Die Sternenzitadelle - Pierre Bordage - E-Book

Die Sternenzitadelle E-Book

Pierre Bordage

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Beschreibung

Der letzte große Kampf

Die ferne Zukunft: Übermächtige Wesen bedrohen alle Völker der Galaxis und wollen alles schöpferische Leben - und damit das gesamte Universum - auslöschen. Schon verschwinden die ersten Sterne in der Dunkelheit des Nichts. Nur zwölf Auserwählte aus den Reihen der legendären Krieger der Stille könnten die Meister-Creatoren aufhalten. Doch auf die Zwölf warten schier unüberwindliche Schwierigkeiten auf ihrem Weg zur Sternenzitadelle ...

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Das Buch

Die ferne Zukunft: die Existenz unseres Universums steht auf dem Spiel. Meister-Creatoren planen seine vollständige Zerstörung  – und damit die Auslöschung allen schöpferischen Lebens. Schon beginnen die Sterne, in einem großen schwarzen Nichts zu verschwinden. Die letzte Hoffnung der Menschheit beruht auf den geheimnisvollen Kriegern der Stille, den letzten Abtrünnigen, die dem grausamen Imperium der Kirche des Kreuzes noch Widerstand bieten. Einer uralten Legende zufolge müssen sich zwölf Auserwählte vereinen, um das Universum vor dem Untergang bewahren zu können. Doch auf die Zwölf warten große Hürden, bevor sie zueinanderfinden können – einige sind tiefgefroren in Sarkophagen der Kirche des Kreuzes gefangen, andere haben sich auf unzugänglichen Welten versteckt, und einige wenige wissen noch nicht einmal, welche Rolle sie bei der Rettung des Universums spielen werden. Die Zeit wird knapp – und ihre Feinde sind mächtig …

»Grandios! Ein farbenprächtiges, actionreiches, fesselndes Abenteuer zwischen fernen Sternen und auf fremden Planeten.«

Andreas Eschbach

Pierre Bordages preisgekröntes Zukunftsepos: Erster Roman: Krieger der Stille Zweiter Roman: Terra Mater Dritter Roman: Die Sternenzitadelle

Der Autor

Pierre Bordage, 1955 in der Vendée geboren, studierte Literaturwissenschaft in Nantes. Mit seinem ersten Roman »Die Krieger der Stille« landete er auf Anhieb einen riesigen Publikumserfolg. Das Buch wurde mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem renommierten Grand Prix de l’Imaginaire. Bordage lebt mit seiner Familie in Boussay an der Atlantikküste.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorERSTES KAPITELZWEITES KAPITELCopyright

ERSTES KAPITEL

Neunzig Jahre habe ich geglaubt, es genüge, die Welt zu beobachten, um mit vollem Recht als Mensch bezeichnet zu werden, und ich habe mich infolgedessen während dieser gesamten Zeit von der Welt isoliert. Ich glaubte, es genüge diese Isolation, um das Funktionieren des Universums zu verstehen. Deshalb wurde ich zu einem Gefangenen der verschlungenen Pfade meines Verstandes. Länger als sechzig Standardjahre lebte ich auf einem toten Planeten im Herzen der Via Lactea. Während ich mich als einen Wegbereiter der Menschheit betrachtete, war ich nur einer ihrer Nachzügler. Ich glaubte, es genüge, Zeuge des Anbruchs des Zeitalters des Nichts zu sein, um meine Existenz zu rechtfertigen. Unter meinen Augen wurde die In-Creatur immer mächtiger, sie verschlang Abermillionen Sterne, und ich begnügte mich damit, ihr Verschwinden zu bedauern.

Ich hatte meinen Reisegefährten, Nahum Arratan, begraben. Und ich muss gestehen, dass ich bei seinem Tod eine große Erleichterung empfand, denn inzwischen hatte ich ihn gehasst. Länger als dreißig Jahre hatten wir in gefährlicher Nähe zusammengelebt, und ich weigerte mich, mich in dem Spiegel zu betrachten, den er mir vorhielt. Heute weiß ich, dass ich ihm sein Scheitern nicht verzeihen konnte: Unser Raumschiff war defekt, und ihm, dem Roboterspezialisten, war es nicht gelungen, die unzähligen Androiden, Roboter und andere vor uns auf diesem toten Stern gestrandeten künstlichen Menschen zu neuem Leben zu erwecken. Durch eine sel tsame Fügung des Schicksals waren wir bis an das Ende unserer Tage gezwungen, auf einem Technologiefriedhof zu leben, inmitten dieser vielen Hundert Raumschiffe, sie alle Symbole menschlichen Stolzes und Versagens …

Dreißig Jahre lebte ich allein dort, verwandelte mich langsam in ein Tier, meiner Menschlichkeit beraubt. Mein nie versiegender Zorn hinderte mich jedoch daran, einen versöhnlichen Blick auf mich selbst zu richten. Unbewusst hoffte ich wohl darauf, dass das Nichts mich verschlinge und meinen Qualen ein Ende setze. Doch es geschah nicht: Dieser tote Stern, den ich in einer späten Anwandlung von Reue Arratan getauft hatte, wehrte sich dagegen, im Nichts zu verschwinden, und ich war außerstande, dieses unerklärliche Phänomen zu deuten …

Sri Hampra (»Herr der Affen« auf Sadumba)

Tixu Oty ließ den Blick lange über den Friedhof der Weltraumschiffe schweifen. Unzählige schienen auf diesem öden Planeten mit voller Absicht gelandet zu sein. Manche steckten halb im Boden, und sie glichen jenen Riesenechsen auf Zwei-Jahreszeiten, die sich am Ende ihres Lebens in nur ihnen bekannte Regionen zurückzogen, um dort zu sterben.

Oberflächlich betrachtet, schienen die Schiffe aus dem mittleren Zeitalter der naflinischen Epoche zu stammen – zwischen den Jahren 4000 bis 6000. Wahrscheinlich hatten sie sich als Antriebsmodus des Shlaar-Effekts bedient und auf diese Weise das viele Tausend Lichtj ahre entfernt liegende Zentrum der Galaxie erreichen können. Zwar unterschieden sie sich durch Form und Spannweite, aber die Metalllegierungen ihrer Rümpfe waren identisch, auch die mit Antennen und Parabolspiegeln versehenen Aufbauten ähnelten sich.

Nicht ein Stern leuchtete am nachtschwarzen Himmel. Das diffuse Licht, in dem sich die bizarren Silhouetten der Raumschiffe mit seltsamer Klarheit abzeichneten, schien aus der schwammartigen Erde selbst zu kommen.

Tixu hörte ein andauerndes dumpfes Geräusch. Es erinnerte ihn an das leise Brummen eines Motors wie etwa der Zerkleinerungsmaschine für Abfälle auf seinem Heimatplaneten Orange. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand. Er wusste nicht, warum ihn das Antra auf diesen trostlosen und zudem unerträglich kalten Planeten gebracht hatte, noch wusste er, wie viele Welten er seit seinem Aufbruch von Terra Mater besucht hatte. Wahrscheinlich mehr als fünfhundert. In dem Maße, wie ihm die Hüterin der Pforte in der Grotte der Hymlyas klar und deutlich erschienen war, erwiesen sich seine Bemühungen, zu ihr zu gelangen, als quälend und bisher vergeblich.

Allmählich mangelte es ihm auch an Energie für die Antra-Reisen. Er brauchte immer mehr Zeit zur Erholung, und es fiel ihm zunehmend schwerer, den Zustand der inneren Stille zu erlangen, so als würde sich der Kern seines Wesens allmählich im Äther auflösen. Manchmal vergaß er sogar, warum er aufgebrochen war. Dann hatte er das Gefühl, in einem Abgrund von Traurigkeit zu versinken, die schon an Wahnsinn grenzte. Und manchmal weinte er hemmungslos. Dann dachte er an seine Frau und seine Tochter, Aphykit und Yelle. Bald glaubte er, sie erst am Tag zuvor verlassen zu haben. Er atmete noch den süßen Duft von Aphykits warmem Körper ein … Doch kurz darauf schien ihm, die beiden seien nichts als Schimären, Gestalten eines fernen, längst vergangenen Lebens, denn er wurde von einer schrecklichen Vorahnung gequält: Der Herrscher von Syracusa und seine Verbündeten hätten sich während seiner Abwesenheit seiner Frau und Tochter bemächtigt.

Und während sich bei diesem Gedanken sein Magen verkrampfte und ein bitterer Geschmack seinen Mund erfüllte, glaubte er durch Zeit und Raum Yelles kindliche und gleichzeitig ernste Stimme zu hören: »Der Blouf hat heute Nacht wieder Millionen Sterne gefressen …«

Dann fragte er sich, welcher absurde Impuls ihn dazu getrieben hatte, sich von seiner Familie zu trennen, und er wurde von seinen Gefühlen und Gedanken überwältigt; Bilder aus einer längst vergessen geglaubten Vergangenheit tauchten in ihm auf, Fragmente eines früheren Traums. War er wirklich einmal Reisebüroangestellter des InTra – des bedeutendsten Transportunternehmens des bekannten und unbekannten Universums – auf dem schwülfeuchten Planeten Zwei-Jahreszeiten der Marschen gewesen? Hatte der sadumbische Schamane Kacho Marum ihn vor den Riesenechsen aus dem Fluss Agripam gerettet? War er tatsächlich der wunderschönen und arroganten Syracuserin nachgereist, die nur zufällig seine Agentur betreten hatte? Hatte er sie mithilfe eines Mitplanetariers namens Bilo Maïtrelly aus den Händen von Sklavenhändlern auf Roter-Punkt befreit? Hatte sie ihn das Antra vor dem Deremat im Haus des Françao gelehrt? Hatte er Aphykit aus dem Kloster des Ordens der Absolution auf Selp Dik befreit und sie auf die Insel der Monager gebracht? Hatte er sie wirklich inmitten des Tropenwaldes von Nouhenneland geheiratet? Hatte er sie lange sechzehn Jahre auf Terra Mater geliebt? Hatte sie ihm dieses unschätzbare Geschenk einer Tochter namens Yelle gemacht?

Wie soll ich wissen, ob alle diese Erinnerungen nicht Trugbilder meiner Fantasie sind, fragte sich Tixu. Werde ich nicht gleich schweißgebadet im Haus meines Onkels in Phaucille aufwachen?

Landschaften, Städte, Gesichter verfolgten ihn bis in den Schlaf. Gleich Staubpartikeln, die Möbel bedecken, ohne jemals dort für immer haften zu bleiben, hatte Tixu auf jeder der von ihm besuchten Welten etwas von sich zurückgelassen. Meistens war er nicht mehr als ein anonymer Schatten gewesen, der etwas Nahrung erbettelt hatte, um neue Kräfte zu gewinnen. Doch er hatte auch erlebt, dass er bei seinem plötzlichen Erscheinen auf einem Platz oder einer Straße für einen Propheten, einen Gott oder den Herrn der Echsen (was er wirklich war) gehalten wurde. In einem solchen Fall aber hatte er ein Mittel finden müssen, sich von seinen spontanen Anhängern zu trennen – wenn nötig, hatte er gedroht, sie mit einem Blitz zu erschlagen –, um sich an einem stillen Ort ausruhen und das Antra rufen zu können, damit er seine Reise fortsetzen konnte. Er hatte den Eindruck gehabt, dass der Klang des Lebens ihn immer weiter zum Zentrum der Galaxis führe. Mehrere Male hatte er sich auf Satellitenstaaten des Ang-Imperiums rematerialisiert, wo die Präsenz der Missionare der Kirche des Kreuzes und die der Scaythen von Hyponeros weniger bedrückend war, ebenso auf von den Kartografen der Konföderation von Naflin nicht registrierten Planeten, die trotzdem von primitiven Völkern bewohnt wurden, und schließlich auf völlig unbesiedelten Gestirnen.

Tixu hatte den Eindruck, das Geräusch würde lauter. Er hob den Kopf, alle Sinne hellwach und starrte in den samtschwarzen Himmel, als erscheine dort gleich ein Drache mit weit aufgerissenem Rachen.

»Das ist die Sprache des Bloufs, des alles verzehrenden Bösen«, hätte Yelle gesagt. Im Gegensatz zu ihrem Vater musste sie keine Reisen zu über Millionen Lichtjahre entfernten Welten unternehmen, um den eisigen Atem des unsichtbaren, die Sterne verschlingenden Monsters zu spüren.

Tixu sah kein Licht, keine Bewegung, kein Lebenszeichen in dieser Finsternis. Der flüchtige Gedanke, am Rande des Nichts angekommen zu sein, streifte ihn. Er konnte sich nur mühsam bewegen, denn er musste mit aller Kraft gegen die Schwerkraft ankämpfen, außerdem gab der schwammige Boden unter seinen Füßen nach. Eine eiserne Klammer legte sich um seinen Brustkorb und machte ihm das Atmen schwer. Seine Haut schien förmlich zu schrumpfen wie ein von Flammen verzehrtes Blatt. In dieser von Kohlendioxyd gesättigten Luft gab es nur wenig Sauerstoff; er konnte langsam keinen klaren Gedanken mehr fassen. Doch ihm wurde bewusst, dass er auf diesem Planeten damals, kurz nach dem Verlassen von Terra Mater, wohl nur wenige Sekunden überlebt hätte. Inzwischen jedoch hatte das Antra während seiner vielen Aufenthalte auf anderen Planeten seinen Stoffwechsel den verschiedensten Lebensbedingungen angepasst. Ein geringeres Sauerstoffangebot auf einigen Planeten hatte zu einer Vergrößerung seiner Lungen geführt, wodurch er schließlich überleben konnte.

In der Ferne sah er auf dem Schiffsfriedhof flüchtig Licht aufflackern. Sollte es Leben in dieser Ödnis geben?, fragte er sich, raffte sich mit letzter Kraft auf und ging langsam auf die Lichtquelle zu. Trotz der Kälte schwitzte er unter seiner Leinenhose und der Tunika. Es roch stark nach rostendem Metall.

Eine genaue Erklärung für den Absturz Hunderter Weltraumschiffe an diesem Ort fand Tixu nicht. Sie alle schienen wohl von ihrem Kurs durch ein sehr starkes Magnetfeld abgekommen zu sein. An vielen Rümpfen konnte er noch Wappen und Inschriften in Interplanetarischem Nafle erkennen, wie die einiger Planeten der ehemaligen Konföderation von Naflin: Marquisat, Issigor, Sbarao, Oursse, Neorop, Syracusa …

Wehmut überkam ihn, als er unter der Kommandobrücke eines kleinen, auf der Seite liegenden Raumschiffs das Emblem seines Heimatplaneten Orange – ein safranfarbiger Kreis mit neun, die Kontinente repräsentierenden weißen Querstrichen – entdeckte.

Erschöpft blieb Tixu einen Moment stehen, um wieder Atem zu schöpfen. Mit seinem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und versuchte erneut, die Lichtquelle zu lokalisieren.

Es gelang ihm mühelos: Sie war nur ein paar Meter von ihm entfernt und entpuppte sich als eine von einer Gestalt gehaltene Taschenlampe. Zuerst glaubte er, vor einem ihm unbekannten Wesen oder einem Tier zu stehen, doch dann erkannte er, dass es ein Mensch – oder eine menschenähnliche Kreatur – war, dessen Kopf im Verhältnis zu dem überdimensionierten Brustkorb viel zu klein schien. Die Hüften waren schmal, und die Arme reichten fast bis zum Boden, wie bei einem Affen. Auch trug er keine Kleidung, stattdessen bedeckte ein dichtes Fell seinen ganzen Körper. Nur sein Gesicht, mit überraschend feinen Gesichtszügen, und die Hände und Füße waren unbehaart.

Der Mann ging ein paar Schritte auf Tixu zu und sah ihn aus hellen Augen eindringlich an.

Als er den Mund öffnete und sprach, entblößte er dabei unregelmäßige, gelbe Zähne. »Seit mehr als dreißig Standardjahren habe ich keinen Vertreter der menschlichen Rasse mehr getroffen«, sagte er zögernd. »Seit dieser Idiot Nahum Arratan beschlossen hat, mich zu verlassen …«

Er sprach perfektes Nafle, mit einem leicht singenden Akzent.

Die beiden musterten sich eine Weile schweigend, so als müsste sich jeder erst an die Gegenwart des anderen gewöhnen. Die gestrandeten Raumschiffe, der phosphoreszierende poröse Boden und der pechschwarze Himmel bildeten ein derart fantastisches Dekor, dass sich Tixu beinahe wie in einem Traum fühlte.

»Hat Sie das Institut zu meiner Rettung geschickt?«, fragte der Mann. »Haben Sie Ihren Deremat mitgebracht? Mein Schiff ist leider nicht funkionsfähig.«

»Ich bin nur ein Reisender«, antwortete der Oranger. »Ich weiß nicht, von welchem Institut Sie sprechen.«

»Sie haben mich wirklich vergessen«, sagte der Mann traurig, »obwohl sie Nahum Arratan und mir absolute Unterstützung vor unserer Abreise aus Neorop zugesichert hatten. Nichts als leere Versprechungen. Sie werden mich auf Arratan sterben lassen, fern von …« Abrupt schwieg er, um dann hinzuzufügen: »Wo sind Ihre Sauerstoffflaschen?«

»Ich habe keine«, entgegnete Tixu schulterzuckend.

»Das kann nicht wahr sein! Ich habe fünfzig Standardjahre gebraucht, um mich anzupassen. So lange dauerte die Mutation. Nahum und ich hatten für unseren geplanten Aufenthalt im Zentrum der Galaxie einen Sauerstoffvorrat für fünf Jahre dabei. Als wir erkannten, dass wir unser Raumschiff nicht reparieren konnten, haben wir unseren Verbrauch reduziert und einen Generator gebaut. Als die Flaschen leer waren, mussten wir uns mit der daraus erzeugten Luft begnügen. Doch Nahum konnte sich nicht anpassen, er starb qualvoll. Aber ich verwandelte mich. Mein Brustkorb wurde größer und damit auch meine Lunge. Mir wuchs ein Fell gegen die ständige Kälte. Und trotz unseres Schwerkraftreglers wurde ich gezwungen, auf allen vieren zu gehen. Ich muss gestehen, dass mir Ihre offensichtlich spontane Anpassung an die hiesigen Gegebenheiten hinsichtlich einer wissenschaftlichen Erklärung einige Probleme bereitet …«

»Gewisse Phänome existieren, lassen sich aber nicht erklären«, sagte Tixu.

»Wenn Sie mir genügend Zeit lassen, werde ich schon eine Erklärung für diese Anomalie finden«, entgegnete der seltsame Mann vorwurfsvoll, die Stirn von tiefen Furchen durchzogen, die im Licht der Taschenlampe besonders deutlich sichtbar waren. »Doch ich habe mich Ihnen noch nicht vorgestellt. Ich bin Loter Pakullaï, Professor am NIFAW, dem Neoropäischen Institut für angewandte Wissenschaften … Ehemaliger Professor, muss es wohl heißen. Und Sie, was führt Sie auf diesen öden Planeten?«

»Tixu Oty, vom Planeten Orange. Ich versuche, auf Hyponeros zu gelangen.«

»Hyponeros?« krächzte Loter Pakullaï. »Auf den Planeten der Scaythen? Meines Wissens wurde er bisher nicht lokalisiert, und die meisten meiner Kollegen bezweifeln sogar seine Existenz. Woraus schließen Sie, dass er sich im Zentrum der Galaxie befindet?«

»Eine Intuition …«

»Eine Intuition? Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie diese lange Reise unternommen haben, um einer Eingebung zu folgen? Wo ist Ihr Deremat?«

»Ich reise mittels innerer Kräfte, des Klangs des Lebens, des Antras …«

Loter Pakullaï ließ resigniert seinen ausgestreckten Arm sinken. Das Licht der Taschenlampe beleuchtete seine pelzigen Beine.

»Gütiger Himmel, sind Sie etwa einer dieser miesen inddikischen Hexer?«

Tixu nickte.

»Ich habe einen gekannt«, fuhr der Neoropäer fort. »Sri Mitsu, einen Syracuser, einen jungen Smella der Konföderation. Er war völlig borniert in seinen Ansichten und der Meinung, dass das Gehirn Wellen aussendet, die sich in Materie verwandeln können, Vibrationen des Logos, des schöpferischen Wortes. Er ist wohl einer Ihrer Freunde, vermute ich?«

»Er wurde von der Kirche des Kreuzes auf Roter-Punkt verbannt und später von den im Dienst der Syracuser stehenden Pritiv-Söldnern ermordet. Das bekannte Universum hat sich in den letzten Jahren sehr verändert.«

Loter Pakullaï deutete mit seinem affenähnlichen Arm zum Himmel. »Das unbekannte Universum ebenfalls. Nach meinen Berechnungen ist in seinem Kern, dem Schwarzen Loch, bereits ein Viertel der Galaxie verschwunden. Da Sie plötzlich auf diesem verlassenen Planeten aufgetaucht sind, sind Sie wahrscheinlich der Ansicht, es gebe eine Verbindung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Doch ich habe nur noch wenig Lebensmittel und möchte nicht, dass es einmal heißt, der einzige Repräsentant des Planeten Arratan habe seine Pflichten als Gastgeber verletzt. Wir können über das alles während einer Mahlzeit diskutieren, wenn auch einer kärglichen. Kommen Sie!«

Der Schwerkraftregler in der Mitte der Halbkugel gab ein ständiges gedämpftes Brummen von sich. Nachdem Tixu die Tür der Schleusenkammer hinter sich geschlossen hatte, fühlte er sich sofort leichter und konnte besser atmen.

Das Refugium Professor Pakullaïs war eine richtige Rumpelkammer. Seine Messinstrumente lagen verstreut zwischen Küchenutensilien, gefriergetrockneten Nahrungsmitteln, Raumausrüstungen, Filmbüchern, Kleidungsstücken, Schuhen, Decken und Werkzeugen. Die aus korrisionsbeständigem Metall und mit Optalumal überzogene Halbkugel bedeckte eine Fläche von etwa hundert Quadratmetern.

»Die Konstruktion unseres Unterschlupfs war äußerst schwierig«, sagte Loter Pakullaï. »Die Schwerkraft dieses toten Gestirns ist derart groß, dass wir wie Pfannkuchen am Boden klebten und uns nur kriechend fortbewegen konnten. Von dem Gewicht unserer Raumanzüge ganz zu schweigen. Glücklicherweise konnten wir uns zum Essen und Schlafen in unser Raumschiff flüchten.«

Im fahlen Licht von etwa zehn Magnettaschenlampen – ihre Brenndauer galt als unerschöpflich – konnte Tixu die weiße Haut des Neoropäers auf Bauch und Brust sehen, wo seine Behaarung weniger dicht war.

»Als wir den Schwerkraftregler installiert hatten, wurde das Leben fast normal. Wir bewegten uns auf allen vieren fort, eine Regression, wie Sie bereits feststellen konnten, und haben uns dann an unsere Aufgabe gemacht: das Zentrum unserer Galaxie, die Via Lactea, zu beobachten. Shlaar-Sonden, die bereits vor zwanzig Jahren hierhertransportiert worden waren, informierten uns damals von Neorop aus über jede Veränderung im Kern des Schwarzen Lochs. Da beschlossen mein Kollege, Professor Nahum Arratan, und ich, uns für eine Expedition auszurüsten und dieses Phänomen aus der Nähe anzusehen. Also charterten wir ein Shlaar-Raumschiff und starteten vom Planeten Alemane am 3. Jokorus des Jahres 8122 nach dem Standardkalender. Sollte meine Sternenuhr noch richtig gehen, müssten wir uns jetzt im Jahr 8188 befinden.«

Er schwieg, drehte sich um und sah Tixu fragend an. Der Oranger rechnete kurz und nickte dann.

»Mein Gott, fast siebzig Jahre sind vergangen, seit wir das zivilisierte Universum verlassen haben …«

Er blieb lange vor dem Kochtisch stehen, auf dem sich eine der Magnetplatten rötlich färbte. Dann schüttelte er sich, als wollte er einen Albtraum verscheuchen, griff nach einem Optalumaltopf und kniete sich vor die mit dem Sauerstoffgenerator verbundene Zisterne.

»Nach dem Austritt aus unserem einhundertfünften Shlaar-Quantensprung verloren wir die Kontrolle über unser Raumschiff«, fuhr der Professor bedrückt fort. »Wir hatten eine Strecke von zwanzigtausend Lichtjahren zurückgelegt und die Mannschaft, die inzwischen wahnsinnig geworden war, hatte sich gegenseitig umgebracht. Doch jedes Unglück hat auch etwas Gutes: Ohne die ihnen vorbehaltenen Lebensmittel wäre ich längst verhungert.«

Er drehte den Wasserhahn auf, füllte den Topf und stand auf. Seine langsamen schlenkernden Bewegungen erweckten den Eindruck, als würde er sich in einer zähflüssigen Masse bewegen.

»Unser Raumschiff wurde von einer derart starken Strömung ergriffen, dass wir weder durch die Hilfsmotoren noch durch Ankern das Abdriften verhindern konnten, und wir erkannten, dass der Kern der Via Lactea der Grund für diese Kursänderung war. Außerdem mussten wir feststellen, dass das Schwarze Loch – es ist viel größer als angenommen  – sehr schnell wuchs und dabei Sternenhaufen und Gas- oder Nebelwolken verschlang. Wie ein unersättliches Monster.«

»Der Blouf, das alles verzehrende Böse«, murmelte Tixu automatisch.

»Der Blouf? Das ist wohl kaum eine wissenschaftliche Bezeichnung, obwohl sie sehr anschaulich klingt …Jedenfalls ist unser Schiff auf diesem toten Stern gelandet. Ich habe ihn Arratan getauft. Durch das rechtzeitige Aktivieren des Umkehrschubs konnten wir eine Bauchlandung verhindern, aber das Fahrwerk blieb blockiert, und die Shlaar-Generatoren sowie das Triebwerk wurden zerstört.«

»Wissen Sie, woher die anderen Weltraumschiffe stammen?«

»Das alles ist ein Resultat der größten wissenschaftlichen Katastrophe aller Zeiten, das Ergebnis menschlicher Dummheit und dem Ethikgesetz H.M. geschuldet …«

Er schüttete den Inhalt einer Tüte ins kochende Wasser, drehte sich um und sah Tixu herausfordernd an.

»Im Jahr 7034 hat der Planetenrat der Konföderation von Naflin auf Druck der Bewegung Souveränität der Menschen beschlossen, die künstliche Intelligenz zu bekämpfen, dem Zeitalter der so genannten Maschinen-Hegemonie ein Ende zu setzen. Maschinen, Roboter, Androiden und auf Memodisketten gespeicherte elektronische Datenträger wurden in Shlaar-Raumschiffe verfrachtet, die mit dem Gebrauch der ersten Deremats obsolet geworden waren, und ins All geschickt. Die Regierenden jener Epoche waren überzeugt, dass diese Raumschiffe die Galaxie verlassen und sich im unendlichen Raum verlieren würden. Doch genau das Gegenteil ist eingetreten: Sie wurden von der bereits erwähnten Strömung ergriffen, die ihren Kurs zum Zentrum hin änderte, worauf sie auf diesem Gestirn Schiffbruch erlitten, einem bereits seit mehreren Millionen Standardjahren toten Planeten.«

»Wie entsteht diese Strömung Ihrer Meinung nach?«

»Ich wette, dass sie in direkter Verbindung mit einem Schwarzen Loch steht. Aber betrachten Sie diese Hypothese nicht als wissenschaftlich belegt.«

Er schwieg und starrte in seinen Topf. Der fade Geruch nach einer Gemüsesuppe mit Fleisch breitete sich aus. Das affenähnliche Aussehen dieses Mannes, der offensichtlich ein Gelehrter war, irritierte Tixu. Vor seinen Augen sah er eine Inkarnation im Zeitraffer der Entwicklung des Menschen, wenn man einigen Vertretern der Evolutionstheorie Glauben schenkte. So als wäre diesem Wissenschaftler durch die veränderten Lebensbedingungen nichts anderes übriggeblieben, als seinen Körper in einen quasi tierartigen Status zurückzuführen. Eine solche Sicht der Dinge hatte etwas Erbarmungsloses. Loter Pakullaï schien ein Opfer seiner eigenen Logik geworden zu sein.

Ein Sprichwort der Oranger kam Tixu in den Sinn: ›Glaube an das Tier, und du wirst zum Tier. Glaube an den Menschen, und du wirst zum Menschen. Glaube an den Himmel, und du wirst zum Gott.‹

»Das Geheimnis des Planeten Arratan habe auch ich nicht lüften können«, fuhr der Wissenschaftler fort und rührte in dem Topf. »Obwohl er sich in der Nähe des Schwarzen Lochs befindet, wird er nicht verschlungen, wenngleich er wie alle anderen von dieser Strömung ergriffen werden müsste. Glücklicherweise für uns bleibt seine Entfernung zum Rand des Schwarzen Lochs konstant, während dieses sich vergrößert. Ein Rätsel, das ich aber aus nächster Nähe beobachten kann.«

»Und was haben Sie sonst noch beobachtet?«

»Vor allem meine Reaktionen! Ich bin in der unangenehmen Lage, die Gefahr zwar zu erkennen, aber niemanden davor warnen zu können! Meinen Berechnungen nach wird die Via Lactea in weniger als einem halben Jahrhundert verschwunden sein. Unsere uns so lieb gewordene Galaxie vernichtet sich selbst, und gleichzeitig vernichtet sie ihre Kinder. Da ich aber über kein Transportmittel verfüge, bleibt mir nichts anderes übrig, als dieser Selbstzerstörung tatenlos zuzusehen. Vielleicht ist das auch gut so. Denn selbst wenn die Menschen meinen Erkenntnissen Gehör geschenkt hätten, wäre ihnen nicht genug Zeit geblieben, auf andere Galaxien zu emigrieren. Wobei auch nicht sicher ist, ob diese ebenfalls von dem Schwund betroffen sind. Ist es nicht besser, die Menschen die ihnen verbliebene Zeit ohne diese Ängste leben zu lassen? Es sei denn, Sie als Inddikischer Hexer könnten mit Ihren Praktiken dieses böse Ende verhindern …«, schloss er mit bitterer Ironie.

Tixu erkannte in dem Verhalten seines Gastgebers sowohl dessen Unbehagen über sein – Tixus – unerklärliches Erscheinen als auch eine versteckte Provokation, weil der Gelehrte hoffte, von ihm – dem Hexer, dem Scharlatan  – eine Erklärung auf seine nie beantworteten Fragen zu bekommen.

Als das Essen fertig war, stellte Loter Pakullaï zwei dampfende Teller auf den Boden. Die beiden aßen schweigend. Obwohl das Essen fade war, glaubte Tixu, ausgehungert wie er war, noch nie etwas Köstlicheres gegessen zu haben.

»Die Konföderation von Naflin hat gewisse Veränderungen durchgemacht, sagten Sie vorhin«, begann der Professor das Gespräch.

»Die Syracuser und ihre Verbündeten haben den Orden der Ritter der Absolution vernichtet, alle Herrscher der Konföderation ermordet und das Ang-Imperium errichtet. Die Religion der Kirche des Kreuzes wurde zur Staatsreligion erhoben, und die Scaythen agieren seitdem als Inquisitoren oder Auslöscher …«

»Auslöscher?«

»Sie löschen gewisse Schaltstellen im menschlichen Gehirn aus und implantieren neue Programme.«

»Wie gut, dass ich mich immer von ihnen ferngehalten habe! Schon die paar kreuzianischen Missionare auf Alemane hatten mir Angst eingejagt. Damals schon glaubte ich, auf den Planeten des bekannten Universums ersticken zu müssen.«

»Hier erstickt man doch genauso!«

Mit einem Funkeln in den Augen stieß der Gelehrte Tixu seinen Löffel entgegen. »Jetzt errate ich, warum Sie auf Arratan sind! Sie vermuten, dass zwischen dem Auslöschen des menschlichen Gedächtnisses durch die Scaythen und dem Verschwinden der Via Lactea ein direkter Zusammenhang besteht! Deshalb betrachten Sie Hyponeros als Zentrum der Galaxie. Glauben Sie etwa, dass Ihr …Ihr Blouf, wie Sie es nannten, eine intelligente Wesenheit ist, ein Monster, das von den Scaythen erschaffen wurde?«

»Vielmehr handelt es sich um eine Nicht-Wesenheit, die In-Creatur, das Resultat eines Verzichts, eines Aufgebens. Zu was wäre ein Schmuckkästchen ohne Schmuck nützlich?«

»Sie betrachten die Menschheit mit viel Wohlwollen. Ich neige eher dazu, meinesgleichen als eine Plage oder gar Geißel zu betrachten, und denke, dass das Universum einst ein Garten Eden war – ehe dieses Zufallsprodukt erschien, das sich Mensch nennt.«

Tixu erkannte, dass die Verachtung des Gelehrten gegenüber seinesgleichen vor allem auch gegen sich selbst gerichtet war, ein Resultat seiner Verzweiflung über das bevorstehende Verschwinden der Galaxie. Und sein körperlicher Verfall war nichts als ein Spiegelbild seiner seelischen Zerrüttung.

»Ich wiederhole meine Frage, Hexenmeister: Sind Sie in der Lage, kraft Ihrer Kenntnisse der Inddikischen Wissenschaften den Lauf der Dinge zu ändern?«, sagte er mit großem Ernst, ohne Ironie.

»Warum sollte ich diese widerwärtigen Zufallsprodukte der Schöpfung vor dem Untergang retten?«, fragte der Oranger zurück.

»Gerade, weil Sie nicht an den Zufall glauben«, entgegnete der Neoropäer. »Und weil Sie es wahrscheinlich als Ihre moralische Pflicht ansehen, Ihren Brüdern und Schwestern zu helfen. Aber das ist nicht das Problem, sondern Folgendes: Wie hoch schätzen Sie Ihre magischen Künste ein? Effizient genug, um der Vergrößerung des Schwarzen Lochs Einhalt zu gebieten?«

Tixu stellte seinen leer gegessenen Teller vor seine gekreuzten Beine auf den Boden. Er hatte seinen Hunger gestillt, fühlte sich im Warmen wohl, aber sein ganzer Körper verlangte nach Ruhe.

»Taten sind beweiskräftiger als Worte«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. »Ich kann Sie in die Lage versetzen, auf Ihren Heimatplaneten zurückzukehren.«

»Wie?«

»Indem ich Sie das Antra lehre, den Klang des Lebens, und Sie damit betraue, das Wort auf den Welten des Zentrums zu verbreiten.«

»Mich? Ich soll ein Missionar der Indda werden? Meine Kollegen am Institut würden sich die Mäuler über mich zerreißen.«

»Spielt das eine Rolle? Der Klang des Lebens wird das vollbringen, was Ihre lieben Kollegen nicht tun konnten oder wollten. Er wird Sie in Ihre Heimat bringen, Sie befähigen, eine Entfernung von etwa dreitausend Lichtjahren durchmessen zu können. Wenn Sie einmal die Macht des Antras gekannt und sich in den Chor der Schöpfung integriert haben, werden Sie für den Spott Ihrer Kollegen nur ein amüsiertes Lächeln übrighaben. Ich biete Ihnen die einzigartige Gelegenheit, Professor Pakullaï, eins mit jenen universellen Mechanismen zu werden, die Sie seit langer Zeit zu verstehen trachten.«

»Sollte ich wirklich mit Ihrer Hilfe wieder auf Alemane gelangen, dann werden mich die Menschen dort als ein Monster ansehen, als einen der Sprache mächtigen Primaten …«

»Das Antra wird Ihr Aussehen nach Ihren Wünschen ändern. Was halten Sie von meinem Vorschlag?«

Loter Pakullaï führte nachdemklich seinen Löffel zum Mund, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen, wie an seinem flackernden Blick zu erkennen war.

»Lassen Sie sich Zeit mit Ihrer Antwort«, fügte Tixu hinzu. »Ich bin sehr müde und möchte jetzt schlafen.«

Ein paar Stunden später wurde der Oranger von einem seltsamen Geräusch geweckt. Er richtete sich auf dem einstigen Bett Nahum Arratans auf und sah Loter Pakullaï schluchzend und am ganzen Körper zitternd auf seinem Lager liegen.

Der Neoropäer war ein fleißiger, aber unbegabter Schüler. Mit einem kaum zu stillenden Wissensdurst stellte er unzählige Fragen, die ihn daran hinderten, sich in sein Innerstes zu versenken, dorthin, wo alle Wege des Raums und der Zeit ihren Anfang nehmen.

Nachdem Tixu ihn die Grundelemente des Antras gelehrt hatte, begann er nicht enden wollende Diskussionen über Wellen, Quanten und Flüssigkeiten, anstatt sich von seinen subtilen inneren Strömungen treiben zu lassen. Er litt, weil er seine veralteten Erkenntnisse aufgeben musste und Angst vor der Stille hatte, und von diesem Leid wollte er sich durch Geschwätzigkeit ablenken.

Tixu versuchte weder ihn zu überzeugen noch ihm das Wort zu verbieten, denn er begriff, dass der Gelehrte mehr Zeit als andere Menschen brauchte, um den wahren Wert dieser Initiation zu erkennen. Während sein Schüler – der Shanyan – sich gedanklich mit seiner Meinung nach Widersprüchlichem auseinandersetzte, durchstöberte der Oranger die Laderäume einiger gestrandeter Raumschiffe und entdeckte dort Bullovisiongeräte, Fernbedienungen, Memodisketten, Androiden und Roboter. Wegen des geringen Sauerstoffgehalts auf Arratan waren sie gut erhalten und praktisch wie neu.

»Nahum Arratan war ein Spezialist für Robotertechnik, aber ihm gelang es nicht, diese Roboter zu neuem Leben zu erwecken«, erklärte der Professor. »Man könnte meinen, sie hätten jegliche innere Energie verloren, obwohl sie alle integrierte Regeneratoren besitzen. Mit ihrer Hilfe könnten wir sofort ein Luftschiff wieder flugfähig machen …«

»Das ist jetzt unwichtig geworden, denn nun wird das Antra Ihnen helfen.«

»Ja, ja. Natürlich, das magische Antra, der Klang des Wunders …«

Nach und nach gewöhnte sich Tixu an die Atmosphäre des toten Sterns. Sein Sauerstoffbedarf war bedeutend geringer geworden, und die Schwerkraft stellte kein Problem mehr für ihn dar. Doch immer häufiger sah er die Gesichter Aphykits und Yelles vor seinem geistigen Auge. Dann wurde er von einer solchen Verzweiflung ergriffen, dass er sich in die Kommandobrücke eines der Schiffe flüchtete und bitterlich weinte.

Am Tag nach seiner Abreise von Terra Mater hatte er den Kontakt zu beiden verloren. Dieses subtile Band zwischen ihnen war plötzlich zerrissen worden, und er konnte ihre Gegenwart nicht mehr spüren. Trotzdem war er überzeugt, dass sie nicht tot waren, sondern von einer unheilbringenden Macht gefangen gehalten wurden. Er wäre gern umgekehrt, doch sein Antra hatte ihre Spur verloren, und seine Nachforschungen hatten ihn immer weiter vom bekannten Universum entfernt.

Da hatte Tixu begriffen, dass es keine Umkehr mehr gab und dass Yelle mit ihren Worten: » …auf diese Weise hat sich alles vollenden müssen …«, Recht gehabt hatte. Die Schöpfung hatte ihn, den Oranger, den ehemaligen kleinen Reisebüroangestellten, der früher versucht hatte, seine Probleme im Alkohol zu ertränken, ausersehen, allein gegen den Blouf zu kämpfen. Noch wusste er nicht, welche Rolle ihm im Kampf gegen Hyponeros zugedacht war. Also ließ er sich von einer höheren Macht leiten, der Kraft seines eigenen Gesangs. Er wusste nur, dass es bei diesem Kampf um sein innerstes Wesen ging und dass er bei dieser Konfrontation nicht unversehrt bleiben würde. Der Preis seines Einsatzes war hoch, aber er würde für die Menschen und ihn noch größer sein, sollte er die ihm vom Schicksal auferlegte Aufgabe nicht erfüllen. Denn als er damals auf Zwei-Jahreszeiten per Deremat eine Reise angetreten hatte, war er nicht nur einer faszinierenden wunderschönen Frau gefolgt, sondern hatte einen gefährlichen Weg eingeschlagen, dessen Kurs er bisher – wenn auch unbewusst  – nie hatte wahrhaben wollen.

Als Loter Pakullaï in die Halbkugel schlüpfte, war er aufgeregt, und seine Augen leuchteten. Seit einer Woche zog er wieder Kleidung an. Mit seinen viel zu langen Hosenbeinen, die er umgekrempelt hatte, und den Ärmeln, die nur bis zum Ellbogen reichten, sah er wie eine Vogelscheuche aus. Trotzdem ähnelte er jetzt wieder mehr einem menschlichen Wesen.

Tixu begriff sofort, warum der Neoropäer aufgeregt war.

»Du lieber Himmel! Sie hatten Recht, Hexenmeister! Ihr dämlicher Klang hat mich in eine Art imaginären Saal mit erleuchteten Öffnungen transportiert. Als ich eine der Öffnungen betrat, bekam ich so etwas wie einen elektrischen Schlag und stellte fest, dass ich mich mehr als dreihundert Meter von der Stelle, wo ich saß, befand. Zuerst glaubte ich, zu träumen oder Halluzinationen zu haben. Doch dann habe ich das Ganze zwanzigmal wiederholt, und immer mit dem selben Resultat.«

»Jetzt müssen Sie die Entfernung vergrößern.«

»Genau das will ich tun. Aber nicht sofort. Ich bin völlig erschöpft und muss mich erst einmal erholen.«

Der Professor streckte sich auf seinem Bett aus, deckte sich zu und schlief sofort ein.

In den folgenden Tagen machte er beträchtliche Fortschritte in der Kunst, mittels seiner spirituellen Kraft auf den Gedanken zu reisen. Unablässig bewegte er sich auf Arratan von einem Ort zum anderen, so als wollte er das Versäumte in kurzer Zeit nachholen. Manchmal hatte er nicht einmal mehr die Kraft, die Halbkugel zu erreichen, und brach ein paar Hundert Meter davor zusammen. Je nach Stimmung lobte oder beschimpfte er dann diese seltsame Fähigkeit der Gattung Mensch.

»Dieses Phänomen ist allein ein Resultat uns noch unbekannter physikalischer Gesetze, die ich aber bald wissenschaftlich erklären werde«, murmelte er, während Tixu eine Mahlzeit zubereitete. »Die Existenz des Doppel-Ichs hat es immer gegeben. Doch vor Anton Shlaar, dem Vorreiter des Weltraumzeitalters, hat das niemand zur Kenntnis genommen …«

Allmählich verlor er sein äffisches Aussehen. Er ging aufrechter, seine Körperhaare wurden spärlicher, und ein neues Feuer brannte in seinen Augen. Auch die Furchen auf seiner Stirn glätteten sich. Er sprach von einem baldigen Aufbruch, ein Beweis, dass diese Form der Reise ihm nicht länger absurd erschien.

»Ich frage mich, ob ich mich wieder an das kulturelle Leben gewöhnen kann. Während der letzten siebzig Jahre müssen sich die neoropäischen Welten verändert haben. Aber vielleicht möchten Sie, dass ich Sie weiterhin begleite …«

»Nein. Dort sind Sie von größerem Nutzen. Denn das Antra wird Sie in die Lage versetzen, der mentalen Inquisition, der Auslöschung und dem Tod zu entgehen. Jedes Mal, wenn es Ihnen gelingt, einen Menschen den Klang des Lebens zu lehren – so wie ich Sie das Antra gelehrt habe –, helfen Sie mir, dem Größerwerden des Bloufs Einhalt zu gebieten.«

»Ich habe zwar noch immer nicht begriffen, welcher Zusammenhang zwischen dem Schwarzen Loch und Ihren Techniken besteht und was Sie auf Arratan eigentlich tun. Aber sollte ich jemals wieder auf Neorop zurückkehren, verspreche ich Ihnen, den Klang des Lebens so weit wie möglich zu verbreiten.«

»Sie reden bereits wie ein Inddikischer Missionar!«

Loter Pakullaï lächelte und sagte: »Versuchen Sie nicht, mich als verblödeten Sektierer hinzustellen, Hexenmeister! Ich bin fast hundert und viel zu alt für einen solchen Schwachsinn, doch zähle ich mich zu einem Ihrer dankbaren, wenn auch kritischen Mitstreiter.«

Die Begeisterung seines neuen Anhängers erinnerte Tixu an seine ersten Versuche eines spirituellen Transfers – sein plötzliches Erscheinen auf der Insel der Monager oder auf einer Straße in Houhatte und seine lange Reise von Selp Dik nach Terra Mater. Aphykit und er waren durch den Äther gereist und hatten sich auf Zauberwelten rematerialisiert, hatten sich überall geliebt, im Wald, auf einer Wiese, am Strand. Für den Professor bedeutete diese Reise die Rückkehr in seine Heimat, für Tixu war diese Art der Fortbewegung für immer mit dem fast schmerzhaften Glücksgefühl verbunden, das Aphykit ihm geschenkt hatte. Doch jetzt hatte er den Eindruck, als würde sich der Boden unter seinen Füßen auftun, als würde er in einem schwarzen, eiskalten und schleimigen Gewässer versinken. Aber er gab sich größte Mühe, vor Loter Pakullaï seine Verzweiflung zu verbergen.

»Wie ich sehe, leiden inddikische Hexenmeister genauso wie gewöhnliche Wissenschaftler«, murmelte der Professor, dem Tixus plötzliche Blässe nicht entgangen war. »Und diese Reaktion macht sie eher sympathisch …«

Als der Neoropäer drei Tage später aus der Luftschleuse in die Halbkugel trat, war er sehr bedrückt. Zuerst glaubte Tixu, sein Gefährte habe die Kunst, mittels seiner Gedanken zu reisen, verloren, wie es häufig neuen Adepten widerfuhr, doch er merkte schnell, dass der Professor etwas Grauenvolles erlebt haben musste.

»Sie müssen mich begleiten, Hexenmeister! Ich habe etwas Seltsames gesehen, das sich auf der Oberfläche des Gestirns, das am Rand der Galaxie steht, ereignet hat …«

Tixu nickte. Er stand auf und betrachtete lange die auf dem Boden ihres Refugiums liegenden Gegenstände. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er bald seiner Sinne beraubt sein würde und dass sich diese Fenster für immer schließen würden, die es lebendigen Kreaturen erlaubten, mit der Schöpfung zu leben. Mechanisch fuhr er sich übers Gesicht, tastete die Konturen ab. Dann atmete er tief ein, roch noch einmal die stickige, von allen möglichen Gerüchen durchtränkte Luft.

Bald würde er seiner körperlichen Hülle ledig sein und mit ihr jegliche Hoffnung verlieren, jemals wieder Aphykit und Yelle in die Arme zu schließen.

»Wir müssen die Hände aneinanderlegen«, sagte er zu Loter.

»Wundern Sie sich nicht, wenn Sie von der Schwerkraft auf der anderen Seite zu Boden gedrückt werden, denn dort gibt es keinen Schwerkraftregler …«

Die beiden Männer setzten sich einander gegenüber an einen Klapptisch und streckten die Arme aus. Kaum hatten sich ihre Handflächen berührt, verloren sie sich im Äther und rematerialisierten sich im Bruchteil einer Sekunde später an der dem Spiralnebel zugewandten Seite des Planeten Arratan. Wie der Professor vorhergesagt hatte, nagelte sie die Schwerkraft am Boden derart fest, dass sie das Gefühl hatten, mehrere Tonnen würden auf ihnen lasten. Der Neoropäer schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Tixu lag auf dem Rücken und sah einen sternenübersäten Himmel. Mit größter Kraftanstrengung gelang es ihm, den Kopf zur Seite zu drehen, und da sah er endlich die widerwärtige Fratze des Bloufs.

ZWEITES KAPITEL

Zwölf an der Zahl müssen erscheinen,Gemäß den zwölf ersten Welten,Den zwölf ersten GewässernUnd den zwölf ersten Tagen.

Zwölf Stimmen werden singen,Auf gerade oder verschlungene Pfade sich begeben.Finster oder rein wird ihre Seele klingen.Lang oder kurz wird es sein, ihr Leben.

Zwölf Funken werden sprühen,Wie die zwölf ersten Blumen erblühen,Wie die zwölf ersten Bäume zum Licht strebenUnd die zwölf ersten Tiere leben.

Zwölf Herzen werden kraftvoll schlagen,In Welten grün oder schwarz an allen Tagen.Blau oder weiß werden ihre Augen seinUnd hell- oder dunkelhäutig werden sie sein.

Zwölf Denkweisen werden sich vereinen,Wie die ersten zwölf Frauen,Wie die ersten zwölf Männer,Wie die ersten zwölf Kinder.

Zwölf Menschen voller LeidenschaftWerden dank ihrer KraftVoller Freude triumphieren,Und alle werden jubilieren.

Elf an der Zahl werden kapitulieren,Elf werden untergehen,Elf werden vernichtet.

Sollte ein Einziger sterben,Sollte ein Einziger versagen,Sollte ein Einziger Verrat üben,

Wird die Menschheit untergehen und verderben.

Der Duodekalog Erstes Buch des Zeitenendes »Die Prophezeiungen des Zahiel«

Es ist Zeit, dass Wir Uns vor den Erzfeinden des Glaubens in stillem Gedenken sammeln, mein lieber Adaman …«

Adaman Mourall stimmte mit einem Nicken zu und folgte seinem erhabenen Gesprächspartner. Die beiden Männer verließen die Gemächer des Pontifex über ein Treppenhaus, das in die feuchtkalten und dunklen Kellerräume des Bischöfl ichen Palastes in Venicia führte. Ihre Gedankenhüter  – acht für den Muffi und zwei für den jungen Exarchen – gingen in gebührendem Abstand hinter ihnen her. Fast unhörbar waren die Schritte der in weiße Kapuzenmäntel gekleideten Scaythen.

Die regelmäßigen Besuche der vier in einem Kellergewölbe ruhenden tiefgefrorenen Menschen machten Adaman Mourall fast wahnsinnig, und ebenso widerwärtig fand er es, von Barrofill XXV. ständig mit »mein lieber Adaman« oder »mein lieber Sohn des Marquisats« angeredet zu werden. Doch diese Titulierungen musste er fast täglich über sich ergehen lassen, seit der Unfehlbare Hirte ihn zum Ersten Sekretär ernannt hatte. Eine Auszeichnung, auf die der Absolvent der Elitehochschule der Heiligen Propaganda (EDHP) gern verzichtet hätte. Wie der Muffi war er in Duptinat – der Hauptstadt des Planeten Marquisat – geboren. Doch diese Tatsache hatte ihm eher zum Nachteil als zum Vorteil gereicht. Statt nach dem Studium sofort in seine Heimat zurückkehren zu dürfen, wie seine Lehrer es ihm versprochen hatten, hatte man ihn gezwungen, für unbestimmte Zeit auf Bella Syracusa zu leben, und das im Schatten einer der mächtigsten und gefürchtesten Persönlichkeiten des Ang-Imperiums.

Gewiss, der kaiserliche Planet besaß unbestreitbare Vorzüge: ein angenehmes mildes Klima, bezaubernde Landschaften, eine äußerst kultivierte Bevölkerung, eine prachtvolle Hauptstadt, deren Schönheit bereits legendär war – doch Adaman Mourall litt trotz alledem unter Heimweh.

Im Alter von fünfzehn Jahren hatte er in einem Deremat des Intergalaktischen Transportunternehmens die Reise nach Venicia angetreten, um dort an der Elitehochschule zu studieren, und nie vermutet, dass ihm die sechs Jahreszeiten, der fahle Himmel, die Nachtgestirne und die eher einfache Architektur seiner Heimat derart fehlen würden.

In seiner Doppelfunktion als Faktotum und Vertrauter des Unfehlbaren Hirten war er dessen ständiger Begleiter und wie sein Gebieter häufig das Ziel von Attentaten. Erst vor zehn Tagen war er knapp einem Anschlag mit einer Lichtbombe entkommen, deren Strahlen gut zwanzig Novizen und Vikare dahingerafft hatten. Er war nur leicht am Arm verletzt worden, doch dieser Vorfall hatte ihm einen großen Schrecken eingejagt, von dem er sich bis heute noch nicht erholt hatte.

Denn die meisten der fünftausend am Konklave teilnehmenden Kardinäle gaben sich in der Abgeschiedenheit ihrer venicianischen Luxusdomizile vor allem ihrer Lieblingsbeschäftigung hin: dem Schmieden von Intrigen und Komplotten.

Und Adaman Mourall fragte sich nicht zum ersten Mal, durch welches Wunder der »Marquisatole« – eine Wortschöpfung aus Marquisatiner und Paritole (die abfällige Bezeichnung der Syracuser für andere Planetarier) –, wie die Einheimischen Barrofill XXV. nannten, zweitausendsechshundertundzwei Stimmen am siebten Tag der Wahl bekommen hatte. Er vermutete, dass dieses unerwartete Ergebnis etwas mit den Führungskräften des Vikariats zu tun hatte, deren Präsenz im Bischöflichen Palast immer lästiger und bedrückender wurde. Einige ekelerregende Besuche in der Gruft der Kastraten – einem geheimen Raum, wo die Vikare ihre als Opfergaben gedachten Sexualorgane in Luftkugeln aufbewahrten – hatten den Ersten Sekretär in dieser Vermutung bestätigt.

Er war nicht der Einzige, der Zweifel am Ausgang dieser Wahl hegte. In weniger als drei Jahren hatte das Sondergericht, das sich jeweils zur Hälfte aus Kardinälen und Vikaren zusammensetzte, neun Prozesse zur Annullierung der Wahl des Muffis angestrengt.

Lange hatte Adaman Mourall gezögert, die Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen brannte. Doch eines Abends, als die beiden Marquisatiner allein im kleinen Salon des Muffis saßen, hatte er sich ein Herz gefasst.

»Warum liefern Euch die Kardinäle einen derart erbitterten Kampf, Eure Heiligkeit?«

Barrofill XXV. hatte nur müde gelächelt. Seine dunklen Augen waren von tiefen Schatten umgeben, die deutlich hervortraten, weil er sich entgegen der höfischen Regeln nicht schminkte. Er war deswegen schon zur ständigen Zielscheibe des Spotts von Höflingen und Kardinälen geworden.

»Weil ich kein Syracuser bin und genau wie Ihr die Autopsychische Selbstkontrolle nur schlecht beherrsche, mein lieber Adaman.«

»Verzeiht mir, Eure Heiligkeit, aber ich verstehe nicht, was die Feindschaft der Kardinäle mit der APS zu tun hat …«

Der Muffi hatte sich von seinem in der Luft schwebenden Sitz erhoben, war zu dem großen Fenster gegangen, das einen herrlichen Ausblick auf Romantigua – den historischen Stadtkern Venicias – bot, und hatte sich lange in die Betrachtung des indigofarbenen Flusses Tiber Augustus versenkt. Ihm schien, als leuchteten am nachtblauen Himmel jeden Abend weniger Sterne.

»Welcher Zusammenhang da besteht, wollt Ihr wissen?«, hatte er resigniert gesagt. »Selbst wenn Ihr Euer Leben lang versucht, Eure Emotionen zu kontrollieren, so werdet Ihr doch nie zu einem Syracuser werden. Auch wenn ich der Unfehlbare Hirte bin, das Oberhaupt der Kirche des Kreuzes, es nützt mir nichts. Ich werde immer der Marquisatole bleiben, der Eindringling, ein ungebetener Gast. Und ebenso wie das Immunsystem im menschlichen Körper einen Virus bekämpft, versuchen die Syracuser, mich zu eliminieren, um einen der Ihren auf den Thron des Pontifex zu setzen.«

»Und warum unterstützen die Vikare Euch dann? Denn jedes Mal, wenn ein Amtsenthebungsverfahren gegen Euch angestrengt wird, machen sie von ihrem Vetorecht Gebrauch.«

»Mein lieber Adaman, Ihr dürft nie vergessen, dass diese Männer sich haben kastrieren lassen, um der Fleischeslust zu entsagen, damit sie sich mit Körper und Seele ganz ihrer schwierigen Aufgabe widmen können. Sie sind also Fanatiker, die eifersüchtig über ihre Privilegien wachen und sich um nichts anderes als die Verkündigung des Wahren Wortes unserer Heiligen Kirche kümmern. Sie sind wohl davon überzeugt, dass ein Paritole weniger als ein Syracuser für die verderblichen Einflüsse des höfischen Lebens empfänglich ist.«

Über die geheimen Machenschaften, mit deren Hilfe er zum Oberhaupt der Kirche aufgestiegen war, sprach der Muffi nicht. Einerseits weil das Gehirn seines jungen Mitplanetariers ständig von den Scaythen ausgeforscht wurde und sie dort nur erfahren durften, was er sie wissen lassen wollte, und andererseits weil er jene Erinnerungslücken, die durch das Auslöschungsprogramm der Scaythen entstanden waren – eine Konsequenz seiner Beziehung zu dem Vikariat –, wieder auffüllen wollte.

Von ihren Gedankenhütern gefolgt – sind sie Hüter, Inquisitoren, mentale Auslöscher oder Mörder, fragte sich Adaman Mourall manchmal – gingen die beiden Marquisatiner über einen Gang, dessen Wände und gewölbte Decke mit Optalumal ausgekleidet waren, einer undurchdringlichen Metalllegierung. Diese im Prinzip perfekte Schutzvorrichtung gegen Strahlen und Wellen aller Art war von dem Vorgänger des jetzt amtierenden Muffis, Barrofill XXIV. installiert worden, dem der kaiserliche Hof post mortem die schmeichelhaften Titel »Tyrann Venicias«, »Palastmonster« und »Komodoteufel« verliehen hatte.

Paradoxerweise fühlte sich Adaman Mourall in diesen nur spärlich durch ein paar schwebende Lichtkugeln beleuchteten unterirdischen Gängen, die er verabscheute, in Sicherheit – es sei denn, einer seiner Gedankenhüter wäre ein im Dienst eines Kardinals, einer syracusischen Adelsfamilie, einer Gilde oder des Imperators Menati stehender Gedankenauslöscher. Doch diese Möglichkeit schloss er gleich wieder aus, als er an die Morphopsychologen dachte, die ständig die Überwachungsbildschirme des Palastes kontrollierten. Sie erkannten, anders als gewöhnliche Sterbliche, jeden Scaythen, auch wenn der sich in einem Kapuzenmantel versteckte, und hätten nie einen Gedankenhüter passieren lassen, wenn sie auch nur den geringsten Zweifel hegten.

In der stickigen Luft lag ein leichter Geruch nach Verwesung. Die wenigen Lichtkugeln schwankten und warfen flackernde Schatten auf verrostete Metalltüren, die durch kodierte Magnetschlösser gesichert waren.

Die beiden Männer blieben vor einer runden, gepanzerten Schleusenkammer stehen, die mit einem perfekten Sicherheitssystem ausgerüstet war. Der Muffi nahm eine winzige Fernbedienung aus einer Tasche seines Chorhemds und drückte auf die Tastatur. Kurz darauf öffnete sich die Schleusentür, während die Gedankenhüter in etwa zehn Meter Entfernung starr wie Gespenster dastanden.

Adam Mourall wartete, bis Barrofill XXV. in dem schwarzen Loch verschwunden war, dann schnitt er dem Rücken des Muffis eine Grimasse, eine Geste infantiler Hilflosigkeit.

»Kommt, mein lieber Adaman!«

Der Exarch stieß einen langen Seufzer aus, ehe er den kleinen, vollständig mit Optalumal ausgekleideten Raum betrat. Eine Sensitivierungslichtkugel füllte sich mit Helligkeit und schwebte langsam über die vier transparenten, auf Kryogentanks ruhenden Sarkophagen.

Die in den gläsernen Särgen ruhenden Gestalten waren gut zu erkennen, obwohl die Innenwände leicht beschlagen waren. Trotz seines Abscheus betrachtete Adaman Mourall die beiden Frauen, den Mann und das kleine Mädchen, die dort seit mehr als drei Jahren mittels der Kryotechnik in einen Tiefschlaf versetzt worden waren.

Beide Frauen waren sehr schön, allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. Die eine hatte langes goldenes Haar, schneeweiße Haut und klassische Gesichtszüge, deren Perfektion der ihres Körpers in nichts nachstand, sofern ein Mann, der das Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, das beurteilen konnte.

»Aphykit Alexu«, hatte der Unfehlbare Hirte bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch in der Krypta erklärt. »Eine Syracuserin, aus Venicia sogar. Von den Kriegern der Stille wird sie Naïa Phykit, die Allwissende Mutter, genannt … Einzige Tochter Sri Alexus, einer der letzten Meister der Inddikischen Wissenschaft.«

»Inddikische Wissenschaft?«

»Eine Art Hexenkult, ein Gräuel. Was hat man Euch in der EDHP gelehrt? Das kleine Mädchen ist wahrscheinlich die Tochter ihrer Liebe zu einem gewissen Tixu Oty, einem gebürtigen Oranger. Was die zwei anderen betrifft, so kennen wir ihre Namen nicht. Wir wissen nur, dass sie jersaleminischer Herkunft sind.«

Bei jedem Besuch in diesem abgeschirmten Raum war das Gesicht Barrofills XXV. von Trauer gezeichnet, wenn sein Blick auf dem Paar aus Jer Salem ruhte. Sie sahen sich sehr ähnlich. Beide hatten langes schwarzes Haar, ausgeprägte, fein geschwungene Brauen, eine gebogene Nase und eine dunkle, fast bronzefarbene Haut. Der Erste Sekretär erriet, dass der Anblick dieser zwei Menschen den Muffi an die fürchterliche Entscheidung erinnerte, die er während der ersten Monate nach seiner Inthronisation hatte treffen müssen: die totale Zerstörung Jer Salems, eines von Eis bedeckten Satelliten des Planeten Franzia und die Vernichtung seiner einhundertvierzigtausend Bewohner, die als Häretiker galten und auf dem Index standen.

Den Körper des kleinen Mädchens betrachtete der Exarch nur flüchtig. Aber jedes Mal musste er sich zwingen, den Blick nicht zu lange auf dem Schamhügel, der in seiner Nacktheit geradezu obszön aussah, verweilen zu lassen. Entsetzt hatte er feststellen müssen, dass er wie viele Geistliche unter einer abscheulichen sexuellen Neigung litt. Trotz dieser Erkenntnis wusste er, dass er diesem Drang eines Tages nachgeben und ihn auf illegale und widerwärtige Weise befriedigen würde.

Er verbannte diese finsteren Gedanken aus seinem Kopf, lehnte sich an die Wand und beobachtete den Muffi, der nun wie erstarrt und mit Tränen in den Augen vor einer Kiste stand. Was trieb das Oberhaupt der Kirche, einen Mann, der wie ein Krake über Millionen und Abermillionen Untertanen herrschte, dazu, sich in dieser Krypta einzufinden? Hatte diese absurde Andacht etwas mit seinen langen einsamen Ausflügen in andere, fast vergessene unterirdische Gänge des Palastes zu tun? Oder mit dieser geheimnisvollen inneren Stimme, von der er manchmal sprach?

Obwohl Adaman Mourall seinen Mitplanetarier fast jeden Tag seit zwei Jahren sah, verstand er ihn nicht. Denn dieser Mann war ein Mensch mit zwei Gesichtern, ein Janus, ein doppelgesichtiges Wesen. In der Öffentlichkeit präsentierte er sich als unerbittlicher Vertreter des Glaubens, doch sobald er sich in seine Privatgemächer zurückgezogen hatte, zerbrach dieser Schutzschild seiner Überzeugung. Dann wirkte er von der Last seiner Verantwortung bedrückt, von Zweifeln und Gewissensbissen gequält.

Die Vikare belagerten ihn Tag und Nacht. Gleich schwarzen schwatzenden Harpyien forderten sie stets neue Maßnahmen der Unterdrückung, die ihnen auch meistens gewährt

Titel der französischen Originalausgabe LA CITADELLE HY PONÉROS

Deutsche Erstausgabe 06/2010 Redaktion: Babette Kraus

Copyright © 1995 Pierre BordageCopyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-641-08430-1

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