Krieger der Stille - Pierre Bordage - E-Book

Krieger der Stille E-Book

Pierre Bordage

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Beschreibung

Einzig die Krieger der Stille können die Bedrohung abwenden - doch werden sie eingreifen?

Die intergalaktische Konföderation Naflin ist vom Untergang bedroht: Die mit übersinnlichen Kräften ausgestatteten Scaythen haben die planetaren Regierungen infiltriert und kennen nur ein Ziel – die Vernichtung der Menschheit. Einzig die Krieger der Stille könnten sie aufhalten, doch der uralte Orden wird durch interne Machtkämpfe gespalten, und ihr Gegner scheint übermächtig …

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Das Buch

Die ferne Zukunft: Die Menschheit hat sich über den Spiralarm der Galaxis ausgebreitet und eine riesige Konföderation, bestehend aus über hundert Planeten, geschaffen. Doch nun steht diese Konföderation vor ihrer größten Herausforderung: Die Scaythen – skrupellose Wesen, die mit der Kraft ihrer Gedanken töten können – haben eine der Herrscherfamilien unterwandert und stehen kurz davor, die Macht über das gesamte Sternenreich an sich zu reißen.

Aber es gibt eine alte Legende: von den »Kriegern der Stille«, die das Talent besitzen, sich gegen tödliche Gedankenkraft zu schützen. Nur wenige Menschen beherrschen diese Kunst. Als der junge Tixu Oty eines Tages die mysteriöse Reisende Aphykrit vor einem Scaythen-Kommando rettet, begreift er, dass er einer dieser Auserwählten ist – und dass er vor dem größten Abenteuer steht, das das Universum je gesehen hat …

»Grandios! Wer endlich mal wieder in ein farbenprächtiges, actionreiches, fesselndes Abenteuer zwischen fernen Sternen und auf fremden Planeten eintauchen will, sollte Pierre Bordages Debüt in Deutschland nicht verpassen.«

Andreas Eschbach

»Pierre Bordage ist der Meister der französischen Science Fiction!«

Le Figaro

Der Autor

Pierre Bordage, 1955 in der Vendée geboren, studierte Literaturwissenschaft in Nantes. Mit seinem ersten Roman »Die Krieger der Stille« landete er auf Anhieb einen riesigen Publikumserfolg. Das Buch wurde mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem renommierten Grand Prix de l’Imaginaire. Bordage lebt mit seiner Familie in Boussay an der Atlantikküste.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchÜber den AutorERSTES KAPITELZWEITES KAPITELCopyright

ERSTES KAPITEL

Niemand weiß, wie es den Scaythen vom Planeten Hyponeros gelang, eine so umfassende und wichtige Rolle auf Bella Syracusa, der Königin der Künste, zu spielen.

… wie sie sich in die Umgebung der Herrscherfamilie Ang einschleichen konnten, eine Dynastie, die seit fünfzehn Jahrhunderten ununterbrochen die Macht innehatte

… wie sie nach und nach alle Schlüsselpositionen der Verwaltung besetzten

… wie sie sich unentbehrlich machten, weil sie Gedanken lesen und schützen konnten

… wie sie – dank ihrer außergewöhnlichen mentalen Fähigkeiten – langsam ein Terrorregime etablierten.

Wer waren die Scaythen?

Niemand kannte Hyponeros, noch hatte jemand jemals von dieser fernen Welt gehört – eine Welt, die so fern war, dass sie vielleicht nur in der Vorstellungskraft der Syracuser existierte. Trotzdem geschah es, dass einem ihrer Nachkommen namens Pamynx die hohe Ehre erwiesen wurde, zum Konnetabel ausgebildet zu werden; eine Auszeichnung, die bisher allein den Söhnen adeliger syracusischer Familien vorbehalten war.

Dies geschah unter der Regentschaft Seiner Exzellenz Arghetti Ang. Diese Entscheidung Arghetti Angs missfiel nur wenigen Syracusern. Was war aus ihm geworden, diesem Volk, das zur Zeit der Eroberung als so stolz und unnahbar galt? Nichts als hohle Gebilde, Schatten oder gar Trugbilder?

Unheil über jenen, der einen Skandal auslöst und die öffentliche Ruhe stört.

Auszug eines mentalen apokryphen Textes, der während seines Umherirrens von dem syracusischen Dichter Messaodyne Jhû-Piet in der ersten Periode des post-Ang’schen Reichs eingefangen wurde. Einige Gelehrte vermuten, dass es sich dabei um verirrte und verwirrte Gedanken der Syracuserin Naïa Phykit handelt.

Der Konnetabel Pamynx trat – in seinen blauen Kapuzenmantel gehüllt – aus dem Dunkel. Der Seigneur Ranti Ang und der junge Spergus hatten ihn in Begleitung ihrer Gedankenhüter bereits auf der gravitationsstabilen Plattform erwartet.

»Wenn Monseigneur mir bitte folgen möchte«, sagte Pamynx und verneigte sich.

»Sieh an! Ihr seid nicht zu früh!«, rügte Ranti Ang Pamynx. »Kommt Ihr, Spergus?«

Die Männer gingen einen schmalen, dunklen Gang entlang, von ihren Gedankenhütern wie Schatten begleitet. Bald standen sie vor einer massiven Holztür, die mit schweren Querstreben aus Metall gesichert war. Nach einer Weile, die Spergus unendlich schien, glitten die Querstreben auf Rollen ins Innere der Mauer. Der junge Osgorit hatte Mühe, in der feuchten Luft zu atmen und ihn beschlich das unangenehme Gefühl, seine Haut würde sich mit Schimmelpilz überziehen.

Die Tür öffnete sich und führte auf einen geräumigen Balkon, der von zwei schwebenden Lichtkugeln beleuchtet wurde. Auf dem Balkon standen ein paar Männer. Sie trugen weiße Masken, graue Uniformen und auf ihrer Brust glänzten drei ineinander verschlungene silberne Dreiecke. Ranti Ang warf seinem obersten Strategen einen bösen Blick zu.

»Dank Eurer Position seid Ihr auch der Oberste Hüter des Gesetzes, Pamynx, und wisst genau, dass die Anwesenheit der Pritiv-Söldner auf syracusischem Boden illegal ist«, sagte er mit mühsam unterdrücktem Zorn, nahe daran, die Kontrolle zu verlieren. »Antwortet mir! War es im öffentlichen Interesse wirklich nötig, diese ruchlosen Abenteurer anzuheuern?«

»Ihr werdet später begreifen, warum diese Männer hier sind«, antwortete Pamynx gelassen.

Der Balkon ragte in einen riesigen, kreisrunden und leeren Saal hinein. In dessen Mitte stand unbeweglich eine in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt.

»Dieser Ort ist zum Fürchten, Monseigneur«, sagte Spergus und unterdrückte ein Schaudern.

Der Anblick dieses unbeweglichen Phantoms auf dem gekachelten Boden vor ihnen, das vom schwachen Licht der Unterwasserlampen erhellt wurde, vergiftete den Geist des sensiblen Osgoriten mit Angst. Der Geruch des Todes schwebte in der stickigen Luft.

»Ist das einer Eurer berühmten Schüler, Konnetabel?«, fragte Ranti Ang.

Pamynx nickte.

»Kann ich sein Gesicht sehen?«

»Noch nicht, Monseigneur. Doch nicht aus mangelndem Respekt vor Euch. Während des Experiments muss sein Haupt bedeckt bleiben, damit sich unsere Gedanken nicht auf sein Aussehen konzentrieren. Sonst bestünde die Gefahr, dass sein psychisches Potenzial geschwächt wird.«

»Gütige Götter! Und dieser Mann verfügt wirklich über … über diese Kräfte, von denen Ihr gesprochen habt?«, fragte Ranti Ang in spöttisch ungläubigem Ton.

Pamynx ging nicht darauf ein, sondern entnahm einer seiner Manteltaschen einen winzigen Ring aus goldfarbenem Optalium, und brachte ihn mit einer Stimmgabel aus Kristall zum Klingen. Als der Ton verhallte, glitt ein Stück Mauer zur Seite, und helles Licht ergoss sich in das Rund der Halle.

Die Umrisse dreier neu angekommener Gestalten zeichneten sich vor dem gleißenden Hintergrund ab: zwei Pritiv-Söldner und ein Mann, dessen einfache Kleidung aus grobem braunen Leinen einen pestilenzartigen, fast animalischen Gestank verbreitete. Sein affenähnliches Gesicht war schreckensbleich.

»Wenn das kein Mikat ist«, sagte Ranti Ang und verzog das Gesicht vor Ekel.

»Ein Mikat vom Satelliten Julius, Monseigneur«, bestätigte Pamynx. »Seine Rasse steht auf dem Index, und sie wurde als Raskatta deklariert. Doch ich dachte … für unser Experiment …«

»Wie ich sehe, oder vielmehr wie ich höre, rechtfertigt Ihr Euch noch immer, Konnetabel«, spottete Ranti Ang. »Verbringt Ihr nicht die meiste Zeit damit, Euch zu rechtfertigen? Alles … und vor allem nichts zu rechtfertigen?«

Spergus’ helles Lachen unterstrich noch die Worte des Herrschers Syracusas.

»Die Kirche des Kreuzes behauptet, dass auch die Mikaten eine Seele haben«, wandte der Konnetabel ein. »Außerdem …«

»Leider bin ich nicht Arghetti Ang, Konnetabel, sondern sein ältester Sohn«, unterbrach Ranti Ang Pamynx mit schneidender Stimme. »Mein Vater hielt es für richtig, Euch mit diesem überaus verantwortungsvollen Amt zu betrauen. Aber wenn er mir schon das Versprechen abgenötigt hat, seine Wahl zu respektieren, so fühle ich mich keineswegs verpflichtet, dem Träger des Amtes Respekt zu zollen. Und verschont mich damit, die Kirche des Kreuzes in Euer finsteres Intrigennetz einzubeziehen. Ist dieser Mikat nicht einer meiner Untertanen? Und steht es nicht mir allein zu, darüber zu entscheiden, ob sein Leben im öffentlichen Interesse wert ist, geopfert zu werden?«

Pamynx verbarg seinen Groll über diese Worte hinter einem starren, maskenhaften Gesichtausdruck und verneigte sich steif. Der Tag der Rache nahte. Allein dieser Gedanke machte ihn geduldig und half ihm, die täglichen Demütigungen und Erniedrigungen zu ertragen.

Inzwischen hatten die beiden Pritiv-Söldner den von Entsetzen ergriffenen Mikaten vor die bewegungslos verharrende, schwarz gekleidete Gestalt gezerrt.

»Spergus?«, sagte Ranti Ang mit sanfter Stimme. »Möchtet Ihr gern wissen, was dieser Mikat jetzt denkt?«

»Das … das würde mir ge… gefallen, Monseigneur«, stammelte der junge Osgorit.

Ein klägliches Lächeln umspielte seinen geschminkten Mund. Er gab sich alle Mühe, die Furcht zu verbergen, die dieser scheußliche Ort ihm einflößte.

Spergus’ Anwesenheit kam Pamynx sehr ungelegen. Er fürchtete, dass die Anwesenheit dieses gefühlsbetonten jungen Höflings des Seigneurs diese erste öffentliche Demonstration beeinträchtigen könne, da sie eine Atmosphäre strikter psychischer Neutralität benötigte.

»Worauf wartet Ihr noch, Konnetabel? Unser lieber Spergus möchte wissen, was in dem Kopf dieses Mikaten vor sich geht. Falls er überhaupt so etwas wie ein Denkvermögen besitzt. Oder stinkt er etwa vor Angst so unerträglich?«

Pamynx starrte den Mikaten an. Die schwarzen fettigen Haare des Mannes waren auf die traditionelle Weise seines Volkes vom Planeten Julius geschnitten: sehr lang im Nacken und an den Schläfen ausrasiert. Seine hervorquellenden Augen unter buschigen, gewölbten Brauen und der niedrigen Stirn wanderten mit einem Ausdruck des Entsetzens unstet zwischen den Männern auf dem Balkon, der schwarzen bedrohlichen Gestalt und den zwei Söldnern mit ihren weißen Masken hin und her.

»Seine Haut ist ja ganz schwarz!«, murmelte Spergus.

»Ja, weil er jeden Tag draußen im Licht des Feuersteins Ahkit arbeitet, den Kreuz uns in seiner Güte gewährt«, erklärte Ranti Ang.

Spergus’ Ekel vor dieser Kreatur aus einer anderen Welt war so groß, dass ihm davon übel wurde. Trotzdem konnte er den Blick nicht von dem kräftigen Hals, den muskulösen Armen und den großen Händen mit den schmutzigen Nägeln des Mannes abwenden.

Die verrückten, unkontrollierten Gedanken des jungen Osgoriten störten Pamynx’ Konzentration und die mentale Erforschung seines Objekts. Spergus’ zwei Gedankenhüter, die gleichzeitig für seine Sicherheit verantwortlich waren, schienen ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Pamynx beschloss, sich davon nichts anmerken zu lassen. Sonst hätte womöglich Zweifel über die Effizienz der Scaythen entstehen können.

Denn Pamynx gehörte – wie die Gedankenhüter – zum Volk der Scaythen vom Planeten Hyponeros. Er war ein Fremder – ein Paritole, wie die Syracuser Bewohner anderer Planeten abfällig nannten – und konnte allein wegen seiner Herkunft seine Immunität verlieren, die ihm sein Rang verlieh. Der große Arghetti Ang hatte seinerzeit einen Aufstand der syracusischen Würdenträger niederschlagen müssen, um ihn in dieses Amt einsetzen zu können. Doch Pamynx’ Machtposition wurde mit der Zeit immer prekärer, weil die Erinnerung an den Vater des jetzigen Herrschers verblasste.

Und im Moment war Pamynx noch auf die Unterstützung Ranti Angs angewiesen: Allein die Bürgschaft des Seigneurs garantierte ihm die nötigen finanziellen Mittel, um das GROSSE PROJEKT zu realisieren; eine gewaltige Aufgabe, mit der Pamynx von seinen Herren, den Meister-Creatoren des Hyponeriarkats beauftragt worden war. Bald würde die Zeit gekommen sein, dem Herrscher Syracusas seine unerträgliche Überheblichkeit mit gleicher Münze heimzuzahlen.

»Wir warten noch immer, Konnetabel. Solltet Ihr vielleicht Eure angeblichen Kräfte in dem Boudoir eines Bordells in Salaün eingebüßt haben? Zwar seid Ihr kein geschlechtliches Wesen, trotzdem …«

Zum zweiten Mal lachte Spergus hellauf.

»Angst lähmt die geistigen Fähigkeiten des Mikaten«, erklärte Pamynx schließlich. »Er ist unfähig, einen einzigen zusammenhängenden Gedanken zu produzieren. Ich kann Euch nur mitteilen, dass er versucht, sich das Gesicht und den Körper einer Frau aus dem Volk der Mikaten in Erinnerung zu rufen. Wahrscheinlich seine eigene Frau …«

»Was für eine grandiose Entdeckung!«, sagte Ranti Ang und lachte schallend. »Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man sich wirklich nicht mit dem Studium des Gehirns beschäftigt haben.«

»Warum sagt Ihr das?«, fragte Spergus naiv.

Der Herrscher von Syracusa lachte sarkastisch, bevor er antwortete.

»Ehe der Planet Julius von uns annektiert wurde, heirateten diese Mikat-Tiere nicht, die Frauen gehörten allen Männern, die in den ländlichen Gemeinschaften lebten. Doch seit zwei Jahrhunderten sind die Männer gesetzlich und kirchlich mit nur einer Frau verheiratet. So verlangt es das erste Gesetz des genetisch-moralischen Kodex, der für alle Satellitenstaaten gilt. Und deshalb, mein guter Konnetabel, enthüllt Ihr uns nichts Besonderes, wenn Ihr berichtet, dass dieser Untermensch an seine Frau denkt.«

Trotz Ranti Angs Spott fuhr Pamynx in unerschütterlicher Ruhe fort: »Ich sehe ebenfalls Kinder, drei Jungen und zwei Mädchen …«

Der Mikat konnte die Anwesenheit dieser hochgestellten Persönlichkeiten nicht länger ertragen. Und als der Konnetabel die wenigen Bilder beschrieb, die ihm durch den Kopf gingen, stieß er den Schrei eines gequälten Tiers aus und warf sich auf die Knie.

»Sein Gehirn ist eher als rudimentär zu bezeichnen«, fügte Pamynx unnötigerweise hinzu.

»Wenn dem wirklich so ist, Konnetabel, welchen Nutzen haben wir dann vor Eurem Experiment, da doch wir selbst über eine weitaus höhere Intelligenz verfügen? Es kommt mir vor, als wäre das nichts als böse Hexerei, allein, um diesen Mikaten zu quälen. Schon unsere Vorfahren haben derartige Versuche unternommen, ohne jedoch gegen die Gebote der Heiligen Kirche zu verstoßen.«

Ganz plötzlich wurde Pamynx seine extrem prekäre Lage bewusst. Da er außerordentlich beschäftigt gewesen war, hatte er den Gerüchten, er sei in Ungnade gefallen, kein Gehör geschenkt. Er hatte es nicht nötig, in Ranti Angs Gehirn einzudringen – ein Vergehen, das mit der Todesstrafe geahndet wurde –, allein an den leichten Schwankungen im Ton seiner Stimme konnte er dessen mörderische Absichten erkennen.

Der Konnetabel hatte das Komplott gegen ihn, das unter maßgeblicher Mitwirkung des höfischen Sängers Tist d’Argolon geschmiedet worden war, unterschätzt. Obwohl er einige Gedanken jener Personen, die der Untergrundbewegung angehörten, aufgeschnappt hatte, waren sie ihm relativ bedeutungslos erschienen, denn er glaubte noch immer, dank seiner ehemaligen Beziehung zu dem mächtigen Arghetti Ang und seiner eigenen Position über den Intrigen des Palastes zu stehen. Doch nun stellte sich heraus, dass er für einen Scaythen mit seinen Fähigkeiten viel zu leichtsinnig gehandelt hatte. Denn durch seine Fahrlässigkeit geriet das GROSSE PROJEKT in Gefahr – dieser universelle Plan, der seit Jahrhunderten von den Meister-Creatoren des Hyponeriarkats vorbereitet wurde. Und jetzt war das Gelingen dieses gigantischen Unterfangens allein vom Erfolg dieses Experiments abhängig.

»Konnetabel, träumt Ihr etwa?«

»Meine Schüler sind momentan nicht einsatzbereit, Monseigneur«, rechtfertigte sich Pamynx. »Diese Demonstration dient nur dazu, Euch ihre Fortschritte vorzuführen. So könnt Ihr Euch selbst davon überzeugen, dass das Budget zur Erforschung mentaler Fähigkeiten nicht verschwendet wurde, obwohl einige Eurer Ratgeber strikt gegen solche Forschungen sind. Später werden wir unsere Arbeiten auf komplexere Gehirne ausdehnen und das so lange, bis wir die Technik perfekt beherrschen.«

»Was hat dieser Mikat denn verbrochen, dass er auf dem Index steht und als Raskatta eingestuft wurde?«, fragte Spergus mit seiner hellen Stimme, die einen scharfen Kontrast zu dem metallisch vibrierendem Timbre des Konnetabels bildete.

»Ich befehle Euch, antwortet! Aber schnell!«

Die wachsende Verärgerung Ranti Angs war ein sicheres Zeichen, dass er sich nur noch mühsam unter Kontrolle hatte und dem strengen, am Hof von Syracusa gültigen Emotions-Kodex gerade noch folgen konnte. Pamynx hingegen bewahrte Ruhe und ergriff die Gelegenheit, erneut den Zorn seines erhabenen Gesprächspartners zu schüren.

»Dürfte ich Euch untertänigst noch um etwas Geduld bitten, Monseigneur? Die auf Eurem Territorium als Raskatta klassifizierten Individuen werden von dem Scaythen Markyat, dem Archivar der Gerichtsbarkeit, registriert. Ich müsste mit ihm Verbindung aufnehmen …«

»Dann beeilt Euch! Uns drängt es, wieder ans Tageslicht zurückzukehren. Hier kommen wir uns wie Ratten in einem stinkenden Abwasserkanal vor.«

Als Pamynx die Augen schloss, senkten sich seine schweren grünlichen, von dunklen Adern durchzogenen Lider über die pupillenlosen gelben Augen. Die Kapuze seines Mantels fiel auf seine Schultern und enthüllte ein unförmiges Gesicht, einen länglichen, kahlen Schädel und eine raue, rissige Haut.

Er sah wie eines jener Monster in den Legenden der Osgoriten aus, jedenfalls stellte sich Spergus sie so vor. Mit einem Schaudern erinnerte er sich an die Scheibe des Roten Purpurmondes und katapultierte sich schnell auf den Planeten Osgor, den größten und am höchsten entwickelten Satelliten Syracusas. Nackt und frei lief er zwischen den trockenen Gräsern und glühenden Steinen der üppigen Gärten seiner Heimat umher und ließ sich von fröhlich lärmenden braunen Gestalten jagen, die wie er in der Hitze tanzten. Er konnte die schweren Düfte der Blumen riechen und vom berauschenden Saft der Brunnen trinken.

Plötzlich fühlte er sich von seinem Colancor – dem traditionellen Trikot der Syracuser – eingeengt, wie in eine zweite Haut gepresst, weil er seinen Körper von Kopf bis Fuß bedeckte. Kopf, Stirn, Wangen und das Kinn waren in ein blasslila Gewebe eingeschnürt, das von einem leuchtenden Band gesäumt war. Seine effeminierten Gesichtszüge wurden von zwei blonden Zöpfen eingerahmt – die einzige Extravaganz, die der Hof gestattete.

Spergus sehnte sich mit jeder Pore seiner Haut nach den glühenden Liebkosungen des Roten Purpurmondes. Doch er unterdrückte schnell seine nostalgischen Anwandlungen. Als Sohn einfacher osgoritischer Kaufleute hatte er kein Recht, sich nach der Vergangenheit zu sehnen. Denn jetzt wurde er mit demselben Respekt wie alle einflussreichen Höflinge behandelt, ein Privileg, das sonst nur hochgestellte Familien auf Syracusa genossen. Auch wenn sich diese Gunst manchmal als schwere Last erwies, auch wenn er die anzüglichen Blicke und die verletzenden Worte der Gattin Ranti Angs, Sibrit, ertragen musste, auch wenn er sich kaum inmitten der ständigen, niederträchtigen Intrigen des Hofs wohlfühlte, auch wenn es ihm nicht gestattet war, sich ohne die Gedankenhüter in ihren roten und weißen Kapuzenmänteln frei zu bewegen, diesen omnipräsenten, stummen, Ränke schmiedenden Schatten, die den Herrscher schützen sollten, gab er sich Mühe, jegliche Erinnerung an seine Kindheit aus seinem Kopf zu verbannen. Er beugte sich den höfischen Regeln und den damit verbundenen Pflichten und Unannehmlichkeiten aus Liebe zu seinem Seigneur. Aus Liebe für den Obersten Herrscher des renommiertesten Planeten der Konföderation Naflin, aus Liebe für diesen Hundertjährigen mit den edlen Gesichtszügen, den klaren blauen Augen und dem gelockten blaugrauen Haar. Aus Liebe für einen Mann, der alle syracusischen Tugenden verkörperte: Adel, Großmut und Anmut verbunden mit einem erlesenen Geschmack; den Kardinaltugenden, die von jeher auf Syracusa gepflegt wurden.

Der Mikat wurde von Krämpfen geschüttelt. Allein das rhythmische Trommeln seiner Knie auf den kalten Fliesen unterbrach eine immer bedrückender werdende Stille.

»Er ist Adept einer verbotenen Religion«, sagte Pamynx plötzlich, an Spergus gewandt.

Der junge Osgorite zuckte zusammen. Er konnte den durchdringenden und dabei unergründlichen Blick des Konnetabels nicht ertragen. Die telepathischen Fähigkeiten der Scaythen und vor allem die von Pamynx machten ihm Angst. Instinktiv drehte er sich um und suchte die beruhigende Nähe seiner Gedankenhüter.

»Diese grässlichen Irrlehren! Sie erfüllen mich mit Abscheu«, schimpfte Ranti Ang. »Sie müssen ein für alle Mal ausgemerzt werden.«

Der Seigneur von Syracusa bewegte nervös seine schlanken, ringgeschmückten Finger und strich sich dann eine Strähne seines silbernen Haars aus dem Gesicht. Ein Tick, der einen unmittelbar bevorstehenden Kontrollverlust ankündigte.

»Dieser Mikat ist Anhänger der ketzerischen Lehre der Kirche von Goudour, die diesen falschen Propheten, der vor dreihundert Jahren am Kreuz verbrannt wurde, noch immer wie einen Märtyrer verehrt. Das ist Häresie!«

»Sie sind nichts als Tiere, fanatische Idioten, die sich erdreisten, auf menschliche Symbole zurückzugreifen!«

»Und wo verstecken sie sich?«, fragte Spergus, den dieses Thema zu faszinieren schien.

Allein diese Frage löste in Ranti Ang ungezügelte Wut aus.

»Stellt Euch nur vor, mein Freund, sie halten sich sogar auf Syracusa auf! Sie verstecken sich in den Bergen von Teheu’ingh und in Mesgomien, in jenen schwer zugänglichen Landstrichen, wo wir sie nur mühsam aufspüren können. Aber auf dem Planeten Julius ist diese Irrlehre weitverbreitet, obwohl wir ihre Anhänger durch verstärkte Repressalien und eine größere Anzahl von Verbrennungen am Kreuz beträchtlich reduziert haben.«

»Wenn Ihr gestattet, Monseigneur, möchte ich noch zwei Dinge hinzufügen. Als Erstes die Tatsache, dass die Eltern dieses Mikaten bereits während eines Aufenthalts Eures Vaters, des Seigneurs Arghetti Ang, am Kreuz verbrannt wurden. Und zweitens, dass die Person, die ihn denunziert hat, keine andere als seine Frau ist – eben jene Person, an die er sich jetzt erinnert. Und das für den kläglichen Lohn von hundert julischen Keulis, was nur einer geringen Summe unserer Standardwährung entspricht. Es ist doch seltsam, dass dieser geringe Obolus für sie attraktiver als die Liebe ihres Mannes war.«

Ranti Ang erlaubte sich den Anflug eines Lächelns.

Doch da Pamynx’ Worte wie Peitschenhiebe auf den Mikaten niedergeprasselt waren, hatte er jetzt aufgehört zu zittern und lag ausgestreckt auf dem Boden. Große Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Aber… aber er weint! Habt Ihr das gesehen? Er weint, Monseigneur!«

»Ja, mein Freund. Er weint«, sagte Ranti Ang spöttisch. »Denn er verfügt nicht über Mechanismen, wie wir sie besitzen, die seinen Verstand kontrollieren können. Deshalb gibt es Wesen, die ihren Emotionen Ausdruck verleihen, so unwahrscheinlich uns das auch anmutet.«

Spergus hatte sich über die massive Brüstung des Balkons gebeugt. Mit großen Augen betrachtete er die glänzenden Tränen, die über die rauen Wangen des Mikaten liefen.

Auf ein diskretes Zeichen des Konnetabels näherte sich der Scaythe im schwarzen Kapuzenmantel der zusammengesunkenen Gestalt. Flüchtig konnte Spergus zwei glühend rote Lichter sehen, die eine große Energie ausstrahlten. Zwei unheilbringende Sterne in einem tintenschwarzen Himmel.

»Wir sind bereit, Monseigneur.«

»Bereit? Aber zu was, gütige Götter?«

Beunruhigt hob der Mikat den Kopf. Als er den schwarzen Stoff der Kutte so nah vor sich sah, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Er schlug wild mit Armen und Beinen um sich.

»Wenn das kein Wunderwerk ist!«, spottete Ranti Ang. »Macht mir ja nicht weis, Ihr habt dieses grandiose Schauspiel nur inszeniert, um einen dieser Erd-Hinteren zu terrorisieren!«

»Habt die Güte, Euch noch etwas zu gedulden, Monseigneur …«

Ein unangenehmes Gefühl des Zweifels beschlich den Konnetabel, ein schleichendes Gift, dem er nicht Einhalt gebieten konnte, obwohl er für seine Demonstration mit größter Sorgfalt den Scaythen Harkot als Experimentator ausgewählt hatte – und das unter hundert Bewerbern, die alle über bemerkenswerte mentale Fähigkeiten verfügten. Er selbst hatte die Ausbildung dieses Schülers überwacht, die Anzahl der Tierversuche erhöht, sowie die der Versuche mit den Halbmenschen des Planeten Getablan. Deshalb hatten sie nicht genug Zeit gehabt, ihre Experimente auf kompliziertere, höherentwickelte Gehirne auszudehnen. Also ging er ein Risiko ein: Dieses wichtige Experiment konnte misslingen. Doch ein Scheitern konnte sich Pamynx nicht leisten. Da er aber von vielen Feinden umgeben war und nur wenige Mitstreiter hatte, war er zu schnellem Handeln gezwungen gewesen, was sonst nicht in seiner Natur lag.

Klagelaute kamen aus dem Mund des Mikaten. Graue Speichelfäden liefen aus seinen Mundwinkeln und tropften auf sein leicht fliehendes Kinn.

»Ich bitte jetzt um völlige Ruhe«, flüsterte der Konnetabel. Erleichtert stellte er fest, dass der scaythische Experimentator durch seine mentale Kraft erste Reaktionen bei dem Probanden hervorrief.

Der Mikat bewegte sich jetzt weniger heftig und atmete schwer. Mit einem verzweifelten letzten Aufbäumen versuchte er, die schwarze Kutte des Experimentators zu ergreifen, fasste aber ins Leere. Ein Keuchen, ein Zucken: Er sackte leblos zu Boden.

Tödliche Stille herrschte im Raum. Spergus, der sich immer noch über die Brüstung beugte, brach sie als Erster.

»Was … was ist mit diesem Mikat geschehen? Er rührt sich nicht mehr.«

»Er ist tot«, antwortete Pamynx und betonte jedes Wort, um der furchtbaren Wahrheit Nachdruck zu verleihen.

»Tot?«

»Ja. Tot, Monseigneur.«

»Wie war das möglich?«

Jetzt nahezu heiter gestimmt, fand der Konnetabel ein perverses Vergnügen darin, die Neugier der beiden Männer noch anzuheizen und antwortete erst nach geraumer Zeit.

»Dieser Mikat wurde allein durch die Willenskraft Harkots, unseres scaythischen Experimentators, getötet. Ihr wart Zeuge der ersten mentalen Exekution, Seigneur«, sagte er mit gleichgültiger Stimme, so als handele es sich um einen ganz banalen Vorgang.

Der Scaythe im schwarzen Kapuzenmantel verneigte sich devot. Ranti Ang reagierte mit einem leichten Nicken.

»Hofft Ihr etwa, dass wir Euch etwas derart Absurdes glauben, Konnetabel?«

»Der Glaube hat in meinen Laboratorien nichts zu suchen, Monseigneur. Den überlasse ich unserer Heiligen Kirche. Ich bin Wissenschaftler, und da zählt allein die Gewissheit. Harkot hat nichts anderes getan, als das Gehirn unseres Versuchskaninchens zur Implosion zu bringen.«

»Wollt Ihr damit sagen, dass dieser Mann allein durch Gedanken töten kann?«, fragte Spergus entsetzt.

»Ja. Aber unter der Voraussetzung, dass die Entfernung nicht zu groß ist. Denn andere Gedanken könnten die mentale Kraft des Experimentators überlagern oder gar auslöschen. Doch Harkot hat diesen Mann ohne Zuhilfenahme einer Waffe aus kurzer Distanz getötet. Momentan lässt sich diese Technik jedoch nur auf relativ primitive Gehirne anwenden. Wie das jenes Mikaten. Wir hoffen jedoch, sie bald auch bei höher entwickelten Gehirnen anwenden zu können. Sogar bei sehr hoch entwickelten.«

Der Konnetabel hatte seine gelassene Selbstsicherheit wiedergefunden. Trotz der Gedankenhüter, dieser weißen und roten Gespenster, deren Aufgabe es war, die psychische Ausgeglichenheit ihrer Schutzbefohlenen zu bewahren, konnte der Scaythe bei Ranti Ang gewisse Gefühle feststellen, jedoch keinen Groll mehr. Der Geist des Seigneurs von Syracusa beschäftigte sich im Moment einzig und allein mit den außerordentlichen Perspektiven, die dieses gerade vor seinen Augen gelungene Experiment bot.

»Besitzen alle Scaythen diese Fähigkeit?«

»Nur jene, die über eine größere als die normale Auffassungsgabe verfügen.«

»Das ist … Zauberei!«, stieß Ranti Ang hervor.

Doch seinem Vorwurf fehlte die Überzeugungskraft, so als ahne er bereits die Antwort.

»Vom Muffi der Kirche des Kreuzes habt Ihr nichts zu befürchten, Monseigneur. Es handelt sich hier – ich wiederhole  – um eine rein wissenschaftliche Technik, die von Physikern, deren Spezialgebiet die Erforschung der Wellen ist, entwickelt wurde, und nicht von irgendeinem dahergelaufenen Hexer. Die Zauberei ist gleichzusetzen mit obskuren, subjektiven, empirischen Praktiken, das exakte Gegenteil unserer Technologie, die objektiv, überprüfbar und beweisbar ist. Und falls Ihr es wünscht, Monseigneur, erklären Euch unsere Forscher gern in allen Einzelheiten jene mentalen Prozesse, derer sich unsere Schüler bedienen. Es kommt also nicht infrage …«, und jetzt wurde Pamynx’ Ton sehr bestimmt, »… dass unsere Heilige Kirche die künftigen mentalen Exekutoren auf den Index setzt. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass wir Euch nicht mit diesem Prozedere vertraut gemacht hätten, wenn es den Regeln der Kirche des Kreuzes widerspräche.«

Indem Pamynx von vornherein mit der Unterstützung der Geistlichkeit rechnete, ging er kein großes Risiko ein. Barrofill XXIV., der Muffi der Kirche des Kreuzes, wusste seit Langem, was für widerwärtige Experimente in dem Geheimlabor des Konnetabel stattfanden.

»Ich möchte gern, dass Ihr uns ausführlicher über diese Technik berichtet«, schlug Spergus vor.

»Allein ich fürchte, Euch mit den Einzelheiten zu langweilen«, entgegnete Pamynx geschmeidig. Denn nur zu gern ließ er sich jetzt bitten.

»Was ziert Ihr Euch? Erfüllt die Bitte unseres teuren Spergus«, sagte Ranti Ang in einem Ton falscher Jovialität. Er hatte seine Krallen eingefahren.

Pamynx frohlockte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. Die Folgen seiner Sorglosigkeit wären für das GROSSE PROJEKT fatal gewesen. Doch es war ihm gelungen, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden. Das bewies der veränderte Ton Ranti Angs. Gerade hatte er das Wichtigste gewonnen: Zeit. Außerdem hatte er fortan den Hofsänger Tist d’Argolon und dessen Anhänger in der Hand. Und das war eine grenzenlose Genugtuung.

»Diese Technik basiert auf einem längst vergessenen Wissen, das ein paar tausend Jahre vor Naflin praktiziert wurde. Unserer Kenntnis nach war dies die einzige antike Wissenschaft, die sich mit dem Potenzial des Gehirns beschäftigt hat: die Inddikische Wissenschaft. Zeugnisse von ihr haben wir auf dem kleinen Planeten Terra Mater gefunden. Er gehört zu einem Sonnensystem am Rande der Milchstraße. Kurzum, zwei scaythische Ethnologen erfuhren rein zufällig, dass die Ameurynen – ein Volk auf Terra Mater – noch immer ihre religiösen Lieder auf Inddikisch sangen, obwohl diese einheimische Sprache schon seit sechstausend Jahren nicht mehr gesprochen wird. Als sich unsere Ethnologen auf diesen Planeten begaben, stellten sie Folgendes fest: Diese Hymnen schienen in der Umgebung klimatische Veränderungen zu bewirken, wie zum Beispiel plötzliche Schneefälle im Sommer. Als sie dieses Phänomen näher untersuchten, kamen sie zu dem Schluss, dass gewisse inddikische Töne – Uctras oder Antras genannt – verblüffende Eigenschaften haben.«

»Um Himmels willen, kommt zur Sache!«, befahl Ranti Ang. Ihm war aufgefallen, dass Spergus überhaupt nicht zuhörte.

»Sofort, Monseigneur. Ich habe nur so weit ausgeholt, um Sieur Spergus das Verständnis zu erleichtern. Wir fanden heraus, dass die Ameurynen diese besonderen Töne sangen, wenn sie bei ihren Riten Tiere opferten oder Gesetzesbrecher bestraften. Zum Beispiel, wenn es um Ehebruch ging. Der oder die Schuldige oder beide wurden in einen heiligen Kreis gebracht und dort festgebunden. Vier Amphanen, die Priester der Ameurynen, die außerhalb des Kreises an den Punkten der vier Himmelsrichtungen saßen, sangen das Todeslied – eine Folge von Uctras –, das im Gehirn zu irreparablen Läsionen und innerhalb weniger Minuten zum Tode führte. Doch einer unserer Physiker hat vor Kurzem herausgefunden, dass sich die Kraft der Uctras unter gewissen Bedingungen beträchtlich steigern lässt.«

Spergus war inzwischen wieder ganz bei der Sache und hörte aufmerksam zu.

»Als Basis unserer weiteren Arbeit diente folgendes Theorem: Die Zerstörungskraft der Uctras steht in direktem Zusammenhang mit dem Geräuschpegel, der sie in ihrer unmittelbaren Nähe umgibt. Je intesiver die Stille, umso größer die Kraft. Die Ameurynen hatten dieses wesentliche Prinzip im Lauf der Jahrhunderte vergessen. Anstatt die Uctras zu verinnerlichen, veräußerlichten sie sie durch den Gesang und schwächten somit deren Kraft.

Doch eine der Hauptbegabungen der Scaythen besteht darin, in die Tiefen des inneren Schweigens hinabzusteigen und somit für andere Lebewesen des Universums unerreichbar zu werden. Deshalb können oberflächliche Geister die Uctras nicht korrekt beherrschen und anwenden. Und nur weil unsere Schüler in größter Abgeschiedenheit und unter dem lästigen, aber notwendigen Schutz der Pritiv-Söldner ihren Studien nachgehen und einen stabilen Zustand des Bewusstseins erreicht haben, sind sie in der Lage, die Uctras zu beherrschen. Sie begannen ihre Versuche mit embryonalen Gehirnen, dehnten sie dann auf die der Säugetiere aus bis hin zu denen der Tiermenschen von Getablan und schließlich auf das Gehirn dieses Mikaten. Übrigens, ich bitte Euch untertänigst, die Bedenken einiger Missionare der Kirche des Kreuzes zu zerstreuen. Wir mussten …«

»Habt Ihr bereits Probleme mit unserer Kirche, Konnetabel?«, unterbrach Ranti Ang Pamynx. »Ich dachte, diese Experimente würden unter größter Geheimhaltung stattfinden? Das hoffe ich zumindest. Denn sollten die anderen Staaten der Konföderation erfahren, dass Ihr Euch von den Pritiv-Söldnern helfen lasst, haben wir bei der nächsten Asma auf Issigor jede Glaubwürdigkeit verloren.«

»Die alle fünf Jahre einberufene Versammlung wird nicht, wie geplant, auf dem Planeten Issigor stattfinden.«

»Was höre ich da? Und warum?«

»Das erkläre ich Euch später, Monseigneur. Privat. Unter vier Augen«, antwortete der Konnetabel, starrte dabei aber Spergus mit seinen gelben Augen an. »Damit wir genügend Versuchsobjekte zur Verfügung hatten, mussten wir den Missionaren versprechen, diese Tiermenschen gesund zu ihnen zurückkehren zu lassen. Indessen sind leider …«

»Nichts als eine fromme Lüge, Konnetabel! Aber trotzdem eine Lüge«, schalt Ranti Ang und verspottete damit die moralischen Ansprüche der Kirchenmänner.

»Ich dachte, dass zum Wohl der …«

»Tut mir den Gefallen, und hört auf zu denken! Diese Experimente haben ein nobles Ziel. Sie dienen der Wissenschaft, nicht wahr? Und die Tatsache, dass dabei ein paar Tiermenschen auf der Strecke bleiben, tangiert in keiner Weise unseren Glauben. Ich regele das mit Muffi Barrofill. Steht er nicht unter meinem persönlichen Schutz, und bin ich nicht sein Freund? Aber seid Ihr auch absolut sicher, dass niemand von Euren Experimenten weiß?«

»Ich bin mir absolut sicher. Die einzige Person, die uns hätte in die Quere kommen können, wurde von Syrycusa verbannt. Von Euch selbst, Seigneur.«

»Von mir selbst?«

»Sicher erinnert Ihr Euch noch an den Prozess gegen den Smella, Sri Mitsu?«

»Sri Mitsu? Was hat er mit all dem zu tun?«, fragte Ranti Ang widerwillig. Es widerstrebte ihm, sich daran zu erinnern, und er tat alles, um dieses peinliche Empfinden nicht sichtbar werden zu lassen.

»Er ist einer von ihnen, Monseigneur«, antwortete Pamynx, dem das Widerstreben Ranti Angs, dessen Grund er kannte und das für ihn fast fühlbar war, nicht entging. »Die Inddikische Wissenschaft hat Raum und Zeit überdauert. Und es gibt nur noch drei lebende Großmeister. Sri Mitsu ist einer von ihnen.«

»Das hätten wir gewusst!«, protestierte Ranti Ang. »Sri Mitsu hat immer den Schutz der Gedanken abgelehnt. Unsere Inquisitoren konnten in ihm wie in einem Licht-Buch lesen.«

»Dank seiner außergewöhnlichen psychischen Fähigkeiten, die er durch das Studium der Inddikischen Wissenschaft erworben hatte, war er vom Schutz der Gedanken befreit, Monseigneur. Da er außerdem Mitglied der Kongregation der Smellas war, wären seine Fähigkeiten sicherlich unseren Projekten nicht förderlich gewesen. Aus diesem Grund und allein deswegen habe ich bei Euch und Seiner Heiligkeit, dem Muffi, dafür plädiert, dass ihm öffentlich der Prozess gemacht wird. Die Anklage – widernatürliche sexuelle Praktiken – war nichts als ein Vorwand, wie Ihr sicherlich schon vermutet habt. Denn wir mussten ihn ein für alle Mal beseitigen. Zum Glück ist dann alles wie geplant verlaufen: Seine Aura als Smella, sein Einfluss auf die Vertreter anderer Staaten, die Wertschätzung, die er genoss – das alles hat sich während des Prozesses gegen ihn gekehrt, und er wurde für immer in die Verbannung geschickt.«

»Warum habt Ihr mir die wahren Gründe nicht mitgeteilt, Konnetabel? Achtet Ihr mich so wenig?«, fragte Ranti Ang leicht verbittert.

Pamynx hütete sich, die Verachtung erkennen zu lassen, die er dem Seigneur von Syracusa entgegenbrachte. Er hielt den Herrscher für einen oberflächlichen, leichtfertigen und labilen Mann, der unfähig war, das Erbe, das ihm sein Vater, der große Arghetti Ang, hinterlassen hatte, zu verwalten. Und hinter den Kulissen zog der Konnetabel seine Fäden, um die syracusische Thronfolge außer Kraft zu setzen.

»Ich wollte Euch mit derlei Dingen nicht belasten, Monseigneur«, antwortete Pamynx mit einem servilen Unterton in der Stimme.

»Und wer sind die beiden anderen Großmeister dieser … dieser Inddikischen Wissenschaft?«, fragte Spergus. »Ihr habt gesagt, dass es drei gibt. Bisher kennen wir nur einen.«

»Der Zweite ist ein anderer Syracuser, Sri Alexu. Ein diskreter Mann, der sich nicht um Staatsgeschäfte kümmert. Er lebt hier, in Venicia, und hat außer der Wissenschaft nur zwei Leidenschaften: seine Tochter Aphykit, eine junge Schönheit, und die Blumen. Wir überwachen ihn ständig.«

»Und der Dritte?«, fragte Spergus drängend.

Die Beharrlichkeit des jungen Osgoriten gab Pamynx zu denken. Habe ich etwa die Rolle des Günstlings Ranti Angs unterschätzt? Steckt hinter seiner entwaffnenden Naivität mehr? Ist sie nur eine Maske, hinter der sich berechnendes Kalkül versteckt? Verfolgt er womöglich präzise Ziele?

»Der Mahdi Seqoram.«

Ganz gegen höfische Gepflogenheiten stieß Ranti Ang einen ziemlich unpassenden Laut der Überraschung aus.

»Große Götter! Seid Ihr Euch eigentlich bewusst, von wem Ihr da redet, Konnetabel?«

»Warum? Wer ist dieser Mann? Was hat er getan?«

»Der Großmeister des Ordens der Absolution. Aber macht Euch keine Sorgen, Sieur Spergus. Wir lenken die Ritter des Ordens auf eine falsche Fährte. Und wir überwachen sie ständig.«

»Und wenn schon! Falls Ihr jedoch die Mitglieder des Ordens der Absolution angreift, so greift Ihr die Grundfesten der Konföderation von Naflin an«, wandte Ranti Ang ein. »Die Ritterschaft widmet sich seit Jahrhunderten der Kriegskunst. Kein noch so mächtiger Herrscher würde es wagen, sie herauszufordern. Habt Ihr den Verstand verloren, Konnetabel?«

»Der Orden weiß nichts von der Waffe, die wir schmieden, Monseigneur.«

Dann nahm er plötzlich eine feierliche Haltung ein und fuhr fort: »Monseigneur, die Zeit ist gekommen, den visionären Traum Eures Vaters zu verwirklichen. Die Lage ist günstig, denn die Armee und die Polizeikräfte der Konföderierten stehen bis zur nächsten Asma unter dem Kommando Eures Bruders Menati, und die Versammlung wird dank unseres Einflusses nicht auf Issigor, sondern auf Syracusa stattfinden. Menati ist unserem Rat gefolgt und hat die leitenden Offiziere dazu bewegen können, unsere Sache zu vertreten, natürlich mit dem Versprechen, sie später auszuzeichnen und ihnen territoriale Zugeständnisse zu machen. Die Pritiv-Söldner sind bedingungslos bereit, uns zu unterstützen; sie brennen geradezu, gegen den Orden der Absolution zu kämpfen, weil ihre Gründer, die abtrünnigen Ritter, vor langer Zeit Mitglieder des Ordens waren. Die Kirche des Kreuzes wiederum breitet sich dank des unermüdlichen Eifers ihrer Missionare bis in die hintersten Winkel der Konföderation aus. Und mit ihren Verbrennungen am Kreuz und ihren mentalen Inquisitoren haben sie bereits äußerst effiziente Mittel der Unterdrückung geschaffen. Es fehlte uns nur noch ein einziges Element, Monseigneur. Und dieses Element, das heißt dessen Wirkungsweise, habt Ihr gerade mit eigenen Augen gesehen.«

Pamynx schwieg und beobachtete, wie seine Zuhörer auf seine Worte reagierten. Spergus stand mit offenem Mund da. Er sah wie eine holografische Gliederpuppe in einem prä-naflinischen Museum aus. Allein seine beiden blonden Zöpfe bewegten sich im kaum wahrnehmbaren Lufthauch. Dieser junge Osgorite, der in seinem überschwänglichen Temperament sowohl ein Opfer seiner Neugier als auch der Gefühle Ranti Angs war, wusste viel zu viel. Ob er nun eine Doppelrolle spielte oder nicht, er stellte eine Gefahr dar. Das Rad seines Schicksals – die rota individua der Kirche – würde sich bald nicht mehr drehen.

Der Seigneur von Syracusa hingegen fuhr sich zerstreut mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über den Mund. Sein Blick wanderte vom Leichnam des Mikaten zu der schwarzen verhüllten Gestalt seines Henkers. Dutzende Edelsteine, mit denen die Bordüre seines langen Capes besetzt war, blitzten kurz auf.

»Jetzt müssen wir sehr schnell handeln«, fuhr der Konnetabel fort. »Zuerst muss Sri Mitsu eliminiert werden. Obwohl er im Exil auf dem Planeten Roter-Punkt lebt, ist er noch immer gefährlich. Sri Alexu und seine Tochter müssen ebenfalls eliminiert werden, auch wenn sie momentan ganz ungefährlich wirken. Aber das ist sicher nur eine Tarnung, um uns zu täuschen. Und dann, Monseigneur, haben wir unsere Technologie der mentalen Exekution zu verfeinern. Schließlich müssen wir den Orden der Absolution besiegen und auflösen. Er ist nichts als ein Überbleibsel der Konföderation, eine überholte Institution, wie alles, was an die Inddikische Zivilisation erinnert. Und um wirklich sicher zu gehen, wäre es ratsam, auch die Ameurynen auf Terra Mater für immer zum Schweigen zu bringen.«

»Habt Ihr nur einmal daran gedacht, Konnetabel, dass sich dieser Genozid – denn es handelt sich um einen Genozid  – herumsprechen könnte?«, schrie Ranti Ang. »Habt Ihr an die Reaktion der Ordensritter gedacht? Und das wird sich herumsprechen, denn die wichtigsten Mitgliedsstaaten haben ihre Augen und Ohren überall!«

»Wir müssen lernen, den Orden nicht als ein unüberwindbares Hindernis zu betrachten. Unsere Vorteile bestehen in unserer Schnelligkeit, Präzision und dem Überraschungseffekt. Jetzt brauchen wir nichts weiter als Euer formelles Einverständnis, Monseigneur … Allein Ihr habt es in der Hand, der erste unumschränkte Herrscher eines post-Naflinischen Reichs zu werden.«

Natürlich dachte Pamynx nicht eine Sekunde daran, Ranti Ang zu inthronisieren. In der fünften Phase des GROSSEN PROJEKTS hatten die Meister-Creatoren von Hyponeros die Zerstörung der gesamten Konföderation und die Institution eines aufgeklärten Tyrannen vorgesehen – eines Einigers –, also eines Mannes von ganz anderem Format, als der momentane Herrscher von Syracusa war.

Inzwischen hatten die vier scaythischen Gedankenhüter in ihrer Wachsamkeit nachgelassen, denn das Licht, das aus ihren halb geschlossenen Augen unter ihren roten und weißen Kapuzen drang, strahlte nicht mehr die gewohnte Intensität aus. Somit verstießen sie gegen das oberste Gesetz der Ehrenwerten Ethik des Gedankenschutzes: Tag und Nacht werde ich der eifrige Hüter der Gedanken meines Herrn sein, denn er allein hat das Recht, dem innersten Fluss seiner Gedanken zu folgen.

Natürlich war Pamynx diese Nachlässigkeit nicht entgangen, und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich in Ranti Angs momentan ungeschützte Gedankenwelt zu schleichen. Doch er zog es vor, dass sich seine Mitplanetarier selbst ihrer unverzeihlichen Fahrlässigkeit bewusst wurden. Heute wollte der Konnetabel keine Köpfe mehr rollen sehen. Denn die Wichtigsten würden schon sehr bald zu seinen Füßen liegen, und diese Aussicht stellte ihn aufs Höchste zufrieden.

»Monseigneur, ich möchte Euch gern noch mehr über unsere Pläne berichten«, sagte er sanft, weil er Ranti Ang nicht zu abrupt aus dessen Wachtraum reißen wollte. »Ich rate Euch, Sieur Spergus von dieser lästigen Pflicht zu entbinden. Schickt ihn an einen Ort, an dem er besser seinen jugendlichen Neigungen nachgehen kann.«

Und ohne die Antwort seines Seigneurs abzuwarten, noch auf den hassvollen Blick Spergus’ zu reagieren, drehte er sich um und verschwand in dem dunklen unterirdischen Gang.

ZWEITES KAPITEL

Von heute an bin ich Angestellter des Intergalaktischen Transportunternehmens und widme ihm im Bewusstsein des mirgewährten Privilegs mein ganzes Leben.

Ich komme meinen Aufgaben zum Wohle der Kunden, die mit dem Intergalaktischen Transportunternehmen reisen, mit größtem Eifer nach.

Ich bin im Voraus mit jeder Versetzung auf einen anderen Planeten einverstanden, sollte das Entscheidungskollegium eine solche Maßnahme zum Gedeihen des Intergalaktischen Transportunternehmens für notwendig erachten.

Ich bin ein Mitglied der großen Familie Galaktischer Transportunternehmen und als solches respektiere ich …

Auszug aus der Airain-Charta, der ethischen Pflichtenlehre des InTra-Amtseid, der vor der Einstellung vor dem Entscheidungskollegium auf dem Planten Oursse abgelegt werden muss.

Auf dem Planeten Zwei-Jahreszeiten kursierte hartnäckig ein Gerücht: Es hieß, der Dauerregen werde bald aufhören, und somit sei bald das Ende der Regenzeit gekommen.

Tixu Oty, der Oranger, fläzte in seinem abgenutzten, verstaubten Sessel in einer Dependance der Reiseagentur InTra und starrte mit dem stumpfen Blick einer himmlischen Kuh auf den strömenden Regen draußen vor dem Fenster.

Während der fünf oder sechs Standardjahre, die Tixu Oty auf den Zwei-Jahreszeiten lebte, hatte er sich in eine zottelige, träge, von Alkohol und Langeweile getränkte Masse verwandelt. Seiner zerknitterten, ehemals hellgrünen Uniform entströmte ein widerwärtiger Geruch, der an diese riesigen Echsen erinnerte, die Bewohner der Flüsse während der Regenzeit.

Wenn sich – was selten genug vorkam – ein Kunde in die vergammelte Agentur verirrte, wurde er von Tixu Oty mit einem derart scheelen Blick bedacht, dass er schnell eine Entschuldigung stammelte und wieder abzog. Welchen Eindruck mussten die unglücklichen Reisenden nur von dieser Firma haben, dem »wichtigsten Reiseveranstalter des bekannten und des unbekannten Universums«?! Von dem InTra, mit seinen Abertausenden Niederlassungen auf Hunderten Planeten der Naflin-Konföderation, inbegriffen die auf den entlegenen Welten der Marken. Das allmächtige InTra, das mithilfe einprägsamer Slogans und Mauscheleien zwischen Politik und Finanzwelt zum Quasi-Monopolisten innerhalb des galaktischen Transportsektors geworden war.

Gefangen in seiner Lethargie wusste Tixu jedoch, dass früher oder später ein Inspobot – ein Inspektor-Roboter – im Auftrag des Entscheidungskollegiums bei ihm erscheinen und seine Arbeit überprüfen würde. Die Direktion kümmerte sich um jede Agentur, auch wenn sie an den Grenzen des registrierten Universums lag. Wenn er viel Glück hatte, würde man ihn einfach nur rausschmeißen, wie man jeden anderen Faulenzer aus einer verantwortungsvollen Stellung entlassen hätte. Allein, diese Vorstellung entsprach seinem Wunschdenken. Viel wahrscheinlicher war, dass er vor dem Ethiktribunal des InTtra erscheinen musste, wo sein gesamtes Versagen in beruflicher Hinsicht offenkundig werden würde. Und da das InTra äußerst empfindlich war, wenn es um das Renommee seines Unternehmens ging, würde man ein Exempel an ihm statutieren, was bedeutete, dass er zu zehn bis fünfzehn Jahren Dienst in einer der Recyclingwerkstätten auf dem Planeten Oursse verurteilt werden würde. Dort würde er dann die Wahl haben, als Versuchspilot – Mortalitätsrate: 30,3 Prozent – zu arbeiten, oder im Strahlenlabor – Mortalitätsrate: 26,7 Prozent –, um Anomalien jedweder Art aufzudecken.

Doch Tixu war es dank seines bewundernswerten Phlegmas gelungen, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen: den Eid, den er auf die Airain-Charta geleistet hatte; die Inspobots; die Maxime: der Kunde ist König; und das deprimierende Schicksal, das ihn erwartete … Ihn interessierte nur eins: der Augenblick, an dem die Computerstimme der Hostess des internen Senders die Schließung aller Reiseagenturen in der Zone 1098-A der Marken verkündete.

Reflexartig tippte Tixu dann auf der veralteten Tastatur den Geheimcode ein, drückte auf den Knopf, der die magnetische Schutzvorrichtung aktivierte, hievte seine immense Körpermasse aus dem Sessel und vergaß jedes Mal die altmodische holografische Leuchtschrift auszuschalten, bei der seit Ewigkeiten die Hälfte der Buchstaben fehlte. Dieses Reisebüro war wahrscheinlich das heruntergekommenste des bekannten und unbekannten Universums.

Dann machte sich Tixu träge auf den Weg und schlurfte durch die dunklen und verschlungenen Gassen der Innenstadt. Bald musste er auf schmale Stege ausweichen, die zur Regenzeit kleine Seen, Bäche und Flüsse überbrückten. Die Wassermassen reflektierten, zerbrochenem Spiegelglas gleich, den fahlen Schein der Lichtblasen, die vom Wind geschüttelt wurden. Manchmal tauchte plötzlich in der Gischt eine der Flussechsen auf, ein etwa zehn Meter langes, fleischfressendes Reptil. Sein gelb geschuppter Leib und seine kleinen rubinroten Augen leuchteten im grauen Zwielicht und wenn es sein Maul öffnete, glänzte eine Dreierreihe spitzer Zähne, während sein kräftiger Schwanz wütend die Wasseroberfläche peitschte.

Schon oft hatte eine Windbö einen betrunkenen oder vom Fieber geschwächten Passanten von einem der Stege geworfen. Der Mann hatte keine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Immer lauerte eine Echse in der Nähe, und sie verschlang ohne Zögern ihre unverhoffte Beute (Todesrate: 100 Prozent).

Manchmal beobachtete Tixu diese Wassermonster eine Weile. Dann hielt er sich immer an den an den Stegen angebrachten Seilen fest. Nicht, dass er übermäßig am Leben hing, aber immerhin hielt er sich an dem fest, was sich ihm bot, und in dem Fall war es eben ein Seil.

Die Ureinwohner der Zwei-Jahreszeiten, die Sadumbas, glaubten, dass die Flussechsen Wassergottheiten seien. Vor der Ankunft der Kolonisten aus der Konföderation auf ihrem Planeten hatten sie den Echsen einige ihrer Neugeborenen in einem Ritual geopfert. Und obwohl das Konföderierte Recht einheimische kulturelle und ethische Gebräuche schützte, waren diese jahrhundertealten Praktiken verboten worden, weil man sie für barbarisch und einer aufgeklärten Gesellschaft nicht würdig hielt.

Tixu schritt auf schwankenden Stegen über die unter ihm lauernden Geschöpfe, die aufmerksam jede seiner Bewegungen über die rutschigen Planken verfolgten. Auch wenn der Regen ihm nun ins Gesicht peitschte, lies er sich davon nicht aus seiner gleichgültigen Haltung bringen. Jetzt strebte er dem einzigen Ort der Siedlung zu, wo Alkohol ausgeschenkt wurde: eine Baracke, auf morschen Pfählen errichtet; kein sehr vertrauenerweckendes Etablissement. Unter einem verwitterten Wirtshausschild neigte sich eine baufällige Terrasse in bedrohlichem Winkel auf den unter ihr gurgelnden Bach zu. Wahrscheinlich war dies die heruntergekommenste Kneipe des bekannten und unbekannten Universums.

Tixu gesellte sich jeden Abend zu den zahlreichen Liebhabern einer einheimischen Spezialität, eines alkoholischen Getränks namens Mumbë, eine zweifelhafte Mixtur aus Säure und Gift, die jedem normalen Individuum die Gedärme zerfressen hätte. Tixu jedoch leerte schweigsam Glas um Glas, ohne den Blick zu heben. Die anderen Säufer standen an der Bar oder flegelten sich an roh zubehauenen Tischen, auch sie tranken schweigend. Ihre glänzenden, rot geäderten Augen starrten ins Leere. Die Kellner, drei Brüder vom Planeten Roter-Punkt, füllten schweigend die Becher und Gläser nach. Nur ihre Hände grabschten gierig nach den auf die Theke geworfenen Münzen.

Die Taverne der Drei Brüder – so wurde sie genannt, weil niemand das Wirtshausschild entziffern konnte – diente vor allem als Umschlagplatz für geschmuggelten Tabak aus den Skoj-Welten und künstlichem Alkohol. Beides war bereits per Gesetz der Konföderation seit mehr als einhundertsechzig Standardjahren verboten.

Von Zeit zu Zeit tauchten ein paar schrille Frauen in der verräucherten Kaschemme auf. Sie hatten bunt gefärbte Haare, und ihre hauchdünnen Negligés enthüllten schlaffes Fleisch, hängende Brüste, fette Beine und kahle Venushügel  – heruntergekommene Prostituierte, die nicht die Mittel hatten, sich einer Verjüngungskur zu unterziehen. Sie verkauften sich an die Optalium-Sucher, an korrupte Beamte oder an dubiose Geschäftsleute.

Auch Tixu war in Momenten tiefster Verzweiflung schon ihren zweifelhaften Angeboten erlegen. Diese flüchtigen Begegnungen fanden in einem im ersten Stock gelegenen Zimmer statt, mitten in einem Schwarm aggressiver schwarzer Moskitos. Da diese Frauen äußerst professionell vorgingen, dauerte der gesamte Akt, von der Geldübergabe bis zur Ejakulation, nie länger als dreißig Sekunden. Und jedes Mal hatte Tixu nichts anderes in Erinnerung behalten als den widerlichen Geruch des Desinfektionsmittels auf der fleckigen Matratze.

Manchmal schnappte er Fetzen einer Unterhaltung oder eines Gedankens auf.

»Scheißregen! Das dauert jetzt schon länger als zwanzig Jahre. Eine-Jahreszeit, so müsste dieses Loch heißen!«

»Ja. Und der arme Morteen Olligrain … Dass er so enden musste. Hat sich einfach von einer dreckigen Echse fressen lassen …«

»Dabei habe ich ihm gesagt, nicht so nahe am Wasser zu graben. Erst mal, weil es in der Nähe des Wassers überhaupt kein Optalium gibt. Und dann, weil ich ja gesehen habe, dass das alles zusammenbrechen würde …«

»Er war eben stur … Aber so sind sie alle, diese Dickschädel von Artilex. Immer müssen sie recht haben.«

»He, du Oranger, da drüben! Wenn ich einen guten Fund mache, komme ich sofort zu dir. Und dann steckst du mich in deine beschissene Maschine und ich bin sofort zu Hause. Und dazu noch verjüngt!«

»Rede keinen Quatsch, Amigoët! So eine Deremat-Reise kostet mindestens zehntausend Eier. Und diese Verjüngungsgeschichte, das ist ein Märchen … Es wirkt vielleicht ein paar Monate lang, aber weil deine Körperzellen dein biologisches Alter gespeichert haben, ist die Wirkung bald vorbei. Das ist der korrigierte Gloson-Effekt … Stimmt doch, oder, Tixu?«

Tixu verzog nur das Gesicht, was man notfalls als Zustimmung deuten konnte.

»Du brauchst dich gar nicht über mich lustig zu machen«, beharrte der andere Mann. »Ich bin überzeugt, dass ich auf eine Ader gestoßen bin. Eine richtige.«

Bei dem Optalium handelte es sich um ein seltenes Edelmetall, das von den Goldschmieden und anderen bildenden

Titel der französischen Originalausgabe LES GUERRIERS DU SILENCE Deutsche Übersetzung von Ingeborg Ebel

Deutsche Erstausgabe 6/07 Redaktion: Lilly Weigand

Copyright © 1993 by Librairie l’Atalante Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by

Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.deUmschlagbild: Stephan Martiniere Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-641-08429-5

www.randomhouse.de

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