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Der packende Thriller, der die Zukunft der Verbrechensbekämpfung hinterfragt In einer Welt, in der Technologie die Oberhand gewinnt, präsentiert "Redemptio: Sie wissen alles" eine erschreckend realistische Vision der nächsten Generation der Verbrechensbekämpfung. Dieser fesselnde Thriller entführt dich in die Tiefen einer revolutionären Software namens Redemptio, die verspricht, die Art und Weise, wie Gesetzesvollzug funktioniert, für immer zu verändern. Entwickelt von den brillantesten Köpfen der Technologiebranche, ist Redemptio kein gewöhnliches Programm. Es ist ein Algorithmus, der die Zukunft vorhersagen kann – speziell, wann und wo das nächste Verbrechen geschehen wird. Aber was passiert, wenn die Technologie, die uns schützen soll, zur ultimativen Waffe gegen unsere Freiheit wird? Wie viel unserer Freiheit sind wir bereit zu opfern? Die junge, ambitionierte Polizeibeamtin Anabel Plate stolpert über die dunklen Geheimnisse, die sich hinter Redemptios glänzender Fassade verbergen. Was sie entdeckt, ist erschütternd: Redemptio zielt auf die totale Kontrolle ab – eine Überwachung, die jeden Aspekt des menschlichen Lebens durchdringt. Mit jedem Klick, jedem Schritt, den wir machen, lernen sie uns besser kennen, als wir uns selbst kennen. Entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, nimmt Anabel den Kampf gegen ein scheinbar unbesiegbares Netzwerk aus Mensch und Maschine auf. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, denn Redemptio entgleitet der Kontrolle seiner Schöpfer. Eine Technik, die bereits in unserer Realität existiert "Redemptio" ist nicht nur ein Thriller über Technologie und Verbrechensbekämpfung. Es ist eine Warnung, ein Aufruf zum Nachdenken über die Folgen unserer Abhängigkeit von Technologie und die Risiken, die mit dem Streben nach ultimativer Sicherheit verbunden sind. Tauche ein und begleite Anabel Plate auf ihrer gefährlichen Mission, die Schatten der totalen Kontrolle zu durchbrechen. Dieser Thriller wird dich bis zur letzten Seite fesseln und noch lange nach dem Zuklappen des Buches zum Nachdenken anregen. Bist du bereit, die Augen zu öffnen?
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Seitenzahl: 450
Für Claudia Wuttke
Danke für alles
Prolog
A7 Richtung Hamburg
In wenigen Augenblicken würde das Leben von Marek Svoboda in einem Knäuel aus verbogenem Metall und brennendem Gummi enden. Aber das ahnte der Mittvierziger nicht, als er seinen zwanzig Tonnen schweren LKW über die A7 in Richtung Norden lenkte. Der Tscheche fuhr seit zwanzig Jahren LKW und er liebte seinen Job. Besonders stolz war er auf die Tatsache, noch nie einen Unfall verursacht zu haben. Deshalb hatte sein Chef ihm vor einigen Wochen auch als erstem einen der nagelneuen Modelle anvertraut. Ausgestattet mit neuester Technik war dieser LKW ein wahres Prachtstück. Als Belohnung für seine gute Arbeit hatte Marek sogar eine moderne Soundanlage bekommen. Zuerst hatte ihm der technisch ausgefeilte Bordcomputer Schwierigkeiten bereitet. Aber Marek war nicht dumm. Er lernte schnell. Daher dauerte es nicht lange, bis er ohne Schwierigkeiten die Technik beherrschte. Vor ihm, am Rand der Fahrbahn, tauchten die ersten Warnhinweise auf.
Marek kannte die Baustelle, die nun kommen würde gut. Immerhin gab es sie schon seit einigen Monaten und er fuhr die Strecke dreimal die Woche. Von Prag nach Frankfurt und anschließend nach Hamburg.
Das war seine Tour.
Marek verringerte die Geschwindigkeit auf achtzig Stunden-Kilometer und warf einen schnellen Blick in den Seitenspiegel. Alles war in Ordnung. Die Autobahn wurde nun zweispurig, da der linke Fahrstreifen gesperrt war. Das galt für beide Richtungen und würde auch noch wochenlang so bleiben.
Die beiden Fahrspuren Richtung Norden wurden von einer halbhohen Leitschwelle von den Gegenfahrbahnen getrennt. Die erlaubte Geschwindigkeit betrug nur noch sechzig km/h. Vor ihm fuhr eine größere Limousine. Wahrscheinlich ein BMW. Die linke Spur war frei.
Der Gegenverkehr war jetzt um diese Uhrzeit, es war mittags, auch nicht sehr stark.
Dann geschah es.
Der BMW vor ihm geriet plötzlich ins Schlingern und bremste stark ab. Marek erschrak und trat ebenfalls auf die Bremse, aber nichts geschah. Er wurde nicht langsamer. Jetzt blieb der BMW einfach stehen. Marek konnte es nicht fassen, schaltete zwei Gänge runter und versuchte auf diese Weise, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Aber es geschah das Gegenteil; er wurde schneller.
Was war hier los? Das konnte doch gar nicht sein …
Plötzlich, ohne dass er irgendetwas getan hatte, wechselte sein LKW auf die linke Spur. Marek erkannte, dass er keine Kontrolle mehr über das zwanzig Tonnen schwere Fahrzeug hatte. Mittlerweile fuhr er auf dem linken Fahrstreifen über neunzig Stundenkilometer schnell und er beschleunigte immer weiter. Verblüfft stellte er fest, dass der BMW wieder Fahrt aufgenommen hatte, auf der rechten Spur neben ihm fuhr und ihn somit daran hinderte, wieder auf den rechten Fahrstreifen zu wechseln.
Was dann geschah, nahm Marek wie in Zeitlupe wahr: Urplötzlich wurde das Lenkrad wie von einer unsichtbaren Kraft nach links gerissen. Vor ihm, auf der Gegenfahrbahn, kam ein alter VW-Käfer immer näher. Mareks LKW durchbrach die Fahrbahnbegrenzung und zwanzig Tonnen Stahl rasten mit über neunzig Kilometer pro Stunde frontal in den Golf. Das letzte, was er sah, bevor sein LKW den Golf mit furchtbarer Gewalt zermalmte, war das Gesicht des Fahrers, der ihn mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen ansah.
E R S T E R T E I L
Kapitel 1
Berlin, 16 Monate zuvor
Der Mann trug einen siebentausend Euro teuren Anzug mit feinen Nadelstreifen, ein blütenweißes Hemd mit Manschettenknöpfen aus Platin, eine Armbanduhr von Breguet für einhundertvierzigtausend Euro und Schuhe für zweitausend Euro. Pro Stück. Er strahlte pure Macht und immensen Reichtum aus. Sein Gesicht war markant und leicht gebräunt. Der Drei-Tage Bart mutete an wie der Versuch, dem lebenden Klischee ein klein wenig zu widersprechen. Henry Lasker war genau das, was er zu sein schien: Ein ultrareicher Investor. Er besaß einen untrüglichen Instinkt für lukrative Geschäfte. Seine Ausfallquote ging in Richtung null. Was bedeutete, dass er sich quasi niemals irrte. Und das machte ihn zu einer lebenden Legende. Die Wohlhabenden des Kontinents rannten ihm die Türen ein, um ihr Geld loszuwerden. Je mehr, desto besser. Normalerweise verhandelte er mit Vorstandsvorsitzenden global agierender Konzerne. Heute war das anders.
Hartmut Seitz, ein Geschäftspartner Laskers, hatte ihn auf drei junge Entwickler aufmerksam gemacht. Deren neuestes Projekt könnte bei entsprechender Unterstützung seines Fonds bahnbrechende Auswirkungen auf die zukünftige Verbrechensbekämpfung haben. Laskers Interesse war geweckt. Wusste er doch, dass gerade Bundesministerien äußerst lukrative Kunden waren. Bei einem Projekt, das gute Schlagzeilen bedeutete, spielte Geld eine untergeordnete Rolle. Zumal es sich ja nur um Steuergelder handelte. Deshalb hatte er sich bereit erklärt, mit den drei Softwareentwicklern zu reden.
Ohne zu wissen, was da auf ihn zukommen würde.
„Man verdirbt einen Menschen am sichersten, wenn man ihn dazu zwingt, den Gleichdenkenden höher zu achten, als den Andersdenkenden.“
„Oh bitte, nicht schon wieder …“
„Wer hat das gesagt, deine Mutter?“
„Nein, das war Nietzsche, du Prolet.“
Alle drei brüllten vor Lachen.
Lasker kam sich vor, wie in einem Irrenhaus.
Dabei waren es diese drei Chaoten, die sein Vermögen und das seiner Kunden um hunderte von Millionen Euro vermehren sollten. Er hatte da so seine Zweifel. Nicht nur, weil keiner von ihnen älter als Mitte zwanzig zu sein schien, sie sich jedoch verhielten wie Dreizehnjährige im Drogenrausch. Auch ließ ihre Art der Kommunikation einiges an Zweifel zu. Das einzig Gute war, dass sie ihn nicht mit Argwohn betrachteten, obwohl sie wussten, dass er ein Kapitalist war und somit all das verkörperte, was sie in ihrer naiven Wesensart ablehnten. Sie waren zu dritt, alle männlich, und laut Seitz gehörten sie zu den besten Softwareentwicklern des Landes. Wobei das Entwickeln von Software nur einen Teilbereich ihrer Tätigkeit beschrieb. Sie waren auch ausgezeichnete Hacker.
Einer von ihnen, Lasker meinte sich zu erinnern, dass er Markus hieß, wandte sich an ihn. „Du verstehst kein Wort von dem, was wir versuchen dir zu erklären, oder?“
„Das ist richtig. Ich habe bis dato keine Ahnung, was genau euer neuestes Baby kann“, gestand Lasker. „Ich weiß nur, dass es möglicherweise … nützlich sein könnte.“
Sofort entstand wieder eine hitzige Diskussion unter den dreien, die Lasker still über sich ergehen ließ. Seit einer Stunde war er nun hier in diesem Loft im Berliner Stadtteil Kreuzberg, das zu einer Art Hightech Labor umgebaut worden war.
Als er angekommen war und sie ihn hineingebeten hatten, war er sich noch sicher gewesen, dass seine Entscheidung, zu diesem Treffen alleine zu kommen, richtig war. Seitz hatte ihm geraten, einen Spezialisten mitzunehmen. Lasker hingegen war davon überzeugt gewesen, mit drei halbwüchsigen Nerds alleine zurechtzukommen. Sie hatten sofort damit begonnen, die Vorzüge ihres Programmes zu erläutern. Dabei verwendeten sie unentwegt Fachbegriffe, was dazu führte, dass Lasker nach wenigen Minuten der Schädel dröhnte.
Als die drei spürten, dass er nichts von dem kapierte, was sie ihm sagten, war ein hitziges Wortgefecht zwischen ihnen entbrannt, dass mit dem Zitat von Nietzsche ihren Höhepunkt erreicht hatte.
„Also, im Grunde ist es so, dass unsere Software in der Lage ist, Verbrechen vorherzusagen“, erklärte ein anderer. Er hieß Torben. „Sie kann sogar sagen, von wem die Tat begangen wird und wo.“
„Wie ist das möglich?“, wollte Lasker wissen.
Die drei wechselten einen Blick und grinsten ihn dann frech an.
„Nehmen wir einen x-beliebigen Stadtteil Berlins. Sagen wir Köpenick. Wir füttern das Programm mit allen uns bekannten Straftätern. Daraufhin verknüpft die Software die Namen der Straftäter mit sämtlichen Bekannten dieser Männer“, erklärte der dritte im Bunde. Sein Name war Sören. „Alle verfügbaren Infos werden eingegeben. In welcher Nachbarschaft wohnt eine Person? Mit wem wurde sie verhaftet? Wurden diese Personen später selbst Opfer von Gewaltverbrechen? Mit diesen Rohdaten füttern wir unsere Datenbank.“
Torben nickte heftig. „Inklusive Adresse, Sozialversicherungsnummer, Vorstrafenregister, Telefon-Kontakten, Facebook-Freunden und Familienangehörigen.“
Sören übernahm wieder. „Unser Programm ist ganz krasse Scheiße, Mann. Die Routine-Activity-Theorie entstammt ursprünglich einem Algorithmus aus der Seismographie.“
Torben lächelte stolz. „Die Idee basiert auf geographischen Eigenschaften eines Ortes. Es wird angenommen, dass manche Gegenden einer Stadt aus bestimmten Gründen mehr zu Kriminalität neigen als andere. Wenn es einen Anstieg von Straftaten in einer Gegend gibt, dann könnte das zu noch mehr Verbrechen führen. So wie ein Erdbeben auch Nachbeben auslösen kann. Das ist kontrovers, denn die identifizierten Menschen scheinen manchmal einfach nicht auf diese Liste zu gehören. Menschen, die scheinbar völlig unschuldig sind, aber möglicherweise Opfer von Gewalt werden könnten. Soziale Netzwerke spielen bei diesem vorausschauenden System eine große Rolle.“
Lasker war skeptisch. „Seht es mir nach, aber das ist doch nichts Neues. Ich meine, in den USA läuft etwas Vergleichbares doch schon seit Jahren.“
Die drei grinsten bis über beide Ohren.
„Da haben Sie verdammt recht“, bestätigte Torben mit verblüffender Ehrlichkeit. „Aber die Amis haben das wahre Potential nicht erkannt.“
„Und das heißt …?“, wollte Lasker wissen.
„Das heißt“, erläuterte Markus, „Redemptio geht weiter. Viel weiter …“
Die drei wirkten plötzlich seltsam verschlossen. Sie wechselten unsichere Blicke.
Lasker seufzte. „Ich bin hier, um Geschäfte zu machen. Also erklärt mir, ob ich hier welche machen kann.“
Das taten sie schließlich.
Lasker lauschte den drei Entwicklern. Er konnte kaum glauben, was sie ihm da mit erstaunlicher Sachlichkeit und Struktur mitteilten. Mit jeder Sekunde wuchs seine Faszination und Unruhe. Stück für Stück wurde ihm klar, warum Seitz ihm empfohlen hatte, mit den drei Entwicklern zu reden. Das, was sie erschaffen hatten, war in der Tat bahnbrechend.
Er sah die drei forschend an. „Und es funktioniert?“
„Aber sowas von“, sagte Torben.
Lasker lächelte. „Und warum bin ich dann hier? Ich meine, eure Software funktioniert, scheint also fertig zu sein. Ich investiere in Unternehmen, die erfolgversprechende Perspektiven haben, aber ohne finanzielle Unterstützung ihr Produkt entweder nicht fertigstellen, oder aber nicht vermarkten können. Wenn das Projekt hält, was es verspricht, dann trifft auf euch weder das eine noch das andere zu.“
Die drei jungen Männer wechselten verunsicherte Blicke. Schließlich schienen sie zu einer stillen Übereinkunft zu kommen.
Torben wandte sich an Lasker. „Wir haben versucht, bei der Organisation einen Termin zu bekommen, die als einzige Interesse daran haben könnte. Aber wir sind abgeblitzt. Ich glaube, wir sind nicht einmal über die Poststelle hinausgekommen.“
Lasker runzelte die Stirn. „Ihr redet vom Bundesinnenministerium?“
Alle drei bestätigten die Annahme Laskers, als sie synchron nickten.
„Deshalb“, fuhr Torben fort, „haben wir Kontakt zu Ihrem Unternehmen aufgenommen. Sie finanzieren Start-ups und darüber hinaus kennen Sie die Innenministerin persönlich.“
Lasker gefiel, was er hörte. Die drei waren nicht dumm. Sie hatten zwar einen strategischen Fehler gemacht, als sie eine Bundesbehörde kontaktierten, ohne die nötigen Verbindungen zu haben, aber sie hatten daraus auch die richtigen Schlüsse gezogen.
Lasker lächelte breit. „Wie weit seid Ihr bereit zu gehen, um mit der Bundesregierung einen Milliardendeal zu machen?“
Kapitel 2
Berlin
Wie sich herausstellte, waren Torben, Sören und Markus zu allem bereit, um mit der Bundesregierung ins Geschäft zu kommen. Lasker gründete eine Firma, stellte den drei Entwicklern für die Weiterentwicklung ein Startkapital von fünfzig Millionen Euro zur Verfügung und erhielt im Gegenzug einundfünfzig Prozent des gegründeten Unternehmens. Anfangs hatten die drei versucht, ihn auf neunundvierzig Prozent herunterzuhandeln, aber Lasker machte deutlich, dass sie nur wegen seiner Kontakte in höchste Regierungskreise eine Chance hätten, Redemptio bundesweit einzusetzen. Und nur dann würden die Millionen fließen.
„Meine Herren, wir reden hier von mindestens einer Milliarde Euro Gewinn. Das sind einhundertdreiundsechzig Millionen Euro für jeden von euch. Noch Fragen?“
Hatten sie nicht. Alles andere hätte Lasker auch gewundert.
Er war seit Jahrzenten im Investment-Geschäft. Hatte Höhen und Tiefen erlebt. Aber eines war immer konstant geblieben: Die Gier der Menschen nach Geld. Je mehr sie hatten, desto größer war die Gier nach noch mehr. Er kannte sehr viele Menschen, die nicht einmal in der Lage waren, die jährlichen Zinsen ihres Vermögens auszugeben. Ein paar waren dabei, die es fast in den Wahnsinn trieb, dies nicht zu schaffen. Das Geld wurde immer mehr, anstatt dass es auch mal weniger wurde. Lasker tickte da vollkommen anders. Ihm ging es nicht ums Geld. Was er wollte, war Macht.
Die war unbezahlbar.
Lasker war fünfundfünfzig Jahr alt, sah aber zehn Jahre jünger aus. Als Jugendlicher hatte er Leistungssport getrieben und davon zehrte er noch heute.
Er war zweimal geschieden und mit jeder Frau hatte er einen Sohn gezeugt. Kontakt zu ihnen hatte er allerdings nicht. Lasker setzte andere Prioritäten.
Er war als jüngstes von sieben Kinder in wohlbehüteten Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater besaß in dritter Generation eine Privatbank, die ausschließlich mit Unternehmen Geschäfte machte. Da bei Privatbanken das Ausfallrisiko ihres Kreditportfolios ungleich höher war als bei herkömmlichen Bankinstituten, war die Risikoanalyse der Familie Lasker ins Blut übergegangen. Als jüngster Spross der Lasker-Dynastie hatte Henry den enormen Vorteil, aus Fehlern seiner Eltern und seiner Geschwister zu lernen. Deshalb entschied er mit Anfang zwanzig, dass eine Tätigkeit im Bankhaus seiner Familie für ihn nicht in Frage kam. Seine Geschwister nahmen diese Entscheidung mit einer gewissen Erleichterung auf. Sie wussten, dass er schlauer war als alle anderen. Seine Eltern reagierten enttäuscht. Weil sie wussten, dass er klüger war als der Rest ihrer Kinder. Aber sie legten ihrem jüngsten Sohn keine Steine in den Weg. Im Gegenteil, sie förderten ihn dennoch. Nach Beendigung seines Studiums erhielt Lasker eine Stelle in der Investmentabteilung der Deutschen Bank. Dort arbeitete er sich hoch, bis er als Abteilungsleiter einen eigenen Etat in Millionenhöhe erhielt. Rasch erarbeitete Lasker sich den Ruf eines Genies. Er erkannte Trends, umschiffte Klippen mühelos und verschaffte seinen Kunden eine sagenhafte Rendite. Im zweiten Jahr betrug sein Bonus zwölf Millionen Euro. Er heiratete eine Kollegin, bekam mit ihr ein Kind und zwei Jahre später trennten sie sich einvernehmlich. Sie erhielt eine Abfindung in Höhe von fünf Millionen Euro. Für sie ein Vermögen. Für Lasker nicht.
Mit vierunddreißig kündigte Lasker seinen Job. Im Vorstand gab es einen Wechsel und sein neuer Vorgesetzter versuchte, Lasker an die kurze Leine zu legen. Der Grund dafür war simpel: Lasker galt als aufstrebender Star der Bank. Und somit war er eine Bedrohung für jeden, der sich erst beweisen musste. Und das traf auf seinen neuen Chef zu. Laut Arbeitsvertrag war es ihm untersagt, innerhalb von zwölf Monaten bei einem Wettbewerber anzufangen.
Also machte Henry Lasker sich selbstständig und zog in die Vereinigten Staaten. Natürlich war es ihm untersagt, aktiv alte Kunden abzuwerben. Aber was sollte er tun, wenn diese ihn kontaktierten?
Innerhalb von nur vierzehn Monaten waren neunzig Prozent seiner alten Kunden zu ihm gewechselt. Sein Investmentfonds wuchs auf neunhundert Millionen Dollar an und erwirtschaftete eine Rendite von fast sieben Prozent. Das sprach sich herum.
Bald musste er Kunden ablehnen.
Zehn Jahre später verwaltete Lasker ein Vermögen von rund fünfzig Milliarden Dollar. Er selbst war inzwischen mit fünfundvierzig Jahren Milliardär. Lasker war es auch, der die drohende Finanzkrise vorhersah. Er sicherte seinen Fonds ab, indem er sich von den Banken trennte, die in seinen Augen ein Risiko darstellten. Sein Handeln sorgte für einen Aufschrei. Auch bei einigen seiner Kunden, die sein Vorgehen nicht nachvollziehen konnten, sogar für unpatriotisch hielten.
„Ich bin Deutscher, kein scheiß Ami“, lautete seine Antwort, wenn ihm jemand mit diesem Vorwurf konfrontierte. Dann, als die ersten Banken fielen, hielten sie ihn für einen Propheten. Lasker selbst brach seine Zelte ab, verließ seine zweite Frau und ihren gemeinsamen Sohn und siedelte wieder nach Deutschland um. Dort betätigte er sich von nun an im Bereich Privat Equity.
Das hieß unter anderem, dass er in Firmen investierte, die mittel- bis langfristig erfolgversprechende Tendenzen erkennen ließen, aber eine Finanzierung benötigten. Darunter befanden sich auch Start-up-Unternehmen.
Wie das von Torben, Markus und Sören.
Diese Tätigkeit verschaffte ihm Kontakte bis in den inneren Kreis der Bundespolitik. Galt er doch als alles andere als eine Heuschrecke, die Firmen in Schieflage aufkauften, um anschließend das Tafelsilber zu verscherbeln.
Er hatte immer echtes Interesse daran, Standort und Arbeitsplätze zu erhalten. Natürlich gab es Menschen, die sein Handeln als das erkannten, was es war. Kalkül.
Er besaß mehr Geld, als er jemals ausgeben könnte.
Selbst wenn er noch ein paar Mal heiraten würde.
Aber was er tatsächlich anstrebte, daran hatte sich nichts geändert. Macht. Und die fand er in Berlin. Aber dort herrschte eine eiserne Regel: Bevor du etwas nehmen kannst, musst du etwas geben. Und er gab. Jahrelang. Er gab vielen Menschen den Glauben an das Finanzsystem zurück. Er rettete und schuf Arbeitsplätze. Damit sorgte er für Umsatz- und Lohnsteuer. Schon bald liebte man Henry Lasker in den Landesregierungen. Berlin war nur noch eine Frage der Zeit. Schließlich, vor nicht einmal zwei Jahren, wurde ihm in einer feierlichen Zeremonie das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er war seinem Ziel ein gehöriges Stück nähergekommen. Dann gab es eine Initialzündung. Die ehemalige Ministerpräsidentin des Landes Niedersachsen, eine gute Freundin Laskers, wurde zur Bundesinnenministerin ernannt. Deshalb war das Start-up-Unternehmen, an dem er jetzt einundfünfzig Prozent hielt, so wichtig für ihn.
„Jungs“, sagte er und lächelte optimistisch. „Wie viel Zeit benötigt Ihr, bis wir in Lage sein werden, ein Pilotprojekt zu starten?“
Die drei wechselten einen raschen Blick.
„Wie jetzt Pilotprojekt?“, wollte Torben wissen.
„Wenn ich zur Innenministerin gehe und ihr von unserem Programm erzähle, wird sie, bevor sie das Geld freigibt, einen Beweis haben wollen, ob das Programm auch wirklich funktioniert.“
„Ah“, sagte Sören und grinste seine Freunde an. „Er meint einen Testlauf.“
Alle drei kicherten.
„Wie wär’s mit morgen?“
Kapitel 3
Berlin
Henry Lasker war zwar mit der Innenministerin befreundet, aber auch er bekam bei ihr nicht innerhalb von einem Tag einen Termin. Lasker musste zwei Tage warten, dann aber empfing ihn die Bundesinnenministerin in deren erstaunlich schmucklosem Büro. Sybille Schneider war fünfundvierzig Jahre alt, schlank und attraktiv. Sie hatte glattes, schwarzes Haar, grüne Augen und strahlte etwas Exotisches aus. Kaum jemand wusste, dass sie und Lasker für kurze Zeit eine leidenschaftliche Affäre hatten.
Nach ein wenig Smalltalk kam Lasker zur Sache. „Wärst du an einem Computerprogramm interessiert, das Anschläge und Verbrechen vorhersehen kann?“
Innenministerin Schneider lachte. „Wer wäre das nicht?“
Als Lasker ihr Lachen nicht erwiderte, wurde Schneider schnell wieder ernst. „Das ist ein Scherz, oder?“
„Nein. Das ist mein absoluter Ernst.“
Auf der Stirn der Ministerin erschien eine Falte. „Aber wie soll das möglich sein?“
Lasker erklärte ihr die Funktion Redemptios.
Ihre Falte wurde tiefer. „Klingt großartig. Aber das kriegen wir niemals durch.“
Lasker nickte, als würde er dem zustimmen. „Die Menschen dürsten nach Sicherheit, Sybille. Denk an all die Anschläge der letzten Jahre. Die Zeiten der großen Attacken sind vorbei. Jetzt sind es Einzeltäter, die aktiv werden. Dem ist nicht beizukommen.“
„Wie denn auch?“, sagte die Innenministerin leise. „Wir können unmöglich alle im Auge behalten.“
Kaum, dass sie es ausgesprochen hatte, schien sie die Tragweite des Ganzen erkannt zu haben und blickte Lasker an.
Der lächelte. „Ja, genau. Mit diesem Programm können wir sie im Auge behalten. Alle. Rund um die Uhr.“
Innenministerin Schneider kaute auf ihrer Unterlippe. „Wenn es doch nur einen Weg gäbe, diese Software zu nutzen, ohne dass jemand davon erfährt. Ich garantiere dir, es würde nicht einmal durch den Kontrollausschuss kommen, geschweige denn durch den Bundestag.“
Lasker nickte verständnisvoll. „Ich meine mich zu erinnern, dass vor einiger Zeit eine Reform der Bundespolizei auf eurer Agenda war. Die Kosten dafür wurden mit etwa drei Milliarden Euro veranschlagt.“
Schneider nickte. „Ja, das stimmt. Die Hälfte davon übernimmt der Bund, den Rest die Länder.“
„Du sagst, übernimmt, nicht sollten übernehmen“, bemerkte Lasker. „Ist da wieder Bewegung reingekommen?“
„Ja. Die Entscheidung dafür ist so gut wie durch.“
„Sehr gut“, murmelte Lasker. „Im Zuge dieser Reform kannst du das Programm mit einbauen und niemand bekommt es mit. Das Einzige, was wir dann brauchen, ist eine bundesweit aufgestellte Spezialeinheit, die die Fälle bearbeitet, die vom Programm entdeckt werden.“
„Warum eine neue Spezialeinheit?“, wollte die Innenministerin wissen.
„Weil beim SEK oder MEK sofort Fragen nach der Quelle der Informationen auftauchen würden. Bei einer neuen Einheit, die auf das Programm von Anfang an eingeschworen ist, besteht diese Gefahr nicht.“
Innenministerin Schneider nickte nachdenklich. „Das ergibt Sinn. Du meinst, ich soll die Kosten für das Programm in die Kalkulation der Reform einfließen lassen?“
„Ja. Die brauchen doch bestimmt neue Hard- und Software, oder?“
„Das ist Bestandteil der Reform.“
„Wunderbar. Damit hätten wir die Lösung.“
„Und diese neue Einheit? Die kostet doch Geld ...“
„Wo ist das Problem? Und du unterstellst die Spezialeinheit direkt deinem Ministerium. Dann bezahlst du das aus deinem eigenen Etat. Auch kein Problem. Ich will die eine Milliarde für die Software nicht in einer Summe. Drei Raten sind vollkommen ausreichend.“
Es war allgemein bekannt, dass dem Innenministerium im vergangenen Jahr einen Etat von rund neunzehn Milliarden Euro zur Verfügung gestanden hatte. Offiziell. In Wahrheit sahen die Zahlen ein klein wenig anders aus. Etwas über dreihundert Millionen Euro pro Jahr für etwas abzuzweigen, dass es eigentlich nicht gab, wäre nicht einfach. Es war aber auch nicht unmöglich.
„Henry, wenn ich das tue, riskiere ich alles, was ich mir aufgebaut habe.“
„Ja, es gibt ein gewisses Risiko. Da stimme ich dir zu. Aber beantworte mir eine Frage: Willst du Bundeskanzlerin werden?“
„Was soll das, Henry? Du kennst die Antwort.“
„Ich will es hören. Jetzt. Von dir.“
Sybille Schneider funkelte ihn wütend an. Schließlich seufzte sie ergeben. „Ja verdammt. Ich will Bundeskanzlerin werden.“
„Und das schaffst du auch. Vor allem dann, wenn unter deiner Leitung das Innenministerium einen signifikanten Rückgang von Schwerverbrechen verzeichnen kann.“
Lasker konnte sehen, wie es in ihr arbeitete. Wie Sybille Schneider alle Pros und Kontras gegeneinander abwägte. Schließlich schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein.
„Okay Henry. Ich nehme dieses Programm auf. Aber nur unter einer Bedingung.“
„Und die wäre?“
„Diese drei Entwickler müssen sie gesetzeskonform umschreiben. Ich will nicht das Risiko eingehen, dass mir die ganze Geschichte um die Ohren fliegt.“
„Wenn du das Programm kastrierst, dann kannst du keine bahnbrechenden Ergebnisse erwarten.“
Sie lächelte ihn an. „Wie frisst man einen Elefanten?“
Lasker sah sie an. Natürlich wusste er, was sie damit sagen wollte. Einen Elefanten schluckte man nicht am Stück. Man fraß ihn Stück für Stück. Übertragen auf die Software bedeutete dies, dass sie mit einer harmloseren Version anfangen wollte. Sollte die sich bewähren, könnte man zu einem späteren Zeitpunkt immer noch aufrüsten.
„Okay, einverstanden“, sagte Lasker.
Schneider runzelte die Stirn. „Ich brauche einen Beweis, dass das Programm tatsächlich funktioniert.“
Das Lächeln von Lasker wurde breiter. „Aber natürlich brauchst du den. Und du bekommst ihn.“
„Und ich möchte diese drei jungen Männer kennenlernen, die das Programm erfunden haben.“
Lasker Lächeln verschwand. „Warum das denn?“
„Weil ich, wenn ich das Programm ohne Zustimmung des Kontrollausschusses und unter Umgehung sämtlicher Entscheidungsgremien in Betrieb nehme, ein enormes Risiko eingehe. Da will ich zumindest wissen, wem ich hier meine Existenz anvertraue.“
„Die drei sind etwas … sonderbar …“
„Ich arbeite, seit ich denken kann, in der Politik. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich sämtliche Varianten von sonderbar kennengelernt habe.“
Kapitel 4
Berlin
Sie trafen sich eine Woche nach der Besprechung im Loft der drei Entwickler. Lasker, Innenministerin Schneider, Staatssekretär Essling und vier Personenschützer. Die blieben draußen, nachdem sie das Loft auf ein mögliches Gefahrenpotenzial durchsucht und für sicher erklärt hatten. Es war für Lasker keine Überraschung, dass Sybille Schneider ihre rechte Hand mitgebracht hatte. Dennoch war er wenig begeistert davon, da er Staatssekretär Essling nicht mochte. Lasker hielt ihn für ein machtgeiles, intrigantes Arschloch. Mehr als einmal hatte er Sybille Schneider vor ihm gewarnt. Sie aber war der Meinung, er würde den Laden zusammenhalten und für die notwendige Disziplin sorgen, sodass sie sich um die wesentlichen Sachen kümmern konnte. Er verdrängte seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das hier und jetzt.
„Dann zeigen Sie mal, was ihr Programm kann“, forderte Schneider die drei Entwickler auf.
Sie begaben sich zu einem großen Tisch, auf dem diverse Rechner vor sich hin summten. An der gegenüberliegenden Wand war ein großer Flachbildschirm angebracht.
Torben wandte sich an die Ministerin. „Möchten Sie, dass wir ins Detail gehen, oder reichen Ihnen grobe Angaben?“
„Details würde ich ohnehin nicht verstehen“, gab Schneider zu. „Erklären Sie mir nur grob, was Sie tun.“
Torben nickte. „Okay. Sie waren ja so nett, uns eine Liste aller bekannten Straftäter zu geben, die sich zurzeit in Berlin aufhalten. Vom Kleinkriminellen bis hin zu Mördern und potentiellen Terroristen. Daraufhin haben wir uns einen x-beliebigen Stadtteil Berlins ausgesucht und Redemptio den Befehl gegeben, zu analysieren. Und hier haben wir das Ergebnis.“
Torben drückte auf eine Taste und der Flachbildschirm erwachte zum Leben. Zu sehen waren das Bild eines grimmig dreinblickenden Mannes arabischer Herkunft und jede Menge Text. Ministerin Schneider, Essling und Lasker gingen näher an den Bildschirm heran.
„Was sehen wir hier?“, wollte Schneider wissen.
„Das Profil von Mohamed Al-Shabibi“, sagte Markus. „Er ist bislang nicht auffällig gewesen. Weder Bundeskriminalamt, noch das Bundesamt für Verfassungsschutz haben ihn auf dem Zettel. Aber Redemptio ist der Auffassung, dass Al-Shabibi etwas im Schilde führt.“
„Aha“, sagte Essling. „Und aus welchem Grund?“
„Merkwürdige Treffen mit verdächtigen Männern aus Tunesien und Somalia. Auffällige Einkäufe diverser Gegenstände, darunter Chemikalien, die durchaus zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden könnten. Verdächtige Fahrten, die immer wieder an Synagogen vorbeiführten.“
Schneider blickte zu den drei Hacken. „Interessant. Und verdächtig, da gebe ich Ihnen recht. Wie lautet das Ergebnis der Analyse?“
„Die Wahrscheinlichkeit, dass Al-Shabibi einen Anschlag mit Sprengstoff auf eine Synagoge plante, beträgt laut Redemptio über achtzig Prozent“, antwortete Markus.
Schneiders Augen weiteten sich. „Achtzig Prozent … also ist es ziemlich sicher, dass etwas geschehen wird.“
Alle drei nickten. „Absolut“, sagte Sören.
„Das ist … das ist wirklich …“
„Krasse Scheiße“, schlug Torben vor.
„Erstaunlich“, sagte Schneider, Torbens vulgären Vorschlag ignorierend. „Wie würden jetzt die nächsten Schritte aussehen?“
„Darf ich einen Vorschlag machen?“, wollte Lasker vom Minister wissen.
„Selbstverständlich.“
„Wäre ich du, würde ich folgendermaßen vorgehen: Ich würde behaupten, dass du durch einen ausländischen Geheimdienst von diesem Al-Shabibi erfahren hast. Daraufhin hast du ein Ermittlerteam damit beauftragt, ihn zu beobachten. Als sich die Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag verdichtet haben, hast du den Befehl zum Zugriff gegeben.“
„Und wenn jemand wissen will, welcher Geheimdienst der Ministerin den Tipp gegeben hat?“, wandte Essling ein.
„Wenn die Prognose des Programms zutrifft, habt ihr einen wirklich schlimmen Anschlag verhindert. Die Innenministerin wird als Heldin dastehen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand da ein Haar in der Suppe suchen wird. Und selbst wenn jemand fragen würde; müsstest ihr die Frage beantworten?“
Schneider dachte darüber nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Du hast recht. Einzig das Ergebnis zählt. So machen wir es.“
„Und bei dieser Gelegenheit könntest du deine neue Idee einer präventiven Spezialeinheit der Öffentlichkeit präsentieren. Weil diese Einheit den Zugriff durchgeführt hat.“
Schneider schüttelte den Kopf. „Wo soll ich auf die Schnelle diese Einheit herbekommen?“
„Du hast doch garantiert irgendeinen höheren Beamten im BKA, oder in einem LKA, dem du vertraust. Ruf ihn an, weihe ihn ein. Ich wette, er stellt dir ein loyales Team zusammen.“
„Könnte funktionieren …“, sagte Schneider leise.
Der Zugriff erfolgte fünf Tage später. Neben Al-Shabibi wurden drei weitere Personen festgenommen. In der Wohnung des Verdächtigen wurden neben Waffen eine große Menge Dünger und anderes Material zum Bau einer Bombe sichergestellt. Auch Baupläne fand man. Die Terrorzelle um Al-Shabibi hatte tatsächlich geplant, eine Synagoge im Zentrum Berlins in die Luft zu sprengen. Das mutige und entschlossene Handeln von Innenministerin Schneider wurde hoch gelobt und als sie ihre geänderten Pläne für eine Reform der Bundespolizei präsentierte, fanden diese eine breite Zustimmung. Einzig der Bundeskanzler war verstimmt, da Schneider ihn seiner Meinung nach zu spät in ihre Pläne eingeweiht hatte.
Die Erweiterung der Reform in Form einer neuen Spezialeinheit wurde mit großer Mehrheit verabschiedet. Bundesweit wurden ausgewählte Polizeibeamte in die neue Spezialeinheit PEG, Präventions-Einsatz-Gruppe, berufen. Innerhalb eines Jahres sollte sie auf eintausend Mann ausgebaut werden. Nach vierzehn Monaten waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Redemptio wurde installiert, ohne dass jemand davon erfuhr. Die einzigen Personen, die vollumfänglich Bescheid wussten, waren die Innenministerin, Staatssekretär Essling und der Leiter der neuen Spezialeinheit. Lasker und die drei Entwickler erhielten die erste Rate in Höhe von dreihundertdreiunddreißig Millionen Euro und feierten ihren Erfolg angemessen.
Kapitel 5
Berlin
Die Stimmung der drei Entwickler sank spürbar, als sie Besuch von Staatssekretär Essling erhielten. Aus Euphorie wurde Sorge, der Deal könnte doch noch auf der Zielgerade platzen. Allerdings war Essling nicht gekommen, um den Deal zu stornieren.
„Ich habe mit der Ministerin gesprochen“, erklärte er, nachdem sie alle Platz genommen hatten. „Wir sind beide zu dem Entschluss gekommen, dass es doch sinnvoller ist, die ursprüngliche Variante von Redemptio einzusetzen.“
Die drei sahen sich verunsichert an.
„Was ist mit den bedanken wegen Datenschutz und so?“, wollte Torben vorsichtig wissen.
Essling lächelte. „Wo kein Kläger, da kein Richter.“
„Ach ...“, sagte Markus.
Essling blickte die drei jungen Männer betroffen an. „Das geht doch, oder? Ich meine, Sie haben doch nichts gelöscht oder so ...“
Markus schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Die Urfassung des Programmes gibt es natürlich noch.“
Essling atmete erleichtert aus. „Sehr gut.“
„Es ist nur so ...“, begann Torben stockend.
Essling sah ihn direkt an. „Ja?“
„Nun ja ... wenn da was schief geht ... wer wird dafür zur Rechenschaft gezogen? Ich meine, machen wir uns damit nicht irgendwie ... strafbar?“
Essling schüttelte lachend den Kopf. „Aber nicht doch, meine Herren. Wir sitzen hier doch alle im selben Boot. Und das Risiko liegt einzig und alleine bei der Ministerin und mir. Sie begehen weder eine Straftat, noch laufen sie Gefahr, in Regress genommen zu werden.“
Torben sah seine beiden Freunde an. „Na dann ...“
„Ich hätte gerne etwas Schriftliches“, sagte Markus an Essling gewandt.
Das Lächeln des Staatssekretärs verschwand. „Was meinen Sie?“
„Ein offizielles Schreiben des Innenministeriums, aus dem hervorgeht, was Sie gerade gesagt haben.“
„Das dürfte kein Problem sein“, sagte Essling zögernd.
Markus strahlte. „Cool. Sobald wir diese Bestätigung haben, kann es losgehen.“
„Ich werde zurück ins Büro fahren, mit der Ministerin sprechen, das Schriftstück aufsetzen und hierher zurückkommen“, erklärte Essling.
„Wir sind hier“, versicherte Markus.
Essling stand auf und die drei Entwickler erhoben sich ebenfalls. Der Staatssekretär hielt schon den Türgriff in der Hand, als Markus ihn noch einmal ansprach.
„Ach, fast hätte ich es vergessen ...“
Essling drehte sich langsam zu ihm herum. „Ach ja? Was denn?“
„Dieses Schreiben. Es muss natürlich von der Innenministerin unterschrieben werden.“
Kapitel 6
Berlin
Während drei junge Entwickler im Obergeschoss eines Wohn- und Geschäftshauses in Berlin Kreuzberg ihren Vertragsabschluss inklusive eines von der Innenministeriums unterschriebenen Freifahrtscheines feierten, drangen zwei Männer unbemerkt über ein Kellerfenster in das Gebäude ein.
Sie waren vollkommen in Schwarz gekleidet, trugen Sturmhauben und waren für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand sie entdeckte, bewaffnet. Die Büros im Erdgeschoss und im ersten Stock waren schon seit Stunden verlassen. Nur die drei jungen Männer hielten sich in dem Haus auf. Was daran lag, dass sie nicht nur hier arbeiteten, sondern auch lebten. Jeder der zwei Männer trug zwei Segeltuchtaschen, die sie in den Kellerraum wuchteten. Sorgen über Überwachungskameras mussten sie sich nicht machen; sämtliche Kameras in einem Radius von zwei Kilometern waren deaktiviert.
Die technische Störung würde erst behoben sein, wenn sie ihren Auftrag erfüllt hatten.
Ohne ein einziges Wort zu wechseln, bewegten sich die zwei in Richtung Treppenhaus. Sie öffneten die Brandschutztür und liefen hinauf in das Erdgeschoss. Hier legten sie jeweils eine der Taschen ab und liefen dann hoch in die zweite Etage. Dort angekommen wandte sich der eine nach rechts, der andere nach links. Die verschlossenen Bürotüren waren für die Männer kein Problem, da sich über nachgemachte Schlüssel verfügten. Beide betraten nun Großraumbüros. Sie stellten ihre Tasche ab und öffneten sie.
Darin befanden sich Kanister, die mit Ethanol gefüllt waren. Annähend zeitgleich setzten die Männer Atemschutzmasken auf und begannen damit, großzügig den Brandbeschleuniger im Raum zu verteilen. Dies setzten sie in den Fluren fort.
Anschließend begaben sie sich hinunter in den ersten Stock, griffen sich die dort zurückgelassenen Taschen und verteilten auch hier das Ethanol in den Büros und im Flur.
Nachdem sie damit fertig waren, begaben sie sich wieder in das Erdgeschoss. Jeder von ihnen hatte noch einen vollen Kanister zur Verfügung. Sie verteilten den Inhalt der zwei Kanister im Hauptflur und liefen dann zur Tür, die ins Treppenhaus führte. Einer der Männer holte eine Flasche aus seiner Tasche. Er entzündete den präparierten Docht und warf die Flasche in den Flur. Sofort entfachte das Feuer und verbreitete sich rasend schnell.
Die beiden Männer ließen die Tür offen, rannten in den Keller und verließen das Gebäude auf demselben Weg, auf dem sie es betreten hatten.
Sprach man mit erfahrenen Brandbekämpfern, so gab es einige unter ihnen, die schwören, das Feuer ein lebendiges Wesen sei. Sie erzählten von Flammen, die einen verfolgten. Davon, wie das Feuer sich teilte, um den fliehenden Menschen den Weg abzuschneiden. Einige berichteten, dass sie gesehen hatten, wie Feuer die Wände hochgelaufen war, sich an der Decke verteilte, um sich sogleich auf den wehrlosen Menschen zu stürzen. Und es machte auch Geräusche. Furchtbare, angsteinflößende Geräusche.
Es zischte und stöhnte. Manchmal schrie es sogar.
Ein Feuer benötigte drei Dinge: Brennstoff, Hitze und Sauerstoff. In der Hitze reagierte der Brennstoff mit dem Sauerstoff der Luft, es entstand eine Oxidation. Das bedeutete, die Moleküle des Brennstoffs verbanden sich mit dem Sauerstoff und dabei wurde Wärme freigesetzt. Feuer war eine sogenannte exotherme Reaktion:
Es produzierte mehr Wärme, als man benötigte, um die Reaktion in Gang zu setzen. Um ein Feuer zu entfachen, brauchte man eine Initialzündung oder Startwärme, bei der der chemische Verbrennungsprozess des Brennstoffs startete und in einer Art Kettenreaktion fortlief. Eine Initialzündung konnte in der Natur beispielsweise ein Blitz sein, der in einen Baum einschlug. Die Startwärme bewirkte die Flamme, durch die entstandene Wärme wurde eine Kettenreaktion in Gang gesetzt: Das Feuer brannte nun aus sich selbst heraus, bis eines der drei Dinge – Brennstoff, Hitze oder Sauerstoff – nicht mehr da waren.
Im aktuellen Fall war diese Initialzündung der Molotowcocktail. Der löste die Kettenreaktion aus. In atemberaubender Geschwindigkeit stürzten sich die Flammen auf alles, was brennbar war. Und Brennstoff gab es hier zur Genüge. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, da waren im Erdgeschoss kleine Gasflämmchen zu sehen, die sich in der Luft entzündeten. Erfahrene Feuerwehrmänner würden spätestens jetzt die Flucht ergreifen. Diese Gasflämmchen läuteten den sogenannten Flashover ein: Das bedeutete, dass sämtliche brennbaren Oberflächen ihren Zündpunkt erreichten. Das Feuer war nun außer Kontrolle.
Die drei Männer im Obergeschoss merkten nichts davon, dass unten ihnen die Hölle losgebrochen war. Ausgelassen feierten sie die Tatsache, dass sie Multimillionäre waren, während sich die Flammen zischend und brodelnd ihren Weg durch die Flure und sogar durch die Decke des Erdgeschosses brannten.
Als sie den ersten Stock erreichten, vereinten sie sich mit dem schon wartenden Brandbeschleuniger. Explosionsartig verbreitete sich das Flammenmeer in den Büroräumen. Innerhalb von zwanzig Sekunden war auch hier der Flashover erreicht. Das Feuer erreichte jetzt eine Temperatur von über neunhundert Grad und fraß sich durchs Treppenhaus und durch die Decke hinauf in den zweiten Stock.
Dort gab es ein feuriges Wiedersehen mit dem Ethanol. Innerhalb von sechs Sekunden stand der komplette zweite Stock in Flammen. Aber der Hunger des Feuers war nicht gestillt.
Schließlich gab es noch die dritte Etage.
Dort spürten die drei jungen Entwickler inzwischen, dass es im Raum, in dem sie sich aufhielten, unangenehm warm geworden war. Einer von ihnen wollte ein Fenster öffnen, musste jedoch feststellen, dass es verriegelt war.
„Hat einer von euch die Fenster abgeschlossen?“
„Geht das überhaupt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall geht das hier nicht auf.“
Der dritte im Bunde kontrollierte die Heizkörper. „Sind alle auf null“, informierte er seine Freunde. Dann machte er sich an dem Fenster darüber zu schaffen. „Das hier geht auch nicht auf.“
Inzwischen hatten die Flammen eine Etage tiefer die Decke zum Obergeschoss erreicht.
„Leute“, rief einer der drei Entwickler. „Der Boden ist verdammt heiß ...“
„Hier stimmt doch was nicht“, sagte ein anderer.
Er ging schnell durch das Zimmer und öffnete die Tür zum Flur.
Dann ging alles rasend schnell. Durch die geöffnete Tür wurde dem Feuer im Flur neuer Sauerstoff zugeführt. Es explodierte geradezu. Mit der Geschwindigkeit eines Zuges rasten die Flammen auf den Mann an der Tür zu und hüllten ihn ein. Er wollte schreien und holte tief Luft. Das Feuer verbannte seine Lungen und er war auf der Stelle tot. Seine beiden Freunde kamen nicht mehr dazu, zu reagieren. Unter ihren Füßen brach der Boden auf und sie stürzten vier Meter tief in die Flammenhölle. Als die Feuerwehr eintraf, konnten die Männer nur tatenlos dabei zuschauen, wie das Gebäude in sich zusammenfiel.
Kapitel 7
Hannover
Der ehemalige niedersächsische Innenminister Wolfgang Kofler war Vorsitzender des Bundestagsausschusses für innere Angelegenheiten. In dieser Funktion deckte sich sein Aufgabenbereich weitestgehend mit dem der Innenministerin. Dementsprechend war es durchaus legitim, dass Kofler kritische Fragen stellte. Zumal er der Oppositionspartei angehörte. Kofler hatte vor allem wissen wollen, warum Innenministerin Schneider eine neue Spezialeinheit ins Leben rufen wollte. Auch fragte er nach, aus welchem Grund die Investitionen für Hard- und Software gegenüber der ursprünglichen Planung um fast eine Milliarde Euro angestiegen waren. Allerdings hatte Kofler keine befriedigenden Antworten erhalten. Zumal er fast ausschließlich mit Staatssekretär Essling reden musste, da Schneider ständig verhindert war. Und das hatte ihn misstrauisch gemacht.
Kofler blieb ruhig und beobachtete.
Nachdenklich hatte ihn die Gründung der neuen Sondereinheit unter dem Dach der Bundespolizei auch deshalb gemacht, weil Polizei eigentlich Landessache war. Der Bund hatte hier nichts zu sagen. Dadurch, dass die neu ins Leben gerufene Einheit der Bundespolizei zugeteilt worden war, lag die Kontrolle beim Innenministerium. Obwohl Teile der Kosten auf die Länder verteilt wurden. Als erstes vertiefte Kofler sich in die Unterlagen, die Staatssekretär Essling zur Verfügung gestellt hatte. Konzept, Zeitplan und Kostenanalyse. Über zweitausend Seiten. Kofler war sich sicher, dass keiner seiner Kollegen diese jemals gelesen hatte. Viel Prosa, wenig Substanzielles. Beinahe in einem Nebensatz, irgendwo auf Seite achthundert, wurden ein Unternehmen mit Namen Excelsior und eine Software erwähnt. Viele Informationen zu dieser Software gab es nicht. Und dass, obwohl sie mit einer Milliarde Euro einen nicht unwesentlichen Kostenfaktor bedeutete.
Zumal hier der vorgeschriebene Weg einer öffentlichen Ausschreibung nicht eingehalten worden war. Kofler schüttelte den Kopf. Er gehörte mit seinen zweiundsiebzig Jahren eindeutig zu den Beamten alter Schule. Pflicht- und kostenbewusst. Aufrichtig, soweit es möglich war. Kofler hatte alles erreicht. Höher hinauf ging es für ihn nicht. Er wollte auch gar nicht mehr, da er niemanden mehr etwas beweisen musste. Auch sich selbst nicht.
Aber er war immer noch Vollblut-Politiker. Es war kein Geheimnis, dass der amtierende Kanzler nicht erneut antreten würde. Ebenso war es offenkundig, dass Bundesinnenministerin Schneider in ihrer Partei als aussichtsreiche Kanzlerkandidatin galt. Und Staatssekretär Essling wäre im Falle eines Wahlsieges der neue Innenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Ein Gedanke, der bei Kofler Brechreiz auslöste.
Er sank in das Ledersofa zurück und blickte nachdenklich in das prasselnde Kaminfeuer. Seine Frau schlief längst eine Etage über ihm, es war spät. Wollte er diesen Kampf wirklich?
Das Konzept des Innenministeriums war in sich schlüssig. Die Kosten tragbar. Wenn da nicht dieses dumpfe Gefühl in ihm wäre, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Darüber hinaus war Staatssekretär Essling ein widerlicher Opportunist ohne jedes Rückgrat. Also wollte er vielleicht auch nur, dass hier etwas nicht stimmte …
Kofler dachte darüber nach und verwarf diesen Gedanken wieder. Wenn es gut für das Land war, würde er keinen Einspruch einlegen. Wenn es aber doch etwas gab, was gegen geltendes Recht verstieß, würde er nicht lockerlassen, bis es ans Tageslicht gekommen war.
Als nächstes besorgte er sich im Internet Informationen über Excelsior. Kleines Start-up, die Gründer junge Männer aus der IT-Branche. Dann wurde er stutzig. Mit-Gesellschafter des Unternehmens war Henry Lasker. Ein nicht ganz Unbekannter für ihn, war er doch ein guter Freund der Innenministerin. Schloss sich hier der Kreis? Ging es um Vetternwirtschaft? Der Bund war verpflichtet, ab einer bestimmten Auftragshöhe eine öffentliche Ausschreibung vorzunehmen. Natürlich gab es gerade bei so komplexen Dingen wie einer Software Ausnahmen, was die Vorgehensweise betraf.
Nichtsdestotrotz hatte es hier einen klaren Verstoß gegen gültiges Recht gegeben. Kofler kratzte sich nachdenklich am Kopf. Da war doch was gewesen … auf Seite achthundert oder so. Er blätterte in dem kiloschweren Manuskript und fand die Stelle.
Das Bundesinnenministerium begründete die Tatsache, dass es bei der Beschaffung der Software, die Redemptio genannt wurde, zu keiner öffentlichen Ausschreibung gekommen war, damit, dass es nur diese eine Version gab. Kein anderes Unternehmen in der EU verfügte über diese Art von Programm, und eine Neuentwicklung durch andere Unternehmen wäre zu zeitintensiv gewesen. Redemptio war also einzigartig.
Aber was genau verbarg sich hinter dieser neuartigen Software? Im Bericht hieß es nur lapidar, dass sie die neu gegründete Spezialeinheit unterstützen sollte. Aber wie genau sollte das geschehen? Kofler entschied, für heute aufzuhören. Aber eines stand fest: Er würde mit Henry Lasker reden. Er wollte gerade seinen Laptop runterfahren, als er einen Artikel entdeckte, bei dem es ebenfalls um Excelsior ging. Er klickte ihn an und las den Bericht: Im Berliner Stadtteil Kreuzberg hatte es ein Großfeuer gegeben. Brandexperten stellten später fest, dass das Gebäude aufgrund einer undichten Gasleitung in Flammen aufgegangen war. Im Haus wurden die verkohlten Überreste von drei Menschen gefunden.
Für eine einwandfreie Identifizierung der Toten waren die Körper zu lange einer zu hohen Temperatur ausgesetzt. Die ermittelnden Beamten stellten fest, dass die dritte Etage des Gebäudes sowohl als Büro, als auch zu Wohnzwecken von drei Personen genutzt wurde.
Markus Sündermann, Sören Kramer und Torben Wernhardt.
Die drei Gründer von Excelsior. Da es den Beamten nicht gelang, diese drei Männer zu finden, galten sie schließlich offiziell als die zu Tode gekommenen Personen. Das Ganze hatte sich vor gerade einmal vier Tagen ereignet. Kofler klappte sein Notebook zu und lehnte sich erschüttert zurück.
+
Die Gelegenheit, um mit Lasker zu reden, ergab sich eine Woche später in München. Kofler hatte erfahren, dass in einem noblen Hotel eine Konferenz stattfand, bei der Lasker einer der Hauptredner war. Da er nicht vorhatte, dem Geschäftsmann Zeit zu geben, sich auf das Gespräch vorzubereiten, wollte er ihn im Hotel mit seinem Besuch überraschen. Kofler reiste mit einem seiner Personenschützer in die Landeshauptstadt Bayerns, bezog sein Zimmer und wartete. Sein Personenschützer hatte sich in der Lobby postiert und wartete darauf, dass die Tagung unterbrochen und die Teilnehmer zur Mittagspause eilten. Als es soweit war, verständigte er Kofler. Der erreichte wenige Minuten später die Lobby und blickte sich um. Dann entdeckte er den Mann, den er suchte.
Er ging, ohne zu zögern, auf ihn zu. „Herr Lasker, mein Name ist Wolfgang Kofler, Vorsitzender des Innenausschusses und früher Innenminister von Niedersachsen. Haben Sie fünf Minuten für mich?“
Lasker wirkte fast schon erschrocken, fing sich aber schnell wieder. „Hatten wir einen Termin?“
Kofler schüttelte den Kopf. „Dafür war keine Zeit. Geben Sie mir zehn Minuten. Wenn es nicht wichtig wäre, würde ich Sie hier nicht so überfallen.“
Lasker warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr. „Ich gebe ihnen fünf Minuten.“
Sie zogen sich in eine Nische der Bar zurück und Kofler kam sofort zur Sache. Er konfrontierte Lasker mit seinem Verdacht der Vetternwirtschaft und erwähnte am Schluss den Tod der drei Firmengründer von Excelsior.
„Glauben Sie an Zufälle, Herr Lasker?“, schloss Kofler seine Zusammenfassung.
Der blickte ihn stumm an. Kofler konnte sehen, wie es in dem Investor arbeitete.
Schließlich beugte er sich vor und sah Kofler prüfend an. „Denken Sie allen Ernstes, dass die Bundesregierung die drei Männer umgebracht hat?“
Kofler schüttelte den Kopf. „Nicht die Bundesregierung. Aber einzelne Personen, die verdammt viel zu verlieren haben. Denen traue ich das durchaus zu.“
Lasker dachte nach. „Oder verdammt viel zu gewinnen“, sagte er dann leise.
Jetzt beugte sich auch Kofler vor. „Es ist an der Zeit mir zu erzählen, was hier in Wahrheit vor sich geht, Herr Lasker.“
„Hören Sie, die Innenministerin hat nicht Falsches getan“, sagte Lasker eindringlich.
„Das will ich gerne glauben. Aber irgendjemand hat das. So viel ist mal sicher.“
„Als die drei Entwickler ihr dieses Programm vorstellten, war sie natürlich begeistert von den Möglichkeiten. Gleichzeitig war ihr aber auch vollkommen klar, dass mit dieser Software Grenzen überschritten werden, die man besser einhalten sollte.“
„Was für Grenzen?“, hakte Kofler nach.
„Den Datenschutz betreffend. Daher gab sie die klare Anweisung, das Programm zunächst gesetzeskonform anzupassen. Erst dann sollte sie in Betrieb genommen werden.“
„Und das ist geschehen?“, wollte Kofler wissen, dem anzuhören war, dass er daran zweifelte.
„Soweit ich weiß ja.“
Kofler schüttelte den Kopf. „Ich garantiere Ihnen, dass das eben nicht passiert ist.“
+
Es vergingen weitere zwei Wochen, dann erhielt Kofler einen Termin bei Innenministerin Schneider. Wie nicht anders zu erwarten, war Staatssekretär Essling anwesend, als Kofler von einer Assistentin des Ministers in dessen Büro geführt wurde.
Schneider stand auf und kam lächelnd auf Kofler zu. „Wolfgang, wie schön, dich zu sehen“, sagte sie und beide schüttelten sich die Hand. Die Bundesinnenministerin deutete in Richtung des sitzen gebliebenen Essling. „Meine rechte Hand, Staatssekretär Essling kennst du ja, nicht wahr?“
Kofler nickte Essling stumm zu.
„Bitte, nimm Platz“, lud Schneider ihn ein. „Möchtest du etwas trinken? Kaffee, Tee?“
Kofler nahm am Besprechungstisch gegenüber von Schneider und Essling Platz.
„Mir wäre es lieber, wir würden gleich zur Sache kommen.“
Die Ministerin schluckte trocken und nickte irritiert. „Natürlich. Ganz wie du willst. Was also können wir für dich tun?“
„Ihr könntet zum Beispiel damit anfangen, die über alle Maßen illegale Software mit Namen Redemptio abzustellen.“
Der Adamsapfel der Ministerin schlug Purzelbäume. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte Schneider heiser.
„Vielleicht sollten Sie ihren Ton überdenken, Herr Kofler. Und wenn Sie schon mal dabei sind, könnten Sie auch Ihre Art, mit der Ministerin zu sprechen, anpassen“, sagte Essling.
Kofler ignorierte Essling und beugte sich vor. „Dann werde ich eben deutlicher; über das Start-up-Unternehmen Excelsior habt ihr eine Software erworben, die angeblich die Verbrechensbekämpfung revolutionieren soll. In Wahrheit ist diese Software nichts anderes als ein Programm zum Ausspähen von Menschen. Und das in einer Art und Weise, die gegen alles verstößt, was diese Republik ausmacht. Ihr verstoßt damit nicht nur gegen gültiges Recht, was den Datenschutz betrifft. Ihr überschreitet eine Grenze in Bezug auf Moral und Ethik.“
Schneider hob abwehrend die Hände. „Wolfgang, ich bitte dich …“
„Nein“, unterbrach Kofler die Ministerin. „Genau hier muss Schluss sein. Noch bin ich bereit, dass alles nicht an die große Glocke zu hängen.“ Er stand auf, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und sah bedrohlich zu den beiden hinunter. „Sybille, ich möchte wirklich glauben, dass du mit der ganzen Sache nichts zu tun hast. Aber du als Ministerin trägst die Verantwortung. Wenn das Programm nicht innerhalb der nächsten vier Wochen abgeschaltet wird und mir kein eindeutiger Nachweis dafür zugeht, dann gehe ich mit all den Informationen, die ich bislang gesammelt habe, an die Öffentlichkeit. Ich habe Beweise für das, was ihr getan habt. Also tut das richtige.“
Ohne auf eine Antwort zu warten verließ Kofler das Büro.
Kapitel 8
Hannover, zwei Wochen später
Anabel Plate betrachtete ganz offen ihren Gesprächspartner. Es war ihr erstes Date mit Dominik und sie verfluchte schon jetzt, nach fünfzehn Minuten, ihre Entscheidung, mit ihm essen zu gehen. Er sah gut aus. Ohne Zweifel. Groß, schlank, markante Gesichtszüge, kluge, blaue Augen. Die Online-Dating-Agentur, bei der sie beide Mitglieder waren, behauptete, dass die Analyse ihrer Vorlieben eine Übereinstimmung von über achtzig Prozent ergeben hatte. Nach einer Viertelstunde zäher Konversation und peinlicher Pausen hatte Anabel jedoch erst eine einzige Gemeinsamkeit entdeckt. Den aufrechten Gang.
Anabel war sechsunddreißig Jahre alt. Sie war attraktiv, besaß einen athletischen Körper, halblanges, blondes Haar, hohe Wangenknochen, sinnliche Lippen. Stimmte alles. Sie war auch keine Hardcore-Emanze, die jede Avance eines Mannes brüsk zurückwies. Dennoch war Anabel nicht dazu in der Lage, eine längere Beziehung mit einem Mann einzugehen. Das lag nur zum Teil an ihrem Job. Sie war Oberkommissarin im Landeskriminalamt Niedersachsen, Abteilung Staatsschutz. Wann immer das Gespräch auf ihren Beruf kam, endete es auf zweierlei Arten. Entweder war ihr Gesprächspartner plötzlich sehr verschlossen, oder aber er zeigte ein fast schon morbides Interesse an ihrem Beruf. Wollte alles erfahren. Möglichst detailliert. Bei den Typen, die auf einmal schweigsam waren, vermutete sie sofort, dass er Dreck am Stecken hatte. Warum sollte er denn sonst auf einmal stumm sein? Und die anderen … alleine die Frage, ob sie schon einmal auf jemanden geschossen hatte, widerte sie an und erstickte jedes romantische Gefühl, dass am Entstehen war.
Der eigentliche Grund aber, weshalb es Anabel schwerfiel, eine echte Beziehung einzugehen, war eine Störung ihrer Impulskontrolle. Schon als Kind war Anabel leicht reizbar gewesen.
Des Öfteren hatten ihre Ausbrüche dazu geführt, dass sie in Anfällen von Jähzorn Spielsachen kaputt gemacht hatte. Ihr Vater entschied damals, dass es an der Zeit wäre, etwas dagegen zu unternehmen. Er war der Meinung, dass mentale Stärke und Selbstbeherrschung einherging mit absoluter Körperbeherrschung. Deshalb meldete er Anabel in einem Dojo an, in dem Jiu-Jitsu, eine von den japanischen Samurai stammende Kampfkunst, gelernt wurde. Zwei Jahre später, mit zwölf Jahren, erreichte sie bei den Niedersachsen-Meisterschaften in ihrer Gewichtsklasse den zweiten Platz. Im Jahr darauf gewann sie den Wettbewerb. Neben Jiu-Jitsu lernte sie Taekwondo und Krav Maga. Als sie in die Pubertät kam, wurde es jedoch schlimmer. Jetzt richteten sich ihre Zornesanfälle auf Mitschüler. Meistens waren es ältere Jungen. Die Schulleitung empfahl den Eltern, mit Anabel einen Psychologen aufzusuchen, der bei ihr eine intermittierend auftretende Reizbarkeit feststellte. Seine abschließende Diagnose lautete Impulskontrollstörung, die durch explosive Ausbrüche von Wut und Aggression gekennzeichnet war. Der Psychologe machte weiterführende Untersuchungen, da diese Störung oft einherging mit Depressionen. Diese waren bei Anabel aber nicht feststellbar. Dennoch verschrieb er Anabel Antidepressiva und ein Präparat, dass ihren Hormonhaushalt beeinflussen würde. Dies geschah, weil die Mediziner die Ursache für Impulskontrollstörungen nicht vollständig verstanden, aber vermuteten, dass der Hormonspiegel der Betroffenen für die Problematik relevant zu sein schien und die Art der Störung maßgeblich beeinflusste. Anabel ging es daraufhin besser. Ihre Anfälle von Jähzorn wurden seltener. Als sie neunzehn Jahre alt war, versuchten zwei junge Männer sie zu vergewaltigen. Anabel drehte komplett durch.
Die beiden hatten keine Chance gegen sie. Dem einen brach sie den Kiefer, dem anderen den Schädel. Zwei Wochen lag er danach im Koma. Die Eltern der beiden jungen Männer wollten Anzeige wegen schwerer Körperverletzung gegen sie erstatten. Es war Segen und Fluch zugleich, dass eine Kamera die Szene aufgenommen hatte. Segen, weil sich durch die Aufnahmen der Verdacht einer versuchten Vergewaltigung bestätigte.
Fluch, weil der zuständige Kripobeamte mit ansehen konnte, was Anabel mit den beiden Männern anrichtete. Dennoch schlug er sich auf die Seite Anabels. Schließlich war die ursprüngliche Bedrohung von den Männern ausgegangen. Allerdings war allen mehr als deutlich geworden, dass Annabel eine tickende Zeitbombe war.
Er sprach mit ihr. Stundenlang. Am Schluss fragte er Anabel, was sie einmal werden möchte.
„Ich glaube, ich würde gerne Polizistin werden.“
Sie spürte sofort, dass es das war, was er hatte hören wollen. Er sorgte dafür, dass der Vorfall mit den beiden Männern nicht aktenkundig wurde. Das hätte eine mögliche Karriere bei der Polizei unmöglich gemacht. Sie machte ihr Abitur und absolvierte ein dreijähriges duales Studium zur Kriminalkommissarin. Als sie das beendet hatte, war der Kriminalbeamte, der ihr damals geholfen hatte, die Karriereleiter hinaufgeklettert. Inzwischen war er Leiter des Staatsschutzes im Landeskriminalamt Hamburg. Harry Steinhardt nahm Anabel erneut unter seine Fittiche. Er sorgte dafür, dass sie bei der Kripo Hannover unterkam. Dort wurde sie schnell zum Star der Behörde. Gleich ihr erster Fall war spektakulär gewesen, als sie fast im Alleingang einen pädophilen Ring aushob und elf Kinder zwischen einem und acht Jahren aus der Hölle befreit hatte. Die Presse feierte sie und die Eltern der geretteten Kinder gründeten eine Stiftung, die ihren Namen trug. Möglicherweise wäre die Reaktion der Presse etwas zurückhaltender ausgefallen, wenn sie erfahren hätte, dass Anabel bei der Verhaftung zwei der Hauptverdächtigen krankenhausreif geschlagen hatte. Sie ließ erst von den Männern ab, als zwei Kollegen sie mit Gewalt von ihnen wegrissen. Nach zwei Jahren holte Harry Steinhardt Anabel zu sich ins LKA Hamburg.
Anabel akzeptierte mittlerweile die Tatsache, dass sie anders war und daher für ihr Alter relativ selten Sex hatte. Von einer dauerhaften Beziehung zu einem Mann gar nicht zu sprechen. Sie ging in ihrem Job vollkommen auf und wenn es sie juckte, loggte sie sich in das Partnerportal im Internet ein und verabredete sich zu seinem Date. Über das Internet Partner für lustvolle Stunden zu finden, war natürlich sub-optimal.
In der freien Wildbahn spürte man schnell, ob der gewisse Funke übersprang. Anhand eines Fotos auf dem Bildschirm war das anders. Dementsprechend zog sie mehr Nieten als Hauptgewinne.
„Was machst du eigentlich beruflich?“, wollte Dominik plötzlich wissen und riss sie aus ihren Gedanken. Beinahe hätte Anabel laut aufgelacht. Ausgerechnet diese Frage. Dabei hatte er ihr doch so tolle Mails geschrieben. Noch so ein Phänomen von Dating-Portalen. Viele Männer konnten mit Worten wirklich gut umgehen. Wenn sie diese aufschrieben. Sobald es ein Treffen in der echten Welt gab, verloren sie die Fähigkeit, sinnvolle und zusammenhängende Sätze zu formulieren.
Zum Kreischen.
„Hallo? Erde an Anabel …“
Anabel nippte an ihrem Wasser und lächelte. „Ich arbeite beim Staatsschutz im LKA.“
„Du meine Güte“, rief Dominik.
Anabel hatte den Eindruck, er empfand eine Mischung aus Faszination und Unbehagen.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ein Job wie jeder andere“, sagte sie leichthin.
„Ich bitte dich. Das ist ganz gewiss kein Job, wie jeder andere. Ich finde es bewundernswert. Ganz ehrlich. Das ist kein Süßholzraspeln. Polizisten, Feuerwehrleute. Riskieren jeden Tag ihr Leben und verdienen nicht gerade berauschend. Da habe ich Hochachtung.“
Das war jetzt eine vielsagende Reaktion. Das einzige, was ihr dazu einfiel, war: nett.
Und nett war die kleine Schwester von scheiße.
Sie wollte gerade etwas sagen, als ihr Handy klingelte.
„Entschuldige“, sagte sie leise, stand auf und entfernte sich vom Tisch. Erst als sie alleine in einer ruhigen Ecke stand, nahm sie das Gespräch an.
Es war ihr Partner und Vorgesetzter Hauptkommissar Blessing. „Sorry, dass ich störe, aber wir haben eine Leiche.“
„Was ist passiert?“
Blessing erzählte mit knappen Worten, dass der Kriminaldauerdienst zum Tatort gerufen wurden, nachdem eine Streife, die wegen eines Notrufes zum entsprechenden Haus gefahren war, dort eine Leiche vorgefunden hatte. Die Adresse des Tatortes, die der Kollege vom Kriminaldauerdienst an Blessing weitergegeben hatte, sagte ihr nichts. Blessing erzählte ihr, dass die Jungs vom KDD festgestellt hatten, dass ein unnatürlicher Todesfall vorlag.
Klar, eine Kugel im Schädel ist definitiv keine natürliche Todesursache.
Um das zu erkennen, musste man nicht studiert haben.
Anabel sagte zu, sich sofort auf den Weg zu machen. Sie beendete das Gespräch und kehrte zurück zu ihrem Tisch. Dominik sah sie erwartungsvoll an.
Anabel lächelte entschuldigend. „Es tut mir leid, ich muss los.“