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Als die Anwältin Katharina Opitz die Kanzlei ihres verstorbenen Vaters übernimmt, entdeckt sie einen USB-Stick mit grauenhaften Videos. Sie zeigen ein Mädchen, das nur mit einem Nachthemd bekleidet auf den Kölner Dom klettert – und aus großer Höhe abstürzt –, sowie einen jungen Mann, der die Köhlbrandbrücke in Hamburg erklimmt. Auch er verliert den Halt und fällt in die Tiefe. Katharina wendet sich damit an die Polizei. Laura Graf und Daniel Krampe übernehmen den Fall. Es gab in den letzten Jahren weitere solcher rätselhaften Unfälle, deren Zusammenhang bisher nicht erkannt wurde. Die Opfer hatten psychische Probleme und suchten sich Hilfe im Internet bei einem angeblichen Seelsorger. Laura Graf und ihr Team müssen den Verantwortlichen stoppen, bevor es für den nächsten jungen Menschen zu spät ist.
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Seitenzahl: 299
Volker Gerling
Thriller
Volker Gerling, geboren in Buchholz in der Nordheide, hat mehr als zwanzig Jahre im Vertrieb gearbeitet und ist dabei durch Europa und den Nahen Osten gereist. Seine ersten zehn Bücher schrieb er abends und nachts. Bis ihm klar wurde, dass er eigentlich nur Autor sein möchte. 2019 hängte er den Vertriebsjob an den Nagel, um sich ganz auf sein Schreiben zu konzentrieren. Inspiriert haben ihn die Romane von Nelson DeMille, John Connolly und Don Winslow. Gerling lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Braunschweig.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Martha Wilhem
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung bürosüd, München
Coverabbildung Aimee Marie Lewis/Arcangel
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01587-6
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Lena hatte Todesangst. Leise wimmernd umklammerte sie eine Metallstrebe. Diese gehörte zu einem Geflecht aus mindestens sieben Stangen. Hier oben, in sieben Meter Höhe, erschloss sich einem der Sinn dieser Konstruktion nicht. Nur wenn man von unten hinaufschaute, erkannte man, dass es sich um geschmiedete Blüten handelte, die ein gigantisches Dreieck füllten. Das Konstrukt gehörte zu der Verzierung einer Nebentür, die sich rechts vom Haupteingang befand. Lena warf einen raschen Blick zur Seite. Es war nicht mehr weit, noch ein, zwei Schritte, dann hätte sie es geschafft. Aber diese kurze Distanz wirkte auf sie unüberwindbar. Das Dreieck besaß an beiden Schenkeln stabile Figuren, die sie als Stufe würde nutzen können, um auf die nächste Ebene zu gelangen. Dann hätte sie es nicht mehr weit bis zu einem kleinen Balkon. Ihn zu erreichen, war das Mindestziel.
Nur einen Augenblick innehalten, um Kraft zu sammeln. Dann würde sie ihren Aufstieg fortsetzen. Denn Lena hatte sich fest vorgenommen, die ganze Challenge zu schaffen. Das würde bedeuten, die gewaltigen Querstreben oberhalb des Balkons zu erklimmen, um schließlich zwei Drittel der Nordfassade zu erklettern. Sie befände sich dann auf der Höhe des gewaltigen Ornaments, das in etwa fünfundzwanzig Meter Höhe oberhalb eines weiteren Balkons angebracht war. Hätte sie diese Stelle erreicht, könnte sie mit dem Abstieg beginnen. Höher müsste sie sich nicht wagen.
Frustriert stieß Lena einen leisen Schrei aus, als sie spürte, dass ihre Beine noch immer wegen der enormen Anstrengung zitterten. Erschrocken warf sie einen Blick hinunter und atmete dann erleichtert aus. Niemand war zu sehen. Unter allen Umständen musste sie es vermeiden, entdeckt zu werden. Obwohl es drei Uhr in der Früh war, wäre es durchaus möglich, dass ein aufmerksamer Nachtschwärmer oder gar Polizist sie sah. Denn der Dom wurde nachts beleuchtet. Wenn jemand sie sehen und versuchen würde, sie aufzuhalten …
Lena versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. Sie steigerte sich regelrecht hinein. Sie begann zu schwitzen und atmete heftig. Dann fing sie an zu zittern.
Oh mein Gott, dachte sie, ich krieg eine Panikattacke.
Schwach nahm sie ein merkwürdiges Brummen wahr. Das Geräusch war so eigenartig, dass es sie von ihrer aufkommenden Panik ablenkte. Sie blickte sich suchend um, konnte aber die Quelle des Geräusches nicht ausmachen. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und kam langsam wieder zur Ruhe.
Lena war schon so weit in ihrer Entwicklung gekommen. Da wollte sie unbedingt auch den letzten Schritt schaffen. Nicht nur für sich selbst. Auch für Markus, ohne dessen Hilfe sie es niemals bis hierher geschafft hätte. Ihn wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Er war es, der ihr gezeigt hatte, was alles in ihr steckte. Was sie alles erreichen konnte, wenn sie nur an sich glaubte. Markus hatte ihr die Kraft gegeben, Dinge zu tun, von denen sie niemals geglaubt hatte, sie fertigzubringen. Aus diesem Grund hatte sie sich bereit erklärt, diese im Grunde vollkommen irrsinnige Mutprobe zu wagen. Im Herbst, nur in ein Nachthemd gekleidet, die Nordfassade des Kölner Doms zu erklimmen – unter normalen Umständen hätte Lena sich über die Idee kaputtgelacht und wäre gegangen. Aber Markus war niemand, der so etwas grundlos verlangte. Wenn er sagte, dass es genau so ablaufen müsste, dann zweifelte sie nicht eine Sekunde daran. Sie tat es einfach. So wie sie in dem Café den süßen Typen angesprochen hatte. Normalerweise hätte sie das nicht geschafft. Niemals. Aber Markus hatte ihr erklärt, was genau sie sagen sollte. Und es hatte geklappt! Der Typ hatte sie auf einen Cappuccino eingeladen und zum Schluss sogar seine Handynummer auf ihren Handrücken geschrieben. Das war unglaublich gewesen.
Lena war sechzehn Jahre alt und bis vor Kurzem stets bemüht gewesen, nicht aufzufallen.
Auffallen war gleichbedeutend mit wahrgenommen werden. Und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Denn wenn Lena wahrgenommen wurde, entdeckten die anderen ihre Fehler. Zu klein, zu dick, zu dünnes Haar, zu viele Pickel. Sie hätte diese Liste unendlich lange weiterführen können. Niemanden interessierte, dass sie hochintelligent war. Klug zu sein, war so was von uncool.
Mit ihren Eltern konnte sie nicht reden. Die waren viel zu sehr mit sich selbst und ihrer beschissenen Ehe beschäftigt. Eine beste Freundin hatte Lena mal gehabt. Jedenfalls hatte sie gedacht, dass das so wäre. Bis zu dem Tag, an dem sie zusammen einkaufen waren. Alice hatte gemeint, Lena müsse sich mal anders anziehen. Nicht immer diese altbackenen Klamotten tragen, die ihre Mutter ständig besorgte. Vielmehr sei es Zeit für etwas Cooles. Lena war von der Idee begeistert gewesen und hatte umgehend ihr gesamtes Erspartes geplündert – immerhin über zweihundert Euro. Dann waren sie und Alice in die Innenstadt gefahren. Ihre erste Station war Galeria Kaufhof am Alex gewesen.
Alice hatte ihr ein paar Klamotten ausgesucht und damit war Lena in eine der Umkleidekabinen gegangen. Sie hatte sich gerade bis auf Slip und BH ausgezogen, als der Vorhang beiseitegerissen wurde und Alice mit ihrem Handy Fotos von ihr gemacht hatte. Völlig verstört hatte Lena den Vorhang wieder geschlossen, sich angezogen und war aus der Kabine gestürmt. Doch Alice war verschwunden. Noch am selben Tag hatte ihre beste Freundin die Fotos auf Instagram veröffentlicht.
Die Kommentare waren furchtbar gewesen. Für Lena brach eine Welt zusammen. Niemals zuvor hatte sie sich so verraten und gedemütigt gefühlt. Völlig verzweifelt hatte sie Rat und Schutz bei ihren Eltern gesucht. Und war abgeblitzt. Sie müsse endlich ihr Leben selbst in den Griff bekommen, hieß es von ihrem Vater. Ihre Mutter hatte nur mit den Schultern gezuckt. Danach spielte Lena das erste Mal mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen.
Der Moment war nur ganz kurz gewesen, aber er setzte sich in ihrem Kopf fest. Verwuchs mit ihrem Gehirn, sodass ihre Synapsen eigenständig neue Verknüpfungen herstellten. Ungesunde Verknüpfungen. Sie hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
In ihrer Verzweiflung suchte sie Hilfe im Internet. So fand sie Markus. Und dank ihm schöpfte sie neuen Lebensmut. Ja, er hatte wirklich krasse Sachen von ihr verlangt. Aber sie alle ergaben Sinn. Und was noch viel wichtiger war: Sie halfen!
Schwacher Regen setzte ein. Besorgt warf Lena einen Blick nach oben. Sollte der Regen stärker werden, würde der Aufstieg zu einer rutschigen Angelegenheit werden.
Sie atmete tief durch und löste die linke Hand von der Strebe. Langsam krochen ihre Finger über die Fassade, bis sie Halt fand. Lena hob ihr linkes Bein und suchte mit dem Fuß nach einer sicheren Stelle, die ihr Gewicht hoffentlich tragen würde. Ihre Zehen fanden eine Mulde, die vielversprechend zu sein schien. Ganz vorsichtig löste sie ihre rechte Hand.
Und rutschte ab.
Erschrocken stieß sie einen Schrei aus. Für einen winzigen Augenblick schien sie schwerelos zu sein. Dann bekam sie grunzend die Strebe zu fassen und war wieder in Sicherheit.
Mit pochendem Herzen versuchte Lena, ihre Lage einzuschätzen. Wenn sie sich ein Stück nach unten rutschen ließ, könnte sie mit etwas Geschick die unterste Verzierung des stählernen Schenkels mit beiden Händen umklammern.
Toll, und dann? Dann hinge sie da wie ein nasser Sack.
Nein, die Lösung war nicht, nach unten zu rutschen.
Im Gegenteil: Sie musste die unterste Verzierung vergessen und höher klettern. Gelänge ihr das, wäre die zweite Verzierung viel leichter zu erreichen.
Behutsam setzte sie einen ihrer nackten Füße auf die Öffnung des Ornamentes und zog sich hoch. Jetzt konnte sie die Verzierung packen, und auch ihre Füße hatten sicheren Halt. Lena hätte vor Freude und Stolz am liebsten laut geschrien, als sie endlich den linken Schenkel des Dreieckes erreichte. Lächelnd erklomm sie ihn. Oben angekommen ballte sie eine Hand zur Faust und streckte sie triumphierend in die Höhe.
Das Glücksgefühl verschwand jedoch schlagartig, als sie nach oben schaute und sich ihr ein sehr viel größeres Problem offenbarte: Von ihrer jetzigen Position aus war der Balkon viel weiter weg als gedacht. Mindestens drei Meter entfernt. Sie warf erneut einen prüfenden Blick nach oben. Die beiden Schenkel des Dreieckes trafen sich am oberen Ende und bildeten dann einen fließenden Übergang zu einer Säule, die nach etwa zwei Metern mit einem reich verzierten Kapitell abschloss.
Um den Balkon zu erreichen, müsste Lena die Säule hochklettern und sich am Kapitell hochziehen, um so die Spitze der Säule zu erklimmen. Von dort könnte sie zum Balkon hinaufsteigen.
Zweifel keimten in ihr auf. Schaffe ich das? Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Höhe.
Der Regen wurde heftiger, und Regentropfen fielen ihr in die Augen. Lena versuchte, sie fortzublinzeln. Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben. Dann dachte sie an Alice. Wie sie Lena auslachen würde, könnte sie sie jetzt sehen. Ihre Eltern würden sich kopfschüttelnd von ihr abwenden.
Ein Satz von Markus schoss ihr durch den Kopf.
Wenn du glaubst, etwas nicht schaffen zu können, dann versuche es erst recht.
Oh ja, sie würde es versuchen. Jetzt aufzugeben war keine Option.
Mit beiden Armen umschlang Lena die Säule und zog sich hinauf. Zentimeter für Zentimeter. Es war kraftraubend und schmerzhaft, da sie sich an Händen und Füßen die Haut aufkratzte. Aber Lena dachte nicht daran, aufzugeben. Keuchend und schnaufend, vollkommen durchnässt, kämpfte sie sich nach oben und erreichte das Kapitell. Dort verharrte sie einen Moment, um Kraft für den Endspurt zu tanken. Schließlich zog sie sich daran hoch, bis sie auf dem Kapitell stand. Ihre Füße fanden kaum Platz auf der kleinen Plattform. Komisch, von unten hatte sie größer ausgesehen. Vorsichtig streckte Lena einen Arm aus. Sie bekam den oberen Bereich der Säule zu fassen. Das war gut. Lena vergewisserte sich, dass sie stabilen Halt hatte, dann streckte sie beide Arme in die Höhe und umklammerte den oberen Teil der Säule. Sie hielt kurz inne, dann zog sie sich daran hoch. Anfangs schien die Säule ihr Gewicht zu tragen. Dann spürte Lena, wie etwas nachgab.
Nein, nein, nein. Oh Gott, bitte nicht …
Fast geräuschlos löste sich das obere Ende der Säule vom Rest der Struktur. Lena spürte, wie sie langsam nach hinten kippte. Dann brach das Teil ab, und sie fiel rücklings fast zwanzig Meter in die Tiefe.
Acht Monate später
Laura brachte Anabel an diesem sonnigen Montagmorgen in den Kindergarten und fuhr anschließend auf direktem Wege ins Büro. Die Sonnenstrahlen kitzelten ihr in der Nase. Es versprach ein herrlicher frühsommerlicher Tag zu werden. Laura griff in die Mittelkonsole und holte ihre neue Sonnenbrille heraus. Endlich bekam sie die Gelegenheit, sie aufzusetzen.
Seit ein paar Wochen arbeitete Laura für das Bundeskriminalamt. Nachdem der letzte Fall abgeschlossen worden war, hatte ihr Kollege Daniel ihren und seinen Wechsel subtil eingeleitet. Am gestrigen Sonntag hatte der Präsident des BKA, Rainer Abel, das Team zu einem Barbecue eingeladen. So hatten sich alle in ungezwungener Atmosphäre beschnuppern und kennenlernen können. Natürlich beinhaltete die Einladung potenzielle Partner und Laura war wieder einmal schmerzlich bewusst geworden, dass sie noch immer single war. Ein Zustand, der sich im Alltagsstress verdrängen ließ. Bei Anlässen wie dem Grillabend war dies ungleich schwerer. Sie hatte ihre inzwischen vierjährige Tochter Anabel mitgenommen. Diese Entscheidung erwies sich als goldrichtig, denn so hatte Sophie, Rainer Abels Tochter, jemanden, mit dem sie spielen konnte.
Laura war nicht die Einzige, ihre Kollegin Saskia war auch alleinstehend. Allerdings gab es zwischen den beiden einen großen Unterschied: Saskia hatte ihren Freund verloren, als der vor ihren Augen brutal getötet worden war. Dass man nach einer solchen Erfahrung erst mal allein blieb, war mehr als nachvollziehbar.
Laura seufzte. Sie war nicht einsam. Als alleinerziehende Mutter eines kleinen Wirbelwindes war das schlicht unmöglich. Aber manchmal fühlte sie sich allein.
Sie stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz des Präsidiums ab und betrat das Gebäude.
Lauras und Daniels Wechsel vom LKA Hamburg zum BKA hatte für einige Unruhe im Hamburger Polizeipräsidium gesorgt. Zumal sie sich ein Büro in der alten Wirkungsstätte teilten und den alten Kollegen noch immer über den Weg liefen. Einige beneideten sie, andere missgönnten ihr den Aufstieg.
«Neid ist die höchste Form der Anerkennung», hatte Daniel gesagt, als er von den Sprüchen hörte, die über Laura die Runde machten. Tenor dieser Scheißhausparolen war, dass sich Laura nach oben geschlafen hatte und ihn, Daniel, in ihrem Windschatten mitzog.
Beiden war noch unklar, was genau ihre Aufgaben im BKA sein sollten. Um diese Frage zu klären, würden sich Laura und Daniel heute Vormittag mit Rainer Abel im Präsidium treffen.
Als Laura ihr Büro betrat, war Daniel schon da. Mit einem Lächeln quittierte sie die Tatsache, dass ein dampfender Becher Kaffee schon für sie bereitstand. Sie nahm Platz und pustete in den Becher.
«Danke.»
«Immer wieder gern», antwortete Daniel. «Aber du hättest dich nicht setzen müssen. Rainer erwartet uns bereits.»
Wenig später saßen sie in einem kleinen Besprechungsraum in der obersten Etage. Da keiner von ihnen eine überbordende Leidenschaft für Small Talk besaß, kam Rainer gleich zur Sache.
«Was mir vorschwebt, ist eine Art schnelle Eingreiftruppe.»
«Klingt toll», lautete die Antwort von Daniel. «Was ist das?»
«Fast jede Behörde im In- und Ausland hat Sondereinheiten. MEK, SEK oder GSG9 in Deutschland. WEGA und SIG in Österreich. Was all diese Einheiten gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie operativ eingesetzt werden. Sie ermitteln nicht. Dabei wäre es gerade hier vonnöten, eine schlagkräftige Gruppe zur Verfügung zu haben.»
«So wie die eingestampfte Sondereinheit 303?», wollte Laura wissen.
«Ja und nein. Aber deine eigentliche Frage lautet doch, ob dieser neuen Gruppe dasselbe Schicksal droht wie der Einheit 303.»
«Ja. Ich mag keine kurzlebigen Sachen.»
«Das kann ich verstehen. Was unter anderem zum Aus der Einheit 303 geführt hat, war, dass niemand so recht wusste, was sie eigentlich tut. Das macht manchen nervös. Ich habe diesen Effekt unterschätzt. Die schnelle Eingreiftruppe, die ich aufbauen möchte, agiert anders. Sie vereint sämtliche Fachbereiche, die für die Bekämpfung von Schwerstkriminalität zuständig sind, in einer kleinen und schnellen Truppe. Ermittlung, Forensik, Rechtsmedizin, Molekularbiologie. Alles, was nötig ist.»
«Wie groß wäre ein Team?», erkundigte sich Daniel, der sich für die Idee zu erwärmen schien.
«Je zwei Ermittler, ein Rechtsmediziner und zwei Forensiker – einer für IT, der andere mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Die übrigen Fachleute stehen auf Abruf zur Verfügung.»
«Und wie läuft das in der Praxis?»
«Wie sonst auch, nur dass jetzt alles in einer Hand ist und sämtliche Maßnahmen unverzüglich eingeleitet werden. Das ist Effizienz in Reinkultur. Keine lästigen Anfragen nach DNS-Abgleichen mehr. Keine Warteschleifen für eine rechtsmedizinische Untersuchung. Ihr habt sozusagen alles dabei.»
«Das klingt wirklich gut», sagte Laura. «Wo werden wir eingesetzt?»
«Pro Bundesland möchte ich eine schnelle Eingreiftruppe haben. Ihr bleibt in Hamburg.»
«Aber?», hakte Daniel nach.
«Aber solange nicht alle Länder besetzt sind, würde ich euch bei Bedarf auch gern woanders einsetzen.»
«Ich hätte gern den Rechtsmediziner Wolfgang Schubert in unserer Einheit», sagte Daniel.
«Und als IT-Forensiker schlage ich Dirk Held vor», fügte Laura hinzu.
Rainer lächelte zufrieden. «Das ging ja schneller als erwartet.»
«Fehlt nur noch ein Fall», sagte Daniel.
Rainers Lächeln verschwand. «Das geht oft schneller, als man denkt.»
«Oder als man möchte», sagte Laura.
Katharina Opitz saß in ihrem kleinen schmucklosen Büro im Westen Hamburgs und studierte lustlos den Inhalt der Akte, die vor ihr auf der grauen Schreibtischplatte lag. Es war einer dieser Tage, an denen sie sich fragte, warum sie vor vielen Jahren unbedingt hatte Jura studieren und Anwältin werden wollen. Ganz sicher nicht, um Akten wie diese zu lesen.
Ihr Traum war es, Anwältin für Strafrecht zu werden. Das war die Champions League. Nachbarschaftsstreitigkeiten wie in ihrem aktuellen Fall hingegen offenbarten einfach nur, wie kleingeistig Menschen sein konnten. Es fiel Katharina immer schwerer, Fälle wie diesen mit der notwendigen Ernsthaftigkeit anzugehen. Gleichwohl war ihr bewusst, dass sie diesen Fall gewissenhaft bearbeiten musste, wollte sie erfolgreich sein. Und Erfolg war die Grundvoraussetzung, um den nächsten Schritt machen zu können. Erst wenn sie sich einen Namen gemacht hatte, konnte sie darauf hoffen, große, spektakuläre Fälle vor Gericht zu verhandeln.
Katharina seufzte. Das würde noch viele Jahre und Dutzende langweilige Fälle dauern. Vielleicht würde ihr Frust irgendwann so groß werden, dass sie einfach aufgab. Die Segel strich und sich in ihr Schicksal ergab. Dann blieb sie halt Anwältin für Familien-, Vertrags- und Verkehrsrecht.
Sie schüttelte den Kopf ob ihrer düsteren Gedanken. Das war typisch für einen Montag. Vielleicht sollte sie den ersten Tag der Woche aus ihrem Kalender streichen und erst am Dienstag das Büro betreten. Wer konnte schon mit Gewissheit sagen, was eine solche Veränderung an positiven Effekten mit sich brächte? Möglicherweise sorgte diese Korrektur ihrer Arbeitsroutine für eine echte Belebung. Es war aber auch möglich, dass der Dienstag nach einer Weile zu einem zweiten Montag würde. Was sollte sie dann machen? Auf den Mittwoch zurückgreifen? Irgendwann gäbe es dann keine Wochentage mehr und sie landete auf der Straße.
Als das Telefon klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen.
Ein Blick auf das Display verriet ihr zweierlei. Erstens kannte sie die Nummer nicht. Zweitens kam der Anruf aus dem Ausland. 0034. Was war das noch mal? Spanien, oder? Ihr Vater hatte sie früher häufiger aus Mallorca angerufen. Dann folgten die Ziffern 971. Hatte sie Mandanten, die in Spanien lebten? Nein, sicher nicht. War das vielleicht einer dieser Fake-Anrufe, mit denen versucht wurde, Leute abzuzocken? Kurz dachte Katharina darüber nach, den Anruf zu ignorieren. Dann aber obsiegte ihre Neugier.
«Anwaltskanzlei Katharina Opitz, guten Tag.»
«Frau Opitz?», wollte eine männliche Stimme wissen.
«Ja.»
«Frau Katharina Opitz?»
«Wer ist denn da?»
«Spreche ich mit Frau Katharina Opitz?»
«Ja. Und mit wem spreche ich?»
«Mein Name ist Wolfram Hochleitner, Konsul der Bundesrepublik Deutschland auf den Balearen.»
Katharina war davon überzeugt, dass der Mann sich verwählt hatte. Allerdings kannte er ihren Namen und hatte penibel sichergestellt, dass sie es war, mit der er sprach.
«Was kann ich für Sie tun, Herr Hochleitner?»
«Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater verstorben ist.»
Katharina hörte sehr wohl, was der Konsul ihr mitteilte. Jedoch verstand sie die Bedeutung seiner Worte nicht. Ihr Vater war bestimmt nicht tot. Sie hatte doch erst kürzlich mit ihm telefoniert. Da war es ihm noch blendend gegangen. Und warum sollte das Konsulat der Balearen sie anrufen, wenn ihr Vater gestorben war? Er war deutscher Staatsbürger und lebte, so wie Katharina auch, in Hamburg.
«Das muss ein Irrtum sein. Mein Vater lebt in Hamburg», klärte sie den Konsul auf.
«Das mag zutreffen. Aber er war die letzten Wochen auf Mallorca. Und hier hatte er auch leider den tödlichen Autounfall. Bei seinen persönlichen Unterlagen fand die Polizei einen Kalender, in dem Sie als Notfallkontakt aufgeführt werden.»
Das konnte sogar stimmen. Ihre Mutter war vor vielen Jahren an Krebs gestorben. Katharina und ihre Schwester Mia waren die einzigen Angehörigen, die es noch gab. Und Katharina hatte, anders als ihre Schwester, recht engen Kontakt zu ihrem Vater gehabt. Also wäre es nur folgerichtig, dass ihr Vater sie als Notfallkontakt angegeben hatte.
Ganz langsam machte sich Gewissheit bei ihr breit.
Papa ist tot.
Katharina schüttelte benommen den Kopf. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte. Da hatte er sie und Mia zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen. Und sie hatten sich gestritten. Was war noch mal Auslöser für den Streit gewesen? Er hatte sich sonderbar verhalten. Normalerweise war ihr Vater ein geselliger Mensch. Aber an dem Abend war er mürrisch, fast schon zornig gewesen. Mia hatte versucht, ihn aufzuheitern. Und als das nicht gelang, hatte Katharina von ihm wissen wollen, was los war. Er wollte nicht darüber sprechen, also hatte sie damit begonnen, ihm Fragen zu stellen. Darauf hatte er abweisend reagiert. Schließlich war es laut geworden, und sie hatte wütend das Elternhaus verlassen. Das Telefonat von vor ein paar Tagen war der erste Kontakt seit dem Streit gewesen. Beide hatten den misslungenen Abend mit keinem Wort erwähnt.
«Hallo? Frau Opitz, sind Sie noch dran?»
«Was?»
«Ich fragte, ob Sie noch …»
«Ja. Ich bin hier.»
«Wir müssen leider über Organisatorisches sprechen.»
«Was genau?»
«Möchten Sie, dass Ihr Vater auf Mallorca bestattet wird, oder soll er in Deutschland beerdigt werden?»
Darüber musste Katharina nicht lange nachdenken. «Ich möchte, dass er hier bestattet wird.»
«Ich verstehe. Dann erlauben Sie mir einen Vorschlag. Ich werde hier vor Ort alles Notwendige für Sie erledigen. Dazu gehört ein Bestatter, der sich um den Rücktransport nach Deutschland kümmert. Sind Sie einverstanden?»
«Ja.»
«Ich komme nicht umhin, Sie auf die Kosten aufmerksam zu machen, die dieser Prozess nach sich ziehen wird. Der Leichnam Ihres Vaters muss in einem speziellen Sarg überführt werden. Er wird dann …»
«Es ist mir egal, was das kostet. Sorgen Sie bitte dafür, dass mein Vater nach Hause kommt, okay?»
«Ja. Selbstverständlich.»
«Wie lange wird das dauern?»
«Ich gehe davon aus, dass er in den nächsten drei bis vier Tagen in Deutschland sein wird. Den genauen Termin werde ich bis spätestens morgen Nachmittag in Erfahrung gebracht haben. Ich melde mich dann unverzüglich bei Ihnen.»
«Danke.»
Sie beendeten das Gespräch. Katharina stand langsam auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. Es war Mai. Der Himmel war bewölkt, und es war Regen angesagt, aber es war schon angenehm warm. In knapp sieben Wochen hatte Katharina Geburtstag. Bei dem Gedanken daran, dass dies ihr erster Geburtstag ohne ihren Vater werden würde, kamen ihr die Tränen. Sie putzte sich die Nase und atmete mehrmals tief ein und aus.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Du hast jetzt eine Menge zu erledigen. Vor allem musste sie ihrer kleinen Schwester erklären, dass ihr Vater nicht mehr lebte.
Celina war am Boden zerstört. Vor sechs Wochen hatte Marvin mit ihr Schluss gemacht. Einfach so, von heute auf morgen. Hatte irgendwas von Freiheit gefaselt und war gegangen. Und nun hatte Celina erfahren, dass er mit Corinna zusammen war. Ausgerechnet mit der! Die schminkte sich wie eine Nutte und zog sich auch so an. Hatte Marvin deshalb mit ihr Schluss gemacht? Weil Celina die falschen Klamotten trug? Warum hatte er nichts gesagt? Immerhin waren sie doch fast vier Monate zusammen gewesen. So lange war sie noch mit keinem Jungen gegangen.
Celina betrachtete mit flauem Gefühl die digitale Waage, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Sie wusste, dass sie in den vergangenen Wochen zugenommen hatte. Sie wollte gar nicht wissen, wie viel. Frustfressen nannte ihre Mutter das, was Celina tat. Vielen Dank auch, Mama. Echt hilfreich. Wäre aber toller, wenn du mir mal zuhören würdest. Celina beneidete Freundinnen, die erzählten, dass ihre Mütter auch richtige Freundinnen seien. Davon konnte sie nur träumen.
Sie stellte sich auf die Waage und schloss ihre Augen. Ich schätze einfach, dachte sie und musste kichern. Dann öffnete sie doch langsam ihre Augen und blickte auf die Anzeige.
Scheiße!
Das Teil muss kaputt sein. Kann doch nicht sein, dass ich in den letzten sechs Wochen acht Kilo zugenommen habe. Sie stieg von der Waage, schaltete sie aus, um sie gleich wieder anzuschalten und sich erneut draufzustellen. Mit demselben Ergebnis.
Verdammt!
Celina hatte schon leichtes Übergewicht gehabt, als sie mit Marvin zusammen gewesen war. Das hatte ihn aber nicht gestört. Jedenfalls hatte er nichts gesagt. Wenn Celina genauer darüber nachdachte, dann hatte er schon ein paarmal komisch geguckt, als sie beim gemeinsamen Fernsehen eine ganze Tüte Chips allein aufgegessen hatte.
Plötzlich erstarrte sie.
Hatte sie auf der Stirn etwa einen Pickel?
Sie beugte sich vor und jetzt war ihr Gesicht dem Spiegel ganz nahe. Und tatsächlich, auf ihrer Stirn prangte ein ekelhafter Pickel. Sonst war sie immer stolz gewesen auf ihre reine Haut, während die von anderen Mädchen in ihrem Alter nur so vor Abszessen strotzte. Celina hatte das Gefühl, dass sich nun alles und jeder gegen sie verschworen hatte. Sie überlegte, wie sie ihren Eltern beibringen sollte, dass sie heute auf keinen Fall zum Tanzunterricht gehen konnte. Das war echt schwer, weil die beiden total streng waren, was das betraf. Unerbittlich. Und dabei brachte ihr das überhaupt keinen Spaß. Ihre Eltern waren Tänzer aus Leidenschaft und gingen wohl automatisch davon aus, dass Celina genauso tickte. Aber das war Bullshit!
Mit schlurfenden Schritten begab sich Celina in die Küche. «Mama, mir ist schlecht.»
«Dann iss etwas, damit du was im Magen hast», schlug ihre Mutter abwesend vor.
«Hallo? Mir ist schlecht. Wie soll ich da was essen?»
«Rede nicht so mit deiner Mutter», machte ihr Vater sie an.
«Sorry. Aber mir gehts echt nicht gut», jammerte Celina.
«Hast du Fieber?», wollte ihr Vater wissen.
Die Frage. War ja klar. Celina könnte sich die Gedärme auskotzen, aber solange sie kein Fieber hatte, konnte sie auch zur Schule oder zum Tanzunterricht gehen.
Was war das für eine beschissene Einstellung?
«Weiß nicht …»
«Komm mal her», sagte ihr Vater streng.
Widerwillig schlich sie zu ihm. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn, während er weiter in seiner Zeitung las.
«Kein Fieber», lautete seine Diagnose. «Nicht mal erhöhte Temperatur.»
«Dann zieh dich um und ab zur Tanzschule», sagte ihre Mutter.
Super. Ganz tolle Wurst.
«Euch ist es doch scheißegal, wie es mir geht», schrie Celina und lief aus der Küche.
«Nicht in diesem Ton», rief ihr Vater ihr hinterher.
Sie kamen nicht einmal auf die Idee, dass Celina auf keinen Fall zum Tanzen wollte, weil Corinna auch da sein würde. Sie wussten, dass Marvin jetzt mit ihr zusammen war. Aber es schien sie überhaupt nicht zu interessieren.
Mit flauem Gefühl im Magen klingelte Katharina an der Tür zur Wohnung ihrer Schwester. Noch niemals zuvor war sie die Überbringerin einer Todesnachricht gewesen, und sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Mia war ein sehr emotionaler Mensch, und Katharina hatte Angst, dass sie zusammenbrechen könnte. Was sollte sie tun, wenn es dazu kam? Wen rief man an? Den Notarzt? Als der Türsummer erklang, atmete Katharina tief durch. Sie lief durch das Treppenhaus und erreichte nach wenigen Augenblicken die Wohnung ihrer Schwester.
Die stand schon an der Tür und grinste. «Hey, was für eine Überraschung.»
Als Katharina das Grinsen nicht erwiderte, flackerte Unsicherheit im Gesicht von Mia auf.
«Was ist los?», wollte sie wissen.
«Lass uns bitte reingehen», bat Katharina.
Wenig später saßen sie sich im Wohnzimmer gegenüber. Als Katharina ihren Fehler bemerkte, stand sie auf und setzte sich neben ihrer Schwester auf das Sofa.
«Du machst mir Angst», sagte Mia leise.
«Papa hatte einen Unfall», begann Katharina.
Sofort ergriff Mia ihre Hände und drückte sie. «Ist es schlimm? Ich meine, ist er schwer verletzt?»
Katharina sah Mia an. «Er ist tot, Mia. Papa ist tot.»
Mia blickte sie aus großen Augen an. «Was? Ich verstehe nicht …»
«Ich erhielt heute einen Anruf aus Mallorca. Papa hatte auf der Insel einen Autounfall», erklärte Katharina leise. «Einen tödlichen Unfall.»
Mia schüttelte den Kopf. «Das ist doch nicht möglich …»
Dann kamen die Tränen. Katharina nahm ihre Schwester in den Arm. Auch sie konnte ihre Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten.
Nachdem sich Mia gefangen hatte, erzählte Katharina ihr, was sie mit dem Konsul besprochen hatte. Schließlich sagte Mia, sie sei müde. Katharina bot ihr an, zu bleiben, aber sie schüttelte den Kopf. «Du musst nicht hier übernachten. Es geht mir gut, wirklich.»
Bevor sie die Wohnung ihrer Schwester verließ, musste die ihr versprechen, sie anzurufen, wenn etwas nicht in Ordnung war. Dann ging Katharina.
Sie war viel zu aufgewühlt, um schon nach Hause zu fahren. Deshalb entschied sie sich, einen Blick in die Kanzlei ihres Vaters zu werfen. Der Zweitschlüssel zu seinem Büro hing seit Jahren an ihrem Schlüsselbund. Auf der Fahrt zur Kanzlei musste sie an das Gespräch mit ihrer Schwester denken. Mias Frage, ob sie die Kanzlei ihres Vaters übernehmen wolle, war für Katharina völlig überraschend gekommen, hatte sie sich mit diesem Gedanken doch überhaupt noch nicht beschäftigt. Dabei war es im Grunde naheliegend.
Die Büroräume ihres Vaters befanden sich in einem um die Jahrtausendwende erbauten Bürogebäude am Glockengießer Wall. Katharina stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz ihres Vaters ab und öffnete die Eingangstür. Sie war zuletzt vor etwa einem halben Jahr hier gewesen. Wie immer war sie beeindruckt von dem ganz aus Marmor errichteten Treppenhaus. Sie schritt die Holztreppe hinauf in den zweiten Stock und schloss die Tür auf. Kaum stand sie im Flur der Kanzlei, empfing sie der schwache Duft von Pfeifentabak. Vanille, seine bevorzugte Marke.
Sie schaltete das Licht an und ging direkt in das Büro ihres Vaters. Obwohl er ein eher konservativer Mensch gewesen war, zeigte die Einrichtung, dass er auch modern sein konnte. Das komplette Büro war von USM Haller eingerichtet worden. Hip und zeitlos waren die Begriffe, die ihr einfielen, als sie die schlichte Eleganz der Möbel bewunderte. Katharina setzte sich an den Schreibtisch und atmete tief durch.
War das ihr neuer Arbeitsplatz?
Würde sie hier ihren Traum verwirklichen?
Sie hörte in sich hinein und merkte, dass es sich gut anfühlte, hier zu sitzen. Urplötzlich überkam sie die Trauer. Sie würde ihren Vater nie wiedersehen. Niemals wieder seine Stimme hören. Diesen tiefen Bariton, der einem durch Mark und Bein gehen konnte.
Niemals wieder würde sie in seine klugen braunen Augen schauen, die so sanft dreinblicken konnten. Ihr Vater war stets wie ein Fels in der Brandung gewesen. Immer für sie und ihre Schwester da. Auf ihn hatten sie sich verlassen können. Katharina konnte nicht glauben, dass er für immer fortgegangen war.
Seit sie denken konnte, war sie ein Mensch gewesen, der seine Emotionen stets im Griff hatte. Als Kind Klassenbeste, später eine Vorzeigestudentin, hatte sie sich immer über Leistung definiert. Das hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Jetzt, hier, allein in seinem Büro, ließ sie die Trauer zu. Sie überrannte Katharina und raubte ihr den Atem. Keuchend beugte sie sich vor, dann wurde sie von einem heftigen Weinkrampf gepackt. Sie sank zu Boden, rollte sich zusammen und überließ sich ihrem Schmerz.
Nachdem sich Katharina wieder gefangen hatte, entschied sie, die Unterlagen ihres Vaters durchzusehen. Immerhin war es möglich, dass aktuelle Fälle darauf warteten, weiterbearbeitet zu werden. Zwei Stunden später wusste Katharina, dass sie keinen laufenden Fall übernehmen musste. Das beruhigte sie zwar, aber es wunderte sie auch.
Neugierig geworden nahm sich Katharina die Bankunterlagen der Kanzlei. Das Guthaben auf den Konten verschlug ihr den Atem. Sie suchte einen Taschenrechner und als sie keinen fand, benutzte sie den auf ihrem Smartphone. Ihr Vater hatte vier Konten bei unterschiedlichen Banken gehabt. Auf jedem war ein enormes Guthaben. Katharinas Hände zitterten, als sie die Summen zusammenzählte. Fast vier Millionen Euro. Woher hatte er so viel Geld?
Sie widmete sich nun älteren Fällen. Eine besonders dicke Akte erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie sich in den Inhalt vertiefte und einen bestimmten Namen las, stutzte sie. Irgendwie kam er ihr bekannt vor.
Kurzerhand googelte sie den Namen und als sie das Ergebnis sah, war sie wie gelähmt. Omar Al Ashqar war das Oberhaupt eines berüchtigten kriminellen Clans und offenbar ein Mandant ihres Vaters gewesen.
Sie schüttelte benommen den Kopf. Das konnte nur ein Irrtum sein. Wahrscheinlich gab es diese Akte, weil ihr Vater die Anklage gegen Al Ashqar vertreten hatte.
Sie suchte weiter, fand aber nichts, was darauf hindeutete, dass ihr Vater nicht der Anwalt dieses Verbrechers gewesen war. Im Gegenteil, sie stieß auf Unterlagen, aus denen hervorging, dass er auch die Söhne des Clanchefs vor Gericht vertreten hatte.
Katharina spürte, wie sie immer wütender wurde. Natürlich galt das Prinzip, dass jemand so lange als unschuldig angesehen wurde, bis seine Schuld zweifelsfrei bewiesen war. Und selbstverständlich hatte jeder Bürger das Recht auf einen guten Anwalt. Das stand außer Frage. Nur war es auch so, dass ein Anwalt sich seine Mandanten durchaus selbst aussuchen konnte. Und dass sich Omar Al Ashqar keinen juristischen Beistand leisten konnte und auf einen Pflichtverteidiger zurückgreifen musste, daran glaubte sie nicht eine Sekunde.
Nein. Ihr Vater hatte im vollen Wissen um die kriminellen Aktivitäten des Clans das Mandat übernommen. Anders konnte es gar nicht sein. So erklärte sich auch das enorme Vermögen auf seinen Konten. Herrgott noch mal, bei den Millionen handelte es sich bestimmt um Blutgeld! Viel wusste Katharina zwar nicht über kriminelle Clans, aber dass die geradezu in schmutzigem Geld schwammen, war allseits bekannt. Prostitution, Schutzgelderpressung, Raubüberfälle, Menschenhandel, Drogen. Das Repertoire dieser Typen kannte keine Grenzen.
Rasend vor Wut suchte Katharina weiter und verwüstete dabei das Büro. Aber anstatt, dass es besser wurde, dass sie eine Erklärung für all das fand, wurde es schlimmer.
Ihr Vater hatte nicht nur arabischen Clans juristischen Beistand geboten, nein, er war auch der Anwalt von Fjodor Semjonow gewesen. Und diesen Namen musste sie nicht erst googeln.
Semjonow war der Kopf einer Organisation der Russenmafia.
Als Katharinas Blick auf das Foto ihres Vaters auf einer Anrichte fiel, das ihn mit dem damaligen Bürgermeister der Stadt Hamburg zeigte, rastete sie aus. Sie griff nach einer Vase und schleuderte sie gegen die Anrichte. Natürlich verfehlte sie ihr Ziel.
Anstelle der Fotografie erwischte es ein großes Bild, das darüber an der Wand hing. Das Glas im Rahmen zersprang und das Bild fiel auf den Boden.
Dahinter kam ein Tresor zum Vorschein.
Langsam ging Katharina darauf zu. Sie sah den Tresor an. Ihr schoss nur eine Frage durch den Kopf.
Und welche dunklen Geheimnisse verbergen sich da drinnen?
Sie betrachtete den Tresor genauer. Er war etwa so groß wie zwei Schuhkartons. Auf der rechten Seite gab es ein Tastenfeld. Also musste ein Code eingegeben werden. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Versuche ihr zur Verfügung standen. Auch wusste sie nicht, was geschehen würde, wenn sie den Code mehrmals falsch eingeben sollte.
Als Erstes versuchte sie es mit dem Geburtsdatum ihrer Mutter. Monat und Jahr. Vier Ziffern. Der Tresor ging auf und Katharina unterdrückte ein Lachen. Wenn doch alles so einfach wäre.
Sie sah sich den Inhalt genauer an. Ziemlich viel Bargeld, ein paar dünne Ordner und ein einzelner USB-Stick befanden sich im Inneren. Katharina ignorierte das Geld und entnahm dem Tresor die Akten sowie den Stick. Damit bewaffnet begab sie sich zum Schreibtisch und setzte sich. Sie startete den Computer und öffnete in der Zwischenzeit den ersten Ordner. Darin lag ein einzelnes Schriftstück. Es handelte sich um eine Vereinbarung. Zwischen der Kanzlei ihres Vaters und Fjodor Semjonow. Daraus ging hervor, dass ihr Vater den Russen in sämtlichen juristischen Auseinandersetzungen beraten und vor Gericht vertreten würde.
Dafür erhielt ihr Vater eine monatliche Pauschale in Höhe von einhunderttausend Euro.
Katharina schüttelte angewidert den Kopf.
Der Computer war endlich bereit. Katharina steckte den USB-Stick in die entsprechende Öffnung und wartete. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich das Menü des Sticks. Darin befanden sich keine Dokumente, sondern zwei Videos. Sie doppelklickte auf das erste und blickte gespannt auf den Monitor.
Was sie sah, verblüffte sie.
Eine Aufnahme des Kölner Doms. Unverkennbar nachts gemacht worden. Der Zoom der Kamera wurde aktiviert und schnell zeichneten sich mehr Details ab. Katharina glaubte zuerst, sich versehen zu haben. Klebte da etwa eine Person an der Fassade des Doms?
Als hätte der Kameramann ihre unausgesprochene Frage gehört, zoomte er noch weiter heran. Tatsächlich, da war eine Person. Gebannt verfolgte Katharina das Geschehen. Jetzt war die Person in Großaufnahme zu sehen. Es handelte sich um ein junges Mädchen, das, nur mit einem Nachthemd bekleidet, offensichtlich völlig verängstigt an der Fassade des Doms hing. Warum bewahrte ihr Vater ein solches Video in seinem Tresor auf?