Die Schuldigen - Volker Gerling - E-Book
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Die Schuldigen E-Book

Volker Gerling

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Beschreibung

Die Schuldigen werden ihre Strafe finden Der neue Fall für LKA-Kommissarin Laura Graf und Fallanalytiker Daniel Krampe wirkt nur auf den ersten Blick harmlos: Ein Mann wird vermisst – es handelt sich um den Sohn eines Hamburger Reederei-Besitzers. Die Ehefrau des Mannes ist ebenso spurlos verschwunden, schon seit Monaten. Laura Graf stößt auf das dunkle Geheimnis der Ehe: Axel Conrad hat seine Frau geschlagen und misshandelt. Bei ihren Nachforschungen in einem Frauenhaus begegnet die LKA-Beamtin ihrer ehemaligen Kollegin Saskia Wilkens, die verdeckt ermittelt und nach drei weiteren Vermissten sucht. Sie hat einen grauenhaften Verdacht: Jemand lässt die Männer für ihre Taten büßen – mit dem Tod.

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Seitenzahl: 274

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Volker Gerling

Die Schuldigen

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Die Schuldigen werden ihre Strafe finden

Die LKA-Kommissarin Laura Graf und der Psychologe und Fallanalytiker Daniel Krampe werden auf einen Vermisstenfall angesetzt. Es handelt sich um den erwachsenen Sohn des reichen Hamburger Reederei-Besitzers Conrad - die Eltern sind überzeugt, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Laura Graf und ihr Kollege wollen die Ehefrau des Vermissten befragen, doch Lydia Conrad ist seit Monaten untergetaucht. Laura Graf stößt auf das dunkle Geheimnis der Ehe: Der Mann hat seine Frau geschlagen und misshandelt. Bei ihren Nachforschungen in einem Frauenhaus begegnet die LKA-Beamtin ihrer ehemaligen Kollegin Saskia Wilkens, die verdeckt ermittelt. In einem Treffen mit ihr und Erik Degenhardt wird ihnen klar, dass es eine Verbindung zwischen ihren Fällen gibt. Aus einem Vermissten werden nun drei – drei Männer, die ihre Ehefrauen brutal geschlagen und misshandelt haben. Die Ermittler haben einen grauenhaften Verdacht: Jemand lässt die Männer für ihre Taten büßen – mit dem Tod.

Vita

Volker Gerling, geboren in Buchholz in der Nordheide, hat mehr als zwanzig Jahre im Vertrieb gearbeitet und ist dabei durch Europa und den Nahen Osten gereist. Seine ersten zehn Bücher schrieb er abends und nachts. Bis ihm klar wurde, dass er eigentlich nur Autor sein möchte. 2019 hängte er den Vertriebsjob an den Nagel, um sich ganz auf sein Schreiben zu konzentrieren. Inspiriert haben ihn die Romane von Nelson DeMille, John Connolly und Don Winslow. Gerling lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Braunschweig.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Martha Wilhem

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung bürosüd, München

Coverabbildung Anja Weber-Decker/Plainpicture

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01586-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Prolog

Die beiden Männer sahen aus, als wären sie einem Labor entsprungen, in dem Schläger gezüchtet wurden. Tobias Vogler hatte sie Oleg und Boleg getauft. Sie waren über eins neunzig groß, muskelbepackt, mit kantigen Gesichtern und Bürstenhaarschnitt. Das Einzige, was sie unterschied, war ihre Augenfarbe. Oleg hatte blaue, Boleg schwarze Augen. In keinem der Augenpaare war so etwas wie Leben zu erkennen. Was Tobias Vogler jedoch am meisten ängstigte, war die Tatsache, dass weder Oleg noch Boleg redeten. Untereinander verständigten sie sich ausschließlich durch Blicke und Grunzlaute. Wollten sie ihm etwas mitteilen, taten sie das durch Gesten. Oder aber einer hob ihn hoch, als würde er nur zehn Kilo wiegen, und trug ihn irgendwohin.

Sie hatten ihm in der Tiefgarage des Mehrfamilienhauses aufgelauert, in dem er lebte. Er wollte gerade in seinen nagelneuen Audi R8 einsteigen und ins Büro fahren, als er einen seltsamen Schmerz verspürte, der urplötzlich heftig wurde und ihn zu Boden fallen ließ wie einen gefällten Baum. Dort lag er dann und zuckte unkontrolliert. Aus seiner Brust ragten zwei Pfeile, an denen Drähte befestigt waren. Vollkommen hilflos musste er miterleben, wie Oleg ihm die Pfeile aus dem Körper zog, ihn aufhob und in einen Transporter legte. Die Schiebetür fiel ins Schloss, und der Transporter fuhr los.

Vogler hatte keine Ahnung, wie lange die Fahrt gedauert hatte. Es hätten zwei Stunden oder fünfzehn Minuten sein können. Als die Schiebetür wieder aufgeschoben wurde, drang Tageslicht ins Innere des Fahrzeuges. Mit einer Geste machte Boleg ihm deutlich, dass er aussteigen sollte. Vogler kam der Aufforderung nach und stieg mit weichen Knien aus dem Transporter. Seine Füße landeten auf einem mit feinem Kies ausgelegten Weg, und er staunte nicht schlecht, als er das herrschaftliche Anwesen betrachtete. Es handelte sich um eine Art Herrenhaus. Die Fassade war mit beigem Spritzputz verkleidet. Zwei mächtige Säulen standen an den Seiten des breiten Einganges, den man über eine doppelte geschwungene Treppe erreichte. Das Haus war bestimmt dreißig Meter breit und hatte zwei Stockwerke. Vogler drehte sich um und sah eine gewundene Auffahrt, die von prächtigen Bäumen gesäumt war.

Oleg gab ihm einen sanften Stoß und wies mit dem Kinn in Richtung der Treppe. Vogler setzte sich in Bewegung und stand wenig später vor der Eingangstür. Die wurde prompt von innen geöffnet, und er sah sich einem Butler gegenüber. Obwohl der Mann eine Uniform trug, war auch er eindeutig ein Produkt des Labors, aus dem die anderen zwei stammten. Mit einer freundlichen Geste und gleichzeitig versteinerter Miene bedeutete der Hybrid aus Butler und Schläger ihm einzutreten. Vogler blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Inzwischen hatte er keine Angst mehr. Die Typen hatten ihr Gesicht nicht verborgen und wendeten auch keine Gewalt mehr an. Er war nur noch neugierig zu erfahren, was das alles zu bedeuten hatte. Vielleicht war das ja die eher unkonventionelle Methode eines möglichen neuen Klienten, ihn als Anwalt zu verpflichten. Und ganz offensichtlich handelte es sich um einen sehr wohlhabenden Menschen.

Er betrat einen Vorraum, der bestimmt an die einhundert Quadratmeter groß war. Die offene Galerie reichte bis in zehn Meter Höhe. Der Fußboden war mit blau gesprenkeltem Granit ausgelegt. Links und rechts gab es halbrunde Treppen, die nach oben führten. Für ihn ging es jedoch in den Keller. Der Butler ging voran, gefolgt von Vogler. Boleg folgte ihm mit Sicherheitsabstand. Natürlich handelte es sich bei diesem Keller um nichts, das sich mit dem vergleichen ließ, was er kannte. Der Boden war aus Marmor, die Wände verputzt und hellgrau gestrichen. Vor einer großen, wahrscheinlich uralten Holztür blieben sie stehen. Der Butler schob sie auf, und als Vogler den Raum dahinter betrat, raubte der Anblick ihm zunächst den Atem.

Er stand in einem Gerichtssaal.

Etwas kleiner als die, in denen er seit Jahren viel Zeit verbrachte, aber dennoch; vor ihm die Richterbank, zur Rechten der Platz des Staatsanwaltes, zur Linken der des Verteidigers. Und natürlich in der Mitte der des Angeklagten. Genau dorthin beorderte ihn der Butler. Etwas widerwillig nahm Vogler dort Platz. Vergessen war seine These, ein neuer Mandant wolle ihn auf ungewöhnliche Art und Weise kennenlernen.

Hier lief etwas vollkommen anderes ab.

Nach wenigen Augenblicken öffnete sich hinter der Richterbank eine Tür.

Erstaunt sah Vogler dabei zu, wie eine Frau in Richterrobe das Pult betrat, ihn mit ernster Miene ansah und sich schließlich setzte. Er schätzte ihr Alter auf Anfang dreißig. Sie war keine Schönheit, aber auch nicht unattraktiv.

Dann begann sie zu sprechen, und jedes Wort traf ihn mit der Wucht eines Fausthiebes.

«Dreizehnter März 2020, Unterarmfraktur. Angeblich wegen eines Sturzes von der Treppe. Fünfter Juni 2020, Nasenbeinbruch. Laut Aussage wurde sie überfallen. Achter August 2020, wieder ein Bruch des Unterarms. Diesmal war es der linke. Wieder gab sie an, die Treppe hinuntergefallen zu sein.» Sie hob den Blick und sah ihn prüfend an. «So hat die Leidensgeschichte Ihrer Frau begonnen. Im Jahr darauf wurde es schlimmer, nicht wahr? Da war sie insgesamt vier Wochen im Krankenhaus. Im August 2021 haben Sie Ihre Frau regelrecht zusammengeschlagen. Da hat sie zum ersten Mal mit der Polizei gesprochen, ihre Anzeige aber wenige Tage später zurückgezogen. Natürlich wurde dennoch ermittelt, aber Ihre Frau behauptete plötzlich, Sie hätten mit ihren Verletzungen nichts zu tun.»

Vogler schüttelte den Kopf. «Was soll das hier werden? Hat meine Frau Sie geschickt, oder was?»

«Sie reden erst dann, wenn ich Sie dazu auffordere. Ist das klar?»

Er stand auf. «Sie können mich mal …»

Brutal wurde er auf den Stuhl zurückgedrückt.

«Diese eine Entgleisung lasse ich Ihnen durchgehen», sagte die Frau mit eiskalter Stimme. «Aber nur diese eine.»

«Sie sind ja nicht ganz dicht», rief Vogler. «Wir beenden dieses verrückte Spiel jetzt.»

Es war nur ein kleiner Seitenblick, aber er genügte. Im nächsten Moment bekam Vogler von Oleg eine Ohrfeige, die ihn Sterne sehen ließ. Nur mühsam bekam er seinen Zorn unter Kontrolle. Gegen die muskelbepackten Typen hatte er keine Chance.

Ungerührt fuhr die Frau fort, die Krankengeschichte seiner Ehefrau vorzutragen.

«Und dann, vor sechs Wochen, haben Sie ihr den Kiefer gebrochen», kam sie endlich zum Schluss.

Vogler schwieg.

Die Wange brannte wie Feuer, und er spürte, wie seine rechte Gesichtshälfte anschwoll. Inzwischen war ihm klar, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wie ernst, erfuhr er, als die Frau wieder das Wort ergriff. «Sie haben Ihre Ehefrau mehrfach schwer misshandelt. Dabei blieb es nicht nur bei den Schlägen. Nein, Sie haben sie auch noch Dutzende Male vergewaltigt. Bis sie es nicht mehr aushielt und geflohen ist. Dafür kann es nur eine Strafe geben. Sie werden genauso leiden wie Ihre Frau. Das Urteil wird sofort vollstreckt.»

Er spürte, wie Oleg ihn hochhob, als wäre er federleicht. Dann schleifte er Vogler in den benachbarten Raum. Hier sah es vollkommen anders aus. An den kahlen Wänden waren Ketten befestigt, deren Zweck Vogler sofort klar war. Er hatte in einem Film gesehen, wie man Menschen an eine solche Vorrichtung ankettete. In der Mitte des Zimmers gab es einen Abfluss, und er wollte gar nicht wissen, für welche Flüssigkeiten der gedacht war. In der rechten Ecke stand eine Pritsche.

«Was soll das hier?», kreischte er. «Seid ihr alle komplett durchgeknallt?»

Er wehrte sich heftig, als sie ihn zu zweit zu den Ketten zerrten, und wenig später stand er mit ausgebreiteten Armen und Beinen an der Wand. Seine Fesseln ließen ihm nur sehr wenig Spielraum. Erst jetzt betrat die Frau den Raum. Sie schien zufrieden mit dem zu sein, was sie sah, denn sie lächelte.

«Meine treuen Gehilfen werden Ihnen jetzt sehr wehtun. Ich möchte, dass Sie währenddessen an das denken, was Sie Ihrer Frau angetan haben, einverstanden?»

«Das tue ich», rief Vogler. «Und ich bereue zutiefst, dass ich sie geschlagen habe. Ich werde es nie wieder tun. Das verspreche ich.»

«Oh, das weiß ich», sagte die Frau. «Ich bin mir sogar ganz sicher, dass Sie Ihre Frau niemals wieder schlagen oder vergewaltigen werden. Auch keine andere Frau. Denn wenn meine Männer mit Ihnen fertig sind, werden wir Sie in ein Säurebad legen. Ihr Körper wird sich vollständig auflösen. Dumm nur, dass Sie dann noch am Leben sein werden.»

Vogler geriet nun vollends in Panik. Er zerrte an den Ketten und rollte mit den Augen. Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln. Er glaubte ihr jedes einzelne Wort.

«Ich habe Geld», schrie er in einem letzten verzweifelten Versuch, sein Leben zu retten. «Sehr viel Geld.»

«Ganz gewiss haben Sie Geld. Aber das interessiert mich nicht», antwortete die Frau fast schon heiter. Sie wandte sich an einen der Schläger. «Fangt an. Ich werde ein bisschen zuschauen.»

Oleg grinste humorlos, stellte sich vor Vogler und begann damit, dessen Oberkörper mit den Fäusten zu bearbeiten. Während er das tat, öffnete sein Pendant eine zusammengerollte Stofftasche und überprüfte die Schärfe der darin liegenden Messer.

ERSTER TEIL

1

6 Monate später

Zufrieden vernahmen Hauptkommissarin Laura Graf und Kriminalrat Daniel Krampe das Urteil, das vom Richter soeben verkündet worden war. Doktor Norbert Voss würde für den Rest seines Lebens in Haft bleiben. Er hatte drei Frauen auf furchtbare Weise getötet. Darüber hinaus war er für den Tod von Daniels Frau und Sohn sowie für den zwei weiterer Personen – darunter Lauras langjähriger Kollege Martin – verantwortlich. Da fanden beide es nur gerecht, dass er zu fünfzehn Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden war.

Nachdem sie das Gerichtsgebäude verlassen hatten und in die gleißende Sonne getreten waren, blickte Laura Daniel mit einem Lächeln an. «Du wirst es nicht glauben, aber ich …»

«Du hast Hunger und willst das Urteil bei einem üppigen Mittagsmahl feiern», beendete er ihren Satz.

«Ich befürchte allmählich, dass du mich zu gut kennst.»

«Glaube mir, ich habe gerade einmal an deiner Oberfläche gekratzt. Jeder Mensch ist in seiner Gänze wie ein fremder Planet. Es gibt unglaublich viel zu entdecken.»

«Himmel, Daniel, egal, was du heute Morgen eingeworfen hast – nimm weniger davon.»

Er lachte. «Wonach ist dir? Wir sind in Hamburg, da gibt es unzählige Möglichkeiten.»

«Lass uns ins Portugiesenviertel fahren und bei einem Spanier oder so draußen den ganzen Nachmittag lang schlemmen.»

Daniel schmunzelte. «Ich wusste ja gar nichts von deiner romantischen Seite.»

«Was meinst du?»

«Na ja, in diesem Viertel haben wir uns kennengelernt.»

Laura runzelte die Stirn. «Du hast recht. Da hatten wir unser erstes Treffen.»

Daniel war Psychologe und Fallanalytiker beim Landeskriminalamt Hamburg. Nachdem Laura einen Verbrecher bei dessen Verhaftung verletzt hatte und in der Staatsanwaltschaft Bedenken bezüglich ihrer Gewaltbereitschaft geäußert worden waren, hatte ihr Vorgesetzter entschieden, ihr einen erfahrenen Psychoanalytiker zur Seite zu stellen, der sie im Auge behielt. Die Wahl von Lauras Chef war auf Daniel Krampe gefallen. Der hatte ihr bei der Aufklärung des Falles Voss geholfen und ihr uneingeschränkte Dienstfähigkeit attestiert.

«Schlemmen ohne Bier oder Wein ist faktisch unmöglich. Jedenfalls für mich. Und wenn ich mir vorstelle, dass wir ein Restaurant finden, in dem es San Miguel vom Fass gibt … oder – Gott bewahre – Super Bock, dann fehlt mir schlicht die Vorstellungskraft, darauf verzichten zu können», sagte Daniel.

«Was in aller Welt ist Super Bock?»

«Das beste portugiesische Bier, das du dir vorstellen kannst. Es muss eiskalt serviert werden. In einem Glas, das zuvor in der Tiefkühltruhe gelegen hat.»

«Dann fahren wir heute halt nicht mehr ins Präsidium. Wir haben ja ohnehin keinen aktuellen Fall.»

«Haben wir nicht den schönsten Job der Welt?»

Laura strahlte ihn an. «Kein Widerspruch von meiner Seite.»

Dreißig Minuten später saßen sie im Außenbereich eines Restaurants unter der Jalousie und genossen frisch gebackenes Brot und Knoblauchcreme.

«Anabel wird mich anschreien, wenn ich nach Hause komme. Sie ist zwar erst drei Jahre alt, aber durchaus imstande, ihrer Mutter deutlich zu machen, was sie mag und was nicht. Und Knoblauchgeruch gehört eindeutig in die zweite Kategorie.»

Bei der Erwähnung ihrer Tochter verdunkelte sich Daniels Gesicht. «Hat sie noch immer Albträume?»

«Es wird von Tag zu Tag besser. Gott sei Dank hat sie schon vergessen, dass Voss sie in seiner Gewalt hatte. Kinder stecken so was ziemlich gut weg, hab ich das Gefühl. Besser als so manch ein Erwachsener.»

«Ich habe mal gelesen, dass ab einem Alter von etwa drei Jahren die Hirnentwicklung so weit fortgeschritten ist, dass auch das autobiografische Gedächtnis, das persönliche Erlebnisse speichert, zu funktionieren beginnt. Ich befürchte, dass sie es nicht vergessen, sondern nur verdrängt hat.»

Laura kannte Daniel mittlerweile sehr gut. Deshalb war ihr klar, dass seinen Worten ein umfangreiches Wissen zugrunde lag und sie seine Aussage dementsprechend ernst nehmen sollte.

«Was rätst du mir?»

«Ich bin davon überzeugt, dass du instinktiv das Richtige tun wirst», gab er ausweichend Antwort. Auch das kam für sie nicht überraschend. Daniel wollte nicht den Eindruck erwecken, er würde denken, dass Laura es als alleinerziehende Mutter nicht selbst schaffen würde.

«Ich frage dich nicht aus Höflichkeit, sondern weil ich es wirklich wissen will.»

«Gib einfach nur acht auf sie. Beobachte vor allem, wie sie auf fremde Menschen – insbesondere Männer – reagiert. Sollte sie Angst zeigen, sprich mit ihr. Sag ihr, dass sie keine Angst zu haben braucht. Dass du für sie da bist und auf sie aufpasst. Meine persönliche Meinung ist, dass Anabels Urvertrauen in dich sehr stark ist. Vielleicht hat es eine Delle erfahren, dadurch, dass Voss sie ein paar Stunden in seiner Gewalt hatte. Aber das ist reparabel.»

Ihr Hauptgericht wurde serviert, und die nächste halbe Stunde sprachen sie über weniger ernsthafte Themen. Sie hatten gerade ihr Essen beendet, als Lauras Handy klingelte.

Sie warf einen Blick auf das Display und sah zu Daniel. «Steffens.»

Kriminaloberrat Steffens war Lauras Vorgesetzter und ein Freund von Daniel.

Laura nahm das Gespräch an und lauschte. «Okay, wir sind in einer halben Stunde im Büro.»

«Ich hatte mich so auf den Nachtisch gefreut», sagte Daniel.

«Der Kriminaloberrat wünscht uns zu sprechen», erklärte Laura mit einem Achselzucken.

«Hat er gesagt, warum?»

«Es wird jemand vermisst.»

2

Kriminaloberrat Steffens runzelte irritiert die Stirn, als Laura und Daniel vor ihm saßen.

«Habt ihr Bier getrunken?»

«Super Bock», sagte Daniel.

«Entschuldigung?»

«Super Bock ist eine portugiesische Biersorte, die am besten eiskalt serviert wird», erklärte Laura.

«Seid ihr zwei betrunken?»

«Dafür hast du zu früh angerufen», antwortete Daniel.

«Ihr versichert mir beide, dass ihr einsatztauglich seid?»

«Absolut», sagte Daniel.

«Hundertprozentig», sagte Laura.

Steffens rümpfte die Nase. «Ich rieche noch etwas …»

«Das ist Knoblauch», meinte Laura.

Plötzlich fasste sich Steffens an die Stirn. «Heute war die Urteilsverkündung von Voss. Das habe ich total vergessen. Ihr wart also feiern? Dann kommt das Dreckschwein niemals wieder raus, richtig?»

Beide nickten und grinsten dabei.

«Sehr gut. Hätte ich dran gedacht, hätte ich den Fall jemand anderem gegeben. Aber wo ihr schon mal hier seid. Also, Folgendes: Heute Nachmittag gegen 14:00 Uhr hat die Mutter eines gewissen Axel Conrad ihren Sohn als vermisst gemeldet.»

«Wie alt ist der Junge?», wollte Laura wissen.

«Sechsunddreißig.»

Unwillkürlich musste Laura lachen.

Steffens sah sie tadelnd an.

«’tschuldigung», murmelte sie.

«Nun ist es so, dass dieser Axel Conrad der Sohn von Günther und Ilse Conrad ist. Klingelt es da bei euch?», wollte Steffens wissen.

Laura nickte langsam. «Der Name sagt mir was … Günther Conrad ist … was war das noch gleich?» Ihre Miene erhellte sich. «Ihm gehören eine Reederei und eine Spedition, richtig?»

«Er ist Eigentümer der Reederei schlechthin. Aber ja, genau den meine ich.»

«Und warum hat die Mutter ihn als vermisst gemeldet? Lebt er allein?», fragte Laura nach.

«Nein, er ist verheiratet. Aber so wie es aussieht, leben er und seine Frau getrennt. So ganz blicke ich da nicht durch. Auf jeden Fall ist er seit zwei Tagen spurlos verschwunden.»

«Da er von seiner Frau getrennt lebt, hätten wir möglicherweise unseren ersten Ansatzpunkt», bemerkte Laura.

«Gut möglich. Ich möchte, dass ihr zuerst in die Wohnung von Axel Conrad fahrt und euch dort umseht. Danach besucht ihr Günther und Ilse Conrad. Die Adressen stehen hier drauf. Und hier ist der Schlüssel zur Wohnung von Axel Conrad.»

Steffens schob Zettel und Schlüssel über den Schreibtisch.

«Woher hast du den Schlüssel?», fragte Laura.

«Von Frau Conrad. Also nicht von ihr persönlich. Ihr Anwalt hat ihn dem Staatsanwalt gegeben, der ihn an mich weitergab. Er ist ein Freund der Familie.»

«Natürlich ist er das», sagte Daniel, dessen Laune offenbar sank.

Laura nahm alles an sich und las dann die Adresse laut vor. «Oha. Axel wohnt am Dalmannkai. Das ist eine Top-Wohngegend in der HafenCity. Und die Eltern leben in der Elbchaussee. Das riecht förmlich nach altem und neuem Geld.»

«Und leider auch nach enormem Einfluss. Also kauft euch bitte Pfefferminzbonbons, bevor ihr bei den Eltern von Axel aufschlagt.»

«Warum das denn?», fragte Daniel.

«Diese Frage muss ich nun wirklich nicht beantworten. Aber denkt daran, dass die Conrads über beste Verbindungen ins Rathaus verfügen und keine Gelegenheit auslassen, diese zu nutzen. Also seid nett.»

«Das Bier war ehrlich verdient», protestierte Daniel.

«Ich bin mir sicher, dass die beiden dafür vollstes Verständnis aufbringen werden. Dafür sind sie nämlich bekannt.»

«Ich vermute mal, das war Sarkasmus?», fragte Daniel nach.

«Oh ja.»

3

Laura und Daniel betraten das rot verklinkerte, vierstöckige Mehrfamilienhaus, ignorierten den Fahrstuhl und stiegen die Treppen hinauf bis in den vierten Stock. Sie hatten sich zuvor über die Familie Conrad schlaugemacht. Laura war fasziniert von der HafenCity. Allein der Gedanke, hier zu leben, aufs Wasser schauen zu können und ab und zu die Schiffshörner ertönen zu hören, verursachte bei ihr Gänsehaut. Daher hatte es ihr große Freude bereitet, alles Wissenswerte über diese Wohngegend herauszufinden. Und dazu gehörte auch alles über das Gebäude, in dem Axel Conrad wohnte. Es gab in jeder Etage zwei Vier-Zimmer-Wohnungen mit jeweils achtundneunzig Quadratmetern Wohnfläche. Hierbei handelte es sich um Eigentumswohnungen, die zum Zeitpunkt des Verkaufs zweieinhalb Millionen Euro gekostet hatten. Im obersten Geschoss gab es nur eine Wohnung. Das Ehepaar Conrad lebte auf fast zweihundert Quadratmetern, mit acht Zimmern, zwei Bädern und einer Dachterrasse, auf der eine Fußballmannschaft hätte feiern können. Mit Familie und Freundeskreis. Diese Wohnung hatte fünf Millionen Euro gekostet.

Daniel schloss die Eingangstür auf, und sie betraten Axel Conrads Wohnung. Das Erste, was ihnen auffiel, war, dass es hier nach Reinigungsmitteln roch. Gerade so, als hätte noch schnell jemand geputzt, bevor sie hier eintrafen.

«Wie lange hält der Geruch von Putzmitteln an?», wollte Daniel wissen.

«Bei mir nur ein paar Stunden.»

Daniel holte seinen kleinen Notizblock aus der Hosentasche und schrieb etwas hinein.

«Dann überprüfen wir doch mal, ob die Putzfrau heute Vormittag planmäßig im Einsatz war, oder aber, ob hier vorsorglich sauber gemacht wurde.»

Zuerst verschafften sie sich einen Eindruck von Axel Conrads Heim, indem sie einmal jeden Raum inspizierten. Sämtliche Wohnräume waren mit hellem Echtholzparkett ausgelegt. In den Badezimmern glänzte Marmor auf den Böden und an den Wänden. Alles war tadellos sauber und aufgeräumt. Im Wohnzimmer begannen sie mit der gründlichen Durchsuchung. Dieser Raum war quadratisch und fast zehn mal zehn Meter groß. Eine Front war vollständig verglast und bot ihnen einen spektakulären Blick auf den Grasbrookhafen und die Norderelbe.

«Alter Falter», sagte Laura beeindruckt.

Im Zimmer selbst gab es eine cremefarbene Couch mit zwei passenden Sesseln, dazwischen einen Glastisch, einen gigantischen Fernseher, der an der Wand befestigt war, sowie einen Esstisch und dazu acht passende Stühle. Zwei Anrichten komplettierten die Einrichtung.

«Weniger ist oft mehr», bemerkte Daniel und öffnete die erste Schublade.

«Keine Fotos der Eheleute», stellte Laura fest.

«Zumindest hier im Wohnzimmer sehe ich überhaupt nichts Persönliches.»

«Als wäre es eine Musterwohnung», meinte Laura nachdenklich. Sie blickte sich um. «Also, wenn ich hier wohnen würde, sähe es vollkommen anders aus. Hier gibt es ja noch nicht einmal Pflanzen.»

«Vielleicht hat er eine Allergie.»

«Ich geh mal ins Schlafzimmer und sehe mich dort um», verkündete Laura.

Hier gab es ein überdimensioniertes Boxspringbett, einen Schminktisch und zwei Nachttische. Keinen Kleiderschrank. Als sie eine Verbindungstür öffnete, wusste sie, warum. Durch diese Tür gelangte man in einen begehbaren Kleiderschrank, der in etwa die Größe von Lauras Wohnzimmer hatte. Zur Linken hingen Anzüge und Hemden exakt ausgerichtet an Kleiderbügeln. In den Regalen daneben lagen sorgfältig gefaltete T-Shirts, Sweater und Hoodies. Der untere Bereich bestand aus Schubkästen, in denen Socken und Unterhosen lagerten. Ganz rechts, ausgestellt hinter einer Glasscheibe, sah sie mindestens zwanzig Paar Herrenschuhe.

Der rechte Teil gehörte eindeutig einer Frau. Laura zählte mindestens fünfzig Paar High Heels, deren Absätze so hoch waren, dass sie sich fragte, wie man darauf laufen konnte, ohne sich den Hals zu brechen. Sie besaß auch welche, aber deren Absätze waren nur halb so hoch. Jede Menge Kleider und Röcke, ein paar Mäntel, von denen einige bestimmt Tierschützern die Zornesröte ins Gesicht schießen lassen würden.

Auf den ersten Blick konnte Laura keine Lücken erkennen. Sie fragte sich, was die Ehefrau von Axel Conrad anziehen wollte, wenn sie doch nichts mitgenommen hatte.

Als Nächstes machte sie mit ihrem Handy Aufnahmen von Axel Conrads Seite. Das tat sie, um hinterher alles wieder in den ursprünglichen Zustand bringen zu können. Anschließend suchte sie hier nach einem Geheimfach. Vorsichtig schob sie die Anzüge und Hemden zur Seite und klopfte die Rückseite auf der Suche nach einem Hohlraum ab. An dieser Stelle wurde sie nicht fündig. Dann zog sie alle Schubkästen heraus und legte sie beiseite. Auch hier gab es nichts. Sie wollte gerade die Kästen wieder einsetzen, als ihr ein Gedanke kam. Sie hob jede Schublade an und blickte auf die Unterseite.

An einer davon entdeckte sie einen angeklebten DIN-A4-Umschlag.

«Bingo», murmelte sie und entfernte die Hülle.

Sie wiederholte ihre Suche auf der Seite von Conrads Frau, fand jedoch nichts. Mit ihrem Fund in der Hand kehrte sie zurück zu Daniel, der noch immer das Wohnzimmer durchsuchte.

«Ich hab was gefunden», sagte Laura.

«Ich nicht.»

Laura setzte sich an den Esstisch und begutachtete ihren Fund.

«Oha», sagte sie an Daniel gewandt. «Sieht so aus, als hätte Axel Conrad seine Frau bespitzeln lassen. Hier sind jede Menge Fotos.» Sie wühlte in dem Inhalt herum. «Und die Visitenkarte eines Privatdetektivs.»

Gemeinsam durchforsteten sie den Rest der Wohnung, konnten aber nichts Aufschlussreiches mehr finden.

«Das ist wirklich komisch», sagte Daniel, als sie sich aufmachten, die Wohnung zu verlassen.

«Du meinst, dass wir keinen Computer oder Laptop gefunden haben, richtig?»

«Ja. Er hat hier ein voll ausgestattetes Büro, aber keinen Computer? Das halte ich für unwahrscheinlich.»

«Wer immer hier sauber gemacht hat, hat ihn mitgenommen», schloss Laura.

«Was uns zu der Frage führt, was da drauf war.»

«Fahren wir in die Elbchaussee und fragen seine Eltern.»

4

Die Villa der Familie Conrad war eine echte Rarität. Erbaut in den 1920ern, befand sie sich auf einem 11725 Quadratmeter großen parkähnlichen Grundstück in Hanglage. Das Anwesen war umgeben von hohen Rhododendren- und Mauereinfriedungen und war dadurch vor fremden Blicken geschützt. An einem schmiedeeisernen Tor mussten sie anhalten und klingeln. Erst als sie sich vorstellten und darauf hinwiesen, dass ihr Besuch angemeldet war, wurde das Tor wie von einer unsichtbaren Hand geöffnet. Sie fuhren mit dem Wagen die geschwungene Auffahrt entlang und stoppten vor dem Anwesen. Als sie ihr Fahrzeug verließen, blickten Laura und Daniel in den Park. Sie sahen eine weitläufige Rasenfläche, Skulpturen und sogar zwei Springbrunnen. Die Villa selbst hatte zwei Etagen, eine graue Fassade mit Säulen, weiße Holzsprossenfenster mit elektrischen Rollläden und jede Menge Außenstellplätze für Fahrzeuge. In diesem Moment standen vor dem Gebäude eine Mercedes-S-Limousine, ein Porsche sowie ein Jeep.

Sie klingelten an der massiven Holztür, und wenige Augenblicke später wurden sie von einem Bediensteten hereingelassen. Der Mann führte sie in den etwa einhundert Quadratmeter großen Wohn- und Essbereich mit einer sechs Meter hohen verzierten Holzkassettendecke. Durch die raumhohen Rundbogenfenster eröffnete sich die Sonnenterrasse mit beeindruckendem Blick über das Blankeneser Treppenviertel und auf die Elbe.

Weil sie neugierig gewesen waren, hatten sie sich online über den Wert des Anwesens informiert. Der hatte vor sechs Jahren bei rund elf Millionen Euro gelegen. Inzwischen war der Wert allerdings erheblich gestiegen.

Im Wohnzimmer wurden sie bereits erwartet. Ein Mann von großer und schlanker Statur kam auf sie zu. Er hatte durchdringende hellblaue Augen, kurzes graues Haar und ein schmales Gesicht. Er trug einen teuer aussehenden dunkelgrauen Dreiteiler und eine rote Krawatte. Laura schätzte sein Alter auf Ende sechzig.

«Guten Tag. Günther Conrad, sie müssen Kriminalrat Krampe und Hauptkommissarin Graf sein. Der Polizeipräsident hat mir versichert, dass er seine besten Leute schicken wird.»

Der Hausherr zeigte auf eine Frau, die ein edles Kostüm trug. Ihre dunklen Haare waren hochgesteckt und verliehen ihrem verhärmten Gesicht eine gewisse Strenge. Für Lauras Geschmack hatte die Frau etwas zu viel Make-up aufgetragen. Sie war etwa sechzig Jahre alt.

«Meine Frau. Und das ist mein Anwalt, Doktor Hubertus Krohn.»

Krohn nickte ihnen jovial zu, während Frau Conrad sich zu einem misslungenen Lächeln hinreißen ließ. Der Anwalt der Familie trug ebenfalls einen Dreiteiler, damit hatte sich die Ähnlichkeit mit Günther Conrad aber auch schon erledigt. Krohn war klein, übergewichtig, und sein Haar befand sich in einem geordneten Rückzug.

«Bitte, nehmen Sie Platz.»

Laura und Daniel setzten sich den drei gegenüber. Während Laura ihr Pfefferminzbonbon schon runtergeschluckt hatte, lutschte Daniel fröhlich weiter auf seinem herum. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, eine Frage zu stellen. «Haben sich die Entführer schon bei Ihnen gemeldet?»

«Also wurde er entführt?», fragte Herr Conrad erschrocken.

«Das wissen wir noch nicht. Aber da Ihr Anwalt hier ist, dachte ich, Sie hätten eine Lösegeldforderung erhalten.»

«Wie kommen Sie darauf?», wollte Frau Conrad wissen.

«Na ja, Sie haben Ihren Sohn als vermisst gemeldet», wandte sich Laura an Frau Conrad.

Diese nickte knapp. «Ja. Heute Nachmittag.»

«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»

«Vor zwei Tagen», antwortete Günther Conrad. «Er war am Sonntag zum Mittagessen bei uns.»

«Wie wirkte er auf Sie? War er anders als sonst? Vielleicht sogar ängstlich?», fragte Laura.

Beide Eheleute wechselten einen kurzen Blick. «Er war wie immer», antwortete Frau Conrad.

«Wie ist er denn so, wenn er wie immer ist?», fragte Daniel.

Frau Conrad blinzelte irritiert. «Ich verstehe nicht …»

«Er möchte wissen, was Axel für ein Mensch ist», sprang Krohn ihr hilfreich zur Seite.

«Nun, das war es eigentlich nicht, was ich wissen wollte. Aber egal. Was ist Ihr Sohn für ein Mensch? Fangen wir doch bei seinem Job an.»

«Axel arbeitet für mich als freier Berater», sagte Günther Conrad.

«Aha. Und was muss ich mir darunter vorstellen?»

«Ich weiß nicht, was das mit dem Verschwinden meines Sohnes zu tun haben soll», sagte der Hausherr.

«Ich auch nicht», antwortete Daniel. «So laufen Ermittlungen aber ab; wir stellen Fragen, und anhand der erhaltenen Informationen ergibt sich sehr oft ein Bild. Stück für Stück setzen wir es zusammen. Wie bei einem Puzzle.»

«Mein Sohn übernimmt für mich diverse Aufgaben», sagte Herr Conrad widerwillig. «Er überprüft neue Kunden, knüpft Kontakte. So was halt.»

«Und das tut er als freier Berater, nicht als Angestellter.»

«War das eine Frage?», erkundigte sich Krohn.

Daniel beachtete ihn nicht. «Gibt es einen Grund, weswegen Ihr Sohn nicht bei Ihnen angestellt ist?»

«Er wollte das so.»

«Wissen Sie, wo wir seine Frau finden? Wir müssen unbedingt mit ihr reden», schaltete sich Laura wieder ein.

«Warum?», wollte Frau Conrad etwas zu schrill wissen.

Laura sah sie irritiert an. «Weil sie seine Ehefrau ist und möglicherweise über Informationen darüber verfügt, wo Ihr Sohn sein könnte.»

«Ich glaube nicht, dass sie etwas weiß», sagte Frau Conrad entschieden.

«Sie meinen, weil die beiden schon länger getrennte Wege gehen?», hakte Daniel nach.

«Meine Frau sagte das, weil Lydia schon länger kein Bestandteil von Axels Leben ist», klärte Herr Conrad sie auf.

«Nichtsdestotrotz müssen wir mit ihr reden», beharrte Laura.

«Wir wissen nicht, wo sie ist», sagte Frau Conrad leise.

Laura hob die Augenbrauen. «Also ist sie auch verschwunden?»

«So würde ich das nicht formulieren», sagte der Anwalt zurückhaltend.

«Okay, vielleicht wäre es an der Zeit, uns zu erklären, was los ist», sagte Laura.

«Das sehe ich auch so», stimmte Daniel zu. «Dieses Rumgeeiere bringt nämlich nichts. Es kostet nur wertvolle Zeit. Es gibt doch einen Grund, aus dem der Familienanwalt zugegen ist. Ich wage jetzt einmal einen Schuss ins Blaue: Lydia hat Ihren Sohn in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen. Ihr Kleiderschrank ist jedenfalls noch sehr gut gefüllt. Für mich sieht es so aus, als hätte sie nicht sehr viel Kleidung mitgenommen. Hatte Ihr Sohn eine Affäre?»

Frau Conrad schüttelte sich. «Was erlauben Sie sich? Wie kommen Sie auf diesen abstrusen Gedanken?»

«Weil Männer dazu neigen, ihr eigenes Verhalten auf andere zu übertragen. Und Ihr Sohn glaubte, dass seine Frau ihn betrügt. Deshalb hat er einen Detektiv damit beauftragt, sie zu beschatten.»

«Und wie kommen Sie auf diese Idee?», erkundigte sich Krohn.

«Wir haben in seiner Wohnung entsprechende Fotos gefunden.»

«Sie haben in seiner Wohnung herumgeschnüffelt?», zischte eine aufgebrachte Frau Conrad.

«Sie haben uns doch die Schlüssel überlassen», erinnerte sie Daniel. «Was dachten Sie denn, was wir in der Wohnung tun? Aber wo wir gerade bei der Wohnung Ihres Sohnes sind: Hat Axel eine Putzfrau?»

In Frau Conrads Gesicht zuckte es ein wenig, dann warf sie ihrem Mann einen Blick zu.

«Ich denke schon, ja», sagte er.

«Haben Sie ihre Kontaktdaten?»

«Warum wollen Sie die haben?», wollte Krohn wissen.

«Weil jemand die Wohnung gründlich gereinigt hat, bevor wir dort ankamen. Und mit bevor meine ich ganz kurz bevor. Das finden wir merkwürdig. Es sei denn, heute war einer der normalen Putztage. Und das würden wir gern klären», antwortete Laura.

«Das ist eines der Puzzleteilchen, die ich vorhin erwähnte», ergänzte Daniel.

«Ich könnte mir vorstellen, dass Axel seine Putzfrau aus demselben Fundus hat, aus dem alle unsere Reinigungskräfte stammen», sagte Herr Conrad ungehalten.

«Dann wird es Ihnen ja nicht schwerfallen, uns die Kontaktdaten zu geben», sagte Daniel.

«Mein Mandant wird das schnellstmöglich tun», versprach Krohn.

«Und der Aufenthaltsort Ihrer Schwiegertochter? Wie sieht es damit aus?», fragte Laura.

«Leider nicht gut», antwortete Frau Conrad.

Laura hatte nicht den Eindruck, dass es ihr leidtat, nicht zu wissen, wo Lydia war.

«Wir benötigen noch die Handynummer Ihres Sohnes», sagte Laura.

«Warum? Wollen Sie ihn anrufen und sagen, er möge bitte nach Hause kommen?», wollte Frau Conrad spöttisch wissen. «Verstehen Sie das unter Ermittlungen?»

Laura platzte der Kragen. «Mit jeder Ihrer überflüssigen und übrigens auch unhöflichen Bemerkungen schwindet die Wahrscheinlichkeit, Ihren Sohn zu finden. Also wäre es hilfreich, Sie würden sich darauf beschränken, unsere Fragen zu beantworten und den Aufforderungen nachzukommen. Und nein, wir wollen ihn nicht anrufen, sondern werden versuchen, sein Handy zu orten.»

Man sah deutlich, dass der Hausherrin eine spitze Bemerkung auf den Lippen lag. Aber anstatt zu giften, presste sie dieselben zusammen, stand auf und kehrte wenig später mit einem Zettel zurück, den sie vor Laura auf den Tisch fallen ließ.

Kommentarlos nahm Laura ihn an sich.

«Eine letzte Frage noch: Hat Ihr Sohn Feinde?», wollte Daniel wissen.

«Wir sind vermögend. Diese Tatsache zieht bisweilen merkwürdige Gestalten an», antwortete Günther Conrad.

Daniel lächelte. «Ich wiederhole meine Frage: Hat Ihr Sohn Feinde?»

«Das weiß ich nicht.»

«Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Feinde, die zu solchen Mitteln greifen könnten, um Ihnen zu schaden?»

«Spontan fällt mir da keiner ein.»

«Vielleicht gehen Sie ja noch mal in sich und denken darüber nach», riet Daniel.

Laura und er wechselten einen Blick und erhoben sich dann.

«Sie halten uns über Ihre Ermittlungen auf dem Laufenden, nicht wahr?», fragte Krohn.

«Aber klar doch», antwortete Laura.