoch zu meiner Schande gestehen, dass ich von dem Schriftstück kaum etwas verstanden hatte. Da ich offensichtlich wissend genug gewirkt hatte, war meine Prüfung in der englischen Sprache hiermit bestanden. Jetzt kam er nur noch auf die Idee, meine schreibtechnischen Fähigkeiten zu prüfen. Dazu mussten wir sein Büro verlassen und das Personalbüro (besetzt mit einer älteren, griesgrämigen, aber sehr vornehmen Dame) aufsuchen.

An einer etwas veralteten Schreibmaschine nahm ich Platz und erwartete mein Diktat. Das war offensichtlich mit Schwierigkeiten verbunden, denn der Chef suchte nach einem geeigneten Text. Die drei Personen um mich herum sahen so ratlos aus, dass ich beschloss, ihnen zu helfen. Ich spannte ein Blatt Papier in die Maschine und begann zu tippen: „Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für Ihr Schreiben vom … usw.“ und fragte dann:

„Ist das so in Ihrem Sinne?“

Der Chef sagte kurz, er habe nur sehen wollen, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könne, und das sei schon in Ordnung so. Daraufhin gingen wir wieder in sein Büro, er, die Vertriebsleiterin und ich. Die ältere Dame blieb zurück. Nun standen wir alle drei mitten in seinem Raum und stellten fest, dass es nichts mehr zu bereden gab und man sich bei mir melden werde.

Als ich auf dem Weg zu meinem Auto war, fühlte ich mich sehr leicht und hatte gute Laune. Das war das witzigste Vorstellungsgespräch, das ich je hatte. Ich war sicher, dass ich hier eingestellt werde („als Sprungbrett, bis ich etwas Besseres finde“, dachte ich mir).

Schon am nächsten Tag rief mich die Vertriebsleiterin an und fragte mich, wann ich anfangen wolle. Ich gab mir noch zwei Wochen Pause und begann am 15. April.

Mein erster Tag, frisch gewaschen und zurechtgemacht erschien ich Punkt acht vor dem Loch in der Wand und wartete auf meinen Empfang. Ich ließ meine Blicke schweifen und wunderte mich, dass die Treppe wieder so schmuddelig aussah, wie bei meinem ersten Besuch. Kaffeeflecken zogen sich die Stufen hinauf. Während ich noch darüber nachdachte, wie die wohl dahin gekommen sind, wurde ich von oben gerufen. Auf der oberen Treppe hatte mich die griesgrämige Personalleiterin entdeckt und rief mich nach oben. Wir gingen in ihr Büro und handelten kurz und sachlich meine Einstellungsformalitäten ab. Danach brachte sie mich wieder runter und zeigte mir meinen Arbeitsplatz.

Einigermaßen schockiert war ich, als ich nun im Morgenlicht feststellen musste, dass sich mein Platz hinter dem Loch in der Wand befand. Ein weißer Küchentisch stand mitten im Raum. Dahinter befand sich ein ältlicher Stuhl, der ursprünglich einmal rostrot gewesen sein musste. Der Raum hatte zwei Fenster, zwei Türen und ein Loch. An einem Fenster stand ein sehr niedriger Schreibtisch, auf welchem eine erstaunlich moderne Schreibmaschine stand. Die Wand hinter dem Stuhl war bis zur Hälfte gekachelt (weiße Fliesen mit grünem Muster). Links an der Wand war da noch ein halb hoher Schrank. Alle möglichen Papiere und Bücher lagen dort etwas lieblos herum. Vor dem Loch war noch ein winziger Tisch, auf dem ein Fernschreiber stand (die Zeit des Personal Computers und des Faxgerätes war hier noch nicht angebrochen). Fernschreiber waren zu der Zeit wohl die schnellsten Informationsübertragungsgeräte neben dem Telefon. An diesem Gerät habe ich immer gerne gearbeitet. Es war lustig, wenn der gelbe gestanzte Lochstreifen aus der Maschine lief. Je länger ein Text war, umso länger wurde der Lochstreifen. Dieser diente dazu, den produzierten Text wie bei einer Nähmaschine einzufädeln und dann über einen Wählmechanismus an den jeweiligen Empfänger zu übermitteln. Der erhielt auf seinem Fernschreibgerät dann einen ausgedruckten Text in dreifacher Ausfertigung, da eine Fernschreibrolle immer aus drei Lagen mit Kohlepapier dazwischen bestand. Wenn so ein Fernschreiben einging oder abgesetzt wurde, machte das immer einen Höllenlärm. Wie das so ganz genau ging, habe ich nie begriffen, aber es war großartig.

Da stand ich nun in diesem Raum und fühlte mich einigermaßen verloren. Langsam, aber sicher kamen meine neuen Kolleginnen herein. Die erste war Frau Welt, eine Frau in meinem Alter, ca. Ende zwanzig, nicht ganz so groß wie ich, schlank, kühl, aber sehr höflich. Sie begrüßte mich, wünschte mir einen guten Start und ging in das dritte Büro, welches die Exportabteilung war, wie sich später herausstellte.

Die zweite Person war nun endlich meine direkte Kollegin. Eine liebe Frau, Ende fünfzig, warmherzig, liebenswürdig und so beruhigend. Frau Grünbaum war ihr Name. Sie machte mir Mut und erklärte mir, sie würde sich schon um mich kümmern. Erst wolle sie jedoch das Geschirr vom Vortag spülen und Kaffee kochen. Ihr Raum lag direkt hinter meinem, das heißt direkt hinter meiner gekachelten Wand. Darin stand ein richtiger Schreibtisch, ein Schreibmaschinentisch, ein Stuhl, ein Aktenschrank und in einer Ecke ein Küchentisch. Auf diesem stand allerlei herum. Da gab es eine Kaffeemaschine, eine Kaffeemühle, eine große Plastikschüssel, einen Korb mit vielen Kleinteilen, wie Flaschenöffner, Korkenzieher, Kaffeedosen, Plastikbecher und vieles mehr.

Etwas wehmütig dachte ich zurück an mein Büro in Düsseldorf. Oh, was war das schön. Ein heller, freundlicher Schreibtisch, ein wohlgeformter Stuhl, Bilder an der Wand, ein teurer Teppichboden. Wie sehnte ich mich schon jetzt danach.

Inzwischen traf auch meine Vorgesetzte im Büro ein. Auch sie begrüßte mich und nahm mich gleich mit in ihr Büro. Erst jetzt bemerkte ich, dass es hier ebenso umzugsmäßig aussah, wie in der Chefetage. Frau Wert erklärte mir allerdings nichts bezüglich des Zustandes ihres Raumes und ging ohne Umschweife zur Tagesordnung über, das bedeutete für mich - ich heiße übrigens Anna Mollenhauer -, durch das ganze Haus geschleppt und vorgestellt zu werden. Als wir zurück waren, hatte ich bereits alle Namen wieder vergessen. Zu meiner Überraschung wartete schon der Chef auf mich. Nach so viel vertaner Zeit war ich beeindruckt, dass zumindest ein Mensch schon die Arbeit aufgenommen hatte, denn er hielt ein kleines Tonband in der Hand, welches er bereits mit wichtigen Texten besprochen hatte. Er bat mich, diese Texte zu tippen und ihm zur Unterschrift vorzulegen. Endlich durfte ich etwas tun. Frau Grünbaum versorgte mich mit einem Abspielgerät mit Fußschalter und Kopfhörer, erklärte mir noch die Telefonanlage, steckte mir ein Stück Kuchen zu und ließ mich arbeiten. Die Kopfhörer waren so schmutzig, dass ich sie erst einmal ausgiebig reinigen musste. Wieder stieg dieses mulmige Gefühl in mir auf.

„Wo bin ich hier eigentlich? Was mach ich hier?“

Ich setzte mich an die Schreibmaschine. Der Tisch, auf dem sie stand, war für meine 1,75 Meter Körperhöhe erheblich zu niedrig. Um tatsächlich daran sitzen zu können, musste ich meine Beine seitlich am Stuhl nach hinten vorbeischieben und meine Füße auf der Rückseite verschränken. Eine andere Möglichkeit ließ sich nicht realisieren, da mein Versuch, die Beine unter den Tisch zu bekommen, mit einer Prellung am linken Knie vereitelt wurde.

Sicher bot ich in dieser Haltung einen seltsamen Anblick, denn als der Chef nach einiger Zeit meinen Raum betrat, begann er schrecklich laut zu lachen.

Mir war allerdings nicht sonderlich zum Lachen zumute, denn die Stimme, die durch den Kopfhörer in mein Ohr dröhnte, klang ungefähr so, als würde mein Chef während des ganzen Diktats essen, trinken oder sich die Zähne reinigen. Außerdem klangen seine geistigen Ergüsse sehr unverständlich. Aber ich war ja schließlich neu hier, und Urteile über so einen Schwachsinn standen mir nicht zu.

Nachdem ich die Texte zur Unterschrift abgeliefert hatte, erhielt ich großes Lob, dass ich so schnell gearbeitet hatte, und das auch noch fehlerfrei. Nun, ich war schon lange berufstätig und hielt die Art, wie ich arbeitete, für ausgesprochen normal. Hier in Hessen scheint das wohl anders zu sein, dachte ich so und nahm das große Lob entgegen.

Mit Frau Grünbaum legte ich noch einige rote, grüne und blaue Dokumente ab, und sie erklärte mir noch sehr wichtige Dinge. Als ich um halb fünf das Haus verließ, war ich ganz schön geschafft.

Wenn ich damals schon geahnt hätte, was ich dort noch erleben würde, hätte ich wohl schleunigst das Weite gesucht. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg …

Mein oberstes Gebot lautete nun erst einmal, meine drei Monate Probezeit zu bestehen. Frau Grünbaum half mir tapfer dabei. Sie erklärte mir in ihrer komplizierten und umständlichen Art, wie man was macht - aber niemals warum.

Frau Grünbaum war schon lange im Unternehmen. Der Chef nannte sie „die gute Seele“, denn schließlich war sie es, die ihn mit frischem Kaffee verwöhnte und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas.

Mit Hingabe erledigte sie die Ablage und war sehr stolz, wenn sie alle roten, grünen und blauen Dokumente in die dafür vorgesehenen Ordner geheftet hatte. Als auch ich ihr System begriffen hatte, freute sie sich darüber, dass ich ein Stück schlauer geworden war. An der Schreibmaschine arbeitete Frau Grünbaum nicht so gerne, so kam sie auf die Idee, mir ihre ungeliebten Schreibarbeiten zu überlassen, weil ich ja schließlich einmal ihren Platz einnehmen sollte und viel lernen müsse.

Ich mochte Frau Grünbaum sehr, deshalb lächelte ich anerkennend und ließ sie gewähren. Außerdem stellte ich nach kurzer Zeit fest, dass diese Frau ohnehin nur belächelt und ausgenutzt wurde. Sie hatte den Wiener Charme, denn sie hatte lange Zeit in Österreich gelebt und war zum Dienen erzogen, vielleicht sogar geboren worden. Nie habe ich sie unhöflich oder wütend erlebt.

Mir ist es angeboren, mich schützend auf die Seite der Schwachen zu stellen, was mich dazu veranlasste, ihre kleinen Fehler auszubügeln und ihr noch mehr Herzlichkeit entgegenzubringen. Sie belohnte mich dafür mit kleinen Naschereien oder mit einer Nackenmassage, wenn ich wieder einmal Tonbänder mit schmatzenden Geräuschen getippt hatte.

Der Chef war begeistert von mir. Überall erzählte er:

„Was für ein guter Griff. Die Frau arbeitet perfekt.“

Meine Vorgesetzte, Frau Wert, wurde langsam sauer. Schließlich war ich für sie eingestellt worden, und für sie sei perfektes Arbeiten ganz normal (für mich übrigens auch).

Frau Wert begann damit, mein perfektes Arbeiten zu testen. Sie besprach nun auch Tonbänder, zwar nicht schmatzend, aber dafür etwas einschläfernd, und erklärte mir, dass ihre Bänder Vorrang vor allem anderen hätten. Der Chef, nicht dumm, brachte mir unverzüglich sein Geschmatze mit den Worten:

„Obereilig!“

Da stand ich nun, ich armer Tropf. Wie sollte ich mich entscheiden? Wie sagte Frau Wert doch? Sie war meine Chefin, also nichts wie hin.

Nachdem ich ihr meine Not erklärt hatte, sah sie mich sehr frostig an und meinte:

„Wenn Sie so schlau sind, dann lassen Sie sich doch etwas einfallen!“

„Ups!“ Das war ein Hammer! Ich guckte etwas blöd aus der Wäsche und fragte sie, was sie mit dieser Antwort meinte. Das war ein Fehler, denn jetzt erklärte sie mir:

„Sie haben doch sonst so ein großes Maul und wissen alles!“

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Augenblicklich bekam ich ein schlechtes Gewissen, und ich wusste nicht warum. Außerdem war ich es nicht gewohnt, dass man so mit mir sprach. Eine tiefe Stirnfalte lag in ihrem Gesicht und es sah nicht danach aus, als wolle sie mir bei meinem Problem helfen.

Fassungslos und tief gekränkt verließ ich ihr Büro, schrieb das Band vom Chef zuerst und dann das andere. Was ist denn bloß in diese Frau gefahren, dachte ich bei mir, was denkt die sich eigentlich? Ich war mir keiner Schuld bewusst und doch hatte ich ein blödes Gefühl in der Magengegend.

Am nächsten Tag ging ich zu ihr. Sie hatte mir den letzten Abend verdorben, und ich musste ständig an sie denken. Ich wollte es wissen und fragte sie geradeheraus, warum sie sich so verhalten hatte. Sie schaute nicht ganz so frostig, aber die tiefe Stirnfalte verriet mir, dass ihr meine Frage unbequem war. Lange schaute sie mich wortlos an. Ich fühlte mich unbehaglich bei ihrem Blick, und ich fragte mich, ob ich meine Frage nochmals wiederholen sollte. Ich erwiderte ihren Blick noch eine Weile, da begann sie zu sprechen:

„Nun jaaaa“, sagte sie theatralisch. Man habe ihr zugetragen, wer, wollte sie nicht sagen, dass ich keinen Respekt habe, mich unmöglich benehme, mich überall in den Mittelpunkt spiele und überhaupt verlogen sei.

Nachdem ich wieder Luft bekommen hatte, begann ich mich gegen diese Vorwürfe zu wehren. Ich wollte wissen, wer so über mich sprach und warum man mich nicht längst entlassen hatte, wenn ich so schrecklich war. Wie erwartet erhielt ich auf meine Fragen keine Antwort. Ein langer Monolog von Frau Wert folgte. Sie erzählte mir von ihrer christlichen Lebensauffassung, von Ehrlichkeit, von Gerechtigkeit und Achtung gegenüber allen Menschen.

Nach einiger Zeit war sie fertig mit ihren Ausführungen. Leicht verwirrt gab ich ihr zur Antwort, dass ich zwar kein Kreuz auf der Stirn trage, aber durchaus auch einige ihrer Werte besitze. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, und das wollte ich geändert wissen.

Unser Gespräch dauerte noch sehr lange, aber es endete ohne eine Antwort für mich.

Als ich mich wieder meinen Aufgaben zuwandte, ging mir das Gespräch nicht aus dem Kopf. Verrückt, vollkommen bekloppt, dachte ich, du wirst behandelt wie eine Verbrecherin, warum gehst du nicht? Noch ist Zeit! Vor allem fragte ich mich, was dieses christliche Gefasel zu bedeuten hatte. Hat sie sich denn christlich verhalten, als sie mich angriff, ohne die Aussagen der anderen sogenannten Informanten zu überprüfen?

Frauen sind seltsame Wesen. Frauen sind wohl zum Leiden geboren. Frauen sind blöd! Ich glaube, ich bin besonders blöd.

Ich blieb. Das Klima änderte sich langsam. Frau Grünbaum ging in Rente, meine Probezeit war lange bestanden, die Arbeit wurde mehr. Inzwischen hatte ich auch erfahren, dass im Betrieb Wetten abgeschlossen worden waren, wie lange ich wohl bleiben würde. Die gewagteste Wette lag bei einem halben Jahr. Keiner hatte damit gerechnet, dass ich länger blieb.

Da es nun keinen Wettgewinner gab, musste man sich wohl mit mir abfinden. Das machte mich ein wenig stolz. Auch so eine blöde Seite von mir.

Inzwischen durfte ich das Büro von Frau Grünbaum beziehen. Nachdem die Möbel endlich auf meine Körperhöhe eingestellt worden waren, was mich zwei Monate Kampf gekostet hatte, war ich durch mein hartnäckiges Verhalten schon wieder in Ungnade gefallen.

Möglicherweise ist es in Hessen so, dass man sich eine ordentliche Büro-Ausstattung erst über Jahre erarbeiten muss.

In Düsseldorf diente die Ausstattung der Gesundheit und damit der Arbeitsleistung und Motivation.

Ich unterließ es, meinen Arbeitgebern von meinen diesbezüglichen Überlegungen Kenntnis zu geben. Sicher hätten sie es ohnehin nicht verstanden.

Es vergingen einige Wochen, ohne dass ich gemaßregelt wurde. Offensichtlich hatten auch die „Informanten“ meiner Vorgesetzten aufgegeben. Oder sollte ich mich nur sicher fühlen?

Frau Wert hatte langsam begriffen, dass ich ein gutes Kind war, und ihre neue Strategie lautete, jede Arbeitsbiene sollte an jedem Platz arbeiten können. Sie begann mit Rollentausch-Aktionen.

Frau Welt machte nun meine Aufgaben für das Inland, und ich machte ihre Auslandsaufgaben. Nach einer Weile waren wir beide mächtig schlau und durften wieder unsere alten Positionen bekleiden.

Die Auftragslage hatte sich merklich verbessert. Vielleicht lag dies daran, dass Frau Welt und ich einen guten Job machten.

Das Arbeitspensum wurde immer größer, was bedeutete, dass es der Firma zunehmend besser ging.

Frau Wert hatte die Aufgabe, die Firma aus den roten Zahlen zu holen, und offensichtlich hatte sie dank meiner Hilfe ihr Ziel erreicht.

Unsere Miniverwaltung sollte wieder wachsen. Bis jetzt waren wir nur sieben Leute: der Chef, Frau Wert, Frau Welt, der Produktionsleiter, Herr Braun, der Einkäufer, Herr Mengelrot, und Frau Zapf, die Personalleiterin, und ich natürlich.

Wir bekamen gleich zwei neue Kolleginnen zur Unterstützung, eine für Frau Welt und eine für mich. Ich bekam Britta, ein sehr junges, dynamisches rothaariges Mädchen. Sylvia, ein ebenso junges, aber stilles, verträumtes Mädchen, kam zu Frau Welt. Frau Welt liebte es, allein zu sein, und deshalb bekam sie wohl das stille Mädchen, weil diese ihre Sphäre am wenigsten stören würde.

Mit meiner Britta war ich sehr zufrieden. Sie hatte immer gute Laune, war witzig, spritzig und lernte sehr schnell. Kurz und gut, nach einigen Wochen war aus unserer Kollegialität eine recht solide Freundschaft geworden. Überhaupt, nach wenigen Wochen hatten wir ein sehr schönes und angenehmes Betriebsklima. Selbst Frau Wert schien sich wohlzufühlen. In den Mittagspausen aßen wir zusammen und auch sonst lief alles sehr harmonisch. Wir waren zu einer wasserdichten Abteilung zusammengewachsen. Frau Wert hatte uns alle im Griff, sie hatte uns ihre Ideale „ins Fell gebrannt“. Wir funktionierten prächtig, und das auch noch freiwillig.

Im Laufe der Zeit übernahm ich immer mehr Aufgaben, denn es war so geplant, dass ich Frau Wert während ihrer Abwesenheit in vielen Angelegenheiten (selbstverständlich in ihrem Sinne) vertreten sollte.

Mittlerweile merkten wir alle, dass der Chef mit dieser Harmonie nicht so recht zufrieden war. Steckte er doch gerade in seiner eigenen Scheidung - machte ihm doch seine Frau die Hölle heiß - war er doch gerade der ärmste Mensch der Welt. Und dann das, Harmonie in seinem Geschäft.

(Ich räume ein, seine Gesellschaft bei Geburtstagen in geselliger Runde war nicht so beliebt. Seine kleinen Angewohnheiten bei der Nahrungsaufnahme sowie seine witzigen Einlagen waren recht unappetitlich. Auch seine Scheidungsschwierigkeiten gingen uns reichlich auf die Nerven.)

Er war so mitteilungsbedürftig, und wir schlossen ihn einfach aus unserer Harmonie aus. Da Frau Wert das völlig in Ordnung fand, war das auch für uns überhaupt kein Problem.

Unser Chef war jedoch gewitzt. Er würde schon dafür sorgen, dass das Betriebsklima wieder dahin kommt, wo es einmal war! Er war der Mann im Haus und hatte das Sagen. Nicht umsonst hatten frühere Mitarbeiterinnen Beruhigungsmittel geschluckt und dann völlig verzweifelt das Haus verlassen. Und auf sein lautes Organ konnte er sich letztendlich auch noch verlassen. In den langen dunklen Fluren hallte seine Stimme wie Donner. Wer läuft da nicht verschreckt davon? (Der Chef selbst erzählte uns gern diese kleinen Anekdoten, schlug sich vor Lachen auf die Schenkel und suchte unsere Zustimmung für sein Verhalten zu erhaschen.)

Meine Gedanken dazu waren andere. Da ich in meiner Kindheit genug angeschrien worden war, reagierte ich auf seine Ausführungen immer etwas empfindlich. So erklärte ich ihm einmal, dass er sich so etwas bei mir bloß nicht erlauben solle, das könne ihm später einmal leidtun. Niemand habe das Recht, mich anzuschreien. Er reagierte darauf sehr nachdenklich, sagte aber nichts.

Unsere Harmonie war noch einige Monate intakt. Wir vollbrachten kleine Wunder, das Kapital der Firma wuchs und alles war bestens. Inzwischen war auch das leidige Scheidungsthema vom Tisch. Der Chef begann sich zu zerstreuen. Das tat er auf eine Weise, die ich erst sehr viel später begriff.

Für ihn war es zum Hobby geworden, seine Mitarbeiter gegeneinander auszuspielen. Seine ersten Opfer waren Herr Braun und Herr Mengelrot. Er ging dabei so raffiniert vor, dass er im Betrieb kleine Andeutungen streute und damit die Fantasien der Belegschaft anregte. Das klappt immer, denn wenn unzufriedene Menschen mit negativer Nahrung gefüttert werden, setzt sich ein Mechanismus in Gang, der an Boshaftigkeit nicht zu überbieten ist. Schon kam Misstrauen auf.

Herr Braun war jedoch ein alter Fuchs. Er war schon über zwanzig Jahre im Hause und kannte alle Schliche unseres Chefs. Er bügelte alles wieder glatt und war zufrieden. Ihn brachte einfach nichts aus der Ruhe. Er respektierte zwar den Chef, machte aber grundsätzlich ohnehin nur das, was er für richtig hielt. Ein bewundernswerter Mann - hätte ich mir mal eine Scheibe von abschneiden sollen.

Herr Mengelrot jedoch war tief beleidigt, was eigentlich unverständlich war, denn auch er gehörte bereits zum Inventar. Er wollte die Attacken des Chefs nicht mehr länger hinnehmen. Immerhin wurde er vor Jahren schon aus seiner Führungsposition herausgeholt und zum Deppen vom Dienst degradiert. Jetzt war Schluss!

Herr Mengelrot schlich sich langsam, aber sicher in die Damenriege ein. Dass ihm das nicht bekommen würde, sollte er später noch erfahren. Bis dahin jedoch erzählte er uns von den vielen Schandtaten unseres Chefs und was er alles schon mit ihm erleben musste.

Er sei Alkoholiker und unberechenbar und außerdem ein Schwein. (Das war ganz schön starker Tobak, aber wenn ich bedenke, dass ich auch schon kleine ekelige Ansätze am großen Weltmann entdeckt hatte, warum sollte das nicht stimmen?)

An einem Morgen wurde unsere traute Harmonie merklich gestört. Frau Welt und Britta teilten kurz nacheinander mit, dass sie kündigen würden. Britta, weil sie schwanger war, heiraten wollte und in Kürze die Firma ihrer Schwiegereltern unterstützen wollte, und Frau Welt hatte einen neuen, besser bezahlten Job in Frankfurt gefunden.

Innerhalb einer Woche hatte Frau Welt das Haus verlassen. Britta ging noch für zwei Monate in das Exportbüro und lernte unsere neue Kollegin, Marianne, an.

Ich durfte nun mit Sylvia arbeiten. Sylvia war nicht gerade aufgeweckt, eher etwas träge und für jede Bazille empfänglich. So kam es, dass ich oftmals allein für zwei schuften durfte. Die Geschäftsleitung blieb davon allerdings unbeeindruckt, denn Anna hatte ja alles im Griff.

Immer wenn Sylvia sich nicht so fühlte, rief sie mich an, sagte mir, dass sie jetzt erst einmal zum Arzt müsse, später aber ganz bestimmt komme.

Oh ja, später kam sie auch. Mit einem Blick, der Steine erweichen ließ, stand sie vor mir, öffnete ihr kleines weißes Handtäschchen, holte das vom Arzt ausgefüllte gelbe Zettelchen hervor und sprach:

„Du Anna? Der Arzt hat mich ins Bett geschickt.“

Täschchen zu, Zettelchen auf meinen Tisch, ein gequälter Gruß und verschwunden war sie wieder.

Mittlerweile hatte Marianne sich gut eingearbeitet. Frau Wert hatte sich ihrer sehr fürsorglich angenommen und versucht, sie in unsere Damenriege einzupassen. Marianne war allerdings nicht so leicht zu beeindrucken und stellte sich immer etwas bockig an. Marianne hatte einen eigenen Kopf und eine klare Vorstellung, wie sie ihren Job machen wollte. Auf die christliche Schiene war sie auch nicht zu bekommen.

Frau Wert besprach oft die Probleme, die sie mit Marianne hatte, mit mir. So kam es häufig vor, dass sie über Stunden in meinem Büro verweilte.

Anfangs fühlte ich mich geschmeichelt. Sah es doch so aus, als habe sie großes Vertrauen zu mir. Oft wollte sie meine Meinung zu diesem oder jenem wissen. War meine Meinung in ihrem Sinne, war es gut, war sie es nicht, war sie beleidigt.

(Rückwirkend betrachtet war ich eine blöde Kuh. Eigene Meinungen haben in einem Betrieb einfach nichts zu suchen.)

Britta hatte sich mittlerweile auch verabschiedet, um ihrem neuen Leben mit Familie und eigenem Geschäft entgegenzutreten.

Verschiedene junge Damen von Zeitarbeitsfirmen kamen und gingen. Die angenehme Zeit war vorbei. Marianne mochte mich nicht besonders und Sylvia pflegte so häufig ihre Bazillen, dass ich nicht weiß, ob sie mich mochte oder nicht.

Frau Wert verbrachte immer mehr Zeit in meinem Büro, horchte mich aus, bohrte Meinungen aus mir heraus, kicherte fröhlich, wenn ihr danach war und hielt mich von der Arbeit ab. So dauerte es nicht lange, dass jeder, der durch meinen Raum lief, glaubte, ich habe nichts zu tun.

In Windeseile wurden diese Eindrücke im ganzen Hause ausgetauscht. Wir wurden zu siamesischen Zwillingen abgestempelt. Dies wirkte sich so aus: Wenn einer auf Frau Welt sauer war, wurde auch ich gemieden. (Ich fand das ziemlich bekloppt, aber meine Gehirnzellen signalisierten zaghaft, dass sich etwas ändern muss.)

Als Frau Wert wieder einmal meine Nähe suchte, sagte ich ihr:

„Es ist sicher nicht gut, wenn man uns ständig zusammen sieht. Ich schaffe meine Arbeit nicht; ich bin ja auch häufig allein und außerdem, was sollen denn die Leute denken?“

Ach du liebes bisschen, da hatte ich ja wieder mal was gesagt. Mit tiefster Stirnfalte wurde ich bedacht. Blitze aus harten grauen Augen schlugen mir entgegen. Frau Wert verließ mein Büro, und ich blieb mit schlechtem Gewissen zurück (ich begriff nicht warum, aber es war so).

Sylvia hatte sich wieder einmal von einer ihrer schrecklichen Grippeattacken erholt und nahm wieder ihre Arbeit auf. Sie arbeitete tatsächlich einige Wochen am Stück. Ich war beeindruckt und glaubte, sie habe sich jetzt endlich gefestigt. Auch Frau Wert, die mir inzwischen nicht mehr böse war, war mit dem Gesundheitszustand von Sylvia sehr zufrieden.

Das Betriebsklima hatte sich weiterhin negativ verändert. Frau Wert war maßgeblich daran beteiligt:

Der Chef hatte sich voll auf Marianne gestürzt und sie - als seine alleinige Mitarbeiterin - beansprucht. Damit hatte er sie voll aus der Verantwortung von Frau Wert gezogen.

Das wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn dieser Schachzug nicht zur Folge gehabt hätte, dass ab sofort Frau Wert keinen Einfluss mehr auf die Auslandsgeschäfte hatte.

Marianne fand das in Ordnung, denn die ständige Aufgaben-Tauscherei (zu der Frau Wert natürlich auch Marianne gezwungen hatte) ging ihr ohnehin auf die Nerven. Sie wollte ihren eigenen Verantwortungsbereich und nun hatte sie ihn endlich.

Frau Wert war inzwischen zur Prokuristin aufgestiegen, hatte Einfluss auf alle Geschäfte und nun das. Entzug eines ihrer Schäfchen. Dass dies ein folgenschwerer Eingriff in die Kompetenz von Frau Wert werden sollte, wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand so genau.

Sylvia erklärte eines Morgens aus heiterem Himmel, dass sie schwanger sei. Daraufhin folgte für uns alle eine lange und schwere Schwangerschaft. Während Sylvia unter Schmerzen und Übelkeit litt, türmte sich bei mir die Arbeit. Wenn es Sylvia an manchen Tagen etwas besser zu gehen schien, war dies lediglich die Ausnahme. Manchmal wusste ich nicht, ob sie mir leidtat, oder ob ich sie einfach nur erschlagen sollte. Noch heute fühle ich, wie der Zorn in mir aufsteigt, wenn sich Menschen - wie Sylvia - gehen lassen, und das auf Kosten anderer.

Als Sylvia uns endlich verließ, gaben wir ihr ein schönes Abschiedsgeschenk und freuten uns über ihre zukünftige Mutterrolle. Wir wünschten ihr eine riesengroße Familie mit vielen netten Kindern.

Wieder einmal war ich allein.

Frau Wert, immer noch niedergeschlagen, war wieder oft bei mir. Wieder wurden wir von allen gesehen. Nur kamen wir diesmal nicht so offen ins Gerede.

Unser Chef selbst hatte bereits für Aufmerksamkeit gesorgt.

Er hatte wieder geheiratet. Durch einen Zufall hatte er seine Jugendliebe wiedergefunden. Diese war tatsächlich bereit, ihn zu heiraten. Seine Exfrau, welche die beiden Söhne in ihrem Haushalt behalten hatte, war von dieser Hochzeit nicht sonderlich erfreut. Sie setzte ihm nun zu. Immer wieder gelang es nun beiden Frauen, ihm das Leben schwer zu machen. Unser Chef konnte das alles nicht verstehen, denn er war der Meinung, dass beide Frauen so gut zusammenpassten, dass sie eigentlich hätten Freundinnen werden müssen. Da einer Freundschaft aber keinerlei Chancen einzuräumen war, griff er aus lauter Verzweiflung zur Flasche.

Sicher war dies nicht der einzige Grund, der ihn erneut in den Suff trieb. Seine Brüder, die in der Muttergesellschaft ein Auge auf seine Geschäfte hatten, setzten ihm offensichtlich ebenfalls zu.

Schon am frühen Morgen brachte er seine „Ouzo-Fahne“ mit. Wie üblich gab er jedem seine klebrige, verschwitzte Hand, sprach unkontrollierte Höflichkeiten wie:

„Wie gut Sie heute wieder aussehen!!!“

Dann stolperte er in sein Büro. Mit der zunächst vollen Kaffeetasse lief er los, verteilte dann den Kaffee auf der Treppe nach oben und ließ sich dann in seinen inzwischen verschlissenen Sessel fallen.

Für die Realität verlor er bald den Blick. Geschäftlich baute er einen Blödsinn nach dem anderen. Nun kam Frau Wert wieder ins Rennen. Das war ihre große Chance. Sie spielte Feuerwehr, Herr Braun, der Produktionsleiter, half ihr dabei. Sie konnte nun wieder schalten und walten. Heute weiß ich, dass sie die Krankheit des Chefs schamlos für ihre Zwecke nutzte.

Der Chef konnte seinen „Suff“ nicht mehr vertuschen, jeder wusste bald, es ist wieder so weit.

Das Schlimmste im Berufsleben ist, wenn der Geschäftsführer Alkoholiker ist. Keiner kann ihm auf die Finger klopfen. Jeder muss freundlich zu ihm sein, weil man sonst um seinen Job bangen muss, wenn so ein Mensch die Macht hat. Man befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle. Es ist eine Mischung aus Mitleid und Ekel, Wut und Verzweiflung.

Das ist unter normalen Umständen der letzte Augenblick, seine Sachen zu packen und das Unternehmen so schnell wie möglich zu verlassen. Aber, ich sagte ja schon, Frauen können sehr dumm sein, bleiben, und auch noch stolz darauf sein, wenn es ihnen gelingt durchzuhalten.

Er begann bald seinem ohnehin schon miesen Charakter eine sehr besondere Note zu geben. Mitarbeiter, die kurz vor der Pensionierung standen, ekelte er vorzeitig aus dem Haus. Das brachte ihm zwar einige Prozesse ein, aber er war so prozessfreudig, dass ihm das nichts ausmachte. Überall im Hause stiftete er Unfrieden und sah mit Freude zu, wie sich Abteilungen untereinander bekämpften. Sein Suff hatte unsere Abteilung jedoch wieder zusammengeschweißt. Wir bildeten noch die einzige undurchdringliche Front.

Es gelang uns sogar, ihn von Gästen fernzuhalten. Wir luden Geschäftsfreunde für den Nachmittag ein, da konnten wir sicher sein, dass er in seinem Büro schlief. Dass wir das wussten, hatten wir einigen Zufällen zu verdanken. Herr Mengelrot wollte einmal eine Auskunft von ihm. Da er sich am Telefon nicht meldete, sein Auto vor der Tür stand und niemand ihn gesehen hatte, ging Herr Mengelrot in sein Büro.

In zwei Minuten war er wieder unten und berichtete:

„Der Chef ist tot!“

Noch bevor wir reagieren konnten, kam der Chef mit zerzausten und völlig verschwitzten Haaren die Treppe heruntergeschaukelt und fragte nach Kaffee.

Ein anderes Mal ging ich wegen einer Unterschrift zu ihm. Er lag laut schnarchend in seinem Stuhl. Als ich mich räusperte, schreckte er so zusammen, dass er sich das Schienbein an der offenen Schreibtischschublade (gefüllt mit Flasche und Glas) anschlug. Sofort klaffte eine große Wunde (was mach ich denn jetzt, dachte ich, er ekelt mich furchtbar an, pfui).

Schließlich holte ich den Verbandskasten und versorgte mit spitzen Fingern seine Wunde. Er war so dankbar, dass ausgerechnet ich, die schreckliche Anna, seine Wunde verbunden hatte, dass ihm die Freudentränen in den Augen standen (da war es wieder, das Gefühl aus Mitleid und Ekel).

Wir versuchten mit vereinten Kräften, die betrieblichen Abläufe so gut wie möglich zu meistern. So fiel es bald nicht mehr auf, dass unser Chef keinen Handschlag mehr tat. Je schlimmer und ausfallender er wurde, umso mehr wuchsen wir.

Erst als der Chef dann schwer krank wurde, lange ins Krankenhaus musste und anschließend eine Kur notwendig wurde, kehrte wieder Ruhe in unseren Betrieb ein.

Verschnaufpause

Fünf Jahre waren nun schon vergangen. Mein Verlobter und ich heirateten und machten eine herrliche Hochzeitsreise. Wir hatten uns für Zypern entschieden. Vier Wochen lang wollten wir in Paphos - das liegt im griechischen Teil der Insel – unsere Flitterwochen in aller Ruhe genießen. Als wir dort ankamen, begrüßte uns die Sonne mit all ihrer Kraft. Unser Hotel lag in der Nähe der steinigen Küste. Zwischen Hotel und Küste war ein großes Gelände, in welchem antike Gräber gefunden worden waren, die gerade behutsam ausgegraben wurden.

Wir hatten ein sehr schönes Hotel. Die Umgebung war wundervoll, und wir fühlten uns ausgesprochen wohl. Mit unseren kleinen gemieteten Motorrollern erkundeten wir die Umgebung, fuhren zum Strand und ließen es uns gut gehen.