4,99 €
Du siehst ihn nicht, du weißt nicht mal, dass er da ist. Doch er weiß alles über dich. Er beobachtet sie. Tag und Nacht. Bei allem, was sie in ihren eigenen vier Wänden tun. Bis er sie in- und auswendig kennt. Die drei Frauen, die im Leben stehen, single sind, allein wohnen, bemerken nicht, dass sie überwacht werden. Sie kennen sich nicht, doch etwas verbindet sie. Etwas abgrundtief Schreckliches. Zwei Mordopfer, hingerichtet mit einem Messer, führen die ermittelnden Beamten zu einer jungen Frau. In ihrer Wohnung werden Spionagekameras und -mikros entdeckt. Wer hat Sonja Petzold so perfide überwacht? Der Präsident des BKA vertraut den Fall der Sondereinheit 303 an. Das Team um Saskia Wilkens und Erik Degenhardt kommt einem eiskalt berechnenden Täter auf die Spur. Er verfolgt einen unmenschlichen Plan. Und was ihn so gefährlich macht: Er hat nichts mehr zu verlieren. Der zweite packende Fall der Sondereinheit 303 – ein schockierender Thriller, provokant und unvorhersehbar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 431
Volker Gerling
Sondereinheit 303
Thriller
Du siehst ihn nicht, du weißt nicht mal, dass er da ist. Doch er weiß alles über dich.
Er beobachtet sie. Tag und Nacht. Bei allem, was sie in ihren eigenen vier Wänden tun. Bis er sie in- und auswendig kennt. Die drei Frauen, die im Leben stehen, single sind, allein wohnen, bemerken nicht, dass sie überwacht werden. Sie kennen sich nicht, doch etwas verbindet sie. Etwas abgrundtief Schreckliches.
Zwei Mordopfer, hingerichtet mit einem Messer, führen die ermittelnden Beamten zu einer jungen Frau. In ihrer Wohnung werden Spionage-Kameras und -Mikros entdeckt. Wer hat Sonja Petzold so perfide überwacht? Der Präsident des BKA vertraut den Fall der Sondereinheit 303 an. Das Team um Saskia Wilkens und Erik Degenhardt kommt einem eiskalt berechnenden Täter auf die Spur. Er verfolgt einen unmenschlichen Plan. Und was ihn so gefährlich macht: Er hat nichts mehr zu verlieren.
Der zweite packende Fall der Sondereinheit 303 - ein schockierender Thriller, provokant und unvorhersehbar.
Volker Gerling lebt mit seiner Frau und seiner Tochter im beschaulichen Braunschweig. Wenn er nicht gerade kocht oder reist, beschäftigt er sich gern mit Psychopathen und Serienkillern. Unter dem Namen V. S. Gerling schreibt er seit 2005 Spannungsliteratur. Sein erster Roman erschien 2009.
Einem Geist gleich schlich er durch die dunkle Wohnung. Er war vollkommen in Schwarz gekleidet und verursachte beim Gehen keinerlei Geräusch. Vorsorglich trug er transparente Chirurgenhandschuhe. Obwohl die Bewohnerin übers Wochenende nicht zu Hause war, ließ er äußerste Vorsicht walten. Als er das Wohnzimmer erreichte, schaltete er die dünne Stabtaschenlampe an und beleuchtete das Bücherregal.
Dann begann er, seine technische Ausrüstung auf dem Boden zu verteilen. Winzige Mikrophone, kaum größer als ein Stecknadelkopf. Die dazugehörige Antenne hatte den Durchmesser eines menschlichen Haares. Ein Mikrophon verschwand im Inneren des drahtlosen Telefons, gleich neben dem Akku. Zwei weitere versteckte er im Schlafzimmer. Auch im Wohnzimmer, in der Küche und im Bad wurden die winzigen Geräte so platziert, dass sie nicht zu entdecken waren. Als Nächstes kamen die Kameras an die Reihe. Sie waren nur wenige Zentimeter lang und so dünn wie ein Streichholz. Diese Kameras stammten aus Israel und entsprachen dem neusten Stand der Technik. Sie schalteten sich nur ein, wenn es vor ihnen eine Bewegung gab. Die winzigen Akkus hielten zwei Wochen, wenn sie pro Tag drei Stunden filmten. Nahmen sie weniger auf, hielten sie entsprechend länger. Die Aufnahmen wurden in einer Cloud abgespeichert, die unmöglich zu hacken war, da ihr Algorithmus alle sechzig Sekunden das zehnstellige Passwort änderte. Das komplette Equipment hatte einen Wert von mehreren zehntausend Euro. Aber Geld spielte keine Rolle.
Er installierte vier Kameras im Wohnzimmer. Im Schlafzimmer waren es drei, in Bad und Küche jeweils zwei. Sogar im Flur fand er eine geeignete Stelle, um eine Kamera zu platzieren. Nach einer Stunde war die Wohnung vorbereitet. Er öffnete auf seinem Tablet ein spezielles Programm, das es nur im Darknet zu kaufen gab, und überprüfte, ob alle Kameras ordnungsgemäß sendeten und die Mikrophone funktionierten.
Auf seinem Bildschirm ploppten mehrere kleine Fenster auf – jedes stand für eine Kamera.
Alles lief bestens. Auch die Pegel der Mikros passten.
Phase zwei seines Auftrages war hiermit erfolgreich abgeschlossen.
So leise, wie er gekommen war, verschwand er wieder. Dies war die dritte Wohnung innerhalb von zwei Wochen, die er so präpariert hatte. Eine in Berlin, die zweite in Köln und jetzt diese in Hamburg.
In jeder wohnte eine junge, alleinstehende Frau.
Keine von ihnen war älter als achtundzwanzig; alle drei waren kerngesund und auch durch keinerlei ernsthafte Vorerkrankungen in der Familie belastet.
Die drei Frauen verband noch eine Gemeinsamkeit: Sie hatten die Blutgruppe AB positiv.
Nun konnte er die dritte Phase einleiten.
Diese würde maximal vier Monate dauern. In dieser Zeit würde er die Frauen bis ins kleinste Detail kennenlernen. Er würde alles über sie in Erfahrung bringen. Sogar wann sie ihre Periode bekamen und wann ihre Eisprünge zu erwarten waren.
Gerade diese Informationen waren essenziell.
Die erste Phase hatte vor einem Jahr begonnen. Gleich nachdem die Auswahl der drei Kandidatinnen erfolgt war, war der Mann in die Wohnungen der Frauen eingebrochen und hatte ihre Anti-Baby-Pillen gegen identisch aussehende Placebos ausgetauscht.
Die junge Frau aus Berlin hieß Kerstin Stratmann. Sie war sechsundzwanzig und arbeitete im Personalwesen der Bahn. Die siebenundzwanzigjährige Nicole Weber aus Hamburg war Assistentin der Geschäftsleitung einer großen Werbeagentur. Sonja Petzold war die Jüngste. Sie war fünfundzwanzig und arbeitete als Versicherungskauffrau in Köln. Die Frauen waren sehr gepflegt und achteten auf ihr Äußeres. Zu seinem großen Glück schien keine von ihnen zurzeit Interesse an einem Freund zu haben. Das erleichterte seine Aufgabe ungemein. Hätte eine von ihnen jemanden kennengelernt, hätte er denjenigen aus dem Weg räumen müssen.
Da alle drei Frauen einer geregelten Arbeit nachgingen, hatte der Mann von acht Uhr in der Früh bis siebzehn Uhr am Nachmittag kaum etwas zu tun. Erst wenn sie nach Hause kamen, saß er vor den Bildschirmen im Büro seines Hauses in Norddeutschland und beobachtete aufmerksam das Geschehen in den drei Wohnungen.
Es dauerte nicht lange, da zeichneten sich die Routinen der drei Frauen ab.
Kerstin Stratmann frühstückte nur an den Wochenenden zu Hause. Unter der Woche tat sie das wahrscheinlich im Büro. Abends machte sie sich meistens Pasta und trank dazu maximal ein Glas trockenen Weißwein. Meistens italienischen. Am Samstag und Sonntag ließ sie sich Zeit für das Frühstück, trank aber keinen Kaffee, sondern nur schwarzen Tee.
Nicole Weber hingegen brauchte jeden Morgen zwei Becher Kaffee. Bekam sie die nicht, zum Beispiel weil sie verschlief, funktionierte ihre Verdauung nur mit Verzögerung. Niemals aß sie mehr als eine Scheibe Toast mit Marmelade oder Honig. Abends, wenn sie nach Hause kam, bestellte sie sich mindestens zweimal pro Woche eine Pizza. Kochen mochte sie anscheinend nicht so gerne, an den Wochenenden ging sie häufiger zum Essen aus. Sie bevorzugte Rotwein.
Sonja Petzold war ganz anders. Sie aß jeden Morgen eine Schale Müsli mit laktosefreier Milch. (Er hatte sich deswegen eine Notiz gemacht: Prüfen, ob Petzold laktoseintolerant ist.) Dazu trank sie ein Glas Orangensaft und einen Becher Kaffee. Abends, nach Feierabend, bereitete sie sich immer eine frische Mahlzeit zu. Zweimal die Woche gab es Fleisch (abwechselnd Schwein oder Geflügel, nur ganz selten Rind), einmal Fisch und zweimal vegetarisch. An den Wochenenden kochte sie ohne festes Schema. Sie trank keinen Alkohol, nur Wasser ohne Kohlensäure und am Abend nur noch Tee.
Alle drei Frauen machten Sport in einem Fitnesscenter. Das wusste er, da er sie auch im Außen begleitet und beobachtet hatte. Sie besaßen einen tiefen Schlaf, worum er sie beneidete. Kerstin Stratmann schlief nackt. Nicole Weber hatte mehrere Schlafanzüge aus Seide, Sonja Petzold bevorzugte Nachthemden.
Stratmann masturbierte mindestens jeden zweiten Tag. Obwohl Rechtshänderin, benutzte sie dafür die linke Hand. Nicole Weber hingegen verwendete mehrmals die Woche einen Vibrator. Sonja Petzold befriedigte sich sehr selten selbst.
Nach etwas mehr als drei Monaten wusste er bereits im Voraus, wann die Frauen jeweils ihre Periode bekamen. Anhand dieser Information konnte er die drei Tage errechnen, an denen sie am fruchtbarsten waren. Wieder hatte er Glück: Zwei der Frauen hatten diese entscheidenden Tage kurz nacheinander in ein und derselben Woche, die dritte folgte eine Woche später.
Jetzt konnte er die vierte und wichtigste Phase einleiten.
Er fing bei Sonja Petzold an.
Mit dem Zweitschlüssel, den er sich angefertigt hatte, drang er in ihre Wohnung ein und gab eine zerstoßene Tablette Rohypnol in die bereits geöffnete Wasserflasche.
Dann verließ er die Wohnung und wartete in seinem Wagen, bis sie nach Hause kam und zu Abend aß. Das Medikament wirkte und ließ sie sehr schnell im Wohnzimmer einschlafen. Er betrat die Wohnung wieder, trug Sonja Petzold ins Schlafzimmer und zog sie aus. Sein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, die Frauen zu schwängern, indem er ihnen sein Sperma mit einer speziellen Spritze einführte. Dann jedoch hatte er entschieden, von diesem Plan abzuweichen. Er wollte die Schwangerschaft so natürlich wie möglich herbeiführen. Anschließend beseitigte er jegliche Spuren seiner Anwesenheit, sowohl auf dem Bett als auch auf ihrem Körper.
Bevor er die Wohnung verließ, klonte er ihr Handy. Von nun an würde er alle Nachrichten, die sie schrieb oder erhielt, mitlesen können. Das Gleiche galt für aus- und eingehende Gespräche. Zwei Tage später wiederholte er die Tat in Hamburg bei Nicole Weber und in der Woche darauf bei Kerstin Stratmann.
Nun hieß es abwarten.
Und weiter beobachten.
Sieben Wochen später
Saskia sah sich an einem Sonntagvormittag in ihrem Schlafzimmer um und suchte die persönlichen Sachen von Joshua zusammen. Er hatte zwar nicht bei ihr gewohnt, aber die letzten Nächte seines Lebens überwiegend bei ihr verbracht. Sie hatte eine Weile gebraucht, bis sie sich dazu durchringen konnte, seine Habseligkeiten in die Hand zu nehmen und behutsam in einem Rollkoffer zu verstauen. Ihr kam es ein wenig so vor, als würde sie Joshua dadurch verraten. Sie war fast fertig, als aus einer seiner Jeanshosen ein USB-Stick auf die Holzdielen fiel.
Saskia hob den Stick auf, legte ihn auf die Kommode und machte weiter. Bis sie den Rolli nach unten brachte, hatte sie den Stick schon wieder vergessen. Erst als sie am Abend in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, fiel ihr Blick wieder darauf. Neugierig geworden, nahm sie ihn an sich und ging hinunter ins Wohnzimmer, wo sie ihren Laptop aufklappte und den USB-Stick in die Buchse steckte. Es gab nur eine einzige Datei darauf.
Und die hieß «Abel».
So wie der Präsident des BKA.
Ihr neuer Chef.
Der hatte sie in seine neu gegründete Abteilung geholt. Sondereinheit 303, zuständig für spezielle Ermittlungen, lautete der umständliche Name der Abteilung. Es war die kleinste Einheit des Bundeskriminalamtes. Gleich ihr erster Fall hatte es in sich gehabt. Durch das wachsame Auge des Gerichtsmediziners Schubert waren sie einem Serienkiller auf die Spur gekommen. Joshua war als Computerfachmann an den Ermittlungen beteiligt gewesen und verlor dabei sein Leben. Er wurde vor Saskias Augen von dem Killer brutal getötet.
Gerade als ihre Beziehung erste Knospen getrieben hatte.
Saskia würde sich in den nächsten Tagen und Wochen Gedanken machen müssen, wie es mit ihr weitergehen sollte. Nicht was den Job betraf – sie war genau da, wo sie immer hinwollte. Vielmehr beschäftigte sie die Frage nach ihrem zukünftigen Wohnort. Das BKA hatte seinen Sitz in Wiesbaden. Dort lebten auch ihre Kollegen. Das Haus, in dem sie zur Miete wohnte, war erst seit kurzem ihr Zuhause. Nichts hinderte sie daran fortzuziehen. Die wenigen mit dem Haus verbundenen Erinnerungen, die es gab, waren eher schmerzhaft, hatten sie doch mit Joshua zu tun. Und dennoch hatte sie sich ein klein wenig in das Haus verliebt. Ebenjener Wolfgang Schubert, der als leitender Rechtsmediziner beim LKA Hamburg arbeitete, vermietete ihr das Haus zu einem Spottpreis. Es hatte alles, was sie brauchte: eine moderne Küche, ein Bad mit Tageslicht, Wanne und Dusche sowie einen Garten, den sie nach eigenen Wünschen gestalten durfte. Zu behaupten, sie hätte einen grünen Daumen, wäre übertrieben. Aber Saskia hatte herausgefunden, dass Gartenarbeit einen therapeutischen Effekt auf sie hatte. Wenn sie Unkraut zupfte oder irgendwelche Dinge einpflanzte, fand sie ihre Mitte. Konnte abschalten. Und manchmal sogar alles, wirklich alles um sich herum vergessen.
Sie würde mit Degenhardt sprechen müssen.
Als Kriminaldirektor Rainer Abel zum Präsidenten des BKA ernannt worden war, hatte er die Leitung der Sondereinheit 303 an Erik Degenhardt abgegeben, ein Fallanalytiker und langjähriger Vertrauter Abels. Neben ihm und Saskia arbeiteten die Psychologin Katja Seifert, Hauptkommissar Leon Krüger sowie die Rechtsmedizinerin Michaela Tschauner für die Sondereinheit. Sören Dammann, ein weiterer Kollege, hatte das Team aus persönlichen Gründen schon wieder verlassen. Aber selbst mit ihm bräuchten sie weitere Kollegen im Team.
Saskia gab sich einen Ruck und konzentrierte sich wieder auf den Inhalt des USB-Sticks.
Sie wusste, dass Joshua und Abel sich schon gekannt hatten, bevor sie selbst in deren Leben getreten war. Aber warum erstellte Joshua eine Akte über seinen alten Freund?
Mit einem Klick öffnete sie den ersten Ordner. Darin befanden sich eine Vielzahl an eingescannten Zeitungsberichten sowie die Kopie einer Fallakte, ein paar Fotos und ein Dokument, das den Titel Zusammenfassung trug.
Saskia begann zu lesen.
Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter.
Sonja Petzold war beunruhigt. Seit etwa zwei Wochen litt sie morgens häufig an Übelkeit. Sie hatte sich sogar ein paarmal übergeben müssen. Eine Kollegin, mit der sie auch befreundet war, hatte scherzhaft bemerkt, dass sie wohl schwanger sei. Was natürlich totaler Blödsinn war.
Sie hatte seit bestimmt über einem Jahr keinen Sex mehr gehabt. Und der letzte Typ, mit dem sie geschlafen hatte, war zwar ein sterbenslangweiliger Lahmarsch gewesen, aber so langsam konnte sein Sperma nicht sein. In der Mittagspause ging sie in eine Apotheke und ließ sich beraten. Nachdem auch hier das Thema Schwangerschaft schnell abgehakt war, äußerte die Apothekerin den Verdacht, dass Sonja unter einer akuten Gastritis litt.
«Und nun?», wollte Sonja wissen. «Können Sie mir etwas gegen die Übelkeit geben?»
«Sie sollten auf jeden Fall einen Termin bei Ihrem Hausarzt vereinbaren», riet die Apothekerin.
«Ja, das werde ich machen», log Sonja, die absolut keine Lust verspürte, sich stundenlang ins Wartezimmer zu setzen, nur um dieselbe Diagnose zu erhalten.
«Ich könnte Ihnen rezeptfreie Antiemetika geben.»
Innerlich rollte Sonja mit den Augen. «Und was ist das?»
«Etwas gegen Übelkeit. Vomex A zum Beispiel. Es gibt aber auch …»
«Nehme ich.»
Sonja erhielt das Medikament und verließ die Apotheke. Sie wollte so schnell wie möglich zurück ins Büro. Ihr neuer Abteilungsleiter war ein echtes Arschloch, der jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um sie und ihre Kollegen zu schikanieren. Deshalb hatte sie eben auch schnell ihre Mittagspause genutzt. Das würde mit einem Arztbesuch nicht so einfach funktionieren. Sobald sie in ihrem Auto saß, öffnete sie die Packung, griff sich die Wasserflasche und warf sich eine der Pillen ein. Kaum geschluckt, fühlte sie sich schon viel besser. Was natürlich vollkommener Quatsch war. Das wusste sie selbst. Aber etwas zu unternehmen, statt zu leiden, war immer gut.
Sie fuhr zurück ins Büro und arbeitete in der Gewissheit weiter, dass es nur eine ganz normale Magenschleimhautentzündung war. Allein durch diesen Gedanken fühlte sie sich körperlich besser. Dennoch verspürte sie den ganzen Tag über eine gewisse innere Unruhe. Deshalb suchte sie nach Feierabend eine andere Apotheke auf und kaufte einen Schwangerschaftstest.
Als sie ihre Wohnung erreicht hatte, zog sie sich hektisch Schuhe und Jacke aus, schnappte sich den Test, lief ins Bad, setzte sich auf die Toilette und studierte den Beipackzettel. Natürlich war es simpel. Einfach draufpinkeln und warten. Sie nahm das Teststäbchen, brachte es in die richtige Position und wartete.
Und wartete …
«Verdammt», sagte sie wütend, als sie nach einigen Minuten noch immer nicht pinkeln konnte. Ohne Hose lief sie in die Küche und bereitete sich einen Tee zu. Sie hatte nicht die Geduld, ihn die üblichen sieben Minuten ziehen zu lassen, sondern trank ihn schon nach fünf, obwohl er noch sehr heiß war. Dann setzte sie sich wieder auf die Schüssel und wartete auf den Blasendruck. Aber nichts geschah.
Seufzend stand sie auf, ging in die Küche und trank ein Glas eiskaltes Wasser. Endlich, nach über einer halben Stunde, konnte sie pinkeln. Vorsichtig hielt sie den Teststreifen unter den Strahl.
Dann hieß es wieder warten.
Sie starrte auf das kleine Anzeigefeld des Streifens. Laut Gebrauchsanweisung mussten zwei schwarze Balken erscheinen. Einer als Zeichen dafür, dass sie alles richtig gemacht hatte. Der andere, wenn sie wirklich schwanger war.
Langsam bildete sich der erste schwarze Balken.
«Nur dieser bitte», flüsterte sie. «Nur dieser eine Balken …»
Kurz darauf wurde ein zweiter Balken sichtbar.
«Nein, nein, nein …»
Nach wenigen Minuten hatten sich zwei deutlich erkennbare schwarze Striche gebildet.
«Scheiße …»
Kerstin Stratmann konsultierte ihren Hausarzt. Der untersuchte sie und sprach dann die Empfehlung aus, sie solle besser ihre Frauenärztin besuchen. Stirnrunzelnd nahm sie das zur Kenntnis. Seit einigen Tagen litt sie unter Übelkeit. Besonders nach dem Aufstehen. Auch hatte sie leicht zugenommen, was sie sich überhaupt nicht erklären konnte, denn sie achtete sehr auf ihre Figur. Sie wollte die Praxis ihres Hausarztes nicht verlassen, ohne ihm einen möglichen Grund für ihre Beschwerden abzuringen.
«Ein aufgeblähter Bauch und Übelkeit könnten Anzeichen für eine Magenschleimhautentzündung sein», sagte er widerwillig.
Kerstin verkniff es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass ihr Bauch nicht nur aufgebläht war, sondern sie auch zugenommen hatte. Mit einer Gastritis konnte sie leben. Die verschwand irgendwann.
Aber ihre Beschwerden ließen nicht nach, sodass sie nach ein paar weiteren Tagen schließlich doch einen Termin bei ihrer Gynäkologin vereinbarte. Die stellte ihr zunächst ein paar allgemeine Fragen nach den Beschwerden. Kerstin beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß.
«Ich würde gerne eine Ultraschalluntersuchung vornehmen», sagte die Ärztin schließlich.
«Also schwanger bin ich ganz sicher nicht», lachte Kerstin.
«Lassen Sie uns einfach die Untersuchung machen, einverstanden?»
Kerstin zuckte gleichgültig mit den Schultern. Für sie war das reine Zeitverschwendung, aber die Krankenkasse zahlte es. Warum also nicht? «Von mir aus.»
«Gehen Sie bitte in die Kabine und machen Sie sich unten herum frei.»
Kerstin tat, wie ihr geheißen, und setzte sich anschließend auf den Behandlungsstuhl.
Nachdem die Ärztin ihre Untersuchung im Genitalbereich beendet hatte, legte sich Kerstin auf die Liege und schob ihren Pullover hinauf. Zuerst folgte das kühle Kontrastmittel, dann drückte die Ärztin das Ultraschallgerät auf ihren Bauch und rührte ein wenig herum.
«Ah», sagte sie plötzlich.
«Was ist?»
«Herzlichen Glückwunsch», antwortete die Ärztin. «Sie sind schwanger.»
Ruckartig erhob sich Kerstin. «Das ist unmöglich!», rief sie erschrocken. «Das kann nicht sein.»
«Schauen sie selbst», sagte die Ärztin und nickte in Richtung Monitor.
Kerstin schüttelte benommen den Kopf. «Das geht gar nicht. Ich hatte seit fast einem Jahr keinen Sex mehr.»
«Lassen Sie mich kurz messen», murmelte ihre Ärztin, als hätte sie nichts gehört. Kurz darauf kam das Ergebnis. «Ich würde sagen, Sie sind in der siebten Woche.»
Kerstins Gedanken überschlugen sich.
Was war vor sieben Wochen gewesen? Hatte sie vielleicht einen One-Night-Stand gehabt und den verdrängt? Nein, ganz sicher nicht. Und ganz bestimmt hätte sie das nicht verdrängt. Zumal sie doch auch die Pille nahm. Nein, sie war sich zu einhundert Prozent sicher, dass sie seit mindestens zwölf Monaten keinen Sex mehr hatte. Und das teilte sie auch der Ärztin mit.
«Nun, es gibt natürlich die Möglichkeit, schwanger zu werden, ohne Sex zu haben.»
«Soweit ich weiß, ist das zuletzt vor zweitausendzweiundzwanzig Jahren passiert», sagte Kerstin ohne jede Spur von Humor.
Die Ärztin grinste. «Es gibt noch andere Möglichkeiten. Spermien sind klein und flink, und ihre einzige Aufgabe ist es, zu einer Eizelle zu gelangen – komme, was wolle. Demnach besteht immer eine theoretische Gefahr, schwanger zu werden, sobald das Ejakulat in die Nähe der Scheide kommt.»
«Ach ja? Und wie soll das gehen?»
«Nun, beim Austausch von Zärtlichkeiten, auch ohne direkten Geschlechtsverkehr, können Spermien in die Vagina dringen, wenn Samenflüssigkeit am Finger des Mannes oder der Frau klebt. Achten Sie deshalb darauf, dass sich der Mann nach einem Samenerguss gründlich die Hände wäscht.»
«Ich hatte auch keinen Austausch von Zärtlichkeiten», beharrte Kerstin.
Die Ärztin war von Kerstins Aussagen unbeeindruckt und fuhr fort. «Zudem sollte der Mann die Flüssigkeit wegwischen und sich gegebenenfalls eine Unterhose überziehen. Klingt zwar unromantisch, verhindert aber eine ungewollte Schwangerschaft.» Sie runzelte die Stirn und sagte dann nachdenklich: «Durch Analsex allein kann man nicht schwanger werden. Aber: Das Ejakulat läuft aus dem After wieder heraus und kann so in die Nähe der Scheide kommen. Die Nutzung eines Kondoms kann dies verhindern.»
Kerstin sah ihre Ärztin aus funkensprühenden Augen an. «Ich. Hatte. Keinen. Sex. Weder vaginal, noch anal. Übrigens auch keinen oralen Verkehr. Verstehen Sie, was ich sage?»
«Beruhigen Sie sich bitte. Sie müssen sich irren.» Sie breitete die Arme aus und lächelte strahlend. «Denn schließlich sind Sie ja schwanger.»
Wutentbrannt zog Kerstin sich wieder an und flüchtete aus der Arztpraxis.
Als sie in ihrem Auto saß, fing sie an zu weinen. Mehr aus Wut als aus Angst.
Das kann doch nicht wahr sein, oder? Ich kann doch nicht schwanger sein, wenn ich keinen Sex hatte. So was ist doch nicht möglich …
Mit zitternden Händen wühlte sie in ihrer Handtasche herum, bis sie fand, was sie suchte. Bevor sie das Sprechzimmer fluchtartig verlassen hatte, hatte die Ärztin ihr noch eine kleine Schwarz-Weiß-Aufnahme zugesteckt. Es zeigte angeblich irgendetwas, das in ihrem Bauch lag. Erkennen konnte sie nichts. Schon gar nicht einen kleinen Menschen.
Was, wenn die blöde Kuh tatsächlich recht hat? Was, wenn ich wirklich schwanger bin?
Sie war sechsundzwanzig Jahre alt. Hatte keinen Freund, und es war auch niemand in Aussicht. Sie war sehr anspruchsvoll, und nur wenige entsprachen ihren ziemlich konkreten Vorstellungen. Im Gegenteil; sie hatte viele damit abgeschreckt. Aber als Einzelkind war sie es nun einmal gewohnt zu bekommen, was sie wollte.
Will ich dieses Kind?
Darüber würde sie in aller Ruhe nachdenken müssen.
Nachdem sie sich von einem anderen Gynäkologen eine zweite Meinung eingeholt hatte.
Nicole Weber merkte schon recht früh, dass ihr Körper sich veränderte. Dass sie ihre Periode nicht pünktlich bekam, war nicht ungewöhnlich. Dass aber ihre Brüste anschwollen und empfindlich waren, kam ihr mehr als seltsam vor. Sie kaufte sich einen Schwangerschaftstest, obwohl sie seit vielen Monaten keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt hatte. Aber sie hatte zuvor jemanden kennengelernt, mit dem sie vor ein paar Wochen heftig rumgemacht hatte. Zum Äußersten war es zwar nicht gekommen, aber immerhin hatte sie ihm mit der Hand einen runtergeholt. Danach war der Kontakt zu ihm abgebrochen.
Nachdem das Testergebnis positiv ausgefallen war, machte Nicole einen Termin bei ihrer Frauenärztin. Nach einer äußeren Untersuchung erfolgte der Ultraschall.
«Da ist es», verkündete ihre Ärztin fröhlich. Sie vermaß den Fötus und kam zu dem Ergebnis, dass Nicole in der siebten Woche schwanger war.
Daraufhin erklärte sie der Ärztin, dass sie seit Monaten keinen Geschlechtsverkehr, aber Zärtlichkeiten mit einem Mann ausgetauscht hatte.
«Hatte der Mann eine Ejakulation?»
Nicole hatte genickt. «Ja. Ich äh … also ich habe ihm mit der Hand einen …»
«Sie haben ihren Freund mit der Hand befriedigt», kam ihr die Ärztin zur Hilfe.
«Ja.»
«Kann es sein, dass etwas von dem Sperma in Ihren Intimbereich gelangt ist?»
Nicole versuchte, sich den Moment in Erinnerung zu rufen, in dem er gekommen war. Aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Sie wusste ja nicht noch nicht einmal mehr seinen Namen. Aber es war möglich, dass sie seine Handynummer noch gespeichert hatte. Sie nahm sich vor, später nachzuschauen. Und dann müsste sie sich überlegen, was sie ihm sagen wollte. Immerhin war er möglicherweise der Vater ihres Kindes. Ihr ging es nicht darum, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Aber wäre es nicht einfach nur fair, wenn er Verantwortung übernähme?
«Das wäre die einzig logische Möglichkeit», fügte die Ärztin hinzu. «Und es wäre weiß Gott nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.»
Nur um etwas zu sagen, antwortete Nicole: «Es kann sein, dass etwas von seinem Sperma nach unten geflossen ist. Also zwischen meine Beine …»
«Da haben wir die Erklärung», sagte die Ärztin und lächelte warm. «Wenn es passieren soll, dann findet die Natur einen Weg. Obwohl es immer wieder erstaunlich ist, was alles so passiert. Einige Paare wünschen sich so sehr ein Baby und versuchen es jahrelang. Ohne Erfolg. Und Sie? Sie hatten nicht einmal Ihren Spaß, und zack: Hier bin ich, Mama!»
Als sie merkte, dass Nicole ihre Begeisterung nicht uneingeschränkt teilte, wurde sie ernst. «Falls Sie das Baby nicht behalten wollen, muss ich Ihnen sagen, dass es für eine legale Abtreibung noch nicht zu spät ist. Das geht bis zur vierzehnten Schwangerschaftswoche. Aber Sie sollten keine voreiligen Entscheidungen treffen.»
«Oh … ich habe darüber noch nicht nachgedacht … aber eigentlich will ich es nicht wegmachen lassen…»
«Na dann: herzlichen Glückwunsch!»
Nicole verließ die Praxis wie in Trance. Als sie heute früh aufgestanden war, war die wichtigste Frage gewesen, ob sie nach der Arbeit zum Sport gehen würde oder nicht.
Und jetzt war sie plötzlich eine werdende Mutter …
Wie krass war das denn bitte schön?
Natürlich hatte sie sich schon mit der Frage beschäftigt, wie ihr Leben langfristig aussehen sollte. Und da war die Frage, ob sie ein Kind haben wollte, sehr weit oben auf die Liste. Aber dafür brauchte man ja eigentlich einen Mann an seiner Seite. Also nicht zwingend. Es gab ja auch Frauen, die mit Frauen zusammen waren und Kinder bekamen. Oder Männer, die mit …
Sie schüttelte ob ihrer wirren Gedanken den Kopf.
Ich werde Mama …
Was wohl ihr Chef dazu sagen würde?
Oder ihre Kollegen … die meisten von ihnen waren schon Eltern. Sie arbeitete in einer Werbeagentur, und es herrschte das Vorurteil, dass in solchen Firmen überwiegend junge Menschen arbeiteten. Aber Kreativität war nicht unbedingt eine Frage des Alters.
Warum zum Henker denke ich jetzt an die Firma …?
Nicole streichelte ihren Bauch. Von nun an gab es andere Prioritäten.
Er war mit dem bisherigen Ergebnis mehr als zufrieden. Dass er beim ersten Versuch erfolgreich sein würde, war nicht zu erwarten gewesen. Daher hatte er den Auftrag erhalten, nicht nur eine, sondern drei Frauen zu schwängern, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Nun waren alle drei in anderen Umständen, und keine von ihnen hatte bislang vor, eine Abtreibung vorzunehmen. Auch hatten sie bis heute niemanden darüber informiert, dass sie ein Kind erwarteten. Sie schienen sich mehr oder weniger mit der Tatsache, schwanger zu sein, abgefunden zu haben. Nur Sonja Petzold kam damit nicht wirklich gut zurecht.
Auf sie würde er in den nächsten Wochen verschärft achten müssen.
Es erregte den Mann nicht sexuell, wenn er die drei Frauen beobachtete. Für ihn war es ein Job wie jeder andere. Einer, den er von seinem Arbeitszimmer aus erledigen konnte. Allerdings musste er gestehen, dass er eine Art Beziehung zu den drei Frauen entwickelt hatte. Vor allem zu Nicole. Ab und zu sprach er sogar mit ihr. Nicht dass sie antwortete. Sie wusste ja noch nicht einmal, dass es ihn gab.
Dennoch bereitete es ihm Vergnügen, wenn er mit ansah, wie sie etwas suchte. Ihren Schlüssel zum Beispiel, den sie ständig woanders liegenließ. Er wusste natürlich, wo der sich befand. Während ihrer Suche feuerte er sie an, wenn sie kurz davor war, ihn zu finden. Manchmal, wenn Nicole kochte, gab er ihr Ratschläge, was verschiedene Gewürze betraf, die das Gericht noch schmackhafter machen würden. Auch die Serien, die sie schaute, gefielen ihm ausgesprochen gut. Zum Beispiel Tin Star mit dem phantastischen Tim Roth, oder Billions. Er fand es sehr schön, mit ihr gemeinsam fernzusehen.
In diesen Momenten vergaß der Mann, was er den Frauen später würde antun müssen.
Sein Handy piepte, und er warf einen Blick darauf. Sonja Petzold hatte ihrer Mutter von ihrer Arbeitsstelle aus eine Kurznachricht geschickt. Sie fragte, ob sie später vorbeikommen könnte, es sei wichtig.
Er runzelte die Stirn. Sollte die Mutter einem Treffen zustimmen, würde das seinen Tagesplan über den Haufen werfen. Sonja hatte kaum Kontakt zu ihrer Mutter, und das Verhältnis zu ihr war kompliziert. Daher musste er bei diesem Treffen dabei sein. Da er die völlige Kontrolle über Sonjas Handy besaß, konnte er ihr Smartphone als Abhörgerät nutzen und so das Gespräch mit ihrer Mutter mithören. Seit er sie beobachtete, hatte es gerade einmal ein Telefonat zwischen den beiden gegeben. Das war am Geburtstag von Sonjas Mutter. Das Gespräch war kurz und nicht gerade herzlich gewesen. Es konnte also nur einen Grund geben, weshalb sie nun ihre Mama treffen wollte.
Ihre Schwangerschaft.
Ja, er würde seinen Tagesplan ändern müssen.
Sonja Petzolds Mutter war eine furchtbare Person. Sie hatte dem Treffen zwar zugestimmt, aber sobald sich ihre Tochter auf das Sofa gesetzt hatte, machte sie ihr Vorwürfe. Innerlich kochend, hörte er das Gespräch mit. Die Tonqualität war miserabel, weil Sonja ihr Handy in der Handtasche ließ. Ihre Stimme konnte er recht gut verstehen, aber die ihrer Mutter war nur zu hören, weil sie sehr laut sprach. Er nahm den Dialog auf. Bei Bedarf könnte er die Aufnahme mit einer speziellen Software bearbeiten und alle Störgeräusche herausfiltern. Das würde er tun, wenn er der Meinung war, etwas Wichtiges nicht verstanden zu haben. Aber solange die Mutter ihre schreckliche Stimme so erhob, konnte er hören, was sie von sich gab. Und das war nichts Gutes.
«Du meldest dich monatelang nicht, und jetzt, wo du in der Scheiße sitzt, kommst du angekrochen und willst meine Hilfe», schrie sie gerade.
«Ich sitze nicht in der Scheiße. Ich bin schwanger. Wie auch immer das passieren konnte. Und ich möchte nur wissen, ob ich ab und zu auf dich zählen kann.»
Sonja blieb ruhig, trotz der Attacken ihrer eigenen Mutter. Dafür bewunderte er sie.
«Herrgott Sonja, hör doch auf, die Heilige zu spielen. Du bist schwanger, weil du einen Mann gefickt hast. Ist das so schwer auszusprechen?»
«Hätte ich das getan, würde ich es auch so nennen, Mama. Aber darum geht’s doch gar nicht. Ich möchte mit dir darüber reden. Ich bin in der siebten Woche schwanger, könnte also das Baby noch wegmachen lassen …»
Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich. «Abtreiben? Du willst das Kind wegmachen lassen? Bist du etwa deswegen hier? Um meinen Segen dafür einzuholen? Das kannst du vergessen, meine Liebe. Bei so was mache ich nicht mit. Du hattest deinen Spaß, jetzt musst du dich der Verantwortung auch stellen.»
Sonja bemühte sich immer noch, nicht die Beherrschung zu verlieren. «Ich will das Baby doch gar nicht wegmachen lassen, Mama. Und wenn ich es gewollt hätte, bräuchte ich dafür nicht dein Einverständnis. Oder deinen Segen.»
Sonjas Mutter lachte schrill. «Na, das ist doch wunderbar. Dann kannst du ja auch auf meine Hilfe verzichten. Und jetzt musst du gehen. Ich habe noch einen Friseurtermin.»
Er sah auf seine Uhr. Welcher Friseur hatte um halb sieben abends noch geöffnet?
Dann hörte er ein Geräusch, das klang, als würden Stuhlbeine über Fliesen gezogen werden.
«Vielen Dank für deine Unterstützung, Mama.»
Er hörte gedämpfte Schritte, eine Tür, die zugeschlagen wurde, und schließlich nur noch Stille. Bis eine Autotür geschlossen wurde. Dann weinte Sonja bitterlich.
Er verspürte einen unglaublich starken Hass auf Sonjas Mutter.
Nach einer gefühlten Ewigkeit startete sie den Motor und fuhr davon.
Ihm war klar, dass Sonja nun ein Problem hatte.
Aus mehreren E-Mails und Kurznachrichten, die Sonja mit Kollegen ausgetauscht hatte, wusste er, dass sie einen neuen Chef hatte, der ein richtiges Arschloch war. Sie hatten alle Angst um ihren Job. Ihr Arbeitgeber war eine börsennotierte Versicherungsgesellschaft und zu einhundert Prozent auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. Aber die Umsatzzahlen waren rückläufig. Unter anderem auch wegen der zahlreichen Online-Angebote. Schon seit Monaten geisterte das Wort Stellenabbau durch die Flure des Unternehmens.
Bislang hatte er Sonja für recht stabil gehalten. Aber ihre Reaktion auf die unerwartete Schwangerschaft war doch ein klein wenig beunruhigend. Obwohl ihr Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war, hatte sie noch immer keinen Termin beim Frauenarzt vereinbart. Stattdessen hatte sie versucht, Unterstützung von ihrer Mutter zu bekommen. Mit einem niederschmetternden Ergebnis.
Langsam zweifelte er daran, ob es gut gewesen war, Sonja Petzold auszuwählen.
Er selbst hatte an der Entscheidung keinen Anteil, aber er musste mit der Wahl leben.
Von nun an würde er Sonja mit Argusaugen beobachten.
Eine Woche nach dem Besuch bei ihrer Mutter klingelte es an der Wohnungstür. Sonja war krank, deshalb war sie an diesem Freitagvormittag zu Hause. Sie betätigte den Türsummer und wartete an der Tür. Wenig später drückte ihr der Postbote einen Brief in die Hand. Es war ein Einschreiben ihres Arbeitgebers. Irritiert nahm sie den Brief entgegen, ging ins Wohnzimmer und öffnete den Umschlag. Als sie den Brief las, brach ihre Welt endgültig zusammen. Sie hatte ihre Kündigung bekommen.
Nach fünf Jahren harter Arbeit.
Sie war immer zuverlässig gewesen, hatte sich niemals gegen Überstunden gesträubt und sogar an vielen Wochenenden gearbeitet. Und jetzt warf man sie raus, weil ihre Krankmeldung zu spät im Büro eingegangen war. Der neue Abteilungsleiter Ludger Klostermann hatte wohl nur darauf gewartet, dass sie einen Fehler machte.
Sonja rief ihre Freundin an, die in derselben Abteilung arbeitete wie sie und von ihrer Schwangerschaft wusste. Aber die hatte eine Rufumleitung aktiviert, sodass sie bei einer anderen Kollegin landete.
«Ich bin’s, Sonja. Ist Petra zu sprechen?»
«Was willst du denn mit der noch reden?», wollte die Kollegin wissen.
«Ich hab meine Kündigung bekommen, und …»
«Das weiß ich», sagte die Kollegin leise, als befürchtete sie, jemand könnte es mitbekommen. «Jeder hier weiß das. Und es war Petra, die dem Klostermann gesteckt hat, dass du schwanger bist.»
Langsam ließ Sonja den Hörer des Telefons sinken. Als ihr die volle Bedeutung dieses Verrats bewusst wurde, brach sie in Tränen aus.
Gegen Mittag setzte er sich nach einer kleinen Unterbrechung wieder vor die Monitore. Sonja war immer noch krank, deshalb war sie die einzige der drei Kandidatinnen, die zu dieser Uhrzeit zu Hause war. Sofort sah er, dass etwas nicht stimmte, und fluchte lautlos. Er war gerade einmal vierzig Minuten fort gewesen, da er in einer Apotheke etwas abholen musste. Und jetzt das.
Ihre Wohnung sah aus, als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Sonja saß in der Küche am kleinen Bistrotisch und telefonierte. Verärgert sah er, dass sie eine Zigarette rauchte. Das würde er notieren müssen. Immerhin hatte er bis jetzt nicht gewusst, dass sie diesem Laster nachging. Über Sonjas Handy konnte er das Gespräch mithören. Er lauschte konzentriert und begriff, dass Sonja mit einem Anwalt sprach.
Langsam wurde auch klar, was sich ereignet hatte.
«Hören Sie», sagte der Anwalt gerade. «Ich kenne solche Fälle zur Genüge, und ich will ganz offen sein: Wir können Klage einreichen. Aber das Einzige, was dabei rausspringen wird, ist eine Abfindung. Ihren Job kriegen Sie nicht zurück.»
«Aber er darf mir doch gar nicht kündigen. Ich bin schwanger.»
«Sie sagten vorhin, dass Sie im zweiten Monat schwanger sind, richtig?»
«Ja.»
«Und Sie haben Ihren Arbeitgeber bis heute nicht darüber informiert, richtig?»
«Nein.»
«Dann haben wir ein Problem. Nach Paragraph fünfzehn des Mutterschaftsschutzgesetzes besteht von Ihrer Seite aus eine sofortige Mitteilungspflicht. Und sofort bedeutet, sobald sie von der Schwangerschaft erfahren haben.»
«Aber ich weiß doch erst seit zwei Wochen davon», rief Sonja.
«Das wird Ihren Arbeitgeber kaum interessieren», gab der Anwalt zu bedenken.
Sonja befand sich in einer sehr schwierigen Situation. Ihren Job war sie los. Eine neue Beschäftigung würde sie so leicht nicht bekommen. Wer stellte schon eine schwangere Frau ein?
Eine Abfindung war ihr sicher, und auch Arbeitslosengeld würde sie erhalten. Aber ihr fehlte nun jede Perspektive.
Er hatte keine Ahnung, wie die junge Frau darauf reagieren würde. Wie stabil sie war. Das war beim Auswahlverfahren zwar ein Thema gewesen, aber wie konkret es überprüft worden war, wusste er nicht.
Sonja erklärte dem Anwalt, dass sie in Ruhe über ihre nächsten Schritte nachdenken müsse und sich wieder bei ihm melden wolle. Damit war das Gespräch beendet.
Wieder hörte er, wie sie Rotz und Wasser heulte.
Zweimal griff sie zum Handy, um jemanden anzurufen, zweimal hörte sie mittendrin auf zu wählen, und schließlich warf sie das Telefon fort. Sonja legte sich aufs Sofa und rollte sich zusammen. Der Mann wusste nicht, ob sie schlief, aber für eine ganze Weile blieb sie so liegen. Er überprüfte die Nummer, die sie hatte anrufen wollen. Sie gehörte zu einem gewissen Andreas. Dann scrollte er durch ihre Chats, um zu sehen, ob Sonja mit dem Unbekannten Kurznachrichten ausgetauscht hatte. Tatsächlich hatten sie sich geschrieben. Die letzte Nachricht war ein Jahr her. Er sah sich die ersten Nachrichten an. Langsam wurde dem Mann klar, dass es sich bei diesem Andreas um den letzten Mann handelte, mit dem Sonja Sex gehabt hatte.
Deshalb wollte sie ihn anrufen.
Sie dachte, er könnte der Vater ihres ungeborenen Kindes sein. Wenn Sonja nach einer logischen Erklärung für ihre Schwangerschaft suchte, war das für sie die einzige Option, die Sinn ergab. Der Mann sah wieder auf den Monitor. Sie lag noch immer da und rührte sich nicht.
Es zerriss ihm das Herz, sie so zu sehen.
Todunglücklich. Ohne jede Aussicht auf Hilfe.
Er starrte hasserfüllt auf die beiden Namen, die er notiert hatte.
Ludger Klostermann und Petra Söhler.
Sonja war am Ende. Innerhalb von nur wenigen Wochen war ihre perfekte Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Sie hatte erkennen müssen, dass es niemanden gab, der ihr zur Seite stehen würde. Nicht einmal ihre eigene Mutter. Und noch eine Erkenntnis traf sie bis ins Mark: Ihr armseliges Dasein hatte sich nur auf eine einzige Sache gestützt: ihren Job.
Der hatte ihr Halt gegeben. Deshalb war sie auch jederzeit bereit gewesen, mehr zu leisten als alle anderen. Sie hatte immer gedacht, ihr Faible für gesunde Ernährung entsprang dem Wunsch, sich selbst etwas Gutes zu tun. Jetzt wurde ihr klar, dass sie so gesund gelebt hatte, damit sie nicht krank wurde und in der Arbeit ausfiel.
Wie bescheuert war das denn? Sie war ja mehr eine Maschine als eine junge Frau.
Sie suchte das Telefon und wählte zum wiederholten Mal Andreas’ Nummer. Diesmal würde sie es klingeln lassen.
Nach dem dritten Klingeln wurde das Gespräch angenommen. «Ja?»
Sonja schluckte und gab sich einen Ruck. Auf keinen Fall wollte sie klingen wie eine bedürftige, schwache Frau. «Hi Andreas. Ich bin’s, Sonja.»
«Äh …okay … hallo Sonja.»
Grundgütiger, er hat keine Ahnung, wer ich bin …
Kurz war sie versucht, einfach wieder aufzulegen. Aber sie riss sich zusammen. Immerhin war es schon ein paar Monate her, und wenn sie ehrlich war, hatte sie in dieser Zeit nicht einmal an ihn gedacht. Bis zu dem Tag, an dem sie erfuhr, dass sie ein Kind in sich trug.
«Wir haben uns vor einiger Zeit im Glockenturm kennengelernt», sagte sie.
Glockenturm war der etwas eigenartige Name des Clubs, in dem sie eine Zeitlang Stammgast gewesen war.
«Ah! Ja klar, Sonja. Hi. Ich meine, wie geht’s dir?»
Ich bin schwanger, und so merkwürdig es klingt, aber du bist der Vater …
«Gut», sagte sie stattdessen. «Mir geht’s gut. Und dir?»
Er lachte, und sie schöpfte Hoffnung, dass das Gespräch einen guten Verlauf nehmen könnte. Aber seine nächsten Worte machten alles zunichte.
«Mir geht’s super. Du wirst nicht glauben, was passiert ist. Aber seit vier Wochen bin ich verheiratet. Und ich werde Papa!»
Wie gelähmt saß sie da. Ihre Fingerknöchel wurden weiß, so fest umklammerte sie das Telefon.
«Das ist toll», sagte sie mechanisch. «Ich werde auch Mama …»
«Hey, wie toll ist das denn? Herzlichen Glückwunsch. Lass uns doch mal …»
Ohne noch etwas zu sagen, drückte sie ihn weg. Mit steifen Gliedern stand sie auf und wankte ins Bad. Sie öffnete den kleinen Schrank mit den verspiegelten Türen und holte zwei Packungen heraus. Beide schienen harmlose Tabletten zu enthalten. Die eine für leichte Schmerzen, die andere für Verdauungsprobleme.
Aber der Inhalt war ein anderer. Anstatt Schmerzmittel barg die eine Packung starke Schlaftabletten. In der anderen befanden sich Antidepressiva. Beide Packungen waren noch fast voll. Sie hatte die verschreibungspflichtigen Medikamente in harmlose Verpackungen gelegt für den Fall, dass ihre Mutter sie einmal besuchen und herumschnüffeln würde.
Was für ein lächerlicher Gedanke – ihre Mutter zu Besuch bei ihr …
Sonja ging ins Schlafzimmer, legte sich auf ihr Bett und schluckte sie alle.
Vor seinen Monitoren bekam er jeden Schritt mit. Hilflos musste er alles mitansehen und -hören. Als sie sich auf das Bett legte und die beiden Packungen leerte, legte er eine Hand auf den Bildschirm und schrie sie an, es nicht zu tun. Dabei rannen ihm Tränen übers Gesicht.
Zuerst nahm sie die Pillen zögernd, als dachte sie vielleicht doch noch einmal darüber nach. Dann aber schluckte sie die Tabletten immer schneller. Sie trank dabei eine ganze Flasche stilles Wasser leer.
Seine Gedanken rasten. Er war Hunderte von Kilometern entfernt. Konnte also nicht mal eben vorbeifahren, um sie zu retten. Er würde garantiert zu spät kommen.
Sie durfte nicht sterben. Denn wenn das geschah, dann starb auch sein Kind.
Sein Kind …
Es war das erste Mal, dass er diesen Gedanken zuließ.
Sein Kind …
Natürlich war es sein Kind. Er hatte es gezeugt. Dabei spielten die Umstände keine Rolle.
Es ist mein Kind …
Wenn sie stirbt, stirbt auch mein Kind …
Er stieß einen animalischen Schrei aus, der tief aus seinem Inneren kam und alles ausdrückte, was er empfand.
Angst, Zorn, Trauer.
Er schüttelte den Kopf. Niemals würde er es zulassen, dass sie sein Kind tötete.
Niemals.
Er sprang auf, eilte zum Telefon und wollte schon wählen, als er innehielt.
«Idiot», zischte er.
Fast hätte er den Anruf mit dem Telefon getätigt, das man zu ihm zurückverfolgen konnte.
Schnell legte er es beiseite, lief zum Schreibtisch und holte ein noch verpacktes Prepaid-Handy heraus. Davon hatte er immer mindestens fünf Stück parat. Mit zittrigen Händen riss er die Schachtel auf, holte das Handy heraus und machte es betriebsbereit.
Dann wählte er die Notrufnummer.
«Notrufzentrale.»
«Ich möchte einen Selbstmordversuch mit Tabletten melden.»
Er nannte Sonjas Namen und ihre Adresse, dann unterbrach er die Verbindung, entfernte die SIM-Karte und schmiss das Handy weg. Er lief zurück zum Bildschirm und blickte immer wieder nervös auf die Uhr.
«Wo bleibt ihr? Wo zum Teufel bleibt ihr?», murmelte er unentwegt.
Nach zwölf Minuten sah er, wie die Wohnungstür aufflog und zwei Rettungssanitäter in Begleitung einer dritten Person, wahrscheinlich ein Notarzt, die Wohnung betraten.
«Okay», sagte er leise. «Alles wird gut. Mein Kind wird leben …»
Mein Kind …
Ludger Klostermann wohnte in einer Eigentumswohnung im Kölner Stadtteil Sülz. Die Wohnung hatte er gekauft, als er den neuen Job als Abteilungsleiter angetreten war. Da er noch nicht sehr lange hier wohnte, hatte er keinen Kontakt zu seinen Nachbarn in dem Mehrfamilienhaus. Allerdings war ihm das sehr recht, da er keinen gesteigerten Wert auf Bekanntschaften oder gar Freundschaften legte, die entstanden, nur weil man im selben Haus lebte. Klostermann war kein Eremit, aber er schätzte es, für sich zu sein.
Einmal hatte er den Schritt in die Ehe gewagt. Das war zwanzig Jahre her, damals war er ein junger Mann von dreißig Jahren gewesen. Die Ehe hatte sechs Jahre gehalten und sehr schmutzig geendet. Seine damalige Frau hatte ihn betrogen, und für Ludger Klostermann gab es nichts Schlimmeres als das. Zumal es für ihn vollkommen überraschend war, dass sie einen Liebhaber hatte. Zutiefst verletzt, hatte er emotional reagiert, während seine Frau, die sich innerlich schon von ihm verabschiedet hatte, grausam rational vorging. Klostermann hatte vor Gericht keine gute Figur abgegeben, und es war seiner Frau nicht schwergefallen, sich als Opfer darzustellen. Am Ende stand er als Kontrollfreak da. Aufgrund der Tatsache, dass er einen guten Job als leitender Angestellter hatte und ein gutes Gehalt bezog, wurden seiner Frau das Haus und eine stattliche Summe an Unterhalt zugesprochen.
Seit diesem Tag verspürte er einen unterschwelligen Hass auf das weibliche Geschlecht.
Beziehungen, wenn man sie denn so nennen konnte, dauerten bei ihm maximal drei Monate. Danach hatten die Frauen die Schnauze voll von ihm. Klostermann gelang es nicht, dieses Muster zu durchbrechen. Allerdings verspürte er auch nicht die nötige Motivation, die Frauen am Gehen zu hindern. Für ihn waren sie die Schuldigen, da sie sein Verhalten nicht nachvollziehen konnten und irgendwann anfingen, an ihm herumzunörgeln.
Die Auffassung, Frauen seien lediglich minderwertige Geschöpfe, deren einzige Existenzberechtigung die Fortpflanzung war, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und zur absoluten Wahrheit manifestiert.
Es war mühsam für ihn, unter diesen Umständen mit Frauen zu arbeiten.
Deshalb war es für ihn wie ein kleiner Sieg, als er trotz der Einwände des Betriebsrats die Kündigung von Sonja Petzold durchgesetzt hatte. Es war ein Zufall gewesen, dass er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Petra Söhler hatte sich in der Kantine verplappert. Er hatte sie in ein lockeres Gespräch verstrickt, um mehr über die Petzold zu erfahren. Er mochte es nicht, wenn Mitarbeiter krankfeierten, und wollte erfahren, was ihr fehlte, als die Söhler plötzlich sagte, Sonja sei wohl schwanger. Er tat so, als interessierte ihn das nicht sonderlich.
Aber in seinem Kopf arbeitete es. Klostermann beriet sich mit dem Firmenanwalt, und am Ende schickte er ihr die Kündigung. Mit seinem entschlossenen Handeln hatte er der Firma erheblichen Ärger erspart. Dessen war er sich sicher.
Als Klostermann die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, hatte er noch genau neunzig Sekunden zu leben. Er betrat den Flur und zog sich als Erstes die Schuhe aus. Straßendreck in der Wohnung war absolut inakzeptabel. Anschließend entledigte er sich seiner Jacke. Der Schlüssel landete in einer Schale, die auf der Anrichte lag. Sein Weg führte ihn in die Küche. Bevor er das Licht anschalten konnte, spürte er hinter sich eine Bewegung. Klostermann wollte sich gerade umdrehen, als sich ihm ein kräftiger Arm von hinten um den Hals legte und ihn nach hinten zog.
«Das ist für Sonja, du Arschloch», flüsterte ihm ein Mann ins Ohr.
Dann spürte er einen heftigen Schmerz im Bauch, gefolgt von einem furchtbaren Brennen.
Der Mann ließ ihn los, und Klostermann brach zwischen Flur und Küche zusammen. Mit einer Hand tastete er seinen Bauch ab, und er griff in eine warme, schleimige Masse. Obwohl der Schmerz heftig war, richtete Klostermann sich auf und blickte an sich hinab.
Als er seine Eingeweide sah, wollte er schreien, aber aus seiner Kehle kam nur ein heiseres Krächzen. Das Letzte, was er sah, war eine dunkel gekleidete Gestalt, die geräuschlos aus seiner Wohnung huschte. Dann wurde alles schwarz.
Petra Söhler schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und betrat die kleine Diele. Sie schaltete das Licht ein, zog sich die Schuhe aus und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Anschließend steuerte sie die Küche an, füllte Wasser in den Wasserkocher und kochte sich einen Tee. Mit dem Becher ging sie zurück ins Bad. Sie entkleidete sich, stieg in die Badewanne und zog den Duschvorhang zu. Dann schaltete sie das Wasser ein und ließ das warme Nass auf ihren Körper prasseln.
Der Mann hatte sich im Schlafzimmer versteckt. Als er hörte, wie die Dusche angestellt wurde, verließ er leise das Schlafzimmer und schlich in Richtung Bad. Er hatte erst vorgehabt, die Frau zu erwürgen, entschied sich aber schließlich doch für das Messer.
Das war irgendwie persönlicher.
Und furchterregender.
Vor dem Bad blieb er stehen und atmete tief durch. Diese besondere Art von Aufregung kannte er. Aber er musste sie zügeln, da er sonst Gefahr lief, die Beherrschung zu verlieren. Wenn das geschah, machte man Fehler. Und Fehler konnte er sich nicht leisten.
Als sein Puls wieder normal war, betrachtete er die Klinge des Messers. Er stellte sich vor, wie sie gleich durch Muskeln und Fleisch der Frau schneiden würde, und bekam eine Erektion.
Auch das wollte er nicht.
Schließlich war er nicht irgendein Perverser, der sich an solchen Taten aufgeilte.
Er wartete, bis sein Glied wieder zusammengeschrumpft war.
Dann ging er entschlossen ins Badezimmer. Mit schnellen Schritten war er an der Badewanne. Er schob den Vorhang beiseite. Petra Söhler wusch sich gerade die Haare, und ihre Augen waren geschlossen. Als sie den Luftzug spürte und hörte, wie der Vorhang aufgerissen wurde, öffnete sie die Augen und blinzelte ihn an.
Dann schrie sie entsetzt auf.
Der erste Stich ging in ihren Bauch.
«Das ist für den Verrat an Sonja, du Schlampe», sagte er und stach erneut zu.
Diesmal in den Unterleib.
Sie sackte röchelnd zusammen und blieb auf dem Rücken liegen. Das Wasser strömte noch immer aus dem Duschkopf und vermischte sich in der Wanne mit ihrem Blut.
Er beugte sich über sie, achtete darauf, dass er nicht nass wurde, und schlitzte ihr die Kehle auf.
Dann verschwand er so leise, wie er gekommen war.
Langsam öffnete Sonja Petzold ihre Augen. Sie sah sich um und hatte keine Ahnung, wo sie sich befand oder was geschehen war. Sie blickte auf eine ockerfarbene Wand, an der ein kleiner Fernseher auf einem Gestell befestigt war. Langsam drehte sie ihren Kopf nach rechts. Jetzt sah sie ein Gerät, das ihre Vitalwerte anzeigte. Ihr Blick folgte einem Infusionsschlauch, der an einem Zugang in ihrem rechten Arm endete. Langsam lichtete sich der Schleier um ihren Verstand. Sie war schwanger. Sie hatte ihren Job verloren. Und der Typ, der sie wahrscheinlich geschwängert hatte, war inzwischen verheiratet und Vater. Das alles hatte sie so fertiggemacht, dass sie sich umbringen wollte. Aber sie lebte und lag in einem Krankenhaus.
Plötzlich zuckte sie zusammen.
Das Baby.
Lebte es noch, oder hatte sie es durch ihre Kurzschlusshandlung getötet?
Rasch zog sie die Bettdecke fort und legte ihre Hände auf den Bauch.
Da muss doch eine Bewegung zu spüren sein …
Aber sie fühlte nichts … hektisch fuhren ihre Hände hoch und runter. Verharrten einen Moment und suchten eine neue Position. Aber da war nichts. Nur dieses fiese Ziehen im Bauch.
Großer Gott, ich habe mein Baby getötet …
Sonja schrie auf und begann zu weinen. Dann sah sie den roten Knopf an ihrem Bett. Sie riss ihn zu sich und drückte mit aller Kraft darauf, um den Hilferuf auszulösen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Tür aufgerissen wurde und eine Krankenschwester zu ihr eilte.
«Meine Liebe, Sie sind wach. Wie fühlen Sie sich?»
«Ich kann mein Baby nicht mehr spüren», schluchzte Sonja und brach in Tränen aus.
Die Schwester nahm Sonjas Hand und drückte sie. «Dem Baby geht es gut, Frau Petzold. Sie müssen sich keine Sorgen machen.»
Sonja sah die Schwester hoffnungsvoll an. «Aber ich kann den Herzschlag nicht finden …»
«Es geht dem Baby gut», wiederholte sie. «In diesem frühen Stadium können Sie den Herzschlag Ihres Babys noch überhaupt nicht fühlen. Aber wenn es Sie beruhigt, können wir gleich einen Termin für eine Ultraschalluntersuchung vereinbaren. Was halten Sie davon?»
«Ja bitte.»
«Und nun zu Ihnen. Wie fühlen Sie sich?»
Sonja dachte über die Frage nach. «Müde, ich habe Kopfschmerzen und Bauchweh.»
«Ich gebe Ihnen gleich etwas gegen die Schmerzen. Und Sie müssten doch hungrig sein. Immerhin haben Sie schon lange nichts mehr gegessen. Und Ihr Magen ist ganz leer.»
Der letzte Satz jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Immerhin hatten die Ärzte ihr den Magen ausgepumpt. «Ja … natürlich ist er leer …»
«Machen Sie sich keine Gedanken», sagte die Schwester. «Alles wird gut.»
Sonja lächelte sie dankbar an.
Dann warf die Krankenschwester einen Blick zur Tür. «Da draußen warten zwei Beamte darauf, mit Ihnen zu reden. Fühlen Sie sich gut genug dafür?»
«Was für Beamte?»
«Sie sind von der Polizei.»
Sonja sah die Schwester erstaunt an. «Polizei?»
«Ja.»
«Warum das denn?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Das haben sie mir nicht verraten.»
«Von mir aus», sagte Sonja. «Lassen Sie sie rein.»
Die Schwester verschwand, und wenig später traten eine Frau und ein Mann ins Zimmer. Sie stellten sich als Oberkommissarin Renz und Hauptkommissar Albert vor.
«Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen», sagte Renz.
«Ist okay.»
«Wissen Sie, dass Ludger Klostermann und Petra Söhler tot sind?»
Sonja riss entsetzt die Augen auf. «Was? Ich meine … wie …?»
«Sie wussten es also nicht?»
«Nein …»
«Beide wurden ermordet in ihren Wohnungen aufgefunden.»
«Das ist ja furchtbar …»
«Wir wissen, dass Herr Klostermann Sie entlassen hat, nachdem er von Frau Söhler erfahren hatte, dass Sie schwanger sind. Herzlichen Glückwunsch übrigens», sagte Albert.
«Das stimmt», sagte Sonja abwesend. «Also alles davon. Ich wurde entlassen, Petra hat das ausgeplaudert, und ich bin schwanger.»
«Sie hatten also allen Grund, wütend auf die beiden zu sein, nicht wahr?», hakte er nach.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, warum die beiden Beamten hier waren.
Sonja schaltete instinktiv in den Abwehrmodus. Sie drückte den roten Knopf.
Augenblicke später kam dieselbe Schwester ins Zimmer, die zuvor auch schon da gewesen war.
Sonja sah sie an. «Wie lange bin ich hier?»
«Seit zwei Tagen.»
Sonja blickte demonstrativ zu der Oberkommissarin. «Wann wurden die beiden getötet?»
Die wand sich ein bisschen. «Vor zwei Tagen», antwortete sie schließlich.
«Also wurden sie umgebracht, während ich entweder bewusstlos in meinem Schlafzimmer lag, oder aber schon hier stationär aufgenommen wurde, richtig?»
«Ja», musste sie zugeben.
«Was zum Teufel wollen Sie dann von mir?»
«Sie haben ein Motiv», sagte Hauptkommissar Albert. «Ein sehr gutes Motiv.»
«Ich geh dann mal wieder», sagte die Schwester und eilte davon.
«Sie sind ja vollkommen übergeschnappt», sagte Sonja.
«Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise, junge Frau», ermahnte sie Albert.
Sonja warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Es war unglaublich.
Sie war hier das Opfer, und diese beiden Schwachköpfe hielten es tatsächlich für möglich, dass sie ihren ehemaligen Chef und eine Kollegin umgebracht hatte.