Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich - Maurice Leblanc - E-Book
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Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich E-Book

Leblanc Maurice

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Beschreibung

Er ist wieder da: Arsène Lupin, galanter Gentleman und gerechter Dieb, der sich selbst aus den gefährlichsten Situationen mit Bravour und Leichtigkeit zu retten vermag. Er ist ein Meister der Verkleidungskunst und betört mit seinem unwiderstehlichen Charme die Damenwelt.

Auf dem Landsitz des Grafen de Gesvres ereignet sich ein mysteriöser Einbruch. Obwohl einer der Einbrecher im Park angeschossen wird, ist er nicht mehr auffindbar. Die Polizei tappt im Dunkeln, bis der junge Gymnasiast Isidore Beautrelet auftaucht und dem Fall eine Wendung gibt. Bekannt für seine außergewöhnliche Intelligenz und kriminalistische Begabung, ist er schnell auf Arsène Lupins Spur. Als dann noch die Nichte des Grafen entführt wird, reihen sich auch Lupins Erzfeinde Herlock Sholmès und Inspektor Ganimard in das Verfolgerteam ein. Gemeinsam kommen sie seinem Geheimnis immer näher.

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Seitenzahl: 308

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Maurice Leblanc

Arsène Lupin und der Schatz

der Könige von Frankreich

Aus dem Französischen von Erika Gebühr,

überarbeitet und mit Anmerkungen

versehen von Nadine Lipp

Insel Verlag

Inhalt

Der Schuss

Isidore Beautrelet, Primaner

Die Leiche

Auge in Auge

Auf der Spur

Ein historisches Geheimnis

Das Dokument der Aiguille

Von Cäsar zu Lupin

Sesam, öffne dich!

Der Schatz der Könige von Frankreich

1. Kapitel

DER SCHUSS

Raymonde horchte. Das Geräusch ertönte erneut und zweimal hintereinander, deutlich genug, um es von allen unbestimmten Geräuschen der nächtlichen Stille zu unterscheiden, aber dennoch so schwach, dass sie nicht hätte sagen können, ob es von nah oder fern, aus dem Inneren des riesigen Schlosses oder von draußen aus den dunklen Schlupfwinkeln des Parks kam.

Leise stand sie auf. Ihr Fenster war halb geöffnet, sie stieß die Läden auf. Das Mondlicht lag über der stillen Landschaft und beleuchtete Rasen und Büsche. Die verstreuten Ruinen der alten Abtei hoben sich als traurige Silhouetten vom Horizont ab: Säulenstümpfe, unvollständige Spitzbogen, Rudimente von Säulengängen und Bruchstücke von Strebepfeilern. Ein leichter Windhauch streifte die Dinge, glitt durch die nackten, unbeweglichen Zweige der Bäume und raschelte in den knospenden kleinen Blättern des Gebüschs.

Und plötzlich wieder das Geräusch … Es kam von der linken Seite, aus der Etage unter ihr, aus den Räumen des Westflügels.

Obwohl die junge Frau für gewöhnlich unerschrocken und mutig war, fühlte sie doch, wie die Angst in ihr hochstieg. Sie warf sich ihren Morgenrock über und griff nach den Streichhölzern.

»Raymonde … Raymonde … «

Eine Stimme, schwach wie ein Hauch, rief sie aus dem Nebenzimmer, dessen Tür offen stand. Langsam tastete sie sich in die Richtung; ihre Cousine Suzanne stürzte aus ebenjenem Zimmer und sank in ihre Arme.

»Raymonde … bist du es? … Hast du gehört? … «

»Ja … schläfst du denn nicht?«

»Ich glaube, der Hund hat mich geweckt … vor einer halben Ewigkeit … Nun bellt er nicht mehr. Wie spät mag es sein?«

»Vier Uhr ungefähr.«

»Horch … Schritte im Salon!«

»Es besteht keine Gefahr, dein Vater ist doch da, Suzanne.«

»Aber er ist in Gefahr. Er schläft neben dem kleinen Salon.«

»Monsieur Daval ist auch da … «

»Am anderen Ende des Schlosses … Wie soll er etwas hören?«

Sie zögerten, denn sie wussten nicht, was sie tun sollten. Rufen? Um Hilfe schreien? Sie wagten es nicht, selbst der Klang ihrer eigenen Stimmen flößte ihnen Angst ein. Suzanne war ans Fenster getreten und unterdrückte einen Schrei.

»Da … ein Mann neben dem Wasserbecken!«

Tatsächlich entfernte sich dort ein Mann raschen Schrittes. Unter dem Arm trug er einen ziemlich großen Gegenstand. Sie konnten nicht erkennen, was es war, der Gegenstand schlug ihm aber gegen die Beine und behinderte ihn beim Gehen. Sie sahen, wie er an der alten Kapelle vorbei und zu einer in die Mauer eingelassenen Pforte ging. Das Tor musste offen sein, denn der Mann verschwand plötzlich, und sie hörten nicht das gewohnte Kreischen der Angeln.

»Er kam aus dem Salon«, stammelte Suzanne.

»Nein, wenn er über die Treppe und durch die Vorhalle gekommen wäre, hätte er weiter links herauskommen müssen … Es sei denn … «

Der gleiche Gedanke durchzuckte sie. Sie beugten sich vor. Unter ihnen war eine Leiter an die Fassade gelehnt, sie reichte bis zur ersten Etage. Ein Lichtschein erhellte den Steinbalkon. Ein zweiter Mann, der ebenfalls etwas unter dem Arm trug, kletterte über die Balkonbrüstung, glitt die Leiter hinunter und floh auf demselben Weg.

Entsetzt und kraftlos fiel Suzanne auf die Knie und stammelte: »Wir müssen rufen! … Um Hilfe rufen! … «

»Wer würde denn kommen? Dein Vater … Und wenn noch weitere Männer im Haus sind und sich auf ihn werfen?«

»Wir könnten die Dienstboten zu Hilfe rufen … Deine Klingel führt zu ihrer Etage.«

»Jaja … das ist vielleicht ein Gedanke … Vorausgesetzt, dass sie rechtzeitig kommen!«

Raymonde suchte neben ihrem Bett den Knopf der elektrischen Klingel und drückte ihn. Über ihnen klingelte es, und sie hatten den Eindruck, dass man das Schrillen von unten gehört haben musste. Sie warteten. Die Stille wurde beängstigend, kein Windhauch strich mehr durch die Blätter des Gebüschs.

»Ich habe Angst … ich habe Angst … «, wiederholte Suzanne.

Und plötzlich zerriss in der Etage unter ihnen der Lärm eines Kampfes die Stille der Nacht, umgeworfene Möbel, Schreie, und dann, entsetzlich und unheilvoll, ein heiseres Stöhnen, das Röcheln eines Menschen, der gewürgt wird …

Raymonde stürzte zur Tür. Suzanne klammerte sich verzweifelt an ihren Arm.

»Nein … lass mich nicht allein … ich habe Angst!«

Raymonde stieß sie zurück und eilte den Gang entlang, Suzanne folgte ihr, schreiend taumelte sie von einer Wand zur anderen. Sie kam zur Treppe, lief die Stufen hinunter, stürzte zur Salontür und hielt, als sei sie auf der Schwelle festgenagelt, plötzlich inne, während Suzanne neben ihr zusammenbrach. Drei Schritte vor ihr stand ein Mann mit einer Taschenlampe. Mit einer Handbewegung richtete er ihren Strahl auf die beiden Frauen, sodass das Licht sie blendete, und sah lange in ihre Gesichter; dann nahm er, ohne Eile, die Ruhe selbst, seine Mütze ab, hob ein Stück Papier und zwei Strohhalme auf, verwischte Spuren auf dem Teppich, ging auf den Balkon, wandte sich den jungen Frauen zu, verbeugte sich tief vor ihnen und verschwand.

Suzanne lief als Erste zu dem kleinen Boudoir, das den großen Salon von dem Schlafzimmer ihres Vaters trennte. Aber schon bei ihrem Eintritt ließ ein entsetzlicher Anblick sie erstarren. Im fahlen Mondlicht sah sie zwei reglose Körper nebeneinander auf dem Boden liegen.

»Vater! … Vater! … Bist du es? … Was hast du?«, schrie sie entsetzt, über den einen der beiden gebeugt.

Nach einer Weile bewegte sich Graf de Gesvres. Mit heiserer Stimme flüsterte er:

»Hab keine Angst … ich bin nicht verletzt … Und Daval? Lebt er? Das Messer … das Messer? … «

In diesem Augenblick kamen zwei Diener mit Kerzen. Raymonde beugte sich über den anderen Körper und erkannte Jean Daval, den Sekretär und Vertrauten des Grafen. Sein Gesicht war schon vom Tod gezeichnet.

Da stand sie auf, kehrte in den Salon zurück, nahm ein geladenes Gewehr von der Wand und trat auf den Balkon. Es waren bestimmt nicht mehr als fünfzig oder sechzig Sekunden vergangen, seit der Mann den Fuß auf die erste Sprosse der Leiter gesetzt hatte. Er konnte also noch nicht weit sein, zumal er vorsichtshalber die Leiter zur Seite gestellt hatte, damit man ihm auf diesem Weg nicht folgen konnte. Tatsächlich sah sie ihn kurz darauf, wie er an den Ruinen des früheren Klosters entlangschlich. Sie schulterte das Gewehr, zielte mit ruhiger Hand und schoss. Der Mann brach zusammen.

»Das war’s! Das war’s!«, rief ein Diener. »Den haben wir. Ich laufe hinunter.«

»Nein, Victor, er steht wieder auf … Laufen Sie über die Treppe zur kleinen Pforte. Er kann nur auf diesem Weg entkommen.«

Victor verschwand, bevor er jedoch den Park erreichte, war der Mann wieder zusammengebrochen. Raymonde rief den anderen Diener.

»Albert, sehen Sie ihn dort hinten, neben der großen Arkade? … «

»Ja, er kriecht im Gras … er ist verloren … «

»Bewachen Sie ihn von hier aus.«

»Er hat keine Möglichkeit zu entkommen. Auf der rechten Seite sind die Ruinen, eine offene Rasenfläche … «

»Und Victor bewacht die Pforte auf der linken Seite«, sagte sie und nahm ihr Gewehr.

»Gehen Sie nicht hinunter, Mademoiselle!«

»Doch, sicher«, erwiderte sie entschlossen und mit einer kurzen Handbewegung, »lassen Sie mich … ich habe noch eine Kugel … Wenn er sich rührt … «

Sie verließ das Zimmer. Einen kurzen Augenblick später sah Albert, wie sie sich den Ruinen näherte. Er rief ihr vom Fenster aus zu: »Er ist hinter die Arkade gekrochen. Ich sehe ihn nicht mehr … Vorsicht, Mademoiselle … «

Raymonde ging um das frühere Kloster herum, um dem Mann jeden Fluchtweg abzuschneiden, und bald hatte Albert sie aus den Augen verloren. Als er sie nach einigen Minuten immer noch nicht sah, wurde er unruhig und bemühte sich, den Blick stets den Ruinen zugewandt, die Leiter zu erreichen, anstatt über die Treppe zu gehen. Als es ihm gelungen war, die Leiter zu sich heranzuziehen, kletterte er schnell hinunter und lief geradewegs zur Arkade, neben der er den Mann zuletzt gesehen hatte. Dreißig Schritte weiter stieß er auf Raymonde, die Victor gefunden hatte.

»Also, was ist?«, fragte er.

»Unmöglich, ihn zu erwischen«, erwiderte Victor.

»Die kleine Pforte?«

»Von dort komme ich gerade … hier ist der Schlüssel.«

»Trotzdem müssen wir … «

»Oh, für ihn ist es ein verlorenes Spiel … In zehn Minuten haben wir ihn, den Schurken!«

Der Landpächter und sein Sohn, die durch den Schuss geweckt worden waren, kamen vom Gutshof, dessen Gebäude sich ziemlich weit rechts, aber innerhalb der Mauern befanden; ihnen war niemand begegnet.

»Nein, zum Teufel«, fluchte Albert, »der Schuft kann die Ruinen nicht verlassen haben … Wir werden ihn in irgendeinem Loch aufstöbern.«

Sie begannen eine systematische Hetzjagd, durchsuchten jeden Strauch, rissen die dichten Weinranken von den Säulenschäften. Sie überzeugten sich, dass die Kapelle verschlossen und kein Fenster eingeschlagen war. Sie gingen um das Kloster, durchstöberten alle Ecken und Winkel. Die Suche war vergeblich.

Sie machten nur eine Entdeckung: An der Stelle, an der der von Raymonde verwundete Mann zusammengebrochen war, fanden sie eine Chauffeursmütze aus fahlgelbem Leder. Sonst nichts.

Um sechs Uhr morgens wurde die Gendarmerie von Ouville-la-Rivière benachrichtigt; sie begab sich an Ort und Stelle, nachdem sie durch Eilboten eine kurze Notiz an die Staatsanwaltschaft von Dieppe geschickt hatte, in der die Umstände des Verbrechens, die bevorstehende Ergreifung des Hauptschuldigen und die Entdeckung seiner Kopfbedeckung und des Dolches, mit dem er seine Gewalttat ausgeführt hatte, mitgeteilt wurden. Um zehn Uhr fuhren zwei Wagen den kleinen Abhang zum Schloss hinunter. Der eine, eine ehrwürdige Kalesche, brachte den stellvertretenden Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter mit seinem Gerichtsschreiber. Im anderen, einem bescheidenen Cabriolet, saßen zwei junge Reporter, Abgesandte des Journal de Rouen und eines großen Pariser Blattes.

Langsam näherten sie sich dem alten Schloss. In früheren Zeiten die Abtswohnung der Prioren von Ambrumésy und während der Revolution zerstört, wurde es vom Grafen de Gesvres, dem es seit zwanzig Jahren gehörte, wieder aufgebaut und umfasste nun einen Wohnkomplex mit einer Zinne, in die eine Uhr eingefügt war, und zu beiden Seiten je einen Flügel, um jeden führte eine Freitreppe mit einer steinernen Balustrade herum. Hinter den Mauern des Parks und jenseits des Plateaus, der Hochebene der Normandie, sah man zwischen den Dörfern Sainte-Marguerite und Varangeville die blaue Linie des Meeres.

Dort lebte Graf de Gesvres mit seiner Tochter Suzanne, einem hübschen, zerbrechlichen Geschöpf mit blondem Haar, und seiner Nichte Raymonde de Saint-Véran, die er zwei Jahre zuvor bei sich aufgenommen hatte, als sie durch den gleichzeitigen Tod beider Eltern zur Waise geworden war. Das Leben auf dem Schloss verlief ruhig und gleichmäßig. Ab und zu kamen Nachbarn zu Besuch. Im Sommer nahm der Graf die beiden jungen Mädchen fast täglich mit nach Dieppe. Der Graf war ein stattlicher Mann mit einem schönen, ernsten Gesicht und grauem Haar. Er war sehr reich und verwaltete sein großes Vermögen selbst; zusammen mit seinem Sekretär Jean Daval beaufsichtigte er seine Ländereien.

Bei seiner Ankunft wurde der Untersuchungsrichter durch den Polizeiwachtmeister Quevillon über den Stand der Dinge unterrichtet. Die Gefangennahme des Schuldigen war noch nicht erfolgt, stand aber bevor, da alle Ausgänge des Parks bewacht wurden. Ein Entkommen war unmöglich.

Anschließend durchquerte die kleine Gruppe den Stiftssaal und den Speisesaal im Erdgeschoss und gelangte zur ersten Etage. Die tadellose Ordnung im Salon fiel sofort auf. Jedes Möbelstück, jede Nippsache schien auf ihrem gewohnten Platz zu stehen, nirgends fehlte etwas. Rechts und links hingen wunderbare flämische Wandteppiche mit Figurenmuster, weiter hinten, auf der Rückwand, in barocken Rahmen, vier herrliche Gemälde, mythologische Szenen darstellend. Es waren die berühmten Gemälde von Rubens, die Graf de Gesvres zusammen mit den flämischen Wandteppichen von seinem Onkel mütterlicherseits, dem Marquis de Bobadilla, einem spanischen Granden, geerbt hatte.

»Wenn Diebstahl das Motiv des Verbrechens war«, bemerkte Filleul, der Untersuchungsrichter, »so ist dieser Salon jedenfalls nicht davon betroffen.«

»Wer weiß?«, warf der stellvertretende Staatsanwalt ein, der zwar wenig, aber immer genau das Gegenteil vom dem sagte, was der Untersuchungsrichter äußerte.

»Aber, aber, Monsieur, ein Dieb hätte doch zuallererst diese weltberühmten Wandteppiche und Gemälde mitgehen lassen.«

»Vielleicht hatte er keine Zeit dazu.«

»Das werden wir ja sehen.«

In diesem Augenblick traten Graf de Gesvres und der Arzt ein. Der Graf, dem man von dem Überfall, dessen Opfer er geworden war, nichts mehr anmerkte, hieß die beiden hohen Beamten willkommen. Dann öffnete er die Tür zum Boudoir.

Das Zimmer, das seit dem Verbrechen niemand außer dem Arzt betreten hatte, war im Gegensatz zum Salon in größter Unordnung. Zwei Stühle waren umgeworfen, ein Tisch demoliert, und verschiedene andere Gegenstände, ein Reisewecker, ein Briefordner, eine Briefpapierschachtel, lagen auf dem Boden verstreut. Auf einigen der herumliegenden weißen Papierbogen klebte Blut.

Der Arzt schlug das über den Toten gelegte Laken zurück. Jean Daval, der seine gewöhnliche Samtkleidung und eisenbeschlagene Stiefel trug, lag auf dem Rücken, ein Arm lag verdreht unter ihm. Man hatte sein Hemd geöffnet, eine breite Wunde klaffte quer über seiner Brust.

»Der Tod muss augenblicklich eingetreten sein«, erklärte der Arzt, »ein Messerstich hat genügt.«

»Zweifellos das Messer, das ich neben einer Ledermütze auf dem Kamin im Salon habe liegen sehen«, meinte der Untersuchungsrichter.

»Das war es«, bestätigte Graf de Gesvres. »Das Messer wurde hier gefunden. Es stammt aus der Waffensammlung im Salon, aus der auch meine Nichte, Mademoiselle de Saint-Véran, das Gewehr genommen hat. Und die Chauffeursmütze gehört natürlich dem Mörder.«

Filleul untersuchte das Zimmer genau, stellte dem Arzt einige Fragen und bat dann Monsieur de Gesvres, ihm zu erzählen, was er gesehen hatte und von der Sache wusste. Der Graf fasste sich kurz:

»Jean Daval hat mich geweckt. Ich schlief übrigens schlecht, ich hatte wache Augenblicke, in denen ich Schritte zu hören glaubte. Als ich die Augen öffnete, sah ich Daval plötzlich am Fußende meines Bettes. Er hielt eine Kerze in der Hand und war so gekleidet wie jetzt, denn er arbeitete oft bis spät in die Nacht. Er schien sehr aufgeregt und sagte leise zu mir: ›Im Salon ist jemand.‹ Tatsächlich hörte ich Geräusche. Ich stand auf und öffnete leise die Tür dieses Boudoirs einen Spaltbreit. Im gleichen Augenblick wurde die andere Tür, die zum großen Saal führt, aufgestoßen, und ein Mann erschien auf der Schwelle. Er stürzte sich auf mich und schlug mich mit einem Faustschlag an die Schläfe bewusstlos nieder. Ich erzähle das alles ohne Einzelheiten aus dem einfachen Grund, weil ich mich nur an die wesentlichen Vorgänge erinnere, die sich überdies mit außerordentlicher Schnelligkeit abspielten.«

»Und danach?«

»Danach weiß ich nichts mehr … Als ich wieder zu mir kam, lag Daval tödlich getroffen am Boden.«

»Hatten Sie im ersten Moment keinen Verdacht?«

»Keinen.«

»Sie haben keinen Feind?«

»Ich wüsste keinen.«

»Monsieur Daval hatte ebenfalls keinen?«

»Daval? Einen Feind? Er war der beste Mensch auf der Welt. In den zwanzig Jahren, die Jean Daval mein Sekretär und, ich kann sagen, mein Vertrauter war, ist ihm von allen Seiten nur Sympathie und Freundschaft entgegengebracht worden.«

»Und trotzdem ein Einbruch, ein Mord, es muss doch einen Grund dafür geben.«

»Einen Grund? Aber es ist doch ganz einfach: Diebstahl.«

»Es wurde Ihnen also etwas gestohlen?«

»Nein.«

»Dann?«

»Selbst wenn man nichts gestohlen hat, selbst wenn nichts fehlt, so hat man doch immerhin etwas fortgetragen.«

»Was?«

»Ich weiß es nicht. Aber meine Tochter und meine Nichte werden Ihnen mit aller Bestimmtheit erzählen, dass sie nacheinander zwei Männer durch den Park haben gehen sehen und dass diese beiden Männer ziemlich schwere Gegenstände trugen.«

»Die Demoisellen haben … «

»Die Demoisellen haben geträumt? Ich bin selbst geneigt, es zu glauben, denn seit heute Morgen suche ich ununterbrochen und stelle Vermutungen an. Aber wir können sie ja selbst fragen.«

Sie ließen die beiden Cousinen in den großen Saal rufen. Suzanne, noch ganz bleich und zitternd, brachte kaum ein Wort heraus. Raymonde, energischer und beherzter, aber auch schöner mit ihren glänzenden braunen Augen, berichtete über die Ereignisse der Nacht und ihren eigenen Anteil daran.

»Sie sind sich Ihrer Aussage vollkommen sicher, Mademoiselle?«

»Vollkommen. Die beiden Männer, die den Park durchquerten, trugen große Gegenstände unter dem Arm.«

»Und der dritte?«

»Der ist mit leeren Händen fortgegangen.«

»Könnten Sie ihn uns beschreiben?«

»Er hat uns unaufhörlich mit seiner Lampe geblendet. Ich kann höchstens sagen, dass er groß und massig war … «

»Haben Sie ihn auch so in Erinnerung, Mademoiselle?«, wandte sich der Untersuchungsrichter an Suzanne de Gesvres.

»Ja … oder vielmehr, nein … «, antwortete Suzanne überlegend, »ich fand ihn mittelgroß und schlank.«

Filleul lächelte. Er war einander widersprechende Meinungen der Zeugen über ein und dieselbe Tatsache gewöhnt.

»Wir haben also einerseits einen Mann, den aus dem Salon, der gleichzeitig groß und klein und dick und dünn ist, und andererseits zwei Männer, die aus dem Park, die beschuldigt werden, aus diesem Salon Gegenstände entwendet zu haben … die sich noch hier befinden.«

Filleul war ein Richter der ironischen Schule, wie er selbst behauptete. Er war außerdem ein Richter, der weder das Publikum verachtete noch sich eine Gelegenheit entgehen ließ, der Öffentlichkeit seine Geschicklichkeit zu demonstrieren, wie der jetzt ständig anwachsenden Menge von Menschen im Salon. Zu den Journalisten hatten sich der Pächter und sein Sohn, der Gärtner und seine Frau, das Personal des Schlosses und die beiden Fahrer der Wagen aus Dieppe gesellt. Filleul fuhr fort:

»Wir müssen uns jetzt über die Art einig werden, wie diese dritte Person verschwunden ist. Sie haben mit diesem Gewehr und aus diesem Fenster geschossen, Mademoiselle?«

»Ja, der Mann hatte gerade den Grabstein erreicht, der links vom Kloster fast im Gestrüpp verschwindet.«

»Er hat sich aber wieder aufgerichtet?«

»Nur halb. Victor ist gleich hinuntergelaufen, um die kleine Pforte zu bewachen, ich bin ihm gefolgt und habe unseren Diener Albert hier auf dem Beobachtungsposten zurückgelassen.«

Albert machte ebenfalls seine Aussage, worauf der Untersuchungsrichter schloss:

»Folglich kann Ihrer Meinung nach der Verwundete weder nach links geflohen sein, denn Ihr Kamerad bewachte die Pforte, noch nach rechts, denn dann hätten Sie gesehen, dass er den Rasen überquerte. Also muss er logischerweise gegenwärtig in dem verhältnismäßig begrenzten Raum sein, der hier vor uns liegt.«

»Das ist meine Überzeugung.«

»Und die Ihre, Mademoiselle?«

»Meine auch.«

»Meine ebenfalls«, sagte Victor.

»Das Feld der Untersuchungsmöglichkeiten ist klein, wir brauchen nur die seit vier Stunden laufende Suche fortzusetzen«, rief der stellvertretende Staatsanwalt spöttisch.

»Vielleicht haben wir mehr Glück.«

Filleul nahm die Ledermütze vom Kamin, untersuchte sie, rief den Wachtmeister und sagte leise zu ihm:

»Schicken Sie sofort einen Ihrer Männer nach Dieppe zu dem Hutmacher Maigret; Monsieur Maigret soll ihm, wenn möglich, sagen, wem diese Mütze verkauft wurde.«

»Das Feld der Untersuchungsmöglichkeiten«, von dem der stellvertretende Staatsanwalt süffisant gesprochen hatte, beschränkte sich auf den kleinen Raum zwischen dem Schloss, dem Rasen auf der rechten Seite und dem Winkel, der durch die linke und die dem Schloss gegenüberliegende Mauer gebildet wurde; das heißt, auf ein Viereck von ungefähr hundert Meter Seitenlänge, auf dem sich verstreut die Ruinen von Ambrumésy, dem im Mittelalter so berühmten Kloster, erhoben.

In dem niedergetretenen Gras stellte man augenblicklich den Weg des Flüchtigen fest. An zwei Stellen stieß man auf dunkle, fast getrocknete Blutspuren. Hinter der Biegung der Arkade, am äußersten Ende des Klosters, fand sich nichts mehr, da der Boden, der mit Tannennadeln bedeckt war, keine Spuren zeigte. Wie aber hatte sich der Verwundete den Blicken des Mädchens, Victors und Alberts entziehen können? Etwas Dickicht, das die Diener und Polizisten durchstöbert, einige Grabsteine, hinter denen sie gesucht hatten, das war alles.

Der Untersuchungsrichter ließ sich von dem Gärtner, der den Schlüssel bei sich trug, eine kleine Kapelle öffnen, ein wahres Schmuckstück der Bildhauerkunst, das die Zeit und die Revolutionen geschont hatten und das mit den feinen Ziselierungen im Vorraum und den zierlichen Statuen, die es bevölkerten, immer noch als eines der schönsten der normannischen Gotik galt. Der im Inneren sehr einfach gehaltene Raum, der als einzigen Schmuck einen Altar aus Marmor hatte, bot keinerlei Zufluchtsmöglichkeit. Außerdem hätte der Flüchtende erst einmal eindringen müssen. Aber wie?

Die Untersuchung endete an der kleinen Pforte, durch die Besucher in die Ruinen eingelassen wurden. Sie führte auf einen Hohlweg zwischen der Einfriedung und einem Buschholz, in dem verlassene Steinblöcke lagen. Filleul bückte sich. Auf dem staubigen Weg sah man Spuren von Rädern, die mit einem Schutz gegen Rutschen umwickelt gewesen sein mussten. In der Tat hatten Raymonde und Victor nach dem Schuss Geräusche eines Autos zu hören geglaubt. Der Untersuchungsrichter folgerte:

»Dann hat der Verwundete seine Komplizen getroffen.«

»Ausgeschlossen!«, rief Victor. »Ich war an der Pforte, während Mademoiselle und Albert ihn noch sahen.«

»Aber schließlich und endlich muss er ja irgendwo sein! Draußen oder drinnen, wir haben keine Wahl!«

»Er ist hier«, erwiderten die Diener starrköpfig.

Der Richter zuckte die Schultern und kehrte ziemlich mürrisch zum Schloss zurück. Die Angelegenheit ließ sich ganz entschieden schlecht an. Ein Diebstahl, bei dem nichts gestohlen worden war, ein unsichtbarer Gefangener – nicht gerade erfreuliche Dinge.

Es war spät geworden. Monsieur de Gesvres bat die Beamten und die beiden Journalisten zu Tisch. Man aß schweigend, dann kehrte Filleul in den Salon zurück und verhörte die Dienstboten. Plötzlich vernahm er Pferdegetrappel vom Hof her, und einen Augenblick später trat der Polizist ein, der nach Dieppe geschickt worden war.

»Na also, haben Sie den Hutmacher gefunden?«, rief der Richter, ungeduldig, endlich einen Anhaltspunkt zu bekommen.

»Die Mütze wurde einem Chauffeur verkauft.«

»Einem Chauffeur?«

»Ja, einem Chauffeur, der mit seinem Wagen vor dem Geschäft hielt und fragte, ob man ihm für einen seiner Kunden eine Chauffeursmütze aus gelbem Leder verkaufen könne. Es gab nur noch diese hier. Er hat sie bezahlt, ohne sich um die Größe zu kümmern, und ist fortgefahren. Er hatte es sehr eilig.«

»Was für ein Wagen?«

»Ein viersitziges Coupé.«

»Und wann?«

»Wann? Heute Morgen.«

»Heute Morgen? Was erzählen Sie da?«

»Die Mütze wurde heute Morgen gekauft.«

»Aber das ist doch unmöglich, weil sie heute Nacht im Park gefunden wurde. Um gefunden zu werden, musste sie dort liegen und folglich vorher gekauft worden sein.«

»Heute Morgen. Der Hutmacher hat es mir gesagt.«

Einen Augenblick waren sie alle wie erstarrt. Der verblüffte Untersuchungsrichter bemühte sich zu verstehen. Plötzlich zuckte er, von einem Geistesblitz gepackt, zusammen.

»Schaffen Sie den Chauffeur her, der uns heute Morgen gefahren hat.«

Der Wachtmeister und sein Gehilfe liefen dienstbeflissen zu den Ställen. Nach wenigen Minuten kehrte der Wachtmeister allein zurück.

»Wo ist der Chauffeur?«

»Er hat sich in der Küche Essen auftragen lassen, hat gegessen und dann … «

»Und dann?«

»Hat er sich davongemacht.«

»Mit seinem Wagen?«

»Nein. Unter dem Vorwand, einen Verwandten in Ouville zu besuchen, hat er sich das Fahrrad des Pferdeknechts geliehen. Hier sind sein Hut und sein Überzieher.«

»Aber er ist bestimmt nicht ohne Kopfbedeckung losgefahren?«

»Er hat aus seiner Tasche eine Mütze gezogen und sie aufgesetzt.«

»Eine Mütze?«

»Ja, offensichtlich aus gelbem Leder.«

»Aus gelbem Leder? Ausgeschlossen, sie ist ja hier.«

»Tatsächlich, Herr Untersuchungsrichter, aber seine sieht genauso aus.«

Der stellvertretende Staatsanwalt lächelte höhnisch. »Sehr komisch! Sehr witzig! Zwei Mützen … Die eine, die wahre, die unser einziges Beweisstück war, ist auf dem Kopf des vorgeblichen Chauffeurs davongefahren! Die andere, die falsche, halten Sie in Händen. Der gute Mann hat uns ganz schön in die Irre geführt.«

»Fangt ihn und bringt ihn hierher!«, schrie Filleul. »Wachtmeister Quevillon, zwei von Ihren Leuten aufs Pferd und los!«

»Er ist schon weit«, bemerkte der stellvertretende Staatsanwalt.

»Mag er so weit sein, wie er will, wir müssen ihn erwischen.«

»Ich hoffe es, aber ich glaube trotzdem, dass wir hauptsächlich hier nachforschen sollten. Lesen Sie den Zettel hier, ich fand ihn in einer Manteltasche!«

»In welchem Mantel?«

»In dem des Chauffeurs.«

Der stellvertretende Staatsanwalt gab Filleul einen zusammengefalteten Zettel, auf dem diese wenigen mit Bleistift ungelenk hingekritzelten Worte standen:

Wehe der Demoiselle, wenn sie den Chef getötet hat.

Dieser Zwischenfall rief einige Erregung hervor.

»Wer Ohren hat zu hören, der höre; wir sind gewarnt«, brummte der stellvertretende Staatsanwalt.

»Herr Graf, bitte beunruhigen Sie sich nicht deswegen«, meinte der Untersuchungsrichter. »Sie auch nicht, Mesdemoiselles. Diese Drohung ist vollkommen bedeutungslos, da die Justiz nun vor Ort ist. Wir werden alle nötigen Maßnahmen treffen. Ich übernehme die Verantwortung für Ihre Sicherheit. Und was Sie angeht, Messieurs«, fügte er hinzu, indem er sich an die beiden Reporter wandte, »ich zähle auf Ihre Diskretion. Dank meiner Gefälligkeit durften Sie bei dieser Untersuchung zugegen sein, und Sie würden es mir schlecht lohnen, wenn Sie … «

Er unterbrach sich, als wäre ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, sah abwechselnd auf die beiden jungen Männer und trat auf einen von ihnen zu:

»Für welche Zeitung schreiben Sie?«

»Für Journal de Rouen.«

»Haben Sie einen Ausweis?«

»Hier, bitte.«

Der Ausweis war in Ordnung. Es gab nichts einzuwenden. Filleul rief den anderen Reporter zu sich.

»Und Sie, Monsieur?«

»Ich?«

»Ja, Sie, ich frage Sie, für welche Zeitung Sie schreiben?«

»Mein Gott, Herr Untersuchungsrichter, ich schreibe für mehrere Zeitungen … «

»Ihr Ausweis?«

»Ich habe keinen.«

»Aha! Und wie kommt es, dass … «

»Um einen Ausweis zu bekommen, muss man regelmäßig für eine Zeitung schreiben.«

»Und?«

»Und? Ich bin nur gelegentlicher Mitarbeiter. Ich schicke allen möglichen Zeitungen Artikel, die sie veröffentlichen … oder auch nicht, das kommt darauf an.«

»Ihr Name? Ihre Papiere?«

»Mein Name würde Ihnen nichts sagen, und Papiere habe ich keine.«

»Sie haben nicht irgendein Papier, das über Ihren Beruf Auskunft gibt?«

»Ich habe keinen Beruf.«

»Aber schließlich und endlich, Monsieur«, entgegnete der Untersuchungsrichter mit einer gewissen Schroffheit, »werden Sie doch wohl nicht Ihr Inkognito wahren wollen, nachdem Sie sich hier durch eine List eingeschlichen und der geheimen Untersuchung der Justiz beigewohnt haben.«

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, Herr Untersuchungsrichter, dass Sie mich nicht gefragt haben, als ich kam, und dass ich folglich auch nichts zu sagen brauchte. Außerdem schien es mir nicht so, als wäre die Untersuchung geheim, denn alle Welt war zugegen … selbst einer der Schuldigen.«

Er sprach leise und unendlich höflich. Er war noch ganz jung, sehr groß und sehr schlank, seine Hose war ihm zu kurz und seine Jacke zu eng. Sein Gesicht war rosig wie das eines jungen Mädchens, die Stirn breit, sein Haar trug er im Bürstenschnitt, ein blonder, schlecht gepflegter Bart zierte das Kinn. Seine Augen funkelten vor Intelligenz. Er schien keineswegs verwirrt, er lächelte auf sympathische Weise, ohne die geringste Spur von Ironie.

Filleul sah ihn mit herausforderndem Argwohn an. Die beiden Polizisten traten langsam näher. Fröhlich rief der junge Mann:

»Herr Untersuchungsrichter, selbstverständlich halten Sie mich für einen Komplizen. Wenn dem so wäre, hätte ich mich dann nicht wie mein Kamerad in einem günstigen Augenblick aus dem Staub gemacht?«

»Sie haben vielleicht gehofft … «

»Jede Hoffnung wäre absurd gewesen. Überlegen Sie doch, Herr Untersuchungsrichter, und Sie werden zugeben, dass ich logischerweise … «

Filleul sah ihm immer noch in die Augen und fragte kurz:

»Spaß beiseite! Ihr Name?«

»Isidore Beautrelet.«

»Ihr Beruf?«

»Primaner am Gymnasium Janson-de-Sailly.«

Filleul sah ihm immer noch gerade in die Augen und fragte, weiterhin kurz angebunden:

»Was faseln Sie da? Primaner … «

»Am Gymnasium Janson, Rue de la Pompe … «

»Das geht zu weit! Sie machen sich über mich lustig! Sie treiben das Spiel zu weit!«

»Ich muss zugeben, Herr Untersuchungsrichter, dass mich Ihre Überraschung verwundert. Warum sollte ich nicht Schüler des Gymnasiums Janson sein? Wegen meines Bartes vielleicht? Beruhigen Sie sich, mein Bart ist falsch.«

Isidore Beautrelet riss die wenigen Locken von seinem Kinn, und sein bartloses Gesicht erschien noch jugendlicher, noch rosiger, wahrhaftig das Gesicht eines Gymnasiasten. Während ein kindliches Lächeln seine weißen Zähne entblößte, rief er:

»Sind Sie jetzt überzeugt? Brauchen Sie noch mehr Beweise? Hier, lesen Sie die Adresse auf den Briefumschlägen von meinem Vater: ›Herrn Isidore Beautrelet, Internatsschüler am Gymnasium Janson-de-Sailly‹.«

Überzeugt oder nicht, Filleul schien die Geschichte nicht zu gefallen. Griesgrämig fragte er:

»Was machen Sie hier?«

»Ich … ich bilde mich.«

»Dafür sind Gymnasien da … Ihres zum Beispiel.«

»Sie vergessen, Herr Untersuchungsrichter, dass wir heute, am 23. April, mitten in den Osterferien sind. «

»Ja und?«

»Mir steht es doch frei, meine Ferien zu verbringen, wie ich Lust habe.«

»Und Ihr Vater …?«

»Mein Vater wohnt weit weg, im hintersten Savoyen, er selbst hat mir zu einer kleinen Reise an die Ufer des Ärmelkanals geraten.«

»Mit einem falschen Bart?«

»O nein, das nicht. Die Idee stammt von mir. Im Gymnasium unterhalten wir uns oft über geheimnisvolle Abenteuer, wir lesen Kriminalromane, in denen man sich verkleidet. Wir stellen uns viele verzwickte und schreckliche Dinge vor. Ich wollte mich amüsieren und habe mir deswegen einen falschen Bart angeklebt. Außerdem hatte ich den Vorteil, dass man mich ernst nahm, ich gab mich also für einen Pariser Reporter aus. So habe ich gestern Abend nach einer mehr als unbedeutenden Woche das Vergnügen gehabt, meinen Kollegen aus Rouen kennenzulernen; heute Morgen, nachdem er von der Affäre von Ambrumésy gehört hatte, schlug er mir freundlicherweise vor, ihn zu begleiten und einen Wagen zu mieten, dessen Bezahlung wir uns teilen wollten.«

Isidore Beautrelet erzählte das alles mit einer einfachen, ein wenig naiven Offenheit, man konnte sich seinem Zauber nicht entziehen. Selbst Filleul, zwar immer noch voll misstrauischer Zurückhaltung, fand Gefallen daran, ihm zuzuhören.

Etwas weniger griesgrämig fragte er ihn: »Sind Sie mit Ihrer Forschungsreise zufrieden?«

»Ich bin begeistert! Ich habe noch nie eine derartige Geschichte erlebt, sie ist wirklich interessant.«

»Und voll geheimnisvoller Komplikationen, auf die Sie so großen Wert legen.«

»Und die so spannend sind, Herr Untersuchungsrichter! Ich kann mir nichts Aufregenderes vorstellen, als all die Fakten zu sehen, die aus dem Dunkel treten, sich aneinanderreihen und nach und nach die mutmaßliche Wahrheit ergeben.«

»Die mutmaßliche Wahrheit! Sie wagen sich aber weit vor, junger Mann! Soll das heißen, dass Sie Ihre kleine Lösung des Rätsels bereits gefunden haben?«

»Oh nein«, erwiderte Beautrelet lachend. »Nur finde ich, dass es einige Punkte gibt, über die man sich eine Meinung bilden kann, und ein paar andere, die so genau umrissen sind, dass man nur seine Schlüsse daraus zu ziehen braucht.«

»Ah! Das wird interessant, und ich werde endlich etwas erfahren, denn ich muss Ihnen zu meiner großen Schande gestehen, dass ich nichts weiß.«

»Sie haben noch keine Zeit zum Nachdenken gehabt, Herr Untersuchungsrichter. Das Wichtigste ist das Nachdenken. Es kommt so selten vor, dass sich die Tatsachen nicht von selbst erklären. Sind Sie nicht auch dieser Meinung? Ich habe jedenfalls nur die in Betracht gezogen, die im Protokoll niedergeschrieben sind.«

»Wunderbar! Ich könnte Sie demnach fragen, welche Gegenstände aus diesem Salon gestohlen wurden?«

»Ich würde Ihnen antworten, dass ich sie kenne.«

»Bravo! Monsieur weiß mehr darüber als der Eigentümer selbst. Monsieur de Gesvres hat das seine, Monsieur Beautrelet nicht. Es fehlen ihm wohl ein Bücherschrank und eine Statue von überwältigender Größe, die nie jemandem aufgefallen sind. Und wenn ich Sie nach dem Namen des Mörders fragen würde?«

»Dann würde ich Ihnen ebenfalls antworten, dass ich ihn kenne.«

Die Anwesenden zuckten zusammen. Der stellvertretende Staatsanwalt und der Journalist traten näher. Monsieur de Gesvres und die beiden jungen Frauen hörten, von Beautrelets ruhiger Sicherheit beeindruckt, aufmerksam zu.

»Sie kennen den Namen des Mörders?«

»Ja.«

»Und vielleicht auch die Stelle, wo er sich befindet?«

»Ja.«

Filleul rieb sich die Hände: »Was für ein Glück! Diese Gefangennahme wird der Höhepunkt meiner Karriere sein. Und Sie können mir jetzt sofort sensationelle Enthüllungen machen?«

»Ja, jetzt sofort … Oder aber, wenn es Ihnen nichts ausmacht, in ein oder zwei Stunden, wenn ich Ihre Untersuchung bis zum Ende mitverfolgt habe.«

»Aber nein, sofort, junger Mann … «

In diesem Augenblick machte Raymonde de Saint-Véran, die Isidore Beautrelet von Anbeginn dieser Szene nicht aus den Augen gelassen hatte, einen Schritt auf Filleul zu.

»Herr Untersuchungsrichter … «

»Was wünschen Sie, Mademoiselle?«

Zwei oder drei Sekunden lang zögerte sie, die Augen auf Beautrelet gerichtet, dann wandte sie sich an Filleul:

»Ich möchte Sie bitten, den Herrn zu fragen, warum er gestern auf dem Hohlweg, der zu der kleinen Pforte führt, spazieren ging.«

Das war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Isidore Beautrelet schien verdutzt.

»Ich, Mademoiselle? Ich? Sie haben mich gestern gesehen?«

Raymonde war nachdenklich, ihre Augen ruhten immer noch auf Beautrelet, so, als wollte sie sich selbst erst überzeugen. Langsam sagte sie:

»Gestern, um vier Uhr nachmittags, als ich durch den Wald ging, traf ich einen jungen Mann auf dem Hohlweg, der so groß war wie dieser Herr, gekleidet wie er, mit einem Bart wie seiner … ich hatte den Eindruck, als wollte er sich verstecken.«

»Und das war ich?«

»Ich kann es nicht beschwören, meine Erinnerung an ihn ist ein wenig vage. Und doch … doch scheint es mir … die Ähnlichkeit wäre sonst wirklich merkwürdig … «

Filleul war sprachlos. Sollte er, der schon durch einen der Komplizen getäuscht worden war, jetzt auch noch von diesem angeblichen Gymnasiasten genasführt werden?

»Was können Sie darauf erwidern, Monsieur?«

»Dass Mademoiselle sich irrt und dass es mir ein Leichtes ist, es zu beweisen. Gestern war ich zur betreffenden Stunde in Veules.«

»Sie werden es beweisen müssen, Sie kommen nicht darum herum. Auf jeden Fall ist die Situation nicht mehr dieselbe. Wachtmeister, einer Ihrer Männer wird dem Herrn Gesellschaft leisten.«

Isidore Beautrelet machte ein deutlich verstimmtes Gesicht.

»Wird es lange dauern?«

»So lange, bis wir die nötigen Erkundigungen eingezogen haben.«

»Herr Untersuchungsrichter, ich bitte Sie inständig, sie so schnell und so diskret wie möglich einzuziehen … «

»Warum?«

»Mein Vater ist alt. Wir haben uns sehr gern … ich möchte ihm keinen Kummer machen.«

Der weinerliche Ton missfiel Filleul. Es klang wie aus einer Szene in einem Melodram. Trotzdem versprach er:

»Heute Abend, spätestens morgen, weiß ich, woran ich bin.«

Es war Nachmittag geworden. Der Richter kehrte zu den Klosterruinen zurück, während er allen Neugierigen den Eintritt verwehrte; geduldig und systematisch teilte er das Terrain auf, jeder Abschnitt wurde durchforstet, wobei er selbst die Untersuchung leitete. Bis zum Abend war er jedoch kaum einen Schritt vorangekommen; vor einer Flut von Reportern, die das Schloss überschwemmte, gab er folgende Erklärung ab:

»Messieurs, alles weist darauf hin, dass sich der Verletzte hier in unserer unmittelbaren Nähe befindet, alles, wie gesagt, außer die Tatsachen selbst. Unserer bescheidenen Meinung nach muss er also entkommen sein, und wir werden ihn draußen finden.«

Vorsichtshalber ordnete er jedoch im Einverständnis mit dem Wachtmeister die Bewachung des Parks an. Nachdem er die beiden Säle noch einmal durchsucht, das ganze Schloss besichtigt und alle nötigen Erkundigungen eingezogen hatte, fuhr er in Begleitung des stellvertretenden Staatsanwalts zurück nach Dieppe.

Die Nacht brach herein. Man hatte, bevor das Boudoir verschlossen worden war, Jean Davals Leiche in ein anderes Zimmer gebracht. Zwei Frauen aus der Nachbarschaft hielten mit Suzanne und Raymonde die Totenwache. Im Erdgeschoss, unter den aufmerksamen Blicken des Feldhüters, den man ihm an die Fersen geheftet hatte, schlief der junge Isidore Beautrelet auf einer Bank des früheren Oratoriums. Draußen hatten sich die Gendarmen, der Pächter und ein Dutzend Bauern in den Ruinen und an den Mauern postiert.

Bis elf Uhr blieb alles ruhig, aber zehn Minuten später ertönte ein Schuss von der anderen Seite des Schlosses.

»Vorsicht!«, rief der Wachtmeister. »Zwei Männer bleiben hier … Fossier und Lecanu … Die anderen, im Laufschritt, los!«

Sie stürzten los und liefen auf der linken Seite am Schloss vorbei. Eine Gestalt flüchtete in der Dunkelheit. Gleich darauf ließ sie ein zweiter Schuss sich noch weiter vom Schloss entfernen, fast bis an die Grenzen des Gutshofs. Als sie wie eine hetzende Meute an der Hecke, die den Obstgarten umgab, ankamen, züngelte plötzlich eine Flamme rechts vom Haus des Pächters auf; weitere Flammen folgten dicht nebeneinander. Eine bis zum Giebel mit Stroh gefüllte Scheune brannte.

»Diese Schweinehunde!«, schrie der Wachtmeister Quevillon, »Sie haben das Feuer gelegt. Ihnen nach, Freunde! Sie können nicht weit sein.«

Da aber der Wind die Flammen zu den Wohngebäuden hinüberwehte, mussten sie zunächst diese Gefahr abwehren. Sie halfen alle mit, um so eifriger, als Monsieur de Gesvres, der an die Unglücksstelle gelaufen kam, sie durch das Versprechen einer Belohnung anspornte. Bis sie des Feuers Herr geworden waren, war es zwei Uhr morgens. Jede Verfolgung wäre nun zwecklos gewesen.

»Wir werden alles bei Tageslicht untersuchen«, sagte der Wachtmeister. »Bestimmt haben sie Spuren hinterlassen … wir werden sie finden.«

»Und ich hätte nichts dagegen, den Grund dieses Überfalls zu erfahren«, fügte Monsieur de Gesvres hinzu. »Ich finde es ziemlich sinnlos, Feuer an Strohbündel zu legen.«

»Kommen Sie mit, Herr Graf … ich kann Ihnen vielleicht den Grund nennen.«

Sie gingen zusammen zu den Klosterruinen.

»Lecanu … Fossier …!«, rief der Wachtmeister.

Die anderen Gendarmen suchten bereits die auf ihrem Posten zurückgelassenen Kameraden. Schließlich fand man sie beim Eingang der kleinen Pforte. Gefesselt, geknebelt und mit einer Binde vor den Augen lagen sie auf dem Boden niedergestreckt.

»Herr Graf«, brummte der Wachtmeister, während man sie befreite, »wir haben uns wie Kinder an der Nase herumführen lassen.«

»Wieso?«

»Die Schüsse … der Überfall … das Feuer … alles Streiche, um uns an das andere Ende des Parks zu locken … Ein Ablenkungsmanöver … Währenddessen wurden unsere beiden Männer gefesselt und das Spiel war gewonnen.«

»Welches Spiel?«

»Die Entführung des Verletzten, zum Teufel!«

»Nein, glauben Sie wirklich?«