Arkane - Pierre Bordage - E-Book

Arkane E-Book

Pierre Bordage

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jahrhundertelang herrschten sieben Familien zusammen über das sagenhafte Arkane. Die Stadt wuchs und gedieh, niemand schien die Harmonie zerstören zu können. Doch unter der glitzernden Oberfläche breiteten sich unbemerkt dunkle Mächte aus – und sie haben Erfolg: Bei einem Massaker wird eine der sieben Familien ausgelöscht. Nur die schöne Oziel überlebt und schwört Rache. Während sie auf der Suche nach Verbündeten eine schreckliche Entscheidung treffen muss, bricht im eisigen Norden der Steinzauberlehrling Renn auf. Einzig seine Gabe und sein Wissen könnten Arkane noch retten ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 651

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Einst wurde die sagenumwobene Stadt Arkane von den sieben mächtigen Göttinnen des Flusses Odivir vor schrecklichem Unheil gerettet. Diese sieben Göttinnen gründeten sieben Herrscherfamilien, die seit Anbeginn der Zeit über das Wohl der Stadt wachen. Unter ihrer Regentschaft wuchs und gedieh Arkane, niemand schien die Harmonie zerstören zu können. Doch unter der glitzernden Oberfläche breiteten sich unbemerkt dunkle Mächte aus – und sie haben Erfolg: Eine der sieben Herrscherfamilien gerät in einen Hinterhalt und wird beinahe vollständig ausgelöscht. Nur die schöne Oziel du Drac überlebt und schwört bittere Rache. Während sie auf der Suche nach Verbündeten eine schreckliche Entscheidung treffen muss, bricht im eisigen Norden des Landes der Steinzauberlehrling Renn nach Arkane auf. Einzig seine Gabe und sein Wissen können Arkane noch retten ...

Der Autor

Pierre Bordage, 1955 im Département Vendée geboren, studierte Literaturwissenschaft in Nantes. Mit seinem ersten Roman Die Krieger der Stille landete er auf Anhieb einen riesigen Publikumserfolg. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Grand Prix de l’Imaginaire. der Autor lebt mit seiner Familie in Boussay an der Atlantikküste. Zuletzt ist im Heyne Verlag von ihm erschienen: Die Sphären.

Pierre Bordage

ARKANE

Das Haus der Drachen

Roman

Aus dem Französischen übersetzt

von Carola Fischer

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der französischen Originalausgabe:

ARKANE – LA DÉSOLATION

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2018

Redaktion: Elisabeth Bösl

Copyright © 2017 Bragelonne

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstraße 28, 81673 München

Umschlagillustration: © Didier Graffet/Bragelonne

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-22015-0V001

www.heyne.de

1

DAS HAUS DES DRACHEN

Es geschah, dass der Odivir über seine Ufer trat und das Land Arkane, das damals Tagris genannt wurde, überschwemmte – vom nördlichen Ostian-Massiv bis hin zu den weit entlegenen, finsteren Sümpfen im Süden. Die verzweifelten Schreie der Mütter rührten die sieben Göttinnen des Flusses, und sie befahlen ihren Dienern, sieben Menschenfamilien zu verschonen.

Die erste Familie wurde vom rotgeschuppten Drachen gerettet, die zweite vom orange gefiederten Adler, die dritte vom gelbhäutigen Delfin, der vierten Familie half der Wolf mit dem grünen Fell, der fünften der blau gefleckte Corridan, der sechsten der Nachtbär aus den Weihern, und die siebte schließlich rettete die Orbal, die violette Schlange, die im schlammigen Untergrund lebt.

Die sieben aus den Wassern geborgenen Familien flüchteten sich auf den höchsten Hügel von Tagris. Die Diener der Göttinnen brachten ihnen Fisch, sodass sie nicht Hunger litten, bis das Hochwasser zurückgegangen war.

Der Odivir zog sich in sein Flussbett zurück, nachdem er den Boden fruchtbar gemacht hatte. Die Familien beschlossen, auf dem Gipfel des Hügels eine Stadt zu gründen, die sie Arkane tauften, was in der Sprache unserer Väter die Unsinkbare bedeutet.

Die Familien nahmen die Namen der Diener an, die sie gerettet hatten. Es gab das Haus des Drachen, das Haus des Adlers, das Haus des Delfins, das Haus des Wolfs, das Haus des Corridans, das Haus des Bären und das Haus der Orbal …

Heldenepos von Arkane,

Überlieferung der Erzähler im Chor, Arkane

Atemlos blieb Oziel in der schmalen Gasse stehen, die sich eine endlose graue Mauer entlang zog. Das Morgenlicht war noch nicht durch den grauen, kalten Schleier am Himmel über den Höhen von Arkane gedrungen. Aus der schläfrigen Stadt stieg dumpfer Lärm auf, in den sich liebliches Vogelgezwitscher mischte. In weniger als dem Viertel einer Sexte würden die Karren und Träger der Kaufmannsgilde Mühe haben, sich einen Weg durch die laute, bunte Menge auf den Plätzen und in den Straßen zu bahnen.

Oziel atmete tief durch und überzeugte sich davon, dass kein steinernes Auge in ihrer Nähe war. Sie war noch keinem begegnet und es war unwahrscheinlich, ausgerechnet hier, mitten in dieser Gasse, auf eines zu treffen, aber es kursierten so viele Gerüchte über die Petrokel, dass sie es sofort erkannt hätte. Ulio behauptete, dass man nur seinen Blick kreuzen musste, um versteinert zu werden. Sie hatte nie auch nur den geringsten Anflug von Spott in den Augen ihres Bruders bemerkt, wenn er diese Worte mit entsetzter Stimme aussprach.

Plötzlich fiel Oziel die Abwesenheit der Legionäre auf: Auf ihrem ganzen Spaziergang hatte sie nicht einen einzigen schwarz Uniformierten gesehen. Treu ihrer Devise:Den sieben Überlebenden des Flusses dienen wir unterschiedslos und beschützen sie stets gegen alle Feinde, patrouillierte die Legion der Höhen Tag und Nacht in der Stadt, um einen, eher unwahrscheinlichen, Angriff von außerhalb zu verhindern – etwa einen Aufstand der Bevölkerung der unteren Ebenen alle zwei- oder dreihundert Jahre, oder auch die häufiger vorkommenden Überfälle der herrschenden Familien untereinander.

Voller Unruhe drängte sie sich in eine Mauernische. Wie jeden Morgen hatte sie einen Geheimweg genommen, den nur sie kannte, und sich immer weiter in die dämmrigen Gassen vorgewagt. Sie hatte sich vom Anwesen des Drachen entfernt, um ihre tägliche Erkundungstour durch die Höhen zu unternehmen. Nach ihrem achtzehnten Geburtstag vor einem Jahr hatte sie das dringende Bedürfnis verspürt, das Familienanwesen zu verlassen, um sich in das Herz einer Stadt zu mischen, die sie so wenig kannte. Als neunte Nachkommin in der Erbfolge des Hauses des Drachen hatte sie bis zu dem Moment nur ein paar flüchtige Eindrücke von Arkane gewonnen, wenn sie durch den Spalt im schweren Vorhang der Kutsche blickte, der sie zu offiziellen Feierlichkeiten brachte. So weitläufig und grün die Straßen und Plätze auch waren, die Viertel vom Haus des Drachen waren für sie zu klein geworden.

Sie erinnerte sich an das eingefallene Gesicht ihres Vaters, der ihr am Vorabend nach dem Essen auf dem Gang begegnet war, und an seinen schmerzerfüllten Blick. Seitdem der Rat der Sieben seinen ältesten Sohn Matteo für immer in die Tiefen verbannt hatte, lachte PatriarchNunzio nicht mehr, und noch nie hatte Oziel eine derartige Verzweiflung in seinen hellen Augen gesehen. In den vergangenen Wochen war das Gerücht umgegangen, dass die Häuser des Adlers, des Bären und des Delfins eine Allianz geschmiedet hatten. So plötzlich, dass es ihr den Atem nahm, erkannte sie, dass es sich diesmal nicht um eine der nichtigen Streitereien handelte, die die Herrscherfamilien so regelmäßig in Rage brachten wie der Wind die Wellen auf den Wasserbecken: Matteo in die Verbannung zu schicken war nur der erste Schritt eines durchdachten Plans, der bald schon in die Tat umgesetzt würde.

Man hatte beschlossen, den Drachen zu töten.

In den vielen Jahrhunderten seit der Gründung von Arkane war keine Herrscherfamilie je vom Untergang bedroht gewesen. Alle hatten sie der Reihe nach Schicksalsschläge hinnehmen müssen; sie hatten Skandalen, Verschwörungen, Unruhen getrotzt, aber es war ihnen stets gelungen, sich zu behaupten – mit oder ohne Hilfe der anderen.

Oziel nahm es ihrem Vater und ihren älteren Brüdern übel, dass sie sie immer aus den Intrigen der Höhen herausgehalten hatten. Sie meinten, sie würde nicht zählen, und behandelten sie immer noch wie das kleine Mädchen, das man mit Zärtlichkeiten überhäufte, um es von den Spielen der Erwachsenen fernzuhalten. Die Männer ihrer Familie wollten sich nicht eingestehen, dass sie bald neunzehn Jahre alt war, dass ihre Brust und ihre Hüften die einer Frau waren und dass jetzt lockiges, dunkles Haar das in ihre Scham gebrannte Familiensiegel verdeckte. Nur Ulio, der in der Erbfolge einen Rang über ihr stand, schien bemerkt zu haben, dass sie erwachsen geworden war. Sie hegten eine Zuneigung füreinander, die an Vergötterung grenzte. Manchmal kam Ulio mitten in der Nacht in ihre Kammer geschlichen, legte sich neben sie ins Bett und drückte sich an sie. Sie hielt still, Verzückung, Scham und Angst durchfluteten ihren Körper, während die Hände ihres Bruders unter ihr Nachthemd über ihre zitternde Haut glitten. Er hatte nie mehr getan als sie zu streicheln, als ob ein Rest Vernunft oder ein schlechtes Gewissen ihm verboten, den letzten Schritt zu gehen, trotz seines brennenden Verlangens. Sie wusste nicht, wie sie reagiert hätte, wenn er versucht hätte, sie zu nehmen, wenn er versucht hätte, etwas Heiliges zu entehren, das für das Haus des Drachen großen Wert besaß. Sie begehrte ihn genauso sehr wie sie ihn fürchtete, und während sie sich verführerisch an ihn schmiegte, gab sie vor zu schlafen. Trotz ihrer fünfzehn Monate Altersunterschied hatte sich seit früher Kindheit eine innige Komplizenschaft zwischen ihnen entwickelt. Beide teilten dieselbe Vorliebe für Ungehorsam, sie liebten das Ausreißen, Gelächter, Spott, die Heldenepen, das Reiten und den Umgang mit Waffen. Ein dumpfes Raunen, herbeigeweht von einer lauen Brise, breitete sich in der Stille der Morgendämmerung aus. Mit einer Heftigkeit, die sie am ganzen Körper erzittern ließ, spürte Oziel, dass dieser Angriff ihrer Familie galt. Ein Klagelaut entrann ihren Lippen. Ihre Augen hefteten sich auf eine Skulptur in der glatten Steinmauer, eine eingerollte Schlange, die sich in den Schwanz biss, das Symbol der Auferstehung, des mystischen Ordens, dessen Mitglieder die Gelübde des Schweigens, des Gehorsams und der Keuschheit ablegten. Sie war an der östlichsten Spitze der Höhen angelangt, in dem Viertel, das sich zwischen dem Anwesen des Wolfs und dem Refugium der Auferstehung erstreckte.

Sie steckte die Hand unter ihren Umhang, um den Griff ihrer Waffe, ein Degen mit einer dünnen, geraden Klinge, zu spüren. Plötzlich waren ihre Unruhe und ihre Bedenken wie weggefegt, und Begeisterung erfasste sie. Es war ein berauschendes Gefühl, die Finger um das glatte Metall zu schließen. Mazin, ihr Fechtmeister, meinte, dass er noch nie eine so brillante und entschlossene Schülerin gehabt habe – das Kompliment an seine Schwester ließ Ulio eifersüchtig werden und bot eine wunderbare Gelegenheit, ihn deswegen aufzuziehen. Sie glich ihre durchschnittliche Körpergröße durch die Wendigkeit eines Fischotters, ein außergewöhnliches Durchhaltevermögen und einen unbeugsamen Willen aus.

Sie entfernte sich in Richtung Westen und als sie ans Ende der Gasse gelangte, legte sie den schweren Umhang ab und zog die unbequemen Stiefel aus. Dann ging sie barfuß über einen Platz, der von Platanen mit grünen und gelben Blättern gesäumt war. Bronzekettchen klirrten an ihren Hand- und Fußgelenken; die lederne und stählerne Scheide ihrer Waffe schlug gegen ihre Waden; der Atem der Eroberer, der warme Wind aus dem fernen Ostian-Massiv, blies ihr ins Gesicht.

Sie gelangte auf einen kleinen gepflasterten Platz, wo einige Schatten umhertorkelten, eine Horde Lackaffen mit Masken vor dem Gesicht. Aus den Schlitzen in ihren Umhängen strömte ein Geruch nach Alkohol und Schweiß.

»Was für ein hübsches Frauenzimmer haben wir da!«

»Und sie fällt uns fertig gebraten direkt ins Maul!«

»Wo läufst du hin, meine Schöne? Hast du Feuer im Hintern?«

»Dich habe ich schon mal irgendwo gesehen …«

Sie versuchten, ihr den Weg zu versperren, aber da sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, hatte Oziel keine Schwierigkeiten, an ihnen vorbeizukommen und konnte die anzüglichen Bemerkungen und das dreckige Lachen der Männer schnell hinter sich lassen. Sicherlich waren das die Söhne der Herrscherfamilien, die die am Vortag vom Haus des Wolfs veranstaltete Siegelzeremonie auf ihre Weise verlängert hatten. Obwohl sie offiziell eingeladen gewesen war, hatte Oziel sich geweigert, hinzugehen. Sie hatte keine Lust gehabt, einem Siegelmacher, einem närrischen Alten in einem schweren Brokatmantel, dabei zuzusehen, wie er das weißglühende Siegel auf die Scham eines nicht mal dreijährigen Kindes drückte. Sie erinnerte sich noch gut an die schlimmen Verbrennungen, die das Eisen auf ihrer Haut hinterlassen hatte, an die furchtbaren Schmerzen, die wochenlang angedauert hatten, an den üblen Geruch nach gegrilltem Fleisch. In ihrem Kopf und in ihrem ganzen Inneren ertönten jetzt wieder ihre Schreie von damals. Die Siegelmacher behaupteten, dass die Siegelzeremonie die Verdienste der sieben Tiere würdigte, die den Entstehungsmythen zufolge das Volk von Arkane vor dem Aussterben gerettet hatten; Oziel zweifelte an der Notwendigkeit, so ein barbarisches Ritual beizubehalten.

Plötzlich hatte sie es eilig, nach Hause zu kommen. Sie ließ den Degen stecken und öffnete weder ihren Gürtel, noch riss sie sich das Kleid vom Leib, um in ihrer Lieblingskleidung dazustehen, der kurzen, leichten Tunika, die den Frauen des Drachen als Unterkleid diente. Oziel lief durch ein nie enden wollendes Labyrinth aus kleinen Gassen, Treppen, Vorplätzen, Terrassen und Höfen. Dabei vertraute sie auf den Lärm, der sich im friedlichen Morgen ausbreitete, rempelte eine Gestalt an, die an der Kreuzung zweier Gassen vor ihr auftauchte, und schlängelte sich zwischen den von stummen Männern gezogenen Handkarren der Fuhrwerkergilde hindurch. Ihr Fuß stieß hart gegen ein Stück Eisen zwischen zwei Pflastersteinen. Oziel ignorierte den Schmerz, der sich lianenartig um ihren Knöchel und ihr Bein wickelte. Als sie den Place des Fondateurs erreicht hatte, erkannte sie in der Ferne den Schatten der riesigen Befestigungsmauer mit den Schießscharten, die die Höhen umschloss. Sie setzte ihren Weg fort, ohne dem imposanten Steinbogen des Laz Beachtung zu schenken, dem Eingang des Labyrinths, das zu der tiefer liegenden Ebene der Verse führte. Gruppen von Karren und Trägern strömten dort aus dem Inneren der Erde. Den Weg wiesen ihnen die Fackelleute, die man an ihren Lichtern und an ihrer weiß-goldenen Uniform erkennen konnte.

Oziel durchquerte, ohne ihre Schritte zu verlangsamen, den ältesten und verwinkeltesten Teil der Höhen. Die Stadt erwachte allmählich zum Leben, von Zeit zu Zeit ertönten die schrillen Rufe der Hausierer, das Morgenlicht verscheuchte die letzten Spuren der Nacht, Fensterläden wurden geöffnet und die Menschen fuhren sich in herrischem Ton von Haus zu Haus an.

Schließlich erblickte sie das majestätische Tor des Familienanwesens, über dem ein scharlachroter, granitener Drache mit ausgebreiteten Schwingen ragte. Sie sah keine Wächter, nur die einen Spalt breit offen stehenden Flügeltüren, und vor Angst meinte sie zu taumeln. Sie ignorierte die innere Stimme, die sie anflehte umzukehren, sondern beschloss, den geheimen Eingang zu nehmen, den sie mit zwölf Jahren beim Versteckspielen mit Ulio entdeckt hatte. Seltsamerweise hatte sie ihrem Bruder nie davon erzählt. Zweifellos hatte sie sich beweisen wollen, dass sie ein Geheimnis für sich behalten konnte. Sie lief mehrere Hundert Schritte an der Ringmauer entlang und bog dann in den düsteren Durchgang ein, der die Anwesen des Drachen und des Bären voneinander trennte. Nach etwa fünfzig Schritten drang sie ins Dornengestrüpp, das im Schatten wucherte. Etliche Dornen bohrten sich durch die Kleidung in ihre Haut. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu jammern, und versuchte die Ruhe zurückzugewinnen. Dann tastete sie nach der Öffnung, die nach einem Einsturz am Fuß der Mauer vergessen worden war, und schlängelte sich zwischen den verstreuten, halb in der Erde versunkenen Steinen hindurch. Wie jedes Mal unterdrückte sie einen Anflug von Panik, während sie unter der Mauer durchkroch, dann stand sie auf der anderen Seite inmitten einer wild wachsenden, dichten Vegetation. Der strenge Geruch des Humus kratzte ihr im Hals, als sie sich einen Weg bis zu den großen steinernen Wasserbecken am Rand der Gemüsegärten bahnte. Das Wasser verschwand unter den dunkelroten Blättern und den weißen Blüten der Seerosen.

Geklapper, Gemurre, Geschrei und Gejammer drang durch das Rascheln des Laubs und den wachsenden Lärm der Stadt. Auf der anderen Seite des Beckens tauchte eine Silhouette aus einem Wäldchen auf: eine junge Frau im Nachthemd, deren blonde Haare wie Flammen auf ihrem Kopf tanzten. Oziel hatte keine Zeit, ihr zuzuwinken. Ein Schatten stürzte sich auf ihre Schultern und stieß sie um. Ein Schnüffler, eines dieser Tiere mit schwarzem, kurzem Fell, die seit einigen Jahren die Schergen der Häuser des Wolfs und des Corridans benutzten. Oziel gefror das Blut in den Adern, als das Raubtier mit rotgeränderten Lefzen den Kopf hob und seine Rubinaugen in ihre Richtung wandte. Sie zog ihren Degen und ging leicht in die Knie in Kampfstellung. Der Schnüffler gab ein dumpfes Knurren von sich und kratzte mit einer Vorderpfote über den Boden. Mit wenigen Sätzen könnte er das zwanzig Schritte lange Becken umrunden. Die Waffe in ihrer Hand kam Oziel lächerlich vor angesichts einer solchen Tötungsmaschine. In dem Moment, als das Tier sich bewegte, ertönte ein Pfiff und stoppte es mitten in der Bewegung. Die geschürzten Lefzen entblößten seine gekrümmten Fangzähne. Einen Moment lang zögerte der Schnüffler, dann knurrte er verärgert und verschwand schließlich im schwachen Licht der Morgendämmerung.

Sie wartete lange, bis sie vorsichtig die steifen Beine streckte und sich hinter dem Strauch hervorwagte, wo sie sich verkrochen hatte. Eine Grabesstille hatte sich über das Anwesen gelegt, die nur von zeitweiligem Stöhnen gestört wurde.

Oziel war bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr in die Hecke zu springen. Sie nahm eine Abkürzung durch das Wäldchen mit Birken und rötlichen Zedern, dann bog sie in den von karminroten Eichen gesäumten Sandweg ein, der zu den Scheunen, den Pferdeställen und anderen Gebäuden führte, von wo Pferdegewieher, Muhen und Gackern der schlachtreifen Tiere zu ihr herüberdrangen. Überall lagen Körper, auf dem Rasen, zwischen den Säulen, auf den Treppen, auf den grauen Steinplatten der Terrassen. Es waren Soldaten des Hauses des Drachen, Oziel erkannte sie an ihrer purpurnen Uniform und dem konischen Helm. Und da waren auch Verwalter, Gärtner, Reitknechte, Diener, allesamt getötet, Männer, Frauen, Kinder mit durchschnittener Kehle und aufgeschlitzten Leibern. Einige hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich etwas anzuziehen und hatten versucht, nackt oder halbnackt zu fliehen. Schwärme von Aaskrähen zankten sich bereits um die Leichen.

Oziel erblickte unter den Toten vertraute Gesichter: Brat, den Stallburschen, der sich um ihre Lieblingsstute kümmerte, Elvon, den strengen, alten Reitlehrer, dessen Wutausbrüche berüchtigt waren, Polzine, die Reiterin, die die jungen Pferde zuritt … Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Lange Zeit blieb sie niedergeschlagen und verzweifelt dort stehen, unfähig, sich zu bewegen. Dann aber erfasste sie der verzweifelte Drang, zu erfahren, was aus ihrer Familie geworden war, und sie ging in Richtung Hauptgebäude. Sie wusste, dass von dem stolzen Haus des Drachen nichts mehr übrig war, aber sie wollte noch ein letztes Mal die Gesichter ihrer Lieben sehen.

Ulio … hoffentlich …

Sie hörte Stimmen und Schritte und flüchtete sich in einen der zahlreichen Taubenschläge auf dem Anwesen. Sie stieg die klapprige, vollgekotete Holztreppe nach oben. Die Tauben in den Nischen fühlten sich von ihrem Eindringen gestört und flogen in einer Wolke aus Staub, Stroh und Federn auf. Oziel kauerte sich nahe einer Öffnung, von wo aus sie freien Blick auf die Umgebung hatte. Eine riesige Truppe erschien auf dem Hauptweg: etwa hundert Männer und zehn Schnüffler an Leinen. Sie trugen weder eine Uniform noch eine der Farben der Herrscherfamilien. Das war nicht überraschend: Es kam vor, dass die Herrscherhäuser auf die Dienste von Mördern aus den unteren Ebenen von Arkane zurückgriffen, um ihre Streitigkeiten zu regeln. Diese Männer hier verbargen schwere Zweihänder, Kampfäxte, Armbrüste oder Dolche unter ihren blutbefleckten, dunklen Umhängen. Ihre Gesichter waren hinter Vogelmasken versteckt, auf dem Kopf trugen sie Hüte mit breiten Krempen, sodass nur das bärtige Kinn und die mordlustigen Augen zu erkennen waren.

Oziel fürchtete, dass ihr Geruch sie verraten würde, als die Schnüffler am Taubenschlag vorbeiliefen, aber die Truppe entfernte sich, und allmählich kehrte wieder Stille ein.

Von ihrem Versteck hinter einem Apfelbaum aus beobachtete sie lange Zeit die rückwärtige Fassade des Hauptgebäudes mit den sechs Spitztürmen. Nichts bewegte sich auf den Freitreppen oder den mit Leichen bedeckten Balkonen. Die Angreifer hatten den Ort anscheinend verlassen. Es schien undenkbar, dass eine Handvoll Auftragsmörder genügt hatte, um die Armee des Drachen zu vernichten, die mehrere Hundert voll ausgebildete Männer umfasste, und zudem auch, genau wie die sechs anderen Familien, von der Legion der Höhen geschützt werden sollte.

Vorsichtig wagte sich Oziel auf die weißen Kieselwege zwischen den Blumenbeeten und den Buchsbäumen vor. Ohne Zwischenfälle erreichte sie die Rampe, die sanft zum Lieferanteneingang hin abfiel. Die Diener hatten keine Zeit mehr gehabt, die Steinplatten zu säubern, die die Pferdegespanne am Vorabend verschmutzt hatten. Täglich lieferte eine Stafette an Wagen und Kippkarren Mehl, Trockenfrüchte, Gewürze, Fette, Öle, Wein, wertvolle Hölzer und Pflanzenseifen aus dem östlich gelegenen Flachland, das dank des Hochwassers des Odivirs sehr fruchtbar war; und fast jeden Tag kam es zwischen den Lieferanten und den Verwaltern des Drachen wegen der ständig steigenden Preise und den maßlosen Forderungen der Fuhrwerkergilde zu erbitterten Streitereien.

Oziel schlich sich in die große Gewölbehalle, wo die Verwalter die Waren entgegennahmen und kontrollierten. Der strenge Blutgeruch überdeckte den üblichen Gestank nach Fett, Gewürzen und kalter Asche. Im Halbdunkel stieß sie gegen einen zusammengekrümmten, leblosen Körper. Sie brach in Tränen aus, als sie Laudine erkannte, die Köchin, ihre geliebte Laudine, die es immer geschafft hatte, ihr etwas Süßes zu bringen, wenn sie wegen einem ihrer Streiche aufs Abendessen verzichten musste. Sie war von einem Stoß mitten ins Herz getötet worden. Oziel legte den Kopf auf die leblose Brust der alten Frau und weinte leise.

Es knarrte. In dem Stockwerk über ihr ging jemand umher. Zweifelsohne war das einer der Mörder, der zurückgeblieben war, um die Verwundeten zu erledigen. Oder ein Überlebender. Oziel stand wieder auf und konzentrierte sich auf die Geräusche. Auf den Kummer folgte der Zorn. Eine dunkle, giftige Quelle sprudelte in ihre Adern. Sie leistete keinen Widerstand, sondern ließ sich mit nahezu sinnlicher Hingabe in die finsteren Tiefen treiben, wo ihre Schatten umherirrten, Oziel verhext vom kühlen Stahl der Klingen, Oziel, die sich wegen Kleinigkeiten ärgerte, Oziel, die hysterische Anfälle bekam, sodass man glaubte, sie sei vom Wahnsinn oder vom Teufel besessen … Oziel, die ebenso fasziniert wie erschrocken über die Heftigkeit ihrer Gefühle für ihren Bruder war …

Wieder knarrte es.

Sie war nicht ganz bei sich, als sie mit schnellen Schritten durch die Vorratskeller, die Spülküche und die große Küche lief, ohne auf die Leichen am Boden zu achten, von denen einige im großen Kamin nebeneinander aufgespießt waren und andere mit aufgeschlitzten Bäuchen oder geköpft auf den Tischen lagen. Mehrmals sprang sie mit einem Satz über die toten Körper hinweg, watete durch Blutlachen und lief die abgenutzte Steintreppe in das obere Stockwerk hinauf. Unter den Opfern befanden sich zahlreiche Soldaten in purpurner Uniform, aber kein einziger Angreifer, als ob die Armee des Drachen keine Zeit oder keine Kraft gehabt hatte, sich zu verteidigen.

Sie stürzte in den kleinen holzgetäfelten Speisesaal, wo die Familienmitglieder ihre Mahlzeiten einnahmen, wenn kein offizieller Empfang gegeben wurde. Dort fand sie drei ihrer fünf Brüder, zwei ihrer Schwägerinnen, einige Nichten und Neffen, ihre ältere Schwester Jaelle sowie einige Diener in purpurner Livree. Die Angreifer hatten mit unerbittlicher Präzision getötet und auf den Hals, das Herz oder die Augen gezielt. Diesmal weinte sie nicht, denn sie war bereits von blindem Hass erfüllt.

Etwas weiter weg erblickte sie einen Toten in seltsamer Lage nahe der runden Öffnung, die auf den großen Saal hinausging.

Ihr Herz hörte kurz auf zu schlagen, als sie dem starren Blick von Ulios weit aufgerissenen Augen begegnete, dessen Kopf seltsam verdreht dalag. Er hatte sein Schwert nicht losgelassen. Oziel biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete und verfluchte den Impuls, der sie in diesen tragischen Stunden weit weg vom Familienanwesen geführt hatte. Ihre Spontaneität hatte sie daran gehindert, an der Seite ihres geliebten Bruders zu kämpfen und im gleichen Moment wie er den letzten Atemzug zu tun. Es gab so vieles, was sie ihm hätte sagen wollen, aber sie hatte nie die Zeit dafür gefunden. Ulio trug die goldbestickte Tunika aus Wildseide, die sie ihm zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Zweifellos hatte sein letzter Gedanke ihr gegolten; mehr Trost würde sie nicht mehr finden.

Eine Bewegung in ihrem Rücken. Sie drehte sich um, mit vorgebeugtem Oberkörper und erhobenem Degen.

»Oh Göttinnen, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, an diesem verhängnisvollen Ort noch einer lebenden Seele zu begegnen …«

Eine schmale Gestalt stürzte mit ausgebreiteten Armen in den Speisesaal und kam zwischen den umgestoßenen Stühlen auf sie zu.

»Legt die Waffe nieder, Dame Oziel. Erkennt Ihr Euren alten Lehrer denn nicht wieder?«

Wie könnte sie dieses eingefallene Vogelgesicht nicht wiedererkennen, die vielen Falten, die wenigen weißen Haare, die fleckige Haut und die glasigen Augen, die langen, knorrigen Finger, der Umhang mit den verblassten Farben, die heisere Stimme, die unsichere Haltung, die von endlosen Stunden des Eingesperrtseins in der feuchten, kalten Kammer im ersten Stock eines Eckturms zeugten?

»Ich hatte Patriarch Nunzio gewarnt, Euren Vater, dass die anderen Häuser sich gegen das Haus des Drachen verbündet haben. Er wollte nicht auf mich hören. Er hat mich als verrücken Alten abgetan.«

Xarons vertrauter Geruch, eine Mischung aus Staub, Pergament und Muffigkeit, weckte in Oziel den Widerwillen, den sie schon von jeher gegen den alten Hauslehrer verspürt hatte. Sie ließ die Arme sinken und setzte sich zitternd vor Erschöpfung auf einen Tisch, auf dem noch Reste des Frühstücks verstreut lagen. Ein heller Sonnenstrahl fiel durch ein Fenster auf das blutbespritzte, weiße Tischtuch, auf die Malereien der Holzvertäfelung, auf die kunstvolle Kamineinfassung.

»Warum?«, stammelte sie. »Warum nur?«

»Ich bitte Euch, Dame Oziel, lasst uns nicht länger hierblieben. Sie könnten jeden Moment zurückkommen.«

Xaron legte seine Hand auf ihren Unterarm. Eine Welle von Wut und Abscheu verhinderte, dass die junge Frau vollkommen in Kummer und Bitterkeit versank. Sie unterdrückte das heftige Verlangen, dem Alten ihre Klinge in den Bauch zu rammen, und trat einen Schritt zurück, um sich von seinem übel riechenden Atem fernzuhalten.

»Das sind keine gewöhnlichen Mörder«, fuhr der Lehrer fort. »Sie kommen von weit her.«

»Aus der Ebene der Niederen von Arkane?«

Xarons blasse Augen richteten sich auf die junge Frau; sie fühlte sich von seinem penetranten Blick beschmutzt.

»Von noch viel weiter. Gehen wir, ich flehe Euch an.«

»Warum seid Ihr verschont geblieben?«

»Ich bin im Eckturm eingeschlafen, nachdem ich nachts noch den Himmel beobachtet hatte. Sie sind nicht auf die Idee gekommen, auf den Speicher zu steigen. Erst als ich wieder heruntergekommen bin, habe ich bemerkt …«

Xaron schüttelte den Kopf. Er diente dem Drachen schon sehr lange. Laudine behauptete, dass er weit über einhundertfünfzig Jahre alt sei. Die meisten Kinder der Familie brachten ihm die Zuneigung entgegen, die man für einen alten, exzentrischen Onkel verspürte. Er wirkte gleichermaßen beruhigend wie abstoßend und lehrte sie alle Lesen, Schreiben, Konversation, Rechnen, Geschichte, Mythologie, Diplomatie und die Grundzüge der Astronomie, deren glühender Anhänger er war. Patriarch Nunzio hatte verfügt, dass jedes seiner Kinder, ob Junge oder Mädchen, fähig sein sollte, seine Nachfolge anzutreten und deshalb musste jeder Nachkomme des Drachen alles Notwendige über die Führung eines Hauses der Höhen lernen.

Die beiden Jüngsten, Ulio und Oziel, waren ab ihrem siebten Lebensjahr zusammen mit ihren Geschwistern unterrichtet worden. Seitdem hatten sie den größten Teil des Tages in dem kargen, eiskalten Raum im Eckturm verbracht. Die meiste Zeit langweilten sich die Geschwister. Ihre Blicke wanderten aus dem Fenster zum Park oder zu den fernen Hügeln des Anwesens der Schlange Orbal auf der anderen Seite. Sie fingen erst an, sich zu konzentrieren, wenn Xaron über die Poesie sprach, das ihr Lieblingsfach war. Begeistert vom Deklamieren epischer Erzählungen über die Gründung Arkanes, schrieben sie auch selbst Gedichte in der alten Metrik, die sie sich gegenseitig mit stolzer Furcht leise aufsagten. Oziels Blick fiel noch einmal auf Ulios erstarrtes Gesicht; jegliche Lebenskraft war aus seinem Körper gewichen, sein feuriger Blick für immer erloschen … Sie senkte den Kopf, damit man ihre Tränen nicht sah.

»Ich hätte niemals geglaubt, dass ich den Tag erleben würde, an dem eine der sieben Herrscherfamilien von den anderen ausgelöscht wird«, sagte Xaron mit müder Stimme. »Das Gleichgewicht ist gestört. Ihr seid zweifelsohne die einzige Überlebende des Drachen und …

»Wisst Ihr, was mit meinen Eltern geschehen ist?«

»Ich glaube, man hat sie lebend gefangen genommen und in ein anderes Viertel auf den Höhen gebracht.«

»Wie könnt Ihr das wissen, wo Ihr doch im Eckturm eingeschlafen wart?«

»Ich habe die Schreie Eurer Mutter gehört.«

»Man hört doch nichts, wenn man schläft …«

Xaron berief sich auf seine Würde und blickte Oziel überrascht, aber auch missbilligend an, als ob die Aggressivität und die Andeutungen seiner Schülerin ihn verärgerten. Offensichtlich fiel es ihm schwer, sich vor ihr, die er immer noch als ein Kind ansah, zu rechtfertigen.

»Es waren die Schreie Eurer Mutter, die mich aufgeweckt haben.« Der alte Mann deutete mit der Hand zu den Leichen. »Ich habe die wichtigsten Räume des Hauptgebäudes durchsucht, dabei aber die Leichen Eurer Eltern nicht gefunden. Daraus habe ich geschlossen, dass man sie verschleppt hat, dass die Angreifer sie lebend wollten.«

Oziel machte sich Vorwürfe, weil sie den alten Lehrer gekränkt hatte, aber in ihrer Verzweiflung wurde sie verbittert und ungerecht. Außerdem hatte sie Xaron gegenüber stets einen Argwohn gehegt, auch wenn der vielleicht unbegründet war. »Du hältst alles für schlecht, was dich anwidert, so wie die meisten anderen Mädchen auch«, hatte Ulio sie eines Tages verspottet. »Du misstraust Xaron, weil er stinkt. Komm mir bloß nie wieder mit weiblicher Intuition!«

Oziel kämpfte wieder mit den Tränen. Der unerträgliche Gestank hinterließ in ihrem Mund den Geschmack bitterer Galle.

Im Park brach lauter Tumult aus.

»Sie kommen zurück!«, flüsterte Xaron. »Verstecken wir uns.«

»Wo?«

»Ich kenne einen Ort, wo uns niemand finden wird. Folgt mir.«

Der Hauslehrer ging in Richtung des großen Saals, ohne Oziels Antwort abzuwarten. Sie zögerte einen Moment, doch als der Lärm näher kam, rannte sie ihm nach. Sie liefen durch zwei Salons, ein Boudoir und den großen Empfangssaal, bevor sie eine der vielen Treppen nahmen, die die sechs Stockwerke des Gebäudes miteinander verbanden. Ihre Schritte und ihr Keuchen klangen seltsam laut inmitten der Grabesstille. An einem ungewöhnlichen Morgen wären die Gänge schon voller Leben gewesen und die ersten Schreie, das erste Gelächter, die ersten Streitereien wären durch die Mauern, die Wände und die Holzdielen gedrungen.

Eine Weile lang hoffte Oziel, schweißgebadet in ihrem eigenen Bett aufzuwachen und mit einem Seufzer der Erleichterung festzustellen, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war, aber der anhaltende Schmerz in ihrem Körper zwang sie, der Realität ins Gesicht zu sehen: Man hatte das stolze Haus des Drachen vernichtet, eine der sieben Gründerfamilien von Arkane. PatriarchNunzio und Dame Albae, die verehrte Mutter, waren vielleicht noch am Leben, aber wie lange noch? Die Verschwörer hatten bestimmt nicht die Absicht, sie zu verschonen. Zweifellos waren das dieselben Männer, die auch bereits beim Rat der Sieben die Verbannung von Matteo, dem ältesten Sohn und Erben des Drachen, erwirkt hatten. Man hatte ihm vorgeworfen, zusammen mit Dienern und Anhängern des Bunds der Verwüstung grausame Opferrituale abzuhalten.

Oziel erkannte jetzt knurrende Schnüffler, ihre brüllenden Herren, stampfende Stiefel und quietschende Räder auf den Kieswegen. Eine riesige Truppe war dabei, das Anwesen einzunehmen. Sicherlich würden sie alle Schilder der Familie sowie die purpurnen Fahnen verbrennen, aber würden sie im Anschluss neue Farben hissen? Sie hatte schon gehört, dass reiche Kaufleute aus den unteren Ebenen von Arkane beim Rat der Sieben gegen die Herrscherfamilien intrigierten. Ihr Ziel war es, an die Stelle einer der Herrscherfamilien zu treten, die sie für dekadent und des Regierens unwürdig hielten. Lange Zeit hatte man geglaubt, dass es um die Häuser der Orbal und des Delfins ginge, aber irgendwann hatte man diesen Gerüchten keine Bedeutung mehr zugemessen, »diesen«, wie Patriarch Nunzio sagte, »Fantastereien, diesem Kinderkram.«

Xarons spärliche Haare flatterten wie ein gräulicher, schweigsamer Vogel durch den halbdunklen Gang – oder war das eine Galerie? Oziel hatte geglaubt, jeden Winkel des Hauses erkundet zu haben, aber sie erkannte den Ort nicht wieder. Nach so vielen Gängen und Wendeltreppen, Ulios leichenblasses, starres Gesicht immer vor Augen, hatte sie schließlich die Orientierung verloren. Ihre nackten Füße berührten einen feuchten, steinigen Boden. Dem strengen Schimmelgeruch nach zu schließen, waren sie unter der Erde angekommen. Sie hatte das Gefühl, blindlings in eine Falle zu laufen, aber sie konnte nicht umkehren: Selbst wenn sie den Weg zurück fand, riskierte sie dennoch, den Angreifern in die Hände zu fallen, die das Haus besetzt hatten.

»Wir sind gleich da«, murmelte Xaron.

Sie liefen eine schmale Galerie entlang. überall ragten scharfkantige Steine hervor und es herrschte fast vollkommene Dunkelheit.

»Wo sind wir?«

»Macht Euch keine Sorgen, Ihr seid bald in Sicherheit.«

Der scheinbar sanfte Ton des Alten war in Wahrheit messerscharf und versetzte die junge Frau in Alarmbereitschaft. Dann erinnerte sie sich an Ulios Worte und sagte sich, dass Xaron ihr gerade das Leben rettete, wofür sie ihm dankbar sein sollte, anstatt ihm unentwegt zu misstrauen.

In der Ferne tanzten Lichtstrahlen und erleuchteten die Gewölbedecke und die zerklüfteten Wände einer Höhle. Oziel griff instinktiv nach ihrem Degen.

»Da sind Leute«, flüsterte sie.

»Das sind Freunde. Sie erwarten uns.«

»Woher wussten diese Leute, dass das Haus des Drachen heute Morgen angegriffen würde und dass wir auf diesen unterirdischen Wegen entkommen könnten?«

Xaron machte eine Pause, dann antwortete er mit leicht atemloser Stimme:

»Es gibt mehr als eine Art, sich zu verständigen, junge Dame. Sie werden die Antworten zur rechten Zeit erhalten.«

Ihre Hand umschloss weiterhin den Griff ihrer Waffe. Sie trat aus der Galerie und hätte beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht, als sie vor einem riesigen Kalkstein eine Gruppe von zehn Männern mit Fackeln stehen sah, die die gelb-orangene Uniform des Hauses des Adlers trugen. Oziel hatte nie auch nur die geringste Sympathie für die fünf Söhne der Familie des Adlers verspürt. Zwei von ihnen, Sylver und Jiun, hatten auf vulgäre Art, die nicht zu einem Edelmann der Höhen passte, um ihre Gunst gebuhlt.

»Wer ist da?«

Die tiefe Stimme bebte eine Weile in der Stille nach.

»Dame Oziel und Xaron, der Hauslehrer des Drachen«, antwortete der Alte.

Er ging gemessenen Schrittes auf die kleine Truppe zu. Der üble Modergeruch war Oziel unangenehm, deshalb folgte sie Xaron nach kurzem Zögern.

Der alte Hauslehrer blieb stehen, um die Soldaten des Adlers aufmerksam zu mustern.

»Ist euer Herr nicht mit euch gekommen?«

»Ich bin hier.«

Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit ins Licht der Fackeln. Oziel erkannte Sylver, den dritten Sohn des Adlers, noch bevor er seinen großen Hut abgenommen hatte und sein rotes, von der Axt gezeichnetes Gesicht zeigte. Er trug, wie auch die meisten anderen Söhne der Familien der Höhen, ein Wams und eine Pluderhose und darüber einen weiten Umhang mit geradem, hochgestelltem Kragen. Oziel hatte keine gute Erinnerung an ihn: sein Atem stank nach Wein, die Hände waren rau und kräftig, die Finger klein und dick, die Nägel schmutzig, die Zähne grau und hervorstehend, die dreckigen, braunen Haare stanken übler als ein ganzer Stall, und sein Lächeln war hässlich und seine Worte obszön. Seine Glubschaugen starrten auf die junge Frau, ohne dem Hauslehrer die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.

»Ich muss anerkennen, dass du deine Versprechen hältst, alter Mann«, murmelte er, ohne den Blick von Oziel zu nehmen.

»Ich hoffe, dass Ihr die Euren ebenso halten werdet«, erwiderte Xaron.

»Zweifelst du etwa an den Worten eines Erben der Höhen? Deine Worte klingen wie eine Beleidigung.«

»Nur ein Mann, der mehr als ein halbes Jahrhundert lang täglich Demütigungen ausgesetzt war, kennt den bitteren Geschmack der Beleidigung.«

Oziel warf einen Blick über Xarons Schulter. Eine Gruppe von zehn Männern war aus der Dunkelheit getreten und hatte sich leise hinter ihr aufgestellt, sodass sie keine Rückzugsmöglichkeit mehr hatte. Sie saß in der Falle. Beinahe hätte sie ihren Degen gezogen und ihn Xaron in die Seite gestoßen, doch sie beschloss zu warten. Sie wollte das Misstrauen der Männer zerstreuen, ihre ganze Kraft für einen letzten Angriff sammeln, um so viele Gegner wie möglich mit sich in den Tod zu reißen, wenn sie wieder mit Ulio vereint wäre.

»Ich spüre die Wut in diesem begehrenswerten Körper brodeln«, verkündete Sylver mit einem fiesen Lächeln.

»Sie ist nicht nur begehrenswert, sondern auch widerspenstig«, schaltete sich Xaron ein. »Ihr müsst lernen, sie zu bändigen, wenn Ihr auf ihr reiten wollt.«

Sylver nahm Oziels Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie zitterte vor Angst und wollte einen Schritt rückwärts machen, aber sie stieß an einen der aufgereihten Soldaten hinter ihr. Im Licht der Fackeln schienen sie alle direkt aus den Tiefen von Arkane gekommen zu sein, wo die Menschen, den arkanischen Entstehungsmythen zufolge, zu Akchas, zu Dämonen, wurden.

Dort, wo der Rat der Sieben Matteo hingeschickt hatte.

»Ich habe schon störrischere Reitpferde als sie hier gezähmt«, murrte Sylver. »Sie wird sich schon an mich gewöhnen, so wie die anderen auch.«

»Ich habe, wie vereinbart, ein Betäubungsmittel in das Essen der Soldaten des Drachen gemischt«, sagte Xaron in schroffem Ton. »Und ich habe Euch diejenige lebend geliefert, die Ihr haben wolltet. Jetzt seid Ihr an der Reihe, Euren Teil des Vertrags zu erfüllen.«

Der Sohn des Adlers starrte den Hauslehrer geringschätzig an.

»Benimm dich mir gegenüber nicht respektlos, alter Mann!«

»Ihr habt mir, was Respekt angeht, gar nichts zu sagen.«

Ein mörderischer Funke blitzte in Sylvers Augen auf; schließlich brach er in Gelächter aus.

»Das ist wahr: Vor Eidbrüchigen kann man nur allergrößte Hochachtung haben!« Dann zog er einen Lederbeutel aus seinem Wams und warf ihn verächtlich auf den Boden. »Das ist der für deine Dienste vereinbarte Preis.«

Xaron bückte sich, um den Beutel aufzuheben. Eine gebogene und glänzende Klinge leuchtete plötzlich in Sylvers Hand, der Säbel des Hauses des Adlers. Mit rasender Geschwindigkeit hieb er auf den Nacken des Lehrers ein. Das Eisen bohrte sich in Xarons graue Haare und fuhr knirschend durch die Halswirbel, bis es beim Kinn angelangt war. Der Alte schluchzte auf und versuchte die Klinge wegzuziehen, aber seine dünnen Finger gelangten nicht mehr rechtzeitig bis zu seinem Hinterkopf; er sank in sich zusammen, und nach einem letzten Zucken bewegte er sich nicht mehr. Oziel hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Hauslehrer.

Mit einem Ruck zog der Sohn des Adlers seinen Säbel aus dem toten Körper und wischte ihn an seinem Umhang ab.

»Das ist der einzige Preis, den Verräter verdienen.«

Jetzt.

Die Ermordung des Alten hatte die Soldaten abgelenkt, sie waren nun weniger aufmerksam. Oziel zückte ihren Degen.

»Wenn ich du wäre, würde ich auf keinen Fall so eine Dummheit begehen«, sagte Sylver mit eiskalter Stimme.

Er steckte seinen Säbel in seinen Umhang zurück, ohne den Blick von der jungen Frau abzuwenden.

»Das Leben von Patriarch Nunzio und Dame Albae, deiner verehrten Mutter, hängt allein von deinem guten Benehmen ab.«

Mit einer lässigen Handbewegung schob er ihren Degen beiseite, packte den unteren Teil von Oziels Kleid und hob gleichzeitig ihr Unterkleid hoch, sodass sie bis zur Taille nackt dastand.

»Von deiner Fügsamkeit.«

2

DER ZAUBERER DER STEINE

Göttinnen des Flusses, reichlich Wasser soll

aus euren Brüsten und euren Leibern fließen,

und fruchtbar wird die Erde, die unsere Sonne wärmt.

Ode an die sieben Gottheiten des Flusses,

Die Ufer des Odivir,

Land von Arkane

»Eine Blume«, hatte Maître Hauhorn befohlen, bevor er verschwunden war.

Wie sollte er diesen grauen Steinblock mit den schwarzen, braunen und roten Adern, der härter war als der Schädel eines Bauern aus dem Flachland, zu so etwas wie einer Blume formen?

»Und zwar ohne Werkzeuge, mit nichts weiter als deiner Geisteskraft«, hatte der Maître hinzugefügt. »Du verlässt den Raum nicht eher, bis du das geschafft hast, verstanden?«

Zwei Jahre lang war er nun schon in der Lehre, und immer noch befand sich Renn im Anfängerstadium. Bis jetzt hatte er jedes Mal verschiedene Werkzeuge benutzt, um aus einem der Steinblöcke, die im Steinbruch oder im Atelier von Maître Hauhorn aufgereiht waren, eine grobe Skulptur zu schaffen. Seine Eltern, Bauern aus dem Uferland des Odivir, hatten ihren Sohn dem Zauberer der Steine anvertraut, in der Hoffnung, es würde etwas aus ihm werden. Renn hatte nicht die geringste Begeisterung für die Arbeit auf dem Hof gezeigt, und auch nicht für die traditionellen Tätigkeiten auf dem Land: Tagelöhner, Fährmann, Fuhrmann, Zimmermann, Böttcher … Mit sechzehn Jahren hatte sein Vater ihn in den Schlupfwinkel des Zauberers der Steine am Fuße des Ostian-Massivs gebracht. Flehentlich hatte der Vater die sieben Göttinnen des Flusses gebeten, dass Maître Hauhorn, dessen guter Ruf bis in den letzten Winkel des Landes Arkane reichte, seinen nichtsnutzigen dritten Sohn als Lehrling annehmen möge.

Es war die Idee seiner Großmutter Anaïth gewesen, nachdem sie mit eigenen Augen gesehen hatte, wie ein Stein seine Form änderte, als ihr Enkelsohn daran vorbeilief. Sie hatte daraus geschlossen, dass er die Gabe besaß, Material zu verzaubern und dass die Familie die Göttinnen des Flusses erzürnen würden, wenn sie dem Jungen nicht erlaubten, sein Talent zu entfalten. Vielleicht hatte es auch an ihren schlechten Augen gelegen oder daran, dass sie ihre Wünsche mit der Wirklichkeit verwechselte, aber die Eltern hatten sich den Argumenten der Ahne angeschlossen und die Gelegenheit genutzt, einen faulen Spross und nutzlosen Esser loszuwerden. Die Göttinnen des Flusses hatten die Gebete der Familie erhört: Am Ende einer zwanzigtägigen Reise auf schlechten, schlammigen oder vereisten Wegen war Maître Hauhorn bereit gewesen, die Besucher zu empfangen. Nachdem er Renn von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang beobachtet hatte, ohne ein Wort zu sagen, hatte er eingewilligt, ihm seine Kunst beizubringen.

Das Leben am Fuße des Ostian-Massivs gefiel dem Lehrling nicht: Zwei Drittel des Jahres herrschte Winter, der kalte Wind aus den Bergen schnitt ihm durch die Wollkleidung in die Haut, der Schnee lag manchmal sieben Fuß hoch, sodass sie Tunnel graben mussten, um Holzscheite zu holen oder zum Atelier zu kommen, das etwa fünfzig Schritt vom Haus entfernt war. Wenn er es dorthin geschafft hatte, konnten seine steif gefrorenen Finger die Hammer, Meißel und Zahneisen nicht handhaben, und seine Füße wurden in den Fellstiefeln zu Eisklumpen. Wenn er sich erleichtern musste, zögerte Renn den Moment so lange wie möglich hinaus, aus Angst, sein Urin könnte gefrieren, bevor er den Boden berührte und sein Körper würde noch mehr auskühlen. Außerdem konnte es passieren, dass Maître Hauhorn mehrere Tage, manchmal sogar mehrere Wochen lang kein Wort sprach, sodass Renn Selbstgespräche führte, um den Gebrauch der Stimme nicht zu verlernen.

Er wusste nicht, ob er in diesem Metier Fortschritte machte: Sein Meister setzte ihn vor einen Steinblock und ordnete an, er solle eine Kurve, einen Winkel, eine Kugel, einen Würfel, ein Herz daraus machen. Dann ging er weg, ohne Renn eine einzige Erklärung oder auch nur einen Ratschlag zu geben. Renn hantierte mit den Werkzeugen, die in einer Ecke des Ateliers lagen, um dem Stein die gewünschte Form zu geben. Meist gelang ihm das, aber es war eine Plackerei, bei der ihm Hände, Arme, Schultern, Nacken und Rücken schmerzten. Am Ende war er mit grauem Staub bedeckt, durstig und entmutigt. Maître Hauhorn enthielt sich jeden Kommentars über das Ergebnis von Renns Arbeit. Nur ein Hauch von Traurigkeit und Enttäuschung war in seinen fast weißen Augen zu erkennen. Renn sah den Zauberer niemals im Nebenraum arbeiten, er hörte keinen Hammer schlagen und keinen Stichel knirschen, und dennoch entdeckte der Lehrling jeden Abend neue Skulpturen von atemberaubender Schönheit: die Göttinnen des Flusses, perfekt proportioniert, die Wappentiere der sieben Herrscherfamilien, Kreaturen mit fratzenhaften Gesichtern, aufwändige Basreliefs … Das Überraschende dabei war, dass die Adern der Steine perfekt mit den Formen der Statuen oder Fresken harmonierten, als hätten sie sich nach dem Willen des Meisters gebogen.

Renn blieb lange vor Maître Hauhorns Werken stehen und fragte sich, durch welches Wunder es ihm gelang, den Skulpturen eine solche Kraft, Anmut und Lebendigkeit einzuflößen. Er selbst schaffte es allerhöchstens, eine plumpe Form zu hauen, falls der Stein nicht vorher schon durch einen falschen Schlag in zwei oder drei Teile zerfiel. Wenn er nicht weiterwusste, fragte er den Zauberer manchmal, wie er es anstellen solle; dann antwortete Maître Hauborn mit einem unergründlichen Lächeln, dass es nicht an ihm sei, seinem Lehrling seine Geheimnisse zu offenbaren.

»Wenn du den Stein nicht mehr für tote Materie hältst, wenn du lernst, seinen Gesang zu hören, wird dir der Stein Zugang zu seinem Gedächtnis, zur Geschichte der Welt gewähren. Er stammt aus den Tiefen der Berge, er ist so alt wie die Zeit. Er kann härter und verletzender sein als der härteste Stahl aus den Schmieden Arkanes, und er kann zärtlicher und weicher sein als der Bauch einer Frau. Du musst die Skulptur hofieren, sie verführen, damit sie dich nicht verletzt und ihren Schoß für dich öffnet. So wie eine Frau.«

Renn verstand nicht viel von den Worten eines Mannes, der wohl durch die Einsamkeit und die Kälte verrückt geworden war. Welche Verbindung gab es zwischen einer Frau und einer Skulptur? Wie kam der Meister auf die Idee, Renn von dem Bauch einer Frau zu erzählen, ihm, der nur seine Mutter, seine Schwestern und seine Großmutter kannte? Waren das nicht Anzeichen einer ernsthaften geistigen Störung? Manchmal meinte Renn beunruhigende Absichten in den eisigen Augen des Zauberers zu entdecken. Sie beide lebten in vollkommener Isolation, niemand würde sich sorgen, wenn er verschwände, nicht einmal seine Familie, für die er schon aufgehört hatte zu existieren. Und außerdem hätte es im Atelier eines so herausragenden Meisters wie Maître Hauhorn vor Lehrlingen nur so wimmeln müssen. Hin und wieder fragte sich Renn, ob der Zauberer nicht Anhänger dieses barbarischen und grausamen Kults war, der der Bund der Verwüstung genannt wurde. Er hatte gehört, wie seine Eltern mit leiser Stimme über die Opferungen von jungen Leuten sprachen, deren Blut die Peiniger tranken und deren Herzen sie verschlangen, um Lebenskraft aufzunehmen.

Wenn er an seine Kindheit in den Ebenen dachte, vermisste Renn am meisten das gut gewürzte, reichliche Essen seiner Mutter. Die Gerichte des Maître Hauhorn schmeckten fade. Wenn er vom Tisch aufstand, war er weder satt noch zufrieden. Seine Kleidung schlotterte ihm um den Körper, und wenn er in den einzigen Spiegel des Hauses sah, eine winzige Scherbe, die über der Steinspüle hing, erblickte er ein Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen, fiebrigen Augen und hohlen Wangen. Manchmal bekam er Lust, fortzulaufen, aber wo sollte er hingehen? In dieser Kälte würde er nicht mehr als hundert Schritte schaffen. Und er konnte auf keinen Fall wieder einen Fuß in sein Dorf am Ufer des Odivir setzen: Sein Vater würde ihn erwürgen, bevor er auch nur den Mund geöffnet hätte.

Renn betrachtete den dunklen Steinblock vor sich. Der Stein aus den Tiefen der Berge. Rau, unförmig, wenig ansprechend, beinahe feindlich. Der Wind schob sich unter der Tür durch und verbreitete eine barbarische Kälte im Atelier. In den letzten Tagen hatte es Anzeichen vom baldigen Ende des Winters gegeben, süßliche Düfte hatten sich in der Luft ausgebreitet, Wandervögel hatten lärmend ihre geometrischen Spuren am blassen Himmel hinterlassen. Der Lehrling warf einen Blick zu den Werkzeugen auf der Werkbank. Maître Hauhorn würde es sofort wissen, wenn er den großen Hammer, den Stichel oder den Meißel benutzte, um dem Block einen etwas ansprechenderen Anschein zu geben.

Der Gesang der Steine?

Im Augenblick waren inmitten der eisigen Stille nur der brausende Wind und die knarzenden Balken des Ateliers zu hören. Würde der Stein eine Melodie summen wie die Wäscherinnen am Ufer? Zwitscherte er wie die Vögel? Die Bäume, das Schilfrohr, die Ähren zitterten unter der Berührung des Windes; die Sanddünen in der Wüste des Tchezz im Westen gaben einen seltsamen, betörenden Ton von sich, den der Wind abends bis zu den Flussufern trug; der Fluss, der Vater des Reichtums, murmelte gemächlich seine Biegungen entlang und grollte in den tiefen Schluchten, aber noch nie hatte ein Mensch einen Felsen singen gehört. Kein vernünftiger Mensch jedenfalls. Es gab keinen Zweifel: Maître Hauhorn hatte den Verstand verloren. Welche Erklärung aber gab es für diese unglaublich lebendigen Skulpturen, die jeden, oder zumindest fast jeden Abend in seinem Atelier auftauchten?

Renn stieß entmutigt einen Seufzer aus und setzte sich auf die kleine Steinbank, die er selbst gehauen hatte. Dort überließ er sich seinen Erinnerungen. Ein Gesicht trat nach Gutdünken seines Gedächtnisses aus den Silhouetten der Familienmitglieder hervor: Ein zahnloses Lächeln inmitten unzähliger Falten, makelloses weißes Haar und Augen, die unter ihrem glasigen Schleier schelmisch blitzten.

Anaïth, seine Großmutter.

Seine einzige Komplizin in einer Welt, wo Träumer wie er keinen Platz hatten, wo nur Arbeit, Mühe und Ertrag zählten. Sie hatte gesehen, wie sich ein Stein verformt hatte, als ihr Enkelsohn daran vorbeiging. Das hatte sie erklärt, ohne ihr spöttisches Lächeln, das sie sonst immer aufsetzte. Ihre krächzige Stimme hatte ungewöhnlich stark widergehallt in der dunklen, kühlen Küche, wo alle elf Familienmitglieder zu Abend aßen, als wollte sie dem Zweifel und dem Sarkasmus keinen Spaltbreit Raum geben. Angesichts der Gewichtigkeit ihrer Äußerung hatte keiner von ihnen gewagt, auch nur hämisch zu grinsen. Dagegen hatte Renn in den Augen seiner Eltern eine Idee aufkeimen sehen. Nicht dass sie den Worten der Alten den geringsten Glauben geschenkt hätten, aber sie hatten endlich einen Vorwand gefunden, um diesen unliebsamen Sprössling loszuwerden. In dem Moment hatte Renn geglaubt, dass seine Großmutter eine dieser Alterskrankheiten bekommen hatte, an der so viele Alte am Ufer des Odivir litten.

Und wenn sie recht gehabt hatte? Wenn ein Stein sich wirklich verändert hatte, als er daran vorbeigegangen war? Anaïth behauptete, dass er anders als die anderen war: Seine Augen wechselten je nach Jahreszeit die Farbe, sein Gesicht war eckig und kantig und diese schönen schwarzbraunen Haare, dunkler als der Getreidebrand. Er würde die Wunder vollbringen, die sie, eine arme Bäuerin aus den Ebenen des Odivir, nicht vollbringen konnte. Der Fluss führte immer seltener Hochwasser, als ob die Göttinnen sich nicht mehr für eine Welt interessierten, die jede Vorstellung von Gerechtigkeit und Harmonie verloren hatte. Die Herrscherfamilien von Arkane lebten auf den Höhen in einer gut geschützten Stadt, deren Zutritt den armen Menschen, die von morgens bis abends in der gleißenden Sonne schufteten, verboten war. Die Bevölkerung der Ebenen hatte nur ein einziges Recht: der Erde das Korn, das Obst, das Gemüse und die Pflanzen zu entreißen, die für die Einwohner von Arkane bestimmt waren. Ganze Schwärme von Booten sorgten für den Transport zwischen den Anlegestellen im Flachland und dem Hafen der arroganten Stadt. Die Quästoren des Rats der Sieben, die von großen Soldatentruppen unterstützt wurden, und die Transporteure der Fuhrwerkergilde ließen den Bauern nur das Allernötigste übrig. Natürlich gab es ein paar gerissene Kerle, die versuchten, einen Teil ihrer Ernte vor den raffgierigen Beamten zu verstecken. Welch’ ein Unglück, wenn ihre Untaten entdeckt wurden: Sie wurden ans Kreuz genagelt, wo Aaskrähen und Fliegen sie belagerten. Zwei oder drei Tage lang kämpften sie mit dem Tod, und ihre Schmerzensschreie schreckten die anderen zumindest eine Zeit lang davon ab, auch etwas von ihrer Ernte zu unterschlagen. Anaïth wetterte gegen die Raubvögel auf zwei Beinen, die den Bauern den größten Teil ihrer Ernte nahmen und ihnen dafür eine Handvoll blecherner Arks entgegenschleuderten, wie man den Schweinen im Stall ein paar Abfälle hinwarf.

»Im Traum habe ich gesehen, wie die Stadt Arkane deinetwegen, nein, dank deiner, von ihrem hohen Ross herunterfiel, und dass die sieben Familien dorthin zurückkehrten, wo sie damals hätten enden sollen: ertrunken im Fluss. Und dieses Mal werden die Göttinnen keine Tiere schicken, um sie zu retten, sie werden sie krepieren lassen, so wie sie unsere Leute an Bretter genagelt krepieren lassen.«

Renn war so erschrocken über die blasphemischen Worte seiner Großmutter gewesen, dass er nicht gefragt hatte, was sie mit deinetwegen oder dank deiner gemeint hatte. Aber welche Verbindung gab es zwischen den Weissagungen der Alten und dem Handwerk des Zauberers der Steine?

Er richtete seine Konzentration wieder auf den Steinblock. In der eisigen Luft waren seine Hände und Füße klamm geworden, und seine Nasenspitze war wie gefroren. Der Wind heulte immer noch durch den Dachstuhl und über das Schindeldach. Das Licht war schwächer geworden. Maître Hauhorn hatte ihm gesagt, er dürfe den Raum nicht eher verlassen, bis er dem Stein die gewünschte Form entrungen hatte. Wenn er die Nacht über im Atelier bliebe, würde er vor Kälte sterben. Panik überkam ihn, er stand auf und lief zur Tür. Sie ließ sich nicht öffnen. Vergeblich trommelte er mit den Fäusten dagegen, mühte sich mit dem Türgriff und trat mit den Füßen gegen das massive Holz – sie bewegte sich keinen daumenbreit. Der Zauberer hatte ihn eingeschlossen, ohne ihm eine Decke, ohne ihm Holz zum Feuer machen dazulassen. Er hatte keine Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Renn stieß einen schrillen Wutschrei aus. Wenn er daran dachte, dass man in den Ebenen des Odivir stets den Schatten suchte, um der drückenden Sonne ein paar Momente lang zu entkommen …

Den Tränen nahe setzte er sich wieder auf die Bank und richtete seinen Blick unwillkürlich wieder auf den Stein. Wegen dieses verdammten Brockens würde er kein Abendessen bekommen und selbst ein Eisblock werden. In seinem tiefsten Inneren beschimpfte er den Stein, dann stellte er fest, dass er nicht gleichmäßig grau war; seine rauen Seiten wiesen unzählige Schattierungen und Stellen auf, die zusammen mit dem komplexen Netz schwarzer, brauner und roter Adern ein harmonisches Ganzes bildeten. Er vertiefte sich in die Betrachtung des Steins, folgte interessiert den durch seine Formen vorgegebenen Bewegungen und stellte nach kurzer Zeit erstaunt fest, dass seine Augen immer noch derselben Linie folgten und an derselben Stelle hängen blieben, als würden sie von einer unsichtbaren Strömung mitgerissen. Er dachte, dass seine Müdigkeit ihm die Sinne verwirrte. Er setzte sich gerade auf, schüttelte sich, rieb sich die Augen und spürte wieder die eisige Kälte und seine Mutlosigkeit. Dann aber wollte er wissen, woran er war und nahm seine Beobachtungen wieder auf. Er entdeckte neue Details, die ihm bisher entgangen waren: den glänzenden Schein, die winzigen Spalten, die glatten Stellen, die seltsamen, von den Unebenheiten skizzierten Landschaften, die Vorwölbungen … Plötzlich war der Stein kein bedrohlicher Schatten mehr, er offenbarte sich wie eine Welt von faszinierender Komplexität. Sie stammte, wie Maître Hauhorn betont hatte, aus einer fernen Vergangenheit und erzählte auf ihre Weise eine Vielzahl an Geschichten.

Renn hatte sich nie die Zeit genommen, die Steinblöcke genau anzusehen, die wöchentlich im Atelier auftauchten. Er hatte sich nie gefragt, durch welches Wunder die Steine in die Gebäude des Maître Hauhorn gelangten; nie hatte er einen Wagen, einen Schlitten oder ein anderes Transportmittel gesehen, er hatte keinen Lärm wahrgenommen und auch keine Betriebsamkeit; denn es hätte mehrerer Männer und großer Ausrüstung bedurft, um die schweren Felsbrocken abzuladen, und man hätte Rufen, Quietschen, Ächzen und Stöhnen hören müssen.

Sein Blick vertiefte sich in eine rote Ader, die sich zwischen den Unebenheiten des Steins hindurchschlängelte und die sich, wie ein purpurner Bach, in eine winzige Vertiefung ergoss.

Plötzlich hatte er den Eindruck, das Gleichgewicht zu verlieren. Ihm war, als würde er von einem heftigen Atemzug kopfüber in einen Brunnen ohne Grund eingesogen. Reflexartig stemmte er die Beine auf die Erde und breitete die Arme aus, um sich an unsichtbaren Wänden festzuhalten. Sofort war das Schwindelgefühl wieder verschwunden und er kehrte in die Realität des Ateliers zurück, auf den vereisten Boden der Erde, zu den schräg durch die Dachluken fallenden Strahlen, zu den Granitmauern und den knotigen, teils wurmstichigen Balken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals; er schwitzte, er keuchte, als hätte er gerade eine Gewaltanstrengung vollbracht oder wäre einem Höllenmonster begegnet.

Renn glaubte, zwischen dem pfeifenden Wind und dem knarzenden Holz ein Murmeln von unsagbarer Schönheit wahrzunehmen. Er beruhigte sich und ordnete seine Gedanken, bevor er sich auf den Ton konzentrierte und feststellte, dass er aus dem Stein kam. Etwas Derartiges hatte er noch nie gehört. Hören war auch nicht das richtige Wort: Der Ton drang nicht an seine Ohren, er flüsterte in seinem Inneren, er bebte von seinem Kopf bis in seine Fußspitzen. Es war ein bezaubernder und zugleich beängstigender Ruf, eine Einladung in eine andere Welt, auf die Gefahr hin, niemals zurückzukehren. Er liebte die beschwerliche Arbeit auf dem Hof nicht, aber er war in dem fruchtbaren Boden am Rande des Odivir verwurzelt und er brauchte Gewissheit. Er fürchtete, zu einem dieser Geister zu werden, die sich bei Vollmond in die Häuser schlichen, um die Bewohner zu erschrecken. Dann gewann der Bauer in ihm wieder die Oberhand und er beschimpfte sich als Idioten: Steine summten nicht, in ihrem Bauch war kein Platz für Brunnen oder tiefe Abgründe, sie erzählten keine andere Geschichte als die ihrer endlosen Erosion. Beinahe hätte er den großen Eisenhammer genommen, um den Block entzweizuschlagen. Er zitterte vor Wut, Wut auf den Stein, Wut, vor allem, auf seine verfluchte, überbordende Fantasie. Viel zu oft schon hatte er sich von einem Rascheln in der Nacht forttragen lassen. Viel zu oft war sein Geist auf den gemächlichen Strömungen des Odivir dahingetrieben.

Es wurde dunkel im Atelier und die Nacht brachte neue schneidende Kälte mit sich. Dieses Mal würde es kein Kaminfeuer und keine heiße Suppe für ihn geben, um sich aufzuwärmen, er würde sich nicht auf seinem unbequemen Lager ausstrecken und sich in dicke Wolldecken wickeln können. Tränen schossen ihm in die Augen. Noch nie hatte er sich so allein gefühlt. Seine Eltern hatten, wie alle Bauern der Ebenen, mit ihren Gefühlen gegeizt und ihm nie die geringste Zuneigung entgegengebracht, und dennoch vermisste er sie in diesem Augenblick schmerzlich, genauso wie seine Brüder und Schwestern, den Schlammgeruch der Ufer des Odivir, die drückende Hitze, unter der Menschen, Tiere und Pflanzen litten, die lachenden, wettergegerbten Gesichter seiner Freunde, die mal hektische, mal friedliche Atmosphäre in seinem Dorf. Diese Welt, die er mit einer an Erleichterung grenzenden Gleichgültigkeit verlassen hatte, ergriff nun wieder Besitz von ihm. Er bereute es, fortgegangen zu sein, er bereute, dass er sich ins Atelier von Maître Hauhorn hatte führen lassen wie ein Tier zur Schlachtbank. Er hätte seinen Platz an den Ufern des Odivir finden können, er hätte auf einem Boot anheuern können, das zwischen den Dörfern der Ebene und der Stadt Arkane hin- und herfuhr, er hätte Strohlehmziegel herstellen, Schmied oder sogar Hirte werden können, er hätte … er hätte …

Er starrte den Stein hasserfüllt an. Er murmelte weiter, ungeachtet Renns Seelenqualen. Seine Augen wanderten zu der purpurnen Ader und folgten ihr auf ihren verschlungenen Wegen bis zu der winzigen Öffnung. Erneut erfasste ihn ein Luftzug und fegte seine Gedanken beiseite. Dieses Mal leistete er keinen Widerstand, als er auf die schwarze Mündung zugetrieben wurde. Je näher er kam, desto weiter wurde sie, als ob sie sich daran machte, ihn zu verschlingen. Er wurde in einen dunklen Gewölbegang mit abgerundeten Wänden geschleudert. Der Luftzug riss ihn mit so großer Geschwindigkeit fort, dass er den Schatten der Angst nicht mehr spürte, als ob seine Emotionen, seine Empfindungen sich hinter ihm in alle Richtungen zerstreuten. Er spürte keines der Vorzeichen eines klaustrophobischen Anfalls. Und das, obwohl er nie bei dem grausamen Spiel mitgemacht hatte, wo ein Junge still in einer Kuhle liegen musste, während er von den anderen Kindern mit Schlamm zugeschaufelt wurde, bis er wie lebendig begraben war. Die Besten bewegten sich nicht, bis eine dicke Schicht Erde sie bedeckte, aber er hatte schon das Gefühl gehabt zu ersticken, sobald etwas Erde sein Gesicht berührte. Das Spiel hatte ihm den wenig beneidenswerten Spitznamen Wurmerich eingebracht, nach einem kleinen grauen Wurm, der nach dem Hochwasser an der Oberfläche des Schwemmlandes wimmelte.

Der Luftstrom trug ihn immer weiter in den dunklen Tunnel hinein. Hin und wieder tauchten verschwommene Lichter auf, flüchtige Sterne am finsteren Himmel. Das Summen schwoll allmählich zu einem Gesang von sagenhafter Kraft heran, ohne etwas von seiner Harmonie zu verlieren. Am Ende des Gangs leuchtete ein strahlendes Licht. Alle Angst verließ Renn, als er einen Raum betrat, dessen Grenzen er nicht erfassen konnte. Er fragte sich, ob es sein Körper war, der über diesen in strahlende Helligkeit getauchten Himmel flog, oder nur sein Geist. Er nahm sich selbst als ein Wesen von Leichtigkeit und unendlicher Flüchtigkeit wahr, umgeben von unsagbar prachtvollen Tönen und einem Mosaik faszinierender Lichter.

Das geheime Herz des Steins. Der uralte Gesang der Steine. Er hätte nicht sagen können, wie lange er so verzaubert war – einen Atemzug lang, eine Ewigkeit? Er hätte sich nicht träumen lassen, dass es in dieser Welt so fantastische, so beflügelnde Refugien gab; er fühlte sich beschützt, befreit von allem Leid, von seinen Zweifeln, von dieser Niedergeschlagenheit, die seit seiner Geburt wie ein Joch auf seinen Schultern lastete.

Ein Atemzug spannte sich wieder in ihm an, wie eine Note, die dem Chor entgangen war.

»Eine Blume.«

Er hatte das Gefühl, dass Maître Hauhorn an seiner Seite war.

Er wurde wieder an die Ufer des Odivir zurückgebracht. Er hatte die Wasserviole immer geliebt, diese schlichte Blume mit den zartlila-weiß gesprenkelten Blütenblättern, die im Schlamm wuchs, nachdem das Hochwasser zurückgegangen war. Sie symbolisierte die Freude, den Überfluss, die Fruchtbarkeit, und sie war für die Bauern das Zeichen, mit dem Säen zu beginnen. Er sah sich wieder Blumen für seine Mutter pflücken, seine Füße wateten im Schlamm, der heiße Atem der Sonne strich ihm um Nacken und Schulter. Ihr süßlicher Duft erfüllte die stickige Luft.

Die Lichter des Herzens des Steins tanzten um ihn herum und webten neue schmetternde Klangteppiche. Der Gesang änderte sich, schlug Harmonien an, von denen eine so mitreißend war wie die andere.