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Volker Gerling

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Beschreibung

Sie ist auf der Flucht. Doch sie ahnt nicht, vor wem. Saskia Wilkens und die Sondereinheit 303 suchen mit Hochdruck nach der vor vier Jahren verschwundenen Tochter des BKA-Präsidenten. Sophie lebt – das beweist ein neues Foto, aufgenommen von einer Überwachungskamera, das sie an der Hand eines Fremden zeigt. Die Spur führt nach Bulgarien zu einem Auftragskiller namens Zelko. Als Saskias Kollege Leon sich eigenständig auf den Weg nach Sofia macht, begibt er sich in Lebensgefahr. Denn das Interesse des BKA gefällt einigen einflussreichen Bulgaren gar nicht. Mit jedem Schritt, den Saskia und ihre Kollegen in den Ermittlungen vorankommen, geraten sie weiter in die Schusslinie der Mafia. Ein neuer packender Fall für die Sondereinheit 303.

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Seitenzahl: 397

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Volker Gerling

Kopfgeld

Sondereinheit 303

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Sie ist auf der Flucht. Doch sie ahnt nicht, vor wem.

Saskia Wilkens und die Sondereinheit 303 suchen mit Hochdruck nach der vor vier Jahren verschwundenen Tochter des BKA-Präsidenten. Sophie lebt – das beweist ein neues Foto, aufgenommen von einer Überwachungskamera, das sie an der Hand eines Fremden zeigt. Die Spur führt nach Bulgarien zu einem Auftragskiller namens Zelko. Als Saskias Kollege Leon sich eigenständig auf den Weg nach Sofia macht, begibt er sich in Lebensgefahr. Denn das Interesse des BKA gefällt einigen einflussreichen Bulgaren gar nicht. Mit jedem Schritt, den Saskia und ihre Kollegen in den Ermittlungen vorankommen, geraten sie weiter in die Schusslinie der Mafia.

Ein neuer packender Fall für die Sondereinheit 303.

Vita

Volker Gerling lebt mit seiner Frau und seiner Tochter im beschaulichen Braunschweig. Wenn er nicht gerade kocht oder reist, beschäftigt er sich gern mit Psychopathen und Serienkillern. Unter dem Namen V. S. Gerling schreibt er seit 2005 Spannungsliteratur. Sein erster Roman erschien 2009.

Prolog

Südspanien

Töten ist wie Fahrradfahren; man verlernt es nicht. Egal wie lange man pausiert hat: Schwingt man sich wieder in den Sattel, läuft das Programm wie von selbst ab, und es ist, als hätte man niemals damit aufgehört.

Der alte Mann hatte seit mehr als vier Jahren keinen Menschen mehr getötet. Aber als er die Entscheidung traf, es erneut zu tun, fand er fast unmittelbar in seinen alten Rhythmus zurück.

Die Planung hatte ihm schon immer das größte Vergnügen bereitet.

Als Erstes galt es herauszufinden, wo sich die Zielperson aufhielt. Schon in dieser frühen Phase spürte er ein angenehmes Kribbeln am ganzen Körper. Irgendwo da draußen führte jemand sein normales Leben, ging essen oder ins Kino, spielte mit seinen Kindern, vögelte seine Frau. Alles war bestens. Dieser Mensch hatte keine Ahnung, dass es jemanden gab, der gerade Vorkehrungen traf, sein Leben vorzeitig zu beenden. Das verlieh dem alten Mann Macht.

Er und nur er alleine entschied, wo, wann und auf welche Weise es geschehen würde.

Der Mann, den er töten musste, lebte seit vielen Jahren in Südspanien. Der alte Mann hatte Freunde in Kreisen der bulgarischen Polizei, die hatten für ihn die Adresse in der Hafenstadt Almeria herausgefunden. Seine Zielperson besaß dort oberhalb der Stadt ein kleines Landhaus mit grandiosem Blick über Hafen und Meer. Ja, sein hartes und langes Berufsleben hatte sich für ihn ausgezahlt. Er war als wohlhabender Mann in den Ruhestand gegangen. Die Verantwortung für sein Unternehmen lag nun in den Händen des Sohnes.

Der alte Mann nickte zufrieden. So sollte es sein.

Die Väter bereiten den Weg für ihre Söhne.

Er selbst hatte keinen Sohn.

Allerdings gab es auch wenig, was er ihm hätte vererben können.

Sein Haus im Süden Bulgariens, nur etwa dreißig Kilometer von der griechischen Grenze entfernt, war sein wertvollster Besitz, sein Rückzugsort und sein ganzer Stolz.

Dort lebte er zusammen mit dem einzigen Menschen, der ihm etwas bedeutete.

Jana.

Sie war auch der Grund dafür, dass er nach Jahren nun wieder töten musste. Es gab Menschen, die nach ihr suchten. Und wenn diese Menschen Jana fanden, würden sie sie ihm wegnehmen. Das musste er unter allen Umständen verhindern.

Der Mann musste sterben, weil er mit Außenstehenden über alte Zeiten gesprochen hatte. Das war eine Todsünde. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass niemand, wirklich niemand, jemals mit Fremden über interne Angelegenheiten sprach. Erschwerend kam hinzu, dass es sich bei diesen Außenstehenden auch noch um Polizisten gehandelt hatte.

Unverzeihlich.

Der alte Mann spürte das Gewicht seines Rasiermessers in der Hosentasche. Sein Vater hatte es ihm geschenkt, als ihm der erste Flaum im Gesicht gewachsen war. Das Messer war deutsche Wertarbeit. Der Griff aus edlem Walnussholz. Die Klinge aus Carbonstahl.

Mühelos durchtrennte sie Haut, Fleisch, Muskeln und Sehnen.

Es war lange her, dass er das Messer zum Rasieren benutzt hatte. Irgendwann hatte er entschieden, sich den Bart wachsen zu lassen, und die Haupthaare gleich dazu. Heute trug er sein mittlerweile ergrautes Haar schulterlang. Manchmal, wenn er guter Dinge war, band er es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Seine Gesichtszüge waren unter dem struppigen Bart kaum auszumachen. Dominiert wurden sie von einer Hakennase. Und seinen Augen, die so schwarz waren wie Kohlen. Am Anfang hatte er das Gefühl gehabt, dass sich Jana vor seinem Bart fürchtete. Aber nach ein paar Monaten begann sie, mit seiner Gesichtsbehaarung zu spielen.

Sie schien eine beruhigende Wirkung auf sie zu haben.

Jana. Er hatte sie seit einer Woche nicht mehr gesehen, und sie fehlte ihm.

Mehr, als er zugeben wollte. Seine Schwester hatte Jana zu sich nach Rumänien geholt, denn nach Spanien hatte er sie nicht mitnehmen können. Es wäre natürlich einfacher gewesen, seine Schwester wäre bei ihm in Bulgarien eingezogen, bis seine Aufgabe erledigt war, aber das wollte er nicht. Der Gedanke, dass jemand anderes in seinem Haus wohnte, schlief, kochte und kackte, gefiel ihm nicht.

In Almeria angekommen, nahm er sich Zeit, um die Stadt und das Wohnhaus der Zielperson auszukundschaften. Dafür benötigte er vier Tage.

Einen Tag brauchte er, um einen Plan auszutüfteln. Dabei beherzigte er eine alte Weisheit, die ihm schon immer gute Dienste geleistet hatte: Keep it simple. Mach es so einfach wie möglich.

Das kleine Steinhaus des Mannes gehörte zu einer Gruppe von kleineren Gebäuden, die in den Berghängen gebaut worden waren. Die Nachbarhäuser zu beiden Seiten waren etwa zehn Meter entfernt. Der alte Mann schätzte das einstöckige Haus auf etwa einhundert Quadratmeter Wohnfläche. Kein nennenswerter Garten. Kein Pool. Puristisch, wenn da nicht der unbezahlbare Blick hinunter aufs Meer gewesen wäre.

Er hatte mit einem Teleobjektiv jede Menge Fotos von dem Haus gemacht. Eine Alarmanlage hatte er nicht erkennen können. Auch an den Fensterscheiben konnte er keine verdächtigen Drähte ausmachen, die beim Einschlagen der Fenster einen Alarm auslösen würden.

Der Mann fühlte sich offensichtlich sicher. Ein tödlicher Fehler.

Aber für ihn ein unschätzbarer Vorteil.

Am sechsten Tag beobachtete er, wie die Zielperson am späten Nachmittag sein Haus verließ und mit seinem kleinen Auto hinunter in die Stadt fuhr. Der alte Mann wartete noch fünfzehn Minuten, dann schlich er ums Haus und sah sich die Terrassentür genauer an.

Es war, wie er erwartet hatte: Die Tür war bestimmt über zwanzig Jahre alt, doppelverglast, aber es handelte sich nicht um Sicherheitsglas. Es gab nicht einmal einbruchhemmenden Rollläden, sodass der alte Mann leichtes Spiel hatte. Er setzte die große Segeltuchtasche ab. Auf Höhe des Türgriffes bohrte er ein großes Loch in die Scheibe. Jetzt konnte er vorsichtig durch die Öffnung greifen und den Griff betätigen. Wenige Augenblicke später stand er im Wohnzimmer. Die Tasche ließ er vor der Tür liegen.

Er setzte sich in einen Sessel und wartete.

Nach etwas mehr als zwei Stunden hörte der Mann, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Danach waren schlurfende Schritte zu vernehmen. Wenige Minuten vergingen, dann wurde eine Toilettenspülung betätigt. Schließlich betrat der Mann das Wohnzimmer und machte Licht.

Als er den unerwarteten Gast sah, erstarrte er. «Du …», sagte er leise.

«Hast vergessen, dir die Hände zu waschen», bemerkte der alte Mann.

Sein Opfer erholte sich von dem Schock, ging zum Sofa und nahm gegenüber dem alten Mann Platz, der jeder seiner Bewegungen mit den Augen folgte.

«Was willst du?»

«Begrüßt man so einen alten Freund?», fragte der alte Mann mit gespielter Enttäuschung.

«Nein, hast recht. Also, Zelko, was möchtest du trinken?»

Der alte Mann lächelte, als die Zielperson ihn mit seinem Vornamen ansprach.

Er hatte ihn schon sehr lange nicht mehr gehört.

«Was hast du denn da?»

«Wodka?», schlug der Mann vor.

«Wodka ist immer eine gute Idee.»

Der Mann stand auf. Sofort erhob sich auch Zelko. Erst jetzt bemerkte der Mann das Loch in der Scheibe der Tür.

«Du hättest einfach klingeln können», sagte er tadelnd.

«Wo bleibt da der Spaß?», fragte Zelko ohne jede Spur von Humor.

Gemeinsam gingen sie in die Küche. Der Mann ging voran, Zelko folgte ihm mit Sicherheitsabstand. Der Mann öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Wodka heraus. Dann griff er sich zwei Gläser aus dem Regal. Er beäugte sie prüfend, runzelte die Stirn und blies hinein.

«Sauber», stellte er fest.

Dann wandte er sich um und ging gefolgt von Zelko zurück ins Wohnzimmer.

Er füllte beide Gläser bis zum Rand. Sie prosteten sich zu und tranken aus.

«Also», sagte der Mann. «Warum brichst du in mein Haus ein?»

Zelko musterte ihn. «Du weißt, warum ich hier bin, Johannes.»

Dieser nickte langsam. «Ich kann es mir denken.»

Zelko beugte sich vor und sah Johannes neugierig ins Gesicht. «Verrate mir, warum du das gemacht hast. Wieso brichst du unser Gesetz und sprichst mit der Polizei?»

Johannes hielt seinem Blick stand. «Es waren Kinder, Zelko. Unschuldige kleine Dinger.»

Zelko hob erstaunt die Augenbrauen. «Das ist alles? Du hast nach all den Jahren einfach dein Gewissen entdeckt?»

Johannes zuckte mit den Schultern. «Besser spät als nie.»

«Schau, was es dir gebracht hat», sagte Zelko leise.

«Was meinst…»

Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden.

Mit unfassbarer Geschwindigkeit sprang Zelko auf ihn los. Noch während er über den Couchtisch flog, zog er sein Rasiermesser. In einer einzigen eleganten Bewegung schlitzte er Johannes Schultheiß die Kehle auf. Das Blut spritzte in alle Richtungen, aber das störte Zelko nicht. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und sah Johannes beim Sterben zu. Es ging sehr schnell.

Danach holte er die Segeltuchtasche und entnahm ihr zwei Kanister. Er verteilte den Brandbeschleuniger im ganzen Haus. Eine ordentliche Menge goss er auf den Körper. Schließlich verließ er das Haus durch die Terrassentür.

Als er auf der Terrasse stand, zündete er den selbst gemachten Docht an, der in einer Flasche voller Terpentin steckte, und warf die Flasche ins Wohnzimmer. Fauchend verbreiteten sich die Flammen im Zimmer.

Viel würde nicht übrig bleiben.

ERSTER TEIL

1

Zwei Wochen zuvor

«Am sechsundzwanzigsten August 2018 verschwand die damals vierjährige Sophie, Tochter unseres Chefs Rainer Abel, aus dem Kindergarten in Wiesbaden.» Saskia blickte in die Runde, ihre Kollegen machten betretene Gesichter. «Als die Mitarbeiter des Kindergartens bemerkten, dass sie fehlte, suchten sie alle Räume und auch den Spielplatz ab, ohne sie zu finden. Daraufhin alarmierten sie die Polizei. Die Beamten entdeckten ein Loch im Zaun des Grundstücks. Es war groß genug, dass ein Kleinkind hindurchschlüpfen konnte.»

Saskia machte eine Pause und verteilte an die Teilnehmer der Konferenz ihrer Sondereinheit Fotografien. Darauf waren der Kindergarten, der Spielplatz und der Zaun zu sehen. Das Loch darin war gut zu erkennen. Saskia räusperte sich leise und fuhr fort, Joshuas Ermittlungsergebnisse vorzutragen. «Diese Fotos stammten von den Beamten, die damals vor Ort waren. Das Grundstück des Kindergartens liegt im Westen Wiesbadens in unmittelbarer Nähe zum Rheinufer. Das Loch im Zaun befindet sich am westlichen Teil des Gartens. Am Ufer des Rheins fanden die Beamten einen einzelnen Schuh, der von Sophies Mutter als Schuh ihrer Tochter identifiziert wurde. Die Suche nach dem Kind, auch mit Tauchern im Rhein, blieb erfolglos. Als das Mädchen nach drei Wochen nicht gefunden war, stellten die Beamten die Suche ein. Bis heute gibt es keine Spur von ihr. Auch keine Leiche.»

Saskia blickte in die betroffenen Gesichter ihrer Teammitglieder. Vor allem Katja und Svenja schien ihr Bericht nahezugehen.

«Rainer und ich haben, nachdem die Suche offiziell eingestellt worden war, weitergesucht. Drei Jahre lang», erklärte Erik jetzt mit belegter Stimme. «Wir haben nichts herausgefunden. Aber Rainer hat zu keinem Zeitpunkt aufgegeben, das weiß ich. Er telefoniert immer noch regelmäßig mit Europol.»

«Okay, das ist wirklich furchtbar. Aber warum genau sitzen wir jetzt hier zusammen?», fragte Leon Krüger. «Wir kümmern uns doch eigentlich nur um Verbrechen, die bislang nicht als solche erkannt wurden.»

Saskia sah ihren Kollegen an und nickte. «Und genau so einen Fall haben wir hier aller Wahrscheinlichkeit nach. Die Beamten damals haben alle bekannten Sexualstraftäter abgeklappert. Aber Joshua Klement hat bis kurz vor seinem Tod ebenfalls an diesem Fall gearbeitet und eine völlig andere Spur verfolgt.»

Saskia stand auf und befestigte mit Magneten eine große Deutschlandkarte an den dafür vorgesehenen Metallstäben an der Wand. Anschließend steckte sie rote Fähnchen an zuvor markierte Stellen. Als sie damit fertig war, drehte sie sich zu den anderen herum. «Jedes der roten Fähnchen steht für ein im Jahr 2018 verschwundenes Kind. Ihr müsst nicht nachzählen, es sind sechzehn.»

Leon Krüger schüttelte den Kopf. «Das kann nicht sein», sagte er bestimmt. «Es müssen mehr gewesen sein. Viel mehr.»

Saskia nickte. «Leon hat recht. Was ihr hier seht, ist eine bereinigte Übersicht. Bei den sechzehn Verschwundenen handelt es sich ausschließlich um vierjährige Kinder, die aus Kindergärten verschwunden und nie wieder aufgetaucht sind.»

«Und du denkst, es war in all diesen Fällen derselbe Täter?», fragte Katja Seifert skeptisch.

«Nicht so hastig», bat Saskia. «Lasst mich die These entwickeln, ja?»

Alle nickten, und sie fuhr fort: «Es handelt sich also um vierjährige Kinder.» Sie streckte die Hand aus und zog einige der Fähnchen heraus. «Jetzt sind es noch neun. Weil ich alle Jungen entfernt habe. Fällt euch etwas auf?»

Leon stand auf und stellte sich dicht vor die Karte. Seine Finger berührten einige der Fähnchen. «Von den neun sind sechs in einem Radius von vielleicht … keine Ahnung … einhundert Kilometern verschwunden?»

Saskia lächelte. «Es sind exakt achtundneunzig Kilometer.»

Sie holte blaue Fähnchen heraus und steckte diese in die Karte.

Jetzt stand auch Katja Seifert auf und stellte sich neben Leon Krüger. «Und die blauen stehen jetzt für was?»

«Für Wanderzirkusse.»

«Plural, also ist es nicht nur einer», stellte Leon fest.

«Nein. Es sind drei.»

«Aber es war immer einer in der Nähe, wenn ein Mädchen verschwand», folgerte Katja leise.

«Und niemand hat damals in diese Richtung ermittelt?», wollte Leon erstaunt wissen.

«Doch», sagte Erik. «Die Kripo Frankfurt wusste natürlich von den Zirkussen. Zumal es immer wieder mal vorkam, dass die Zahl von Einbruchsdelikten anstieg, wenn sie vor Ort waren. Allerdings haben die Vernehmungen damals nichts ergeben.»

«Die würden sich auch niemals gegenseitig beschuldigen», wandte Jan Faber ein. «Soweit ich weiß, halten die zusammen, als wären sie eine Familie. Meistens sind sie das sogar.»

Saskia nickte. «Alles, was ihr sagt, trifft zu. Aber Joshua hatte etwas, was die Beamten damals nicht zur Verfügung hatten: einen Supercomputer. Ihr wisst ja, er war ein wahres Genie, wenn es um solche Sachen ging.»

«Jetzt wird’s spannend», sagte Leon.

«Joshua hat ein Programm geschrieben – er würde jetzt wahrscheinlich mit den Augen rollen und richtigstellen, dass er einen Algorithmus programmiert hat – jedenfalls hat er so ein Ding erschaffen, das sämtliche verfügbaren Informationen verarbeitet hat. Also wirklich alles. Wetter, Uhrzeit des Verschwindens, bekannte Triebtäter und Pädophile in der Nähe. Sogar die Strömung des Rheins, die Fließgeschwindigkeit, die Wassertemperatur und den Schifffahrtsverkehr hat dieses Teil mit einbezogen. Und es gab ein Ergebnis.» Saskia stockte. «Na ja, eigentlich gab es zwei Ergebnisse.»

«Jetzt bin ich aber gespannt», sagte Katja.

«Ich auch», meinte Leon.

Saskia fuhr mit dem rechten Zeigefinger auf der Karte den Rhein entlang. Dann stoppte ihr Finger. «Hier, an dieser Stelle mündet der Main in den Rhein. Und genau hier ändert der Rhein auch seine Fließrichtung. Zuvor floss er Richtung Norden, ab hier geht’s Richtung Westen bis nach Rüdesheim. Sophie verschwand an einem Sommertag vor fünf Jahren. Sie wog damals etwa zwölf Kilo.» Saskia warf einen Blick auf ihre Notizen. «Es war ein sehr heißer Sommer gewesen, und der Rhein hatte eine Temperatur von sechsundzwanzig Grad. Die Geschwindigkeit, mit der er in Richtung Westen floss, betrug zwölf Stundenkilometer. Der Verkehr auf dem Fluss war nur mäßig.»

«Und das mit ihrem Gewicht und der Wassertemperatur ist wichtig, weil …?», fragte Leon.

«Weil von der Wassertemperatur abhängt, wie lange eine Leiche unter Wasser bleibt. Im Fall von Sophie wären es nur ein paar Stunden gewesen, weil der Rhein extrem warm war», erklärte Saskia. Ihr Finger setzte seine Reise Richtung Westen fort und machte an einer Insel halt.

«Das ist die Königsklinger Aue», sagte sie. Ihr Finger fuhr weiter Richtung Westen und stoppte an der nächsten Insel. «Und das ist die Mariannenaue. Spätestens hier hätte man Joshuas Programm zufolge Sophies Leiche finden müssen», erklärte sie. «Wenn sie denn ins Wasser gefallen und ertrunken wäre. Da bis heute keine Leiche gefunden wurde, hat der Computer die Wahrscheinlichkeit, dass Sophie im Rhein ertrunken ist, mit fünfzehn Prozent bewertet.»

«Und das zweite Ergebnis?», hakte Katja nach.

«Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitarbeiter eines der Wanderzirkusse mit Sophies Verschwinden etwas zu tun hat, liegt bei über achtzig Prozent.»

«Alles schön und gut.» Leon klang ungeduldig. «Aber letzten Endes ist es immer noch nur ein Computerprogramm. Eindeutige Beweise dafür, dass Sophie noch lebt, sehen meiner Meinung nach anders aus.»

Saskia nickte bedächtig, als hätte er etwas Weises gesagt. «Ich gebe dir recht. Aber wir sitzen hier nicht nur wegen der Prognose eines Algorithmus zusammen.»

Leon hob die Augenbrauen. «Ach nein?»

«Nein», bekräftigte Saskia und aktivierte den Beamer. Auf der Leinwand erschien das Foto eines Mannes, der ein Kind an der Hand hielt.

Eriks Augen verengten sich zu Schlitzen. «Was sehen wir da?»

«Hannah ist es gelungen, Joshuas E-Mail-Postfach zu knacken. Darin fand sie das hier im Anhang einer Nachricht. Die Mail-Adresse, von der aus das Foto geschickt wurde, war bislang nicht zurückzuverfolgen. Sie besteht nur aus einer wirren Folge von Buchstaben und Ziffern. Hannah versucht noch immer, den Absender zu identifizieren, aber viel Hoffnung hat sie nicht. Dennoch hielt Joshua dieses Bild für wichtig.»

«Ziemlich miese Qualität», bemerkte Jan Faber.

Saskia drückte auf die Fernbedienung, und das nächste Bild erschien.

«Auf der Rückseite war Folgendes handschriftlich vermerkt …»

Der Zauberer. 23. Juli 2021. Mit Tochter?

Saskia wandte sich direkt an Jan. «Und was die Qualität der Aufnahme betrifft …»

Erneut drückte sie auf die Fernbedienung. Das Foto von dem Mann und dem Kind erschien erneut, jedoch in deutlich verbesserter Qualität. Jetzt waren sogar Details zu erkennen. Der Mann war schon älter und trug einen ungepflegten Vollbart, dazu einen altmodischen Lodenmantel. Das Kind war eindeutig ein Mädchen, etwa sieben Jahre alt mit blondem Lockenkopf. Im Hintergrund war ein Pick-up zu sehen. Der Weg, auf dem die beiden standen, sah matschig aus.

«Hannah hat das Bild mit einer speziellen Software bearbeitet. Wir haben da einige Referenzwerte, unter anderem den Pick-up. Dadurch konnte Hannah die Größe des Mannes und des Mädchens bestimmen. Wir schätzen, dass das Mädchen da auf dem Bild sieben Jahre alt ist.»

«Wenn es wirklich 2021 gemacht wurde … dann war Sophie da ebenfalls sieben Jahre alt …», sagte Erik stockend.

Saskia zeigte das nächste Bild. Es war die Nahaufnahme des Mädchens im Profil.

«Die Software kann nicht nur die Qualität eines Bildes verbessern.»

Sie schaltete zum nächsten Bild um. «Das Programm kann, wenn es ein halbes Gesicht bekommt, ein ganzes daraus rekonstruieren.»

Alle betrachteten das Antlitz des kleinen Mädchens.

«Kommen wir nun zum letzten Puzzleteilchen», sagte Saskia und präsentierte das nächste Foto.

«Hier sehen wir eine Aufnahme von Sophie, als sie vier Jahre alt war. Sie wurde etwa sechs Wochen vor ihrem Verschwinden aufgenommen.»

Sämtliche Augen waren auf das Bild der kleinen Sophie gerichtet, die frech in die Kamera grinste.

«Aufgrund der Symmetrie des Gesichtes und Vergleichsaufnahmen der Eltern konnte die Software eine künstliche Alterung der vierjährigen Sophie durchführen. Das Resultat sehen wir hier.»

Um die höchstmögliche Wirkung zu erzielen, hatte Saskia das Bild des unbekannten Mädchens und das der um drei Jahre gealterten Sophie nebeneinandergestellt.

 

Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich.

«Sophie lebt», platzte es aus Erik heraus.

Saskia hatte Mühe, es auszusprechen, aber sie tat es dennoch. «Zumindest hat sie 2021 noch gelebt.»

Erik nickte. «Ja, natürlich. Du hast recht.» Er zeigte mit dem Finger auf die Leinwand. «Wissen wir, wer dieser Zauberer ist?»

Saskia schüttelte den Kopf. «Nein, noch nicht. Aber das werden wir herausfinden.»

2

Kriminalrat Erik Degenhardt betrachtete nachdenklich sein neues Team. Die Sondereinheit 303 des Bundeskriminalamtes war seit ihrem letzten Einsatz um zwei Mitarbeiter gewachsen. Da sie auch zwei verloren hatte, war lediglich ihre alte Stärke wiederhergestellt worden. Sie waren aber immer noch unterbesetzt. Auf Empfehlung von Rainer Abel, dem Präsidenten des BKA, war Oberkommissarin Svenja Renz zu ihnen gestoßen. Er hatte die Beamtin anlässlich ihres letzten Falles kennengelernt und war sehr beeindruckt von ihr gewesen. Die Zweiunddreißigjährige hatte vorher bei der Kripo Köln gearbeitet.

Jan Faber war vierundvierzig und hatte, bevor er in die Sondereinheit 303 gewechselt war, als Teamleiter einer SEK-Einheit des Landeskriminalamtes Niedersachsen gearbeitet. Da er fast das Alter erreicht hatte, in dem es üblich war, das SEK zu verlassen, hatte er das Angebot, Teil der neuen BKA-Einheit zu werden, begeistert angenommen. Hauptkommissarin Saskia Wilkens hatte ihn Erik Degenhardt empfohlen. Weitere Mitglieder des Teams waren die Psychologin Katja Seifert, Kriminalhauptkommissar Leon Krüger, die Rechtsmedizinerin Michaela Tschauner sowie die Computerspezialistin Hannah Lankwitz. Um effektiv arbeiten zu können, hätten sie noch einmal so viele Mitarbeiter gebraucht.

Nachdem Saskia Wilkens ihren Vortrag beendet hatte, teilte Erik das Team auf. Saskia und Jan Faber sollten Hintergrundinformationen über die drei betreffenden Zirkusse beschaffen. Svenja Renz, Katja Seifert und Leon Krüger würden sich mit der Fallakte der damals ermittelnden Beamten beschäftigen. Hannah Lankwitz würde versuchen, dem Foto noch mehr Informationen zu entlocken. Sie wollten sich in fünf Tagen erneut zusammensetzen, um die Ergebnisse zu präsentieren und weitere Schritte zu besprechen.

**

Saskia und Jan begannen damit, dass sie eine Liste von Personen erstellten, die sie befragen wollten. Darunter befanden sich Mitarbeiter des Außen- und Innenministeriums und der Veranstaltungsbranche. Die Gespräche mit den Ministerien erbrachten nicht viel. Man verwies sie dort an die jeweiligen Bürgermeisterämter. Hier erhielten sie schließlich den Tipp, sich mit einem gewissen Markus Kuhn zu treffen, der viele Jahre lang mit diversen Zirkussen zusammengearbeitet hatte. Kuhns Aufgabe als Dienstleister war es, für die Betreiber die erforderlichen behördlichen Genehmigungen einzuholen und die Werbetrommel zu rühren. Saskia fand außerdem einen Artikel, der vor nicht einmal einem Jahr in einer bekannten Zeitschrift veröffentlicht worden war. Kuhn verfügte über weitreichendes Wissen über die Gepflogenheiten der Zirkusbranche, und er kannte fast jeden Direktor persönlich. Von ihm erfuhren die Beamten, dass es in Deutschland über dreihundert aktive Wanderzirkusse gab – eine Zahl, mit der sie nicht gerechnet hatten. Die drei Zirkusse, die immer dort in der Nähe ihre Zelte aufgeschlagen hatten, wo auch kleine Mädchen verschwanden, gehörten zu den ältesten unter ihnen.

«Sie müssen eines verstehen», sagte Kuhn. «Es handelt sich hier um eine regelrechte Parallelwelt. Die haben sogar eine eigene Sprache. Und sie haben alle eines gemeinsam: Sie sind ständig unterwegs und vertrauen niemandem. Wenn man dazugehören will, erwarten sie von einem, dass man sein früheres, bürgerliches Leben aufgibt und den Zirkus fortan als Arbeitsplatz und Wohnort betrachtet. Es kam sogar vor, dass neue Mitreisende ihren früheren Freundeskreis vollkommen aufgegeben haben. Einige der Fahrenden haben irgendwo einen festen Wohnsitz. Da aber die Saison lang ist und für einige Artisten auch im Winter Engagements auf dem Plan stehen, halten sie sich nie länger an festen Wohnorten auf. Viele von ihnen leben dauerhaft im Wohnwagen.»

«Gibt es eine Hierarchie?», wollte Jan Faber wissen.

Kuhn nickte. «Ja. Es gibt die Artisten und Chefs auf der einen und die Arbeiter auf der anderen Seite. In der Zirkussprache werden sie ‹Racklos› genannt. Diese grobe Zweiteilung hat zumindest in den meisten traditionellen Reisezirkussen bis heute überdauert. Häufig findet so gut wie keine Kommunikation zwischen den beiden Lagern statt. Die Arbeiter stehen in der Rangliste seit jeher weit unten und müssen sich deshalb mit weitaus geringerem Lohn und Komfort begnügen als die Artisten. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Mitreisende zweiter Klasse. Und über allem steht der Zirkusdirektor. Er wird oft als Prinzipal bezeichnet.»

«Nehmen wir mal an, in einem Zirkus begeht einer der Mitarbeiter ein Verbrechen. Wie würden die intern damit umgehen, wenn sie es erfahren würden?», fragte Saskia.

Kuhn sah sie prüfend an. Vielleicht wollte er wissen, ob es sich um eine hypothetische Frage handelte oder ob mehr dahintersteckte. Saskia erwiderte den Blick, fügte aber keine Erläuterung an.

Kuhn räusperte sich. «Tja, da kann ich natürlich nur mutmaßen. Wie erwähnt, haben alle Zirkusse ja eines gemein: das große Misstrauen gegenüber der Polizei oder anderen Behörden. Tauchen Beamte im Zirkus auf, stoßen sie erst einmal auf eine Mauer des Schweigens. In diesen Momenten ist der Rang eines Fahrenden gleichgültig. Sobald Gefahr von außen droht, bilden die Fahrenden eine geschlossene Einheit, die niemand zu durchdringen vermag. Natürlich kommt es auch auf das Verbrechen an. Aber in aller Regel werden sie versuchen, das unter sich zu klären.»

Faber war erstaunt. «Die würden jemanden decken, der eine Straftat begangen hat?»

Kuhn nickte. «Ginge es um Ihre Familie, würden Sie doch alles tun, um sie zu beschützen, oder?»

Das war für einen Kriminalbeamten eine heikle Frage.

«Bis zu einem gewissen Punkt schon …», gab Jan zu.

«Schauen Sie, Sprösslinge von Zirkusfamilien suchen sich als Lebenspartner oder -partnerinnen fast immer Angehörige der eigenen Zunft. Das ist nicht nur eine Frage der persönlichen Haltung, sondern hängt auch damit zusammen, dass sich die Lebenswelt der Reisenden extrem von derjenigen der übrigen Gesellschaft unterscheidet. In den Kleinzirkussen haben die Eltern teilweise noch sehr weitreichende innerfamiliäre Entscheidungsbefugnisse und nehmen Einfluss auf die Heiratspläne ihrer Kinder. Bei Hochzeiten zwischen Gauklerfamilien wechselt die angeheiratete Frau in der Regel in den Zirkus des Ehemanns und nicht umgekehrt. Viele Familien in Kleinzirkussen sind nach wie vor patriarchalisch strukturiert: Der Vater als Familienoberhaupt hat das Sagen, ohne den Chef kann nichts entschieden werden. Und wenn der Chef entscheidet, ein Verbrechen intern zu regeln, gibt es niemanden, der ihm widerspricht. Obwohl es sich um Unternehmen handelt, sind es doch vor allem auch große Familien.»

3

Für Mitte Mai war es schon erstaunlich warm. Obwohl die Meteorologen einen sehr heißen Sommer prognostiziert hatten, waren auch sie überrascht, dass dieser schon im Mai begann. Saskia und Jan machten sich auf die Suche nach den Zirkussen, die zum Zeitpunkt von Sophies Verschwinden in der Nähe gewesen waren. Wie sie erfuhren, begannen die Zirkusse ab Anfang April ihre Reise durchs Bundesgebiet, die aktuelle Zirkus-Saison lief also bereits auf Hochtouren. Die meisten Reisezirkusse gehörten sogenannten Gauklerfamilien. Vergleichbar mit den Zweigstellen eines größeren Unternehmens, hatten sie das Bundesgebiet unter sich aufgeteilt, mit der Besonderheit, dass die Zirkusse alle verschiedene Namen hatten, auch wenn sie zur selben Organisation gehörten. Zwei der drei infrage kommenden Zirkusse waren von dieser Sorte, der dritte war eine Ausnahme. Er gehörte zu keiner größeren Familie, sondern war eigenständig. Eigenständig gewesen traf es besser, da es ihn nicht mehr gab.

«Es scheint ein einträgliches Geschäft zu sein», bemerkte Jan, als sie am nächsten Tag bei Reinhold Schultheiß klingelten. Saskia und er waren früh am Morgen nach München geflogen und mit einem Mietwagen weitergefahren bis nach Ottobrunn. Sie hatten schlimmstenfalls mit einem Wohnwagenpark gerechnet, bestenfalls mit einem heruntergekommenen Bauernhof. Stattdessen residierte Schultheiß in einer Jugendstilvilla auf einem Grundstück so groß wie ein Fußballfeld. Er leitete eine der beiden verbliebenen Zirkus-Organisationen. Von der Leitung der anderen Zirkus-Organisation in Köln hatten sie bisher keine Antwort erhalten.

«Immerhin gehören dem Clan fast einhundert dieser Wanderzirkusse», meinte Saskia.

Es summte, und das schwere Metalltor schwang gemächlich auf. Sie fuhren eine asphaltierte Auffahrt hinauf, parkten den Wagen vor dem Haus und stiegen aus. Als sie vor der Treppe standen, öffnete sich die Haustür, und ein Mann trat heraus. Saskia schätzte ihn auf Anfang, Mitte dreißig. Er war schlank, hatte dunkles Haar und ein schmales Gesicht, das von einer Hakennase dominiert wurde. Er trug eine Jeanshose, ein weißes Hemd und ein dunkles Sakko.

«Ich nehme an, Sie sind die Herrschaften vom BKA.»

Saskia und Jan stiegen die Stufen hinauf und zeigten ihm ihre Dienstausweise.

«Reinhold Schultheiß», stellte er sich vor. «Bitte, kommen Sie rein.»

Sie betraten eine großzügige Diele. Die Wände waren mit hellem Holz vertäfelt, der Boden mit Terrakottafliesen ausgelegt. Er ging voran und führte sie in ein Büro mit einem Schreibtisch, einer Besprechungsecke und jeder Menge Bücherregalen. Es roch angenehm nach Pfeifentabak mit Vanillegeschmack.

Schultheiß machte eine einladende Geste. «Nehmen Sie Platz.»

Er selbst setzte sich in einen alten Ledersessel, während Saskia und Jan ihm gegenüber auf einem Sofa Platz nahmen.

«Was kann ich für Sie tun?»

«Im August 2012 waren Sie mit Ihrem Zirkus im Raum Wiesbaden …», begann Jan.

Schultheiß hob abwehrend eine Hand. «Das kann durchaus sein, aber ich muss Ihnen gleich sagen, dass ich zu dieser Zeit noch gar nicht im Familienbetrieb tätig war.»

«Aha. Und wer war damals verantwortlich?»

«Für was verantwortlich?», fragte Schultheiß alarmiert nach.

«Ich meine, wer hatte zu dem Zeitpunkt die Verantwortung?», korrigierte Jan sich.

«Mein Vater.»

«Könnten wir dann vielleicht Ihren Vater sprechen?»

«Das muss er entscheiden.»

«Ist er hier?»

Schultheiß schüttelte den Kopf. «Er lebt seit seinem Rückzug aus dem Berufsleben in Spanien.»

«Wie lange führen Sie schon die Geschäfte?», schaltete sich Saskia ein.

«Seit knapp drei Jahren.»

«Aber Sie stehen mit Ihrem Vater in Kontakt, oder?», fragte Saskia.

«Ja, natürlich. Aber seien Sie doch bitte so nett und verraten mir, weshalb Sie hier sind und warum Sie meinen Vater sprechen wollen.»

Saskia beugte sich vor. «Wir ermitteln in einem Entführungsfall», erklärte sie ihm. «Vor fast fünf Jahren verschwand im Großraum Wiesbaden ein kleines Mädchen. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens waren drei Zirkusse ganz in der Nähe.»

Stirnrunzelnd sah Schultheiß sie an. «Und Sie gehen davon aus, dass einer unserer Mitarbeiter das kleine Mädchen … entführt hat?»

«Halten Sie das für möglich?», wollte Faber wissen.

Schultheiß dachte kurz darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. «Nein. Zumal das ja wohl auch aufgefallen wäre, nicht wahr?»

Saskia nickte. «Aber gerade, weil es aufgefallen wäre, es ist durchaus möglich, dass einer Ihrer Mitarbeiter etwas weiß. Vielleicht hat jemand etwas beobachtet. Oder etwas gehört.»

Schultheiß schüttelte den Kopf. «Dann hätten sie das damals doch wohl der Polizei erzählt. Ich gehe mal davon aus, dass die Polizei unsere Mitarbeiter befragt hat. Das tut sie nämlich immer, wenn irgendwo irgendetwas passiert.»

Es war deutlich, dass es sich um ein sensibles Thema handelte.

Saskia beugte sich vor. «Wir wissen nicht, wie die Kollegen damals aufgetreten sind, Herr Schultheiß. Aber es ist gut möglich, dass sie die nötige Höflichkeit, den angemessenen Respekt haben vermissen lassen.»

«Das wäre jedenfalls nicht das erste Mal gewesen.»

Saskia nickte. «Das wissen wir. Deshalb können wir nicht ausschließen, dass das Verhalten der Beamten damals dafür gesorgt hat, dass Ihre Mitarbeiter geschwiegen haben.»

«Sie verdächtigen also nicht meinen Zirkus, sondern sammeln Informationen, richtig?»

«Das ist richtig», bestätigte Saskia.

«Ich werde meinen Vater anrufen. Wenn er bereit ist, sich mit Ihnen zu treffen, werde ich mich bei Ihnen melden. Wenn nicht, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Mein Vater trifft seine eigenen Entscheidungen. Mehr konnte ich für Ihren Kollegen auch nicht tun.»

Saskia und Faber wechselten einen irritierten Blick.

«Sie wussten nicht, dass schon einmal ein Beamter hier war und fast dieselben Fragen gestellt hat wie Sie beide jetzt?»

«Nein. Hätten Sie das nicht schon früher erwähnen können?», antwortete Saskia.

«Tut mir leid.» Schultheiß zuckte mit den Achseln. «Ich bin davon ausgegangen, dass Ihnen das bekannt ist. Zumal der Mann ja ebenfalls vom BKA war.»

«Wie lange ist das her? Wie hieß der Mann?», fragte Saskia.

«Keine Ahnung, vielleicht ein halbes Jahr? An den Namen erinnere ich mich nicht mehr.»

Saskia hatte eine Eingebung. Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche, öffnete das Menü, suchte unter den Fotos und hielt ihm das Gerät vor die Nase. «War es dieser Mann?»

Schultheiß nickte sofort. «Ja. Der war hier. Netter Kerl.»

Joshua hatte Schultheiß besucht.

**

Saskia und Jan waren in Frankfurt, wohin sie von München aus geflogen waren, gerade auf dem Weg ins Hotel, als Saskias Handy klingelte.

«Wilkens.»

«Schultheiß hier.»

«Ah, hallo Herr Schultheiß. Ist Ihr Vater bereit, mit uns zu reden?»

«Nein, noch nicht. Aber er möchte wissen, warum Ihr Kollege, der zuerst bei mir war, sich nicht mehr meldet.»

«Er ist tot», gab sie zurück und fragte sich, warum der Vater erwartet hatte, dass sich Joshua wieder melden würde.

«Oh … verdammt. Das tut mir leid. Können Sie mir sagen, wie das passiert ist?»

Saskia fand die Frage ungewöhnlich. Sie warf ihrem Kollegen einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf.

«Herr Schultheiß, würden Sie mir bitte verraten, warum sich Ihr Vater darüber wundert, dass Herr Klement sich nicht mehr meldet?»

«Äh … ja. Also, zunächst einmal hat mein Vater Todesangst. Er hat Herrn Klement eine Mail geschrieben. Vor etwa zwei oder drei Monaten.»

«Was für eine Mail?»

«So, wie ich meinen Vater verstanden habe, hat er einige der Fragen Ihres Kollegen schriftlich beantwortet. Und er hat ihm ein Foto geschickt.»

«War es die Aufnahme eines älteren Mannes, der ein kleines Mädchen an der Hand hielt?»

«Ja, genau.»

Damit hatte sich die Frage nach dem Absender des Fotos geklärt.

«Warum hat Ihr Vater Todesangst?»

«Lesen Sie seine Nachricht. Aber wenn Sie weitere Fragen haben, müssen Sie mir erst verraten, unter welchen Umständen Herr Klement ums Leben kam.»

«Wieso interessiert Sie das?»

«Weil mein Vater befürchtet, dass der Mann, um den es geht, erfahren hat, dass jemand Fragen stellt. Fragen nach verschwundenen Kindern. Und …»

«Und Sie denken jetzt, dass dieser jemand Herrn Klement umgebracht hat?»

«Ja.»

«Dann kann ich Sie beruhigen. Herr Klement wurde von einem anderen Wahnsinnigen getötet.»

«Oh … gut. Also nicht gut … ich meine, es tut mir leid, dass Ihr Kollege umgebracht wurde … Himmel, Sie wissen, was ich meine.»

«Okay. Ich werde versuchen, an die Nachricht heranzukommen. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, weiß Ihr Vater, wer die Mädchen entführt hat?»

Es entstand eine kleine Pause. «Mein Vater weiß eine Menge, Frau Wilkens. Und er hat eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte. In Ihrer Branche nennt man das wohl einen begründeten Verdacht.»

Innerlich rollte Saskia mit den Augen. «Und warum nennt er uns nicht einfach einen Namen?»

«Weil er ihn nicht kennt, Frau Wilkens. Diese Menschen sind anders. Sie haben ihre Künstlernamen, und niemanden interessiert, wie sie wirklich heißen. Ihre Gage erhalten sie in bar. Keine Konten, keine Adressen, verstehen Sie?»

«Nein. Aber das ist auch nicht wichtig. Wie lautet denn sein Künstlername?»

«Mein Vater kannte ihn nur als Der Zauberer.»

4

Fünf Tage später kam das Team zusammen, um die Ergebnisse zusammenzutragen. Es gab Parallelen zwischen dem, was Saskia und Jan erfahren hatten, und den Informationen, die aus den Akten hervorgingen. Dass es sich bei einem Zirkus um eine ganz eigene Welt handelte, hatten die Beamten, die damals Sophies Verschwinden aufzuklären versuchten, am eigenen Leib erfahren müssen. Einzig die Chefs der drei Zirkusse hatten mit ihnen gesprochen. Alle anderen waren entweder verschwunden oder taten so, als wären sie der deutschen Sprache nicht mächtig.

«Natürlich können wir nicht wissen, wie die Beamten damals im Zirkus aufgetreten sind, wie sie die Leute behandelt haben», sagte Saskia nachdenklich.

«Was meinst du damit?», wollte Katja wissen.

«Die Fahrenden sind es gewohnt, dass man ihnen mit Vorbehalten entgegentritt. Dass man ihnen misstraut. Aber sie wollen mit Respekt behandelt werden, verstehst du? Es sind stolze Menschen», erklärte Saskia.

Katja blätterte in ihren Notizen. «Wir haben mit einem der Beamten gesprochen, die seinerzeit ermittelt haben. Er gehörte zu denen, die die Gespräche mit den Leuten vom Zirkus geführt haben. Natürlich hat er uns gegenüber nicht erwähnt, dass er sie scharf angegangen ist. Allerdings steht er in dem Ruf, eine rassistische Ader zu haben. Also kann ich mir gut vorstellen, dass er nicht immer freundlich gewesen ist. Mal was anderes: Ist euch eigentlich aufgefallen, dass seit Sophie nie wieder ein kleines Kind in der Nähe eines Zirkusses verschwunden ist?»

Saskia nickte. «Das ist uns nicht entgangen. Entweder haben die ihre Vorgehensweise geändert, oder aber Sophie war ihr letztes Opfer.»

Katja runzelte die Stirn. «Gibt es die drei Zirkusse von damals eigentlich noch?»

«Zwei davon. Einer hat schon vor Jahren den Betrieb eingestellt», antwortete Jan.

Saskia sah Katja forschend an. «Du sprichst immer noch von mehreren Tätern. An deiner Meinung, dass es mehr als ein Täter war, hat sich also nichts geändert?»

Es war zwischen ihnen beiden eine Streitfrage.

Saskia schloss nicht aus, dass es sich nur um einen Täter handelte.

Katja hingegen war davon überzeugt, dass es mindestens zwei sein mussten.

«Vierjährige können ziemlichen Lärm machen», erklärte Katja. «Sie schreien, toben, kreischen, was weiß ich. Zu zweit wäre es viel einfacher, sie unter Kontrolle zu kriegen.»

«Da ist was dran», sagte Saskia nachdenklich. «Es sei denn, derjenige, der das Kind entführen will, hat eine besondere … Begabung …»

Katja sah Saskia fragend an. «Verstehe ich nicht.»

«Wir haben mit einem der Zirkus-Chefs gesprochen. Es handelt sich um den Sohn des Direktors, der damals das Sagen hatte. Der hat sich mittlerweile nach Spanien in den Ruhestand zurückgezogen. Und stellt euch vor, Joshua hat auch schon Kontakt zu ihm aufgenommen. Dieser Mann hat Joshua das Foto zugeschickt.» Saskia studierte ihre Notizen. «Johannes Schultheiß ist sein Name. Erinnert ihr euch, was auf der Rückseite des Fotos stand? Der Zauberer. Was, wenn er wirklich ein Zauberer wäre? Ich meine, was könnte eine Dreijährige dazu bringen, einem Fremden einfach so zu folgen? Wer könnte sie dazu bringen? Mir fallen da nur zwei ein: Clowns, oder eben jemand, der coole Zaubertricks draufhat.»

«Wir müssen mit diesem Typen in Spanien sprechen», resümierte Erik.

«Das sehe ich genauso», pflichtete ihm Saskia bei.

Erik traf eine Entscheidung. «Saskia, du fliegst mit Jan nach Spanien. Sprecht mit ihm. Notfalls setzt ihn unter Druck. Versucht herauszufinden, was er weiß.» Er wandte sich an Hannah. «Du versuchst bitte, noch mehr Details aus dem Foto rauszuholen. Egal wie. Wenn du den Supercomputer nutzen musst, sag Bescheid.» Hannah nickte grinsend. «Katja, ich möchte, dass du und Svenja mit allen Beamten sprecht, die damals an den Fällen gearbeitet haben. Ich gebe euch meine Notizen aus der Zeit. Leon, versuch bitte so viel wie möglich über diesen Zauberer herauszufinden.» Erik blickte in die Runde. «Verlieren wir nicht den Schwung. In drei Tagen sehen wir uns wieder hier.»

5

Malaga im Mai war wärmer, als Saskia gedacht hatte. Es nieselte bei ihrer Ankunft zwar leicht, aber die Temperatur betrug jetzt, am frühen Abend, noch immer dreiundzwanzig Grad. Ein Taxi brachte sie und Jan ins nahe gelegene Holiday Inn. Am nächsten Morgen wollten sie mit einem Mietwagen in das knapp zweihundert Kilometer östlich gelegene Almeria fahren. Sie hatten ihren Besuch bei Johannes Schultheiß nicht angekündigt. Sie wollten ihm gar nicht erst die Gelegenheit geben, sie abzuwimmeln.

«Gehen wir eine Kleinigkeit essen?», schlug Jan vor, als sie im Fahrstuhl standen.

«Unbedingt», antwortete Saskia, deren Magen schon knurrte.

Als sie sich eine halbe Stunde später in der Lobby trafen, hatte Saskia die Dame am Empfang schon nach Restaurants in der Nähe gefragt. Sie empfahl ihnen ein Lokal direkt am Strand, das sich auf Fisch und Meeresfrüchte spezialisiert hatte.

«Magst du Fisch, Jan?»

«Na klar.»

Beschwingt nahmen sie ein Taxi und wurden zehn Minuten später auf einem großen Parkplatz abgesetzt. Wenig später standen sie vor dem Restaurant Chiringuito El Sardina. Die Frau am Empfang hatte nicht die Wahrheit gesagt. Das Restaurant befand sich nicht am Strand, es stand mitten darauf. Es besaß sogar einen kleinen Abschnitt mit Strandliegen.

«Wow …», meinte Jan.

Da Spanier in der Regel recht spät zu Abend aßen, gab es noch freie Plätze auf der Terrasse.

Sie setzten sich, und Saskia stieß einen wohligen Seufzer aus. «Ich liebe meinen Job.»

Jan schmunzelte. Der Kellner kam und brachte ihnen die Speisekarte, wobei er in recht gutem Englisch darauf hinwies, dass man auch von einer Kühltheke voller frischem Fisch im Restaurantinneren auswählen könne. Sie bestellten beide frisch gezapftes Bier und drinnen Dorade. Als sie zu ihrem Tisch zurückkehrten, wartete das Bier schon auf sie.

Jan prostete Saskia zu.

«Sag mal, Leon war schon vor dir in der Abteilung, oder?»

Saskia wischte sich mit dem Handrücken Bierschaum vom Mund. «Ja. Warum?»

«Er schien etwas angesäuert, als er hörte, dass wir beide nach Spanien fliegen, er aber Büroarbeit machen muss.»

«Ist mir gar nicht aufgefallen», meinte Saskia.

«Du warst ja auch genug damit beschäftigt, deine Vorfreude zu unterdrücken», sagte Jan grinsend.

«Das hast du gemerkt?»

Er hob abwehrend die Hände. «Hey, ich bin neu und muss erst mal alles beobachten.»

«Du scheinst ein guter Beobachter zu sein», stellte Saskia fest. «Ist dir sonst noch was aufgefallen?»

«Nein.»

Das Essen kam, und beide aßen schweigend und mit Genuss.

Danach blieben sie noch eine Weile auf der Terrasse sitzen und machten sich schließlich auf den Weg zurück ins Hotel.

Am nächsten Morgen nahmen sie ihren Mietwagen in Empfang und fuhren die Küstenstraße entlang Richtung Osten. Zweieinhalb Stunden später erreichten sie Almeria. Schultheiß lebte außerhalb der Stadt, sodass ihnen der Innenstadtverkehr erspart blieb.

Sie fuhren durch eine Wohngegend mit gepflegten Ein- und Mehrfamilienhäusern hügelaufwärts. Überhaupt machte alles hier einen sauberen Eindruck. Je höher sie kamen, desto weniger Häuser waren zu sehen. Schließlich hielt Saskia den Wagen an.

«Wir sind da», verkündete sie.

Das schlichte Steinhaus, in dem Schultheiß wohnte, befand sich auf einem karg bewachsenen Plateau. Hinter dem Haus ragte bis zu einer Höhe von etwa zweihundert Metern nackter Fels auf. Sie stiegen aus.

«Ganz schön … felsig», bemerkte Faber.

Als Saskia nicht reagierte, wandte er sich zu ihr um. Sie blickte in genau die entgegengesetzte Richtung, hinunter auf den Hafen und das Meer.

«Wow …», machte sie.

«Oh ja», bestätigte Faber. «Da sind die Felsen doch gleich egal.»

Sie gingen auf das Haus zu. Kaum hatten sie die kleine Grünfläche vor dem Eingang betreten, öffnete sich die Haustür.

6

Leon Krüger war verärgert. Obwohl er in der Sondereinheit 303 einer der Ersten gewesen war, hatte er das Gefühl, aufs Abstellgleis geschoben zu werden. Saskia Wilkens wurde ständig auf Außeneinsätze geschickt, und er bekam nur langweilige Büroarbeit zugeteilt. Während sie jetzt auf dem Weg nach Spanien war, musste er sich mit diesem Zauberer befassen. Ihn an einem Schreibtisch festzunageln, war reine Ressourcenverschwendung. Er verstand die Welt nicht mehr. Leon konnte Degenhardts Entscheidungen beim besten Willen nicht nachvollziehen. Seine Verlobte auch nicht. Beide rechneten schon lange damit, dass er in der Besoldungsstufe nach oben rutschte. Dann hätte er immerhin fast eintausend Euro mehr im Monat. Aber passiert war bislang nichts. Leon war ein eher passiver, abwartender Typ, der davon ausging, dass die Gehaltserhöhung schon noch kommen würde. Seine Verlobte hingegen ließ keine Gelegenheit aus, ihn aufzufordern, die Initiative zu ergreifen. Wenn Krüger nur mehr Geld fordern würde, würde er es auch bekommen, dachte sie. Dass es dabei auch um Planstellen und Budgets ging, interessierte sie nicht. Sie selbst war Abteilungsleiterin bei einer Investment-Bank und verdiente sehr viel mehr als er. Alleine der Bonus, den sie letztes Jahr eingestrichen hatte, war fast so hoch gewesen wie sein halbes Jahresgehalt.

Das ging ihm gewaltig gegen den Strich.

Er hatte sich überhaupt nichts zuschulden kommen lassen. Warum also wurde er zu niederen Arbeiten verdonnert, während die anderen die Ermittlungen machen durften? Immerhin war er Hauptkommissar und nicht irgendein Hiwi. Darüber hinaus hatte er mehrere Jahre bei der Kripo Frankfurt gearbeitet, war also weiß Gott kein Anfänger.

Lustlos startete er seinen Computer. Er hatte Hannah gebeten, die Fratze dieses Zauberers durch die Gesichtserkennungs-Software zu jagen. Leider hatte es keinen Treffer gegeben.

Kein Wunder, bei dem Bart. Man konnte ja vom Gesicht überhaupt nichts erkennen.

Krüger öffnete das Informationssystem INPOL und gab den Suchbegriff Zauberer ein.

Das Ergebnis kam prompt. Keinen Treffer gefunden …

Nun gab er den Suchbegriff in das Schengener Informationssystem SIS II ein und klickte Suchen an. Erneut kein Treffer.

Er seufzte genervt.

Er wollte diese Aufgabe möglichst schnell erledigen, damit Degenhardt ihm eine richtige Aufgabe zuweisen konnte.

Leon dachte nach.

Vielleicht war ja der Begriff Zauberer alleine nicht ausreichend. Da er die Seite des Schengener SIS II noch immer geöffnet hatte, änderte er die Parameter.

Nun gab er Zauberer, Zirkus, verschwundenes Kind ein und aktivierte die Suche.

Wieder kein Ergebnis.

«Verdammt …», murmelte er. Dann klingelte das Festnetz.

Er nahm das Gespräch an. «Krüger.»

«Ist Saskia da?»

«Wer spricht denn da?»

«Mensch, ich bin’s, Hannah.»

«Ach so. Du warst doch auch beim Meeting. Daher müsstest du eigentlich wissen, dass sie auf dem Weg nach Spanien ist.»

«Du hast ja recht. Hab ich vergessen.»

«Und?»

«Und was?»

Krüger schüttelte den Kopf. «Gibt es was Neues?»

«Äh, ja. Ich habe jetzt mehr Details vom Foto.»

«Hannah, muss ich dir alles aus der Nase ziehen?»

«Sorry. Also, erinnerst du dich, dass hinter den beiden ein Pick-up stand?»

«Ja.»

«Den konnte ich mir jetzt genauer ansehen. Also nicht unbedingt den Wagen. Vielmehr das, was auf der Ladefläche liegt. Oder lag. Das Bild ist ja schon über ein Jahr alt. Also kann man wohl davon ausgehen, dass diese Sachen jetzt nicht mehr …»

«Hannah …»

«Ja?»

«Was hast du entdeckt?»

«Propangasflaschen.»

«Wow … Glückwunsch.»

«Danke.»

«Das war nicht ernst gemeint, Hannah. Was nützt uns diese Info?»

«Na ja, die Flaschen selbst vielleicht nichts. Aber die Beschriftung der Dinger könnte interessant sein.»

Langsam verlor Krüger die Geduld. «Und warum?»

«Na, wegen der Schrift. Also der Sprache …»

«Ich habe wirklich keine Ahnung, was du mir sagen willst.»

«Die Beschriftung auf den Propangasflaschen ist bulgarisch.»

Gelangweilt ergänzte Krüger die zuvor eingegebenen Suchbegriffe um das Wort Bulgarien und drückte auf Suche.

«Ja, vielen Dank für die Info, Hannah. Ich melde …»

Mitten im Satz verstummte Krüger und starrte auf den Bildschirm.

Einen Treffer gefunden …

«Ich rufe zurück …», sagte Krüger und legte den Hörer auf.

Dann öffnete er hastig das Dokument, das das SIS II ihm anzeigte.

Es handelte sich um ein Hilfegesuch der bulgarischen Kriminalpolizei aus dem Jahr 2009. Krüger runzelte die Stirn. Das war vor dreizehn Jahren gewesen. Er las den Bericht dennoch.

Als er fertig war, pfiff er leise durch die Zähne. Schließlich lachte er laut auf.

Saskia hatte in der Besprechung erwähnt, dass es in ihren Augen durchaus möglich wäre, ein Kleinkind unbemerkt zu entführen. Nämlich dann, wenn man einen Clown oder Zauberer zur Hand hätte.

Im Stillen freute er sich über Saskias Irrtum.

Der Typ wurde nicht Zauberer genannt, weil er irgendwelche Zaubertricks draufhatte.

Nein, das hatte vollkommen andere Gründe.

7

«Was wollen Sie hier?»

Johannes Schultheiß war eine imposante Erscheinung. Er hatte ein markantes Gesicht mit hellen, wachsamen Augen, halblanges graues Haar und einen Drei-Tage-Bart. Er war groß und breitschultrig und hatte in jüngeren Jahren wohl viel Sport getrieben. Aber auch jetzt, mit Anfang siebzig, schien er in hervorragender Verfassung zu sein. Er trug eine Jeans, ein Poloshirt und Flip-Flops.

«Guten Tag, Herr Schultheiß. Mein Name ist Saskia Wilkens. Das ist mein Kollege Jan Faber. Wir sind vom Bundeskriminalamt.»

Die Augen des Mannes verengten sich zu Schlitzen. «Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Absolut nichts.» Er drehte sich um und wollte zurück ins Haus.

«Sie sollten mit uns reden, Herr Schultheiß», rief Jan ihm hinterher. «Andernfalls werden wir Sie vorladen. Mit allem Drum und Dran. Inklusive Presse.»

Schultheiß blieb wie erstarrt stehen. Dann wandte er sich ihnen wieder langsam zu. «Das können Sie nicht tun», sagte er leise.

«Können wir und werden wir auch», bestätigte Saskia.

Er schüttelte den Kopf «Ich weiß, warum Sie hier sind. Mein Sohn hat mich angerufen.»

Er kam einen Schritt auf sie zu. Jan wurde sofort wachsam.

«Ich hatte es schon Ihrem Kollegen gesagt, als wir telefonierten. Das, was ich weiß, hab ich ihm geschickt.»

Saskia nickte. «Das Foto.»

«Ja. Die Aufnahme und seinen Namen.»

«Der Zauberer ist wohl kaum ein Name», widersprach Saskia.

«Können wir uns bitte drinnen weiter unterhalten?», bat Jan.

Sie konnten sehen, wie Schultheiß mit sich kämpfte. Schließlich nickte er. «Kommen Sie rein.»

Das Haus war gemütlich und äußerst geschmackvoll eingerichtet. Dominiert wurde das Wohnzimmer von einem wunderschönen Esstisch aus Wurzelholz. Er musste an die hundert Kilo wiegen, dachte Saskia. Am liebsten hätte sie versucht, ihn anzuheben, nur um festzustellen, ob sie recht hatte. Einen Fernseher gab es hier nicht, dafür einen offenen Kamin und jede Menge Bücher in den Regalen. Neugierig warf Saskia einen genaueren Blick auf die Buchrücken. Es waren überwiegend Romane von Autoren aus den USA. Aber auch einige Bücher deutscher Schriftsteller befanden sich darunter.

«Bitte, nehmen Sie Platz», sagte Schultheiß, deutete auf den Esstisch und setzte sich.

Saskia und Jan nahmen ihm gegenüber Platz.

Schultheiß blickte seine Gäste stumm an und schüttelte dann bedächtig den Kopf.

«Sie haben ja keine Ahnung, worauf Sie sich hier einlassen.»

«Dann klären Sie uns doch bitte auf», antwortete Saskia.